Arzneistoffe zur Behandlung der Gicht - Springer Link

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327   23

Arzneistoffe zur Behandlung
der Gicht
Inhaltsverzeichnis

23.1        Pathophysiologie der Gicht – 328

23.2        Pharmakotherapie der akuten Gicht – 332

23.3        Pharmakotherapie der chronischen Gicht – 333

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
R. Seifert, Basiswissen Pharmakologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60504-2_23
328    Kapitel 23 · Arzneistoffe zur Behandlung der Gicht

     Bei der Gicht kommt es zur Ausfällung von              23.1   Pathophysiologie der Gicht
     Harnsäure, dem Endprodukt des Purinstoff-
     wechsels, in Gelenken, Weichteilgeweben und            In Deutschland leiden ca. 1–2 % der Bevölke-
     harnableitenden Organen. Bei einer akuten              rung an Gicht und ca. 20 % haben eine asym-
     Gicht liegt eine Monoarthritis mit massiven            ptomatische Hyperurikämie. Bei den über
     Schmerzen, Bewegungseinschränkung und                  65-Jährigen liegt die Gichtprävalenz bei 7 %.
23   Überwärmung vor. Die akute Arthritis kann              Die Gicht ist wie der Typ-2-­    Diabetes eine
     effektiv mit COX-Inhibitoren, GCR-Agonis-              Wohlstandserkrankung und Resultat eines
     ten, Mikrotubuli- und IL-1-Inhibitoren be-             ungesunden Lebensstils (7 Kap. 19). Dem-
     handelt werden. Bei einer chronischen Gicht            entsprechend kann die Gicht durch Lebens-
     kommt es zu fortschreitender Polyarthritis             stilveränderungen vermieden und behandelt
     mit Ruheschmerz und Bewegungseinschrän-                werden. Die Pharmakotherapie sollte erst
     kung. Die Basis der Gichtdauertherapie ist             beim Nichtansprechen auf eine Diät zum Ein-
     eine kalorienreduzierte und purinarme Er-              satz kommen, aber in der Praxis wird wegen
     nährung. In der Pharmakotherapie werden                der Probleme bei der Umsetzung einer Diät
     XO-Inhibitoren und URAT1-Inhibitoren,                  häufig schon früh mit einer Pharmakothera-
     ggf. in Kombination, eingesetzt. Bei konse-            pie begonnen. . Tab. 23.1 fasst ausgewählte
     quenter Diät und Pharmakotherapie hat die              Arzneistoffe zur Gichttherapie zusammen.
     Gicht eine gute Prognose.                                  Die Gicht ist eine Purinstoffwechselstö-
                                                            rung, deren Symptome durch Harnsäure
     Merksätze                                              (Urat) hervorgerufen werden. Sie ist Endpro-
     55 Eine Hyperurikämie ohne Symptome be-                dukt des Purinbasenabbaus (. Abb. 23.1).
        darf keiner Pharmakotherapie.                       Aus dem Abbau von ATP entstehen Inosin
     55 PZA, NCC-Inhibitoren und NKCC-                      und Hypoxanthin, aus dem Abbau von GTP
        Inhibitoren können eine asymptomati-                Guanin und Xanthin. XO wandelt Hypoxan-
        sche Hyperurikämie verursachen.                     thin in Xanthin und Xanthin in Harnsäure
     55 Beim Tumorlysesyndrom unter Zytostati-              um. Diese wird glomerulär filtriert und im pro-
        katherapie kann es zu gefährlicher Hy-              ximalen Tubulus über URAT1 an der apikalen
        perurikämie kommen.                                 Seite und über OAT1 an der basolateralen
     55 Akute Gicht wird mit COX-Inhibitoren,               Seite im Austausch gegen verschiedene Anio-
        GCR-Agonisten, Mikrotubuli- oder                    nen reabsorbiert (. Abb. 23.2). Weiter distal
        IL-1-­Inhibitoren behandelt.                        im Tubulus wird Harnsäure aktiv sezerniert.
     55 Die Basis der Gichttherapie ist eine kalo-              Harnsäure besitzt nur eine limitierte Lös-
        rienreduzierte und purinarme Diät.                  lichkeit in Körperflüssigkeiten. Übersteigt
     55 In der Therapie der chronischen Gicht               ihre Konzentration 400 μmol/l, fällt Harn-
        werden XO-Inhibitoren (Allopurinol)                 säure aus und bildet Kristalle. Bei höheren
        und URAT1-Inhibitoren (Benzbroma-                   Temperaturen löst sie sich besser als bei
        ron) eingesetzt.                                    niedrigen. Daher fallen Harnsäurekristalle
     55 XO-Inhibitoren verstärken die UAW von               vor allem an den kühleren Akren (z. B. Ohr,
        6-MP und Azathioprin durch Abbau-                   Finger- und Zehgelenke) aus. Da Harnsäure
        hemmung.                                            eine schwache Säure ist, ist die Kristallisa-
..      Tab. 23.1   Übersicht über ausgewählte Arzneistoffe zur Behandlung der akuten und chronischen Gicht

Arzneistoff                   Arzneistoffgruppe         Wichtige Wirkungen        Wichtige Indikationen        Wichtige UAW                 Weitere
                                                                                                                                            Zusammenhänge in
                                                                                                                                            Kapitel

Allopurinol                   XO-Inhibitor              Urikostatisch durch       Chronische Gicht,            Übelkeit, Erbrechen,         7 Kap. 3, 11, 12, 31
                                                        Hemmung der Synthese      Dosisreduktion bei           Diarrhoe,
                                                        von Xanthin und           CKD                          Leberfunktionsstörungen,
                                                        Hypoxanthin                                            allergische Reaktion (Typ
                                                                                                                                                                   23.1 · Pathophysiologie der Gicht

                                                                                                               IV)
Benzbromaron                  URAT1-Inhibitor           Urikosurisch durch        Chronische Gicht,            Übelkeit, Erbrechen,         7 Kap. 12
                                                        verstärkte renale         Zusatztherapie bei           Appetitlosigkeit,
                                                        Elimination von           unzureichender               Kopfschmerzen, allergische
                                                        Harnsäure                 Wirkung von                  Reaktionen, Gefahr der
                                                                                  Allopurinol. Auf             Uratausfällung in
                                                                                  ausreichende                 Harnwegen bei
                                                                                  Flüssigkeitszufuhr und       unzureichender
                                                                                  Harnalkalisierung            Flüssigkeitszufuhr
                                                                                  achten
Canakinumab                   IL-1-­Inhibitor           Antiinflammatorisch       Akute Gicht, bei             Harnwegs- und                7 Kap. 11, 32
                                                        durch Blockade der        Unverträglichkeit oder       Atemwegsinfekte, lokale
                                                        Wirkungen von IL-1        Kontraindikationen für       Reaktionen an der
                                                                                  Ibuprofen, Prednisolon       Einstichstelle
                                                                                  und Colchicin
Colchicin (low dose)          Mikrotubuli-Inhibitor     Antiinflammatorisch       Akute Gicht; neue            Übelkeit, Erbrechen,         7 Kap. 1, 13, 31
                                                        durch Hemmung der         Indikation mit guter         Diarrhoe mit
                                                        Leukozytenmigration       Wirksamkeit:                 Elektrolytverlust (akut).
                                                        und Phagozytose           Perikarditis. Dies ist ein   Seltener Haarausfall,
                                                                                                                                                                                                       329

                                                                                  aktuelles Beispiel für       Leber-, Nieren- und
                                                                                  erfolgreiches                ZNS-­Funktionsstörungen
                                                                                  Repurposing.                 (chronisch); Gefahr
                                                                                                               schwerer Intoxikation bei
                                                                                                               zu hoher Dosierung
                                                                                                                                                                                       23
330      Kapitel 23 · Arzneistoffe zur Behandlung der Gicht

     Klassische Zytostatika

                                                                                         Immunsuppression,
               Tumorlyse-                                ATP                                     Zytostase
                Syndrom
                                                     Adenosin                                 Extreme
                                                                                         Myelotoxizität
23
                                                       Inosin
                         GTP
                                                    Hypoxanthin
         Purin -      Guanosin                     (gute Löslichkeit)                                 6-MP
     Recycling                                                                                     Azathioprin
                                                            XO

                        Guanin                         Xanthin                Allopurinol           XO
                                                   (gute Löslichkeit)
                                                            XO          Ibuprofen (auch COX-1),   Abbauprodukte
                                                                        Etoricoxib
                                                     Harnsäure
                                                (schlechte Löslichkeit)
        LNS
                                                                                PGE2
                                 Kristalle in                                                       Akute
                                 Gelenken            Monozyten
                                                                                                   Arthritis
                                                                                 IL -1

                                                Colchicin (low dose)
                                                 GCR-Agonisten               Canakinumab

     ..      Abb. 23.1 Übersicht über die (Patho-)Physiologie des Purinabbaus, Pathogenese der Gichtarthritis sowie
     pharmakologische Angriffspunkte und toxikologische Probleme. LNS, Lesch-Nyhan-Syndrom

     tionsgefahr bei niedrigem pH größer als bei                In 90 % der Fälle ist eine verminderte renale
     hohem pH. Harnsäurekristallablagerungen                    Elimination von Harnsäure ursächlich für
     in den Weichteilen werden als Tophi be-                    Gicht, in 10 % eine Überproduktion, für die
     zeichnet. Außerdem können sich Kristalle                   eine wichtige Ursache vorliegt, wenn im Rah-
     in den ableitenden Harnwegen bilden (Uro-                  men einer zytostatischen Therapie massiv Tu-
     lithiasis) (. Abb. 23.2). Dies kann zur CKD                morzellen lysiert werden und Purinbasen an-
     (7 Kap. 12) und zu sehr schmerzhaften                      fallen (7 Kap. 31). Eine seltene Ursache für
     Koliken der ableitenden Harnwege führen.                   Harnsäureüberproduktion ist das X-chro-
     Nierenkoliken können mit Butylscopolamin                   mosomale Lesch-Nyhan-­     Syndrom mit ge-
     (7 Kap. 5), GTN (7 Kap. 9) und Metamizol                   störter Wiederverwertung (Recycling) von
     (7 Kap. 10) behandelt werden.                              Purinbasen. In beiden Situationen müssen
                                                                XO gehemmt und der Harn alkalisiert wer-
     >>Die Behandlung von Kolikschmerzen mit                    den, um ein Ausfällen von Harnsäure zu ver-
       Arzneistoffen, die über unterschiedliche                 hindern (. Abb. 23.1 und 23.2).
       Mechanismen glatte Muskelzellen relaxie-                     Bei einer Plasmaharnsäurekonzentration
       ren, ist ein gutes Beispiel für eine funktio-            < 400 μmol/l hat Gicht eine Inzidenz um
       nelle Schmerztherapie. Das Beispiel zeigt                0,1 %. Im Bereich von 400–525 μmol/l steigt
       auch auf, wie fragwürdig der Begriff                     sie auf 0,5 % und bei Konzentrationen
       „Analgetika“ ist (7 Kap. 10).                            ≥ 525 μmol/l auf 5 %. Die antimykobateriell
23.1 · Pathophysiologie der Gicht
                                                                                                331          23

                                    apika l                                   basolateral

                Harn                                   Proximale s                               Blut
                                                      Tubulusepithel

                              Anion                                               Anio n

    Benzbromaron
                                              URAT1                    OAT1
                                                        Anio n                              XO-Inhibitoren
                                                      Harnsäure ↓
  Kalium-Natrium-
  Hydrogencitrat
                          Harnsäure ↑                                              Harnsäure ↓

         pH ↑             Urolithiasis ↑                                              Tophi ↓

         Hohe
     Flüssigkeits-     Harnleiterkoliken
        zufuhr
                                                                                  Chronische
                                                                                   Arthritis

              Metamizol    GT N Butylscopolamin

..      Abb. 23.2 Harnsäuresekretion in der Niere, Urolithiasis, Harnleiterkoliken und pharmakologische
Angriffspunkte

wirkenden Arzneistoffe PZA und EMB                            entwickeln sich innerhalb von 24 Stunden und
(7 Kap. 32), NCC-Inhibitoren und NKCC-­                       klingen meist innerhalb von 14 Tagen ab. Das
Inhibitoren (7 Kap. 12) können eine meist                     dritte Stadium wird auch als interkritische
asymptomatische Hyperurikämie auslösen.                       Periode zwischen akuten Gichtanfällen be-
                                                              zeichnet. Es kommt zur weiteren Ablagerung
>> Das Vorliegen einer asymptomatischen
                                                              von Harnsäure in Gelenken, Weichteilgeweben
   Hyperurikämie ist kein Behandlungsgrund.
                                                              und Niere, aber der Patient ist beschwerdefrei.
In der Praxis wird jedoch bei asymptomati-                    Im vierten Stadium, der chronischen Gicht,
scher Hyperurikämie noch viel zu häufig mit                   liegt eine Polyarthritis vor, die durch Schmer-
einer unnötigen Pharmakotherapie begon-                       zen in Ruhe und B  ­ ewegungseinschränkungen
nen, die UAW verursachen kann.                                gekennzeichnet ist. Hinzu kommen CKD und
    Gicht wird in vier Stadien unterteilt. Im                 Harnleiterkoliken, die durch Harnsäurekon-
ersten Stadium kommt es zu asymptomati-                       kremente verursacht werden.
schen Harnsäureablagerungen in Gelenken,                          Die Diagnose „Gicht“ erfolgt durch
Weichteilgeweben und Niere. Zunächst muss                     Feststellung klassischer Symptome an Ge-
keine Therapie erfolgen. Im zweiten Stadium                   lenken, Verlaufsanalyse, Nachweis von To-
kommt es zur akuten Gicht, die sich als Mono-                 phi und Harnsäurekristallen in Gelenken
arthritis manifestiert. Das Gelenk ist stark ge-              sowie Bestimmung der Plasmaharnsäure-
schwollen, überwärmt, schmerzhaft und stark                   konzentration, die jedoch auch im Normbe-
bewegungseingeschränkt. Die Harnsäurekris-                    reich das Vorliegen von Gicht nicht aus-
talle lösen eine akute Entzündungsreaktion im                 schließt. Die Gicht muss ab dem zweiten
Gelenk aus (. Abb. 23.1). Die Beschwerden                     Stadium behandelt werden.
332    Kapitel 23 · Arzneistoffe zur Behandlung der Gicht

     23.2   Pharmakotherapie der                                möglich gemieden werden (7 Kap. 10, 11
                                                                 und 18).
             akuten Gicht
                                                            Als Alternative zu den COX-Inhibitoren
     Bei akuter Gicht liegt meist eine sehr                 kann der GCR-Agonist Prednisolon in einer
     schmerzhafte Monoarthritis an einem Fuß-               Dosierung von 30–35 mg (entspricht einer
23   gelenk vor. Ohne Therapie dauert die akute
     Gicht zwischen 3 und 14 Tagen.
                                                            Cortisoläquivalenzdosis von 150–175 mg)
                                                            für 5 Tage gegeben werden (7 Kap. 11). Es
     >>Therapieziel ist, bei akuter Gicht die Ent-
                                                            kann zu PUD und zur Entgleisung eines Dia-
       zündung so rasch wie möglich zu hemmen
                                                            betes (7 Kap. 19) kommen. Außerdem kann
       und die Bewegungsfähigkeit des betroffe-
                                                            der BD ansteigen (7 Kap. 15). Die Gefahr
       nen Gelenkes wiederherzustellen.
                                                            eines Cushing-Syndroms ist jedoch bei einer
                                                            Kurzzeittherapie mit GCR-­Agonisten nicht
     Als Allgemeinmaßnahme empfiehlt sich                   gegeben. Kontraindiziert ist Prednisolon bei
     Hochlagerung und Kühlung des erkrankten                Infektionen, schlecht eingestelltem Diabetes,
     Gelenkes.                                              schlecht eingestellter Hypertonie und ulzerie-
     >>Je eher mit der Therapie der akuten Gicht
                                                            renden Wunden.
       begonnen wird, umso größer sind die Er-
                                                                Gicht ist durch die Einwanderung von
       folgsaussichten.
                                                            Monozyten und neutrophilen Granulozyten
                                                            in das Entzündungsgebiet charakterisiert.
     Die Therapie sollte spätestens 12–24 Stun-             Die Zellmigration hängt vom Vorhandensein
     den nach Auftreten der Symptome begin-                 intakter Mikrotubuli ab. Das in der Herbst-
     nen. Gut wirksam ist die Therapie der aku-             zeitlosen vorkommende Colchicin verhindert
     ten Gicht mit einem COX-Inhibitor wie                  die Polymerisierung von Mikrotubuli und
     Ibuprofen. Wichtig ist eine ausreichend hohe           damit die Migration von Entzündungszellen.
     Dosierung. Häufig wird Ibuprofen zu nied-              Außerdem hemmt Colchicin die Phago­
     rig dosiert. Ibuprofen kann in einer Dosis             zytose. Damit es bei akuter Gicht wirkt,
     von bis zu 2,4 g/Tag gegeben werden.                   muss die Therapie innerhalb von 24 Stunden
         Typische UAW der COX-Inhibitoren sind              beginnen, weil sonst die Infiltration des Ge-
     PUD, Ödeme, Einschränkung der Nieren-                  lenks mit Leukozyten bereits zu stark voran-
     funktion und Hypertonie. Das PUD-­Risiko               geschritten ist. Wegen gravierender UAW
     lässt sich durch PPI kontrollieren (7 Kap. 13)         wird Colchicin besonders vorsichtig und
     und eine Hypertonie ist durch Arzneistoffe             niedrig dosiert.
     mit antihypertensiver Wirkung gut einstellbar
     (7 Kap. 15). Bei CKD, z. B. im Rahmen ei-              >>Bei zu hoher Dosierung von Colchicin
     ner Urolithiasis, dürfen COX-­      Inhibitoren          können schwere Intoxikationen mit To-
     nicht angewendet werden (7 Kap. 12). In al-              desfolge auftreten!
     ler Regel reicht eine 5- bis 10-tägige Therapie
     mit nicht-selektiven COX-Inhibitoren aus,              Um eine Überdosierung zu vermeiden, soll
     um die akute Gicht zu behandeln. Die Wir-              die Dosis von Colchicin vom Arzt auf dem
     kung der COX-­     Inhibitoren kommt durch             Rezept doppelt (als Ziffer und ausgeschrie-
     eine COX-2-­   Hemmung zustande, wodurch               ben) angegeben werden. Dies sensibilisiert
     weniger PGE2 synthetisiert wird. PGE2 führt            den das Rezept beliefernden Apotheker für
     zu einer Hyperämie und steigert die Empfind-           die besondere Bedeutung der Dosierung.
     lichkeit von Schmerzrezeptoren (7 Kap. 10).                Colchicin wirkt zytostaisch und hemmend
                                                            auf schnell proliferierende Zellen (7 Kap. 31).
     >>Wegen des erhöhten kardiovaskulären Ri-              Dies äußert sich vor allem in Übelkeit, Erbre-
       sikos sollten COX-2-­
                           Inhibitoren (Proto-              chen und Diarrhoe. Bei längerer und höher-
       typ Etoricoxib) bei akuter Gicht wenn                dosierter Therapie kommt es auch zu Haar-
23.3 · Pharmakotherapie der chronischen Gicht
                                                                            333              23
ausfall und Funktionsstörungen an Leber,         (. Abb. 23.2). Bei mehr als zwei Gichtanfäl-
Niere und im ZNS. Bei Leberinsuffizienz und      len pro Jahr, Urolithiasis und Tophi muss eine
CKD muss die Colchicindosis erniedrigt wer-      pharmakologische Dauertherapie beginnen.
den. Im Herbst kommt es häufig zu Colchicin-     Die Plasmaharnsäurekonzentration sollte auf
vergiftungen bei Kindern, die die giftige        einen Wert < 400 μmol/l eingestellt werden.
Herbstzeitlose essen (. Abb. 23.1).                  Der Standardarzneistoff zur Therapie
                                                 chronischer Gicht ist Allopurinol, das seit über
>>Die traditionelle Klassifikation von Col-
                                                 50 Jahren auf dem Markt ist. Daher sind zahl-
  chicin als „Gichtmittel“ ist irreführend.
                                                 reiche Allopurinol-Generika verfügbar, die die
  Colchicin (low dose) wirkt auch sehr gut
                                                 preiswerte Dauertherapie ermöglichen.
  bei Perikarditis. Weitere neue Indikatio-
  nen für Colchicin sind in der Entwicklung.     >>Allopurinol wird traditionell als „Uriko-
                                                   statikum“ bezeichnet. Aus diesem Begriff
Harnsäurekristalle aktivieren Leukozyten
                                                   geht jedoch nicht der Wirkmechanismus
und führen zur Freisetzung proinflammatori-
                                                   hervor. So können gefährliche Interaktio-
scher Zytokine, insbesondere IL-1. Daher ist
                                                   nen von Allopurinol mit 6-MP leichter
die IL-1-Elimination aus dem Entzündungs-
                                                   übersehen werden.
gebiet ein Ansatz zur Therapie akuter Gicht.
Canakinumab ist ein humanisierter mono-          Allopurinol ist ein XO-Inhibitor und verhin-
klonaler Antikörper, der IL-1 neutralisiert.     dert somit die Umwandlung von Hypoxanthin
Er muss parenteral appliziert werden und         zu Xanthin und von Xanthin zu Harnsäure
stellt eine wirksame therapeutische Alterna-     (. Abb. 23.1). Xanthin und Hypoxanthin be-
tive dar, wenn COX-­Inhibitoren, GCR-Ago-        sitzen eine bessere Löslichkeit als Harnsäure.
nisten und Colchicin nicht ausreichend wir-      Somit wird die Gefahr der Harnsäurekristall-
ken oder kontraindiziert sind.                   bildung vermindert. Allopurinol verursacht
                                                 GI-Beschwerden und allergische Reaktionen,
                                                 insbesondere vom Typ IV (7 Kap. 3). Bei
23.3   Pharmakotherapie der                     CKD muss die Allopurinoldosis angepasst
        chronischen Gicht                        werden. Die Therapie beginnt einschlei-
                                                 chend, kann aber bis auf 800 mg/Tag gestei-
Sobald die akute Gicht überwunden ist,           gert werden. Das Tumorlysesyndrom und das
erfolgt eine Diagnostik zur Erfassung des        Lesch-Nyhan-­Syndrom (7 Abschn. 23.1 und
Gichtausmaßes: Neben der Bestimmung der          . Abb. 23.1) werden ebenfalls mit Allopuri-
Plasmaharnsäurekonzentration muss nach           nol behandelt. Allopurinol wird viel zu häufig
Tophi und Harnsäureablagerungen in Gelen-        unkritisch zur „Laborkosmetik“ bei asympto-
ken sowie in der Niere und den Harnleitern       matischer Hyperurikämie eingesetzt.
gesucht werden. Die Nierenfunktion muss              Es gibt eine gefährliche Arzneistoff-
überprüft werden, da Gicht die Nieren schä-      interaktion zwischen XO-Inhibitoren und
digt und dementsprechend die Dosierung von       6-MP sowie seinem Prodrug Azathioprin
Arzneistoffen anzupassen ist (7 Kap. 12).        (7 Kap. 11 und 31). 6-MP wird über XO
Die Basis der Gicht-­Langzeittherapie ist eine   inaktiviert. Erhält ein wegen chronischer
kalorienreduzierte Ernährung. Übergewicht        Gicht mit Allopurinol behandelter Patient
muss abgebaut werden und der Konsum von          zusätzlich wegen einer Tumor- oder Auto-
Fleisch, Innereien, Krustentieren, Alkohol       immunerkrankung 6-MP oder Azathioprin,
(insbesondere Bier und Spirituosen) sowie        kommt es zu massiven UAW, insbesondere
fructosehaltigen Softdrinks ist zu vermin-       Anämie, Leukozytopenie und Thrombope-
dern. Bei Patienten mit Urolithiasis muss        nie (. Abb. 23.1). Um diese Interaktion zu
auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr         vermeiden, muss die Dosis von 6-MP und
(Tee und Mineralwasser) geachtet werden          Azathioprin deutlich reduziert werden.
334    Kapitel 23 · Arzneistoffe zur Behandlung der Gicht

        Bei unzureichender Wirkung kann Allo-                    Inhibitoren bei der chronischen Gicht. Dies
     purinol mit Benzbromaron kombiniert wer-                    ist ein aktuelles Beispiel für das Repurposing
     den (. Abb. 23.2).                                          von Arzneistoffen (7 Kap. 1).

     >>Benzbromaron wird traditionell als „Uri-                  Fallbeispiel
       kosurikum“ bezeichnet. Dieser Begriff
23     spezifiziert aber nicht den Wirkmechanis-                 Eine 66-jährige adipöse Frau kommt in
       mus.                                                      Ihre orthopädische Sprechstunde und
                                                                 klagt über starke Schmerzen im linken
     Benzbromaron hemmt verschiedene Trans-
                                                                 Vorfuß, die am Vortag aufgetreten sind.
     porter. Für die Wirkung bei Gicht ist die
                                                                 Bei der körperlichen Untersuchung im-
     URAT1-Hemmung an der apikalen Tubulu-
                                                                 poniert ein stark geschwollenes und ge-
     sepithelzellmembran entscheidend. Damit
                                                                 rötetes Metatarsophalangealgelenk des
     wird die Wiederaufnahme von Harnsäure ge-
                                                                 großen Zehs, welches bei Berührung
     hemmt, was die Hemmung der Harnsäure-
                                                                 stark schmerzt und in seiner Beweglich-
     produktion durch Allopurinol synergistisch
                                                                 keit massiv eingeschränkt ist
     unterstützt. Da durch URAT1-­     Inhibitoren
     die Konzentration von Harnsäure im Tubu-
     lus erhöht wird, sind eine ausreichende Flüs-
     sigkeitszufuhr und Harnalkalisierung wich-                  Übungsfragen zum Fallbeispiel
     tig, um die Bildung von Harnsäurekristallen                 1. Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie
     in den ableitenden Harnwegen zu verhindern.                    und wie gehen Sie zunächst therapeu-
     URAT1-­Inhibitoren verursachen vor allem                       tisch vor?
     UAW im GI-Trakt und Kopfschmerzen.                          2. Wie gehen Sie diagnostisch und
     >> Eine interessante Neuentwicklung ist der                    therapeutisch weiter vor?
        mögliche Einsatz der traditionell den „oralen            Lösungen 7 Kap. 37
        Antidiabetika“ zugerechneten SGLT-2-
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