Aufbau Ost: Lief da etwas falsch? - Rüdiger Pohl
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Deutsche Einheit Historie DOI: 10.1007/s10273-021-2834-4 Rüdiger Pohl Aufbau Ost: Lief da etwas falsch? Das sozialistische Wirtschaftssystem der DDR brach 1990 zusammen. Nach der Wiedervereinigung war es das Kernziel des Aufbaus Ost, einen Wirtschaftssektor in Ostdeutschland (der ehemaligen DDR) zu schaffen, der im internationalen Wettbewerb bestehen kann. Die ehemaligen sozialistischen Betriebe wurden privatisiert oder geschlossen. Der Staat hat Investitionen durch Subventionen massiv gefördert. Ostdeutschland hat heute eine Wirtschaftsleistung, die mit der von großen Teilen Westdeutschlands vergleichbar ist. Besonders bemerkenswert ist, dass die allgemeinen Lebensbedingungen in Ostdeutschland heute denen im Westen ähnlich sind. Der Aufbau Ost hat erreicht, was erreicht werden konnte. Die unglaubliche Wende 1990: von der Zweistaatlichkeit stellerinnen, Kirchenleute forderten, „eine sozialistische zur Einheit in Deutschland, vom Sozialismus zur Markt- Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln“ (Für unser wirtschaft in der DDR. Die Mauer war im November 1989 Land, Aufruf, 1989). In aggressiver Sprache warnten sie gefallen, das System Deutsche Demokratische Republik davor, „durch die Bundesrepublik vereinnahmt“ zu wer- am Ende. Aber die DDR bestand als souveräner Staat den. Es drohe „ein Ausverkauf unserer materiellen und (vorerst) weiter. Daher war es Aufgabe der politischen moralischen Werte“. Den Appell unterzeichneten 1,2 Mio. Führung der DDR (nicht der Westdeutschen), Konzeptio- Menschen – das war viel, aber bei einer Bevölkerung von nen für die Zukunft zu entwerfen. Der neue Ministerprä- fast 11 Mio. (im arbeitsfähigen Alter) nicht die Mehrheit. sident der DDR, Hans Modrow, gab den Kurs vor: „die Und es gab genügend Gegenaufrufe. Darin wurde die Legitimation der DDR als sozialistischer Staat“ erneuern. Planwirtschaft für gescheitert, irreparabel, der Sozialis- Zwar erkannte er, dass „unser Wirtschaftsgefüge aus dem mus für nicht lebensfähig erklärt (Gegenaufruf, 1989). In Gleichgewicht geraten ist“. Aber: „Die volkswirtschaftli- großer Zahl übersiedelten DDR-Bürger:innen weg vom che Substanz unseres sozialistischen Staates ist kräftig Sozialismus in die Bundesrepublik. Für die Fortsetzung genug und tragfähig für eine Stabilisierung in absehbarer des Sozialismus gab es in der DDR keine Mehrheit. Zeit.“ Ein „besserer Sozialismus“ sollte es werden. An der Fortexistenz der DDR ließ Modrow keinen Zweifel. „Die Letztlich war es dann die Politik der Bundesregierung, Staatsgrenze wird weiterhin zuverlässig durch die Grenz- die den sozialistischen Reformideen in der DDR das En- truppen gesichert.“ Einer Wiedervereinigung erteilte er ei- de bereitete. Die westdeutsche Politik erkannte zwar den ne „klare Absage“ (Modrow, 1989). Selbstbestimmungsanspruch der DDR an („Es liegt letzt- lich an der Führung der DDR, den Menschen dort eine le- Reformierter Sozialismus: nein danke benswerte Perspektive zu bieten.“). Bundeskanzler Kohl verhielt sich aber keineswegs neutral. Im Gegenteil for- Modrow war nicht der einzige, der sich für „einen guten derte er eindringlich „sichtbare und spürbare Reformen“ Sozialismus“ in der DDR aussprach. Künstler, Schrift- (Bundeskanzler Kohl, 1989a), bot der DDR umfassende © Der/die Autor:in(nen) 2021. Open Access: Dieser Artikel wird unter der Hilfe an, aber nur, „wenn ein grundlegender Wandel des Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröf- politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR … in fentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de). Gang gesetzt wird“ (Bundeskanzler Kohl, 1989b). Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert. Dann machte Bundeskanzler Kohl, das Ziel der deut- schen Einheit fest im Blick, der DDR ein Angebot. Im Fe- bruar 1990 schlug er eine Währungsunion vor (die Mark der DDR wird durch die D-Mark ersetzt). Er knüpfte dies Prof. em. Dr. Dr. h. c. Rüdiger Pohl lehrte an der aber an die Bedingung, dass in der DDR alle Vorkehrungen Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und war für die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft getroffen Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung werden (Bundeskanzler Kohl, 1990). Das entsprach den Halle. Wünschen vieler Menschen in der DDR; sie hatten die D- Mark eingefordert („Kommt die DM, bleiben wir; kommt sie nicht, geh‘n wir zu ihr!“), viele auch die Wiedervereini- Wirtschaftsdienst 2021 | Konferenzheft 14
Deutsche Einheit Historie gung („Deutschland, einig Vaterland“). Bei der ersten de- täuscht werden mussten. Die DDR-Bevölkerung (und nicht mokratischen Wahl in der DDR, im März 1990, entfielen nur sie) glaubte an den „Mythos D-Mark“: dass sich mit die meisten Stimmen auf die CDU, die Partei, die massiv der D-Mark das Wirtschaftswunder Westdeutschlands in für die Währungsunion und Einheit eintrat. Es ging dann der DDR wiederholen würde. Eine Illusion! Die westdeut- schnell. Bereits im Juni 1990 verabschiedeten Volkskam- sche Wirtschaft verdankte ihre Stärke nicht der D-Mark. mer und Bundestag den Staatsvertrag über die Schaffung Es war umgekehrt. Die D-Mark war stark, weil die west- einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Im August deutsche Wirtschaft stark war – produktiv, innovativ, wett- erklärt die Volkskammer den Beitritt der DDR zur Bundes- bewerbsfähig. Das alles traf für die Wirtschaft der DDR republik Deutschland. Im September stimmten die vier gerade nicht zu. Das Problem der DDR war nicht die fal- Mächte der Vereinigung zu (Zwei-plus-Vier-Vertrag). Im Ok- sche Währung, sondern die Ineffizienz der Wirtschaft. tober 1990 wurde die Vereinigung vollzogen. Damit waren die Weichen gestellt, gegen Sozialismus und für die Markt- Persönliche Anmerkung: Der Sachverständigenrat zur Be- wirtschaft, gegen Zweistaatlichkeit und für die Einheit. gutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, dem ich zu jener Zeit angehörte, reagierte auf die Pläne für ei- Zur Bilanz des Jahres 1990 gehört ein Aspekt, den man ne Währungsunion mit „Besorgnis“. In einem Brief an den als Gewinner-Verlierer-Phänomen bezeichnen kann. Bundeskanzler (ungewöhnlich, sonst äußerten wir uns nur Ostdeutsche, welche die Marktwirtschaft im vereinten in Gutachten) trugen wir am 9.2.1990 unsere Bedenken Deutschland wollten, waren die Gewinner des Jahres. vor. Wir hatten, wie wir fanden, gute Argumente dafür, einer Ostdeutsche, die für einen reformierten Sozialismus in der Währungsunion erst die grundlegende Wirtschaftsreform DDR votiert hatten, sahen sich als Verlierer. Das Gewin- in der DDR vorzuschalten. Im Auftrag des Kanzlers antwor- ner-Verlierer-Phänomen tritt in der wirtschaftlichen Trans- tete uns Finanzminister Waigel. Es gehe darum, in kurzer formation Ostdeutschlands immer wieder auf. Die einen Frist „den Menschen in der DDR ein sichtbares Zeichen der konnten sich in der freiheitlich-marktwirtschaftlichen Ord- Hoffnung zu geben“, eben durch das Angebot einer Wäh- nung der Bundesrepublik persönlich entfalten und wirt- rungsunion. Ich für meinen Teil gestehe längst ein, letztlich schaftlich etablieren; andere wiederum, vor allem wenn sie nicht zu wissen, ob das Land mit einer Verschiebung der dem DDR-System ideologisch verbunden waren und dort Währungsunion besser gefahren wäre. einflussreiche Ämter innehatten, fühlten sich degradiert, waren dem neuen Wettbewerb nicht immer gewachsen. Der schlechte Zustand der Wirtschaft der DDR bestand Das Gewinner-Verlierer-Phänomen hat die Einstellungen bereits lange vor dem Fall der Mauer. Mit der Öffnung der der Ostdeutschen zum Aufbau Ost nachhaltiger geprägt, Grenzen wurde die Lage prekär. Die DDR-Betriebe waren als am Anfang zu vermuten war, und länger. Noch heute, nun einem internationalen Wettbewerb ausgesetzt, dem sie 30 Jahre später, ist es der wohl wichtigste Grund dafür, ganz überwiegend nicht gewachsen waren. Die DDR hatte dass die Urteile der Ostdeutschen über den Aufbau Ost durch ihre jahrzehntelange Abschottung verhindert, dass eher diffus ausfallen. Auf die Frage, ob die wirtschaftliche sich ihre Betriebe effizient in die internationale Arbeitsteilung Entwicklung alles in allem ein Erfolg oder ein Misserfolg einklinken und dort behaupten konnten. Nun wurden die war, sagen 36 % „ein Erfolg“, 26 % „ein Misserfolg“, und DDR-Betriebe durch Konkurrenz von außen bedrängt, die 38 % sind unentschieden (Institut für Demoskopie Allens- leistungsstärker war als sie. Es war nicht Schuld der DDR- bach, 2019). Das ist keine klare Mehrheit für irgendwas. Betriebe (auch nicht der dort arbeitenden Menschen), son- dern lag in der Verantwortung der misslungenen staatlichen Währungsunion: enttäuschte Erwartungen Planung, dass die Produktionsanlagen vieler Betriebe veral- tet waren, die Produkte an den Weltmärkten nicht wettbe- Die deutsch-deutsche Währungsunion war der politisch werbsfähig waren, und wenn doch, dann oft nur dank sub- entscheidende (innerdeutsche) Schritt auf dem Weg zur ventionierter Preise, welche die Produktionskosten nicht ab- deutschen Einheit. Wirtschaftliche Überlegungen spiel- deckten – eine ruinöse Situation. Beispiel Mikroelektronik: In ten keine Rolle, vor allem nicht für die Bundesregierung. diesem Vorzeigebereich der DDR betrugen die Kosten „ein Das stieß viele Ökonom:innen im Jahr 1990 in ein Dilem- Mehrfaches des internationalen Standards“, waren für Pro- ma. Als Bürger:innen begrüßten sie die Aussicht auf die duktion und Export Subventionen in Milliardenhöhe erfor- Einheit (die das Grundgesetz forderte). Als Forschende derlich (Schürer et al., 1989). Zudem mussten die Betriebe sahen sie die wirtschaftlichen Probleme, die mit der Ein- mehr Arbeitnehmende anstellen, als für den Betriebszweck führung der D-Mark in der DDR nicht gelöst sein würden. benötigt, weil der Staat offene Arbeitslosigkeit vermeiden wollte. Entsprechend gering war die Produktivität. Das Kernproblem der Währungsunion bestand aus Sicht der Kritiker darin, dass mit der Währungsunion Wohl- Die DDR-Betriebe waren nach der Maueröffnung in ei- standserwartungen in der DDR geweckt wurden, die ent- nen unerbittlichen Verdrängungswettbewerb geraten. Die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 15
Deutsche Einheit Historie Produktion brach ein, die (offene) Arbeitslosigkeit nahm teilweise bereits kollabiert. Wer die Dramatik jener Tage zu. An diesen realen Problemen konnte die Währungs- nachempfinden will, muss nur einen Blick in die Statistik union, die Einführung der D-Mark in der DDR, überhaupt für 1990 werfen. Im September 1990, zwei Monate nach nichts ändern. Die Währungsunion verstärkte die Prob- Einführung der DM, lag die industrielle Warenproduk- leme eher noch. Der Umtauschsatz von 2:1 (2 Mark der tion in der DDR um 50 % unter dem Vorjahreswert. Es DDR in 1 DM) war realwirtschaftlich überhöht. Er bedeu- gab Massenentlassungen; die (offene) Arbeitslosigkeit tete faktisch, dass die Kaufkraft der Ost-Mark-Einlagen stieg stark an (erreichte 2005 den unglaublichen Wert der Bevölkerung durch den Umtausch erheblich angeho- von 18,7 %). Kein Wunder, dass die Begeisterung für die ben wurde (auf dem Schwarzmarkt wurde die DDR-Mark Marktwirtschaft im Osten schwand und die Abwanderun- zuvor 8:1 getauscht, was dem Kaufkraftgefälle eher ent- gen aus der DDR unverändert weitergingen. sprach). Mochte man das aus sozialen Gründen akzeptie- ren, waren die Belastungen für die Betriebe enorm. Den Es klingt paradox, dass die Wirtschaftspolitik, nachdem DDR-Betrieben waren als Gegenposten zu den Einlagen die Marktwirtschaft in der DDR eben gerade eingeführt der Bevölkerung Kredite zugerechnet, die nun durch den worden ist, als erstes dem Marktdruck entgegenwirken Umtausch real mehr Schuldenlast bedeuteten als je zu- musste. Es wirkt auch paradox, dass es, nachdem die vor. „Gelöst“ wurde das Problem später schlicht dadurch, Staatswirtschaft der DDR gerade untergegangen war, dass die Treuhandanstalt die Kreditlasten übernahm. doch wieder der Staat war, der den Aufbau Ost vorantrei- ben musste. Die Lösung der ostdeutschen Probleme lag Im Zuge der Währungsunion wurden die Löhne im Ver- nicht darin, die Marktwirtschaft im Sinne eines Big Bang hältnis 1:1 von Mark der DDR in D-Mark umgerechnet. einzuführen und sie dann einfach wirken zu lassen. Der erhebliche Rückstand der DDR-Löhne gegenüber denen im Westen wurde schlagartig sichtbar. Es kam Die wirtschaftliche Erneuerung musste auf überregional rasch zu äußerst kräftigen Lohnsteigerungen. Sicherlich wettbewerbsfähige Produktion im östlichen Teil Deutsch- sollte die DDR kein Niedriglohngebiet bleiben. Aber die lands gerichtet sein. Dafür brauchte es eine Vorlaufzeit. rasanten Lohnsteigerungen in der bedrängten ineffizien- Die war nicht gegeben, denn es gab ein grundlegendes ten Wirtschaft verschärften die Probleme der DDR-Be- Dilemma. Aus globaler Sicht bestand vor allem im indust- triebe noch zusätzlich. riellen Bereich kein Bedarf für Produktion auf dem Gebiet der neuen Länder. Überall in der Welt waren freie Produk- Was wäre ohne die Währungsunion wirtschaftlich anders tionskapazitäten vorhanden, an Güterangebot mangelte gewesen? Die dann weiter umlaufende Mark der DDR wä- es nicht. Der Marktdruck alleine hätte die Substitution re vermutlich drastisch abgewertet worden. Die preisliche heimischer Produktion im Osten durch auswärtige Pro- Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Betriebe wäre gestützt duktion, die längst im Gange war, unerbittlich fortgesetzt. worden. Wie stark das Produktion und Absatz stabilisiert Das hätte schlimmstenfalls zu einer wirtschaftlichen Ver- hätte (ob überhaupt), ist ungewiss. Gleichzeitig wäre die ödung Ostdeutschlands geführt. Dem konnte nur der Kaufkraft der DDR-Bevölkerung bezüglich der begehrten Staat entgegenwirken, wer sonst. Der Aufbau Ost musste Güter aus dem Westen geschrumpft. Welche Folgereak- zum Erfolg gebracht werden, koste es, was es wolle. Kal- tionen das ausgelöst hätte (verstärkte Abwanderungen, kulierbar waren die Kosten ohnehin nicht. höhere Lohnforderungen), ist ebenfalls ungewiss. Nichts geändert hätte die Abwertungsstrategie an dem grundle- Infrastruktur sanieren genden Erfordernis, die DDR-Wirtschaft durch Reformen so rasch wie möglich umzugestalten, damit sie im Wett- Die Infrastruktur der DDR war in einem schlechten Zu- bewerb offener Wirtschaften mithalten konnte. stand: verschlissene Verkehrswege, Zerfall in den Innen- städten, massive Umweltbelastungen. Das machte den Aufbau Ost – Koste es, was es wolle Standort Ostdeutschland für Investierende unattraktiv. Nicht nur deswegen war die Sanierung der Infrastruktur Marktdruck dämpfen vordringlich. Zugleich ging es darum, die allgemeinen Lebensbedingungen für die Menschen in den neuen Län- Dass die Bundesregierung wirtschaftliche Vorbehalte dern rasch zu verbessern, sie mit denen in Westdeutsch- gegen die Währungsunion ausblendete, bedeutet nicht, land vergleichbar zu machen – nicht zuletzt, um die Men- dass sie die wirtschaftlichen Probleme in der DDR (dann schen im Osten zum Bleiben zu bewegen. der neuen Länder) ignoriert hätte. Im Gegenteil! Der Auf- bau Ost wurde als zentrale Herausforderung der Wirt- Die Sanierung der Infrastruktur war erfolgreich. Aber ein schaftspolitik bereits 1990 in Angriff genommen. Das Nebeneffekt war wieder das Gewinner-Verlierer-Phäno- war auch dringend nötig. Denn die DDR-Wirtschaft war men. Die Sanierung der Infrastruktur nutzte im Ergebnis Wirtschaftsdienst 2021 | Konferenzheft 16
Deutsche Einheit Historie zwar allen. Aber nicht der Sanierungsprozess: Wer im Ländern etwa so hoch wie in Belgien, Italien und Spanien Bausektor tätig war, stand wirtschaftlich auf der Sonnen- und höher als in Frankreich. Und gab es nicht zuvor in der seite, denn die Sanierung der Infrastruktur löste einen DDR eine ineffiziente „Überindustrialisierung“? Bauboom sondergleichen aus. Gleichzeitig verloren in an- deren Sektoren, vor allem in der Industrie, viele Beschäf- So sehr Fassungslosigkeit, Angst und Wut der durch Priva- tigte ihren Arbeitsplatz. Dass sich dies später umkehrte tisierung und Stilllegungen belasteten Menschen verständ- (der Bauboom endete, als der Nachholbedarf gedeckt lich waren – ihr Protest richtete sich an die falsche Adresse. war – das Verarbeitende Gewerbe gewann an Boden, als Nicht die Treuhandanstalt hatte die Lasten der marktwirt- die Wirtschaftsförderung griff), ist richtig. Doch bedeute- schaftlichen Erneuerung zu verantworten. Die Lasten wa- te die strukturelle Erneuerung der Wirtschaft beides: den ren Folge des fehlgeleiteten Wirtschaftssystems der DDR, Abbau überholter Strukturen (was die Menschen belaste- deren Betriebe zwar hinter geschlossenen Grenzen am Le- te) und den Aufbau neuer Strukturen (was den Menschen ben gehalten werden konnten (selbst das nicht auf Dauer, Hoffnung brachte). Da der Abbau dem Aufbau vorauseil- wie sich mit dem Ende der DDR gezeigt hat), die aber – so te, löste die marktwirtschaftliche Transformation mindes- wie sie aufgestellt waren – im globalen Wettbewerb ganz tens ein skeptisches Echo aus. überwiegend keine Überlebenschancen hatten. Betriebe privatisieren Trotz der Proteste blieb die Treuhandanstalt bei ihrem Kurs: Privatisierung ist der beste Weg zur Sanierung; wo die Pri- Mit dem Ende des Sozialismus und dem Übergang zur vatisierung nicht gelingt, bleibt nur die Betriebsschließung. Marktwirtschaft stand fest: „Das volkseigene Vermögen Der Prozess konnte nach wenigen Jahren (1994) abge- ist zu privatisieren.“ So stand es lapidar im Treuhandge- schlossen werden. Als am Ende Bilanz gezogen wurde, setz, das die DDR-Volkskammer im Juni 1990 erlassen zeigte sich, dass die Treuhandanstalt mit der Privatisierung hat. Mit der Realisierung wurde die Treuhandanstalt be- des volkseigenen Vermögens keinen Überschuss erwirt- auftragt (die schon im März 1990 gegründet war). Damit schaftet hat (der nach dem Willen der Politik den Sparen- begann eines der schwierigsten Kapitel im Aufbau Ost. den in der DDR hätte zugutekommen sollen), sondern mit Bis heute wird die Tätigkeit der Treuhandanstalt kontro- einem beträchtlichen Defizit abschloss. Das belegte einmal vers diskutiert. Die Ausgangslage ist hinreichend bekannt. mehr, dass der Marktwert des „volkseigenen Vermögens“ Die von der Treuhandanstalt übernommenen „volkseige- der DDR nicht hoch war (um es vorsichtig auszudrücken). nen“ Betriebe waren in der großen Mehrzahl Sanierungs- fälle. Die Sanierung dieser Betriebe durch Privatisierung Gab es zum Kurs der Treuhandanstalt (Sanierung durch sollte wettbewerbsfähige Unternehmen schaffen. Das Privatisierung oder Stilllegung) eine Alternative? Ja, aber war eine positive Perspektive für die Beschäftigten – aber sie wäre ein Albtraum gewesen. Die Alternative wäre ge- nicht für alle. Viele Beschäftigte verloren ihre Arbeit, weil wesen, dass die Treuhandanstalt die Betriebe in eigener die sanierten Betriebe produktiver waren und damit we- Regie saniert, die dafür erforderlichen finanziellen Mittel niger Beschäftigte benötigten als zuvor. Zudem wurden bereitstellt und die Betriebe erst nach erfolgreicher Sanie- Betriebe, für die sich kein Investor fand, stillgelegt, was rung privatisiert. Wieso wäre das ein Albtraum gewesen? ebenfalls zu Arbeitsplatzverlusten führte. Hier zeigte sich Der (verständliche) Wunsch der Beschäftigten, Entlassun- erneut das Gewinner-Verlierer-Phänomen der marktwirt- gen und Betriebsschließungen zu vermeiden, hätte dazu schaftlichen Transformation. geführt, dass schmerzhafte, unpopuläre, aber betriebs- wirtschaftlich notwendige Anpassungen unterblieben wä- Während erfolgreiche Sanierungen üblicherweise keine ren. Marktwirtschaftliches Know-how, das in den DDR- große öffentliche Resonanz fanden, erzeugten Betriebs- Betrieben naturgemäß nicht vorhanden war, das aber für schließungen und Entlassungen offen ein Klima der Wut. Es das Bestehen im Wettbewerb unersetzlich ist, wäre nicht richtete sich gegen die Treuhandanstalt. Demonstrationen im erforderlichen Umfang mobilisiert worden. Das Über- waren an der Tagesordnung. Die Führungskräfte der Treu- leben der Betriebe wäre letztlich nur durch Dauersubven- handanstalt konnten sich nur unter Polizeischutz durch das tionen „gesichert“ worden (wie es in der Staatswirtschaft Land bewegen. Der Treuhandanstalt wurden pauschal un- der DDR üblich war). Wo staatlich subventionierte Betrie- seriöse, kriminelle Machenschaften bei der Privatisierung be einen breiten Raum einnehmen, werden private Inves- unterstellt (die es vereinzelt gegeben hat, die trotzdem kei- tierende abgeschreckt. Die Erneuerung der Wirtschaft in nen Generalverdacht rechtfertigten). Der Treuhandanstalt den neuen Ländern wäre ins Stocken geraten. Es ist der wurde zudem die Verantwortung für die „Deindustrialisie- Politik noch heute hoch anzurechnen, dass sie den Weg rung“ der DDR angelastet – ein kurioser Vorwurf, weil weit der dauerhaften Subventionierung unrentabler Betriebe weg von den Fakten: Noch heute ist der Wertschöpfungs- nicht gegangen ist, obwohl dieser Weg sicherlich populär anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt in den neuen gewesen wäre. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 17
Deutsche Einheit Historie Investitionen fördern und noch viel mehr mentalität und Staatsgläubigkeit erzeugt, was gerade für Ostdeutschland nicht vorteilhaft war. Statt dieser Kritik Die Transformation der ostdeutschen Wirtschaft erforderte wäre es allerdings vorzuziehen gewesen, die Effizienz der Investitionen und viele weitere Schritte, von der Umstruk- einzelnen Fördermaßnahmen im Rahmen von Kosten- turierungsberatung für bisherige DDR-Betriebe bis zur Im- Nutzen-Analysen konkret zu bewerten. Bedauerlicher- plementierung des Steuerrechts der Bundesrepublik. Das weise führen solche Analysen nur selten zu eindeutigen alles in Gang zu setzen, war Aufgabe der Politik. Der Auf- Ergebnissen, vor allem, weil der Nutzen von Maßnahmen bau Ost konnte beginnen. Die Bewältigung der marktwirt- ex ante oft gar nicht und ex post nur schwer zu quanti- schaftlichen Transformation in Ostdeutschland war eine fizieren ist. In einer solchen Situation bleibt der Politik, Jahrhundertaufgabe. Sie wurde ohne große konzeptionelle muss man als Ökonom zugeben, nichts anderes übrig, als Vorbereitung, quasi aus dem Stand angegangen. Maßnahmen, die sinnvoll erscheinen, im Trial-and-Error- Verfahren auszuprobieren und durchzuhalten, solange sie Persönliche Anmerkung: Es gab ab 1990 unzählige Diskus- keine offenkundig schädlichen Nebenwirkungen haben. sionsbeiträge zur Ausgestaltung des Aufbaus. Man legt es Die Folge war das breit gefächerte Förderprogramm. mir hoffentlich nicht als ungebührliche Eigenwerbung aus, wenn ich hier auf das Jahresgutachten 1990/1991 des Selbst wenn potentiell schädliche Nebenwirkungen von Sachverständigenrats (Viertes Kapitel: Erneuerung der Wirt- Maßnahmen gut abzuschätzen waren, blieb immer noch schaftsstruktur im östlichen Teil Deutschlands) verweise. ein Abwägungsproblem. Beispielsweise bei der finan- Wir hatten damals in einem kompakten Text die zu lösenden ziellen Förderung privater Investitionen: Es besteht die Probleme geschildert, alternative Lösungsansätze diskutiert Gefahr von Fehlinvestitionen, denn niemand kann sicher und vor allem das Pro und Kontra einzelner Maßnahmen ab- sein, dass die geförderte Investition am Markt bestehen gewogen. Ich finde den Text heute noch lesenswert. würde. Es droht Dauersubventionierung, wenn eine geför- derte Investition abgeschrieben ist und die Unternehmerin Der Staat bot ein äußerst umfangreiches Förderpro- für die Ersatzinvestition erneut staatliche Mittel einfordert. gramm für den Aufbau Ost an. Für die Förderung von Es kommt zu unerwünschten Mitnahmeeffekten, wenn der Investitionen standen Investitionskredite, Investitionszu- Staat Investitionen finanziell unterstützt, die der Unterneh- lagen, Eigenkapitalhilfen bereit. Solche Maßnahmen wur- mer auch ohne Förderung durchgeführt hätte. Wegen sol- den nicht für Ostdeutschland neu erfunden – es waren cher Gefahren von vornherein auf Investitionsförderung zu Maßnahmen, die man aus der regionalen und sektoralen verzichten, konnte trotzdem nicht die Lösung sein. Letzt- Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik und der Europäi- lich bleibt es ein Abwägungsproblem, ob eine bestimm- schen Gemeinschaft kannte. Andere Fördermaßnahmen te Maßnahme trotz möglicher Risiken durchgeführt wird. kamen hinzu: Forschungsförderung, Technologietransfer, Entscheiden muss so etwas letztlich die Politik. berufliche Qualifizierung von Fach- und Führungskräften und des Mittelstands, Bürgschaften, Garantien. Parallel Nicht immer führt die Abwägung zu überzeugenden Lö- wurden arbeitsmarktpolitische Programme aufgelegt, um sungen. Ein krasses Beispiel hierfür war der Grundsatz der Demotivation und Dequalifikation der vielen Arbeits- „Rückgabe vor Entschädigung“. Alteigentümer:innen, de- losen entgegenzuwirken. Die staatliche Förderung Ost ren Vermögen, unter anderem Immobilien, auf dem Ge- wurde immer weiter ausgebaut und differenziert. 20 Jah- biet der DDR enteignet worden war (in der NS-Zeit und re nach dem Fall der Mauer listete die Bundesregierung in der DDR, mit Ausnahme der durch die sowjetische Be- nicht weniger als 68 „Maßnahmen der Bundesregierung satzungsmacht vorgenommenen Enteignungen), konnten für die neuen Länder“ auf. Hinzu kam eine unbekannte Naturalrestitution (Rückgabe des Vermögens) verlangen. Zahl von Förderangeboten der Länder. Was von der Politik als Schritt zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit gedacht war, erwies sich als Investitions- Wer sich als beratender Ökonom mit dem Programm zum hemmnis im Aufbau Ost: Da die Restitutionsansprüche Aufbau Ost auseinandersetzte, lernte schnell Beschei- gerade bei Immobilien häufig umstritten waren und Ent- denheit. Statt mit präzisen Vorschlägen für effiziente Auf- scheidungen sehr lange dauerten, waren Investitionen auf baumaßnahmen zu brillieren, war man mit einer Realität diesen Grundstücken lange Zeit blockiert. Eine monetäre konfrontiert, die notgedrungen von Trial and Error geprägt Entschädigung hätte dagegen Investitionen auf den be- war. Die Vielzahl der Fördermaßnahmen konnte man als troffenen Grundstücken sofort ermöglicht. „unüberschaubares Sammelsurium“ kritisieren (das war es sicherlich auch), dessen Wirksamkeit im Einzelnen Ein alter Streitpunkt in der Regionalpolitik ist, ob sie die oft ungewiss blieb (auch das trifft zu). Mit Recht war zu regional unterschiedliche Wirtschaftskraft ausgleichen warnen, dass ein Förderprogramm, das alles und jede soll (wie es die Politik in strukturschwachen Regionen ökonomische Aktivität unterstützt, letztlich Subventions- fordert) oder ob sie „Wachstumspole“ fördern soll (was Wirtschaftsdienst 2021 | Konferenzheft 18
Deutsche Einheit Historie auf effiziente Mittelverwendung bedachte Ökonom:innen schaftsleistung sind der Normalfall, und sie bleiben bis zu vorziehen). Wachstumspole sind Regionen, in denen ein einem gewissen Grad bestehen. vielversprechendes Wirtschaftspotential vorhanden ist – aufgrund der Bevölkerungsstruktur, der bereits verfüg- Es macht allerdings immer weniger Sinn, die Wirtschafts- baren (wenn auch vielleicht noch sanierungsbedürftigen) leistung Ost mit der von West nur anhand von Durch- Infrastruktur, der industriellen Tradition, der Ausstattung schnittswerten für die Wirtschaftsleistung zu vergleichen. mit weichen Standortfaktoren. Der Streit hat etwas Theo- Inzwischen hat sich in Ostdeutschland ein regionales retisches. Die Erfahrung zeigt, dass es für einen flächen- Gefälle der Wirtschaftsleistung herausgebildet. In West- deckenden Ausgleich gar nicht genug Investierende gibt. deutschland gibt es das schon immer. Die Abbildung 1 Sie bevorzugen naturgemäß solche Wirtschaftsstandor- zeigt das regionale Gefälle der Wirtschaftsleistung (BIP je te, die die Merkmale eines Wachstumspols aufweisen. Einwohner:in) in West und Ost. Die Regionen (Kreise) sind Wo ein Wachstumspol liegt, welche Ausdehnung er hat, nach absteigender Wirtschaftsleistung geordnet. entscheidet dabei nicht staatliche Planung am Reißbrett, sondern ergibt sich aus dem Ansiedlungsverhalten von Regionalgefälle der Wirtschaftsleistung in Investierenden. Auch in Ostdeutschland hat sich trotz Deutschland eines im Großen und Ganzen flächendeckenden Förder- angebots eine beachtliche regionale Differenzierung der Die Wirtschaftsleistung ist in Westdeutschland in 104 Wirtschaftskraft herausgebildet (wovon noch zu reden Kreisen mit 26 Mio. Einwohner:innen überdurchschnitt- sein wird). Die Politik muss allerdings darauf achten, dass lich, unterdurchschnittlich in (324-104=) 220 Kreisen mit aus strukturschwachen Regionen nicht abgehängte Regi- 40 Mio. Einwohner:innen. In Ostdeutschland ist die Wirt- onen werden. Es wäre daher widersinnig, einem Investor schaftsleistung in vier Kreisen leicht überdurchschnitt- die Förderung zu verweigern, wenn er in einer struktur- lich, in 73 Kreisen unterdurchschnittlich. Die sechs Kreise schwachen Region statt in einem politisch beworbenen mit der niedrigsten Wirtschaftsleistung liegen im Westen. Wachstumspol investieren will. Für die Bewertung des Aufbaus Ost ist hervorzuheben: Erreicht, was zu erreichen war Ostdeutschland weist inzwischen sowohl vom Niveau als auch von der regionalen Streuung seiner Wirtschafts- Lief da etwas falsch? Oder: Wie ist der Aufbau Ost nach leistung her ein Profil auf, das in Westdeutschland für 30 Jahren zu bewerten? Im Ganzen positiv! Die gesamt- ein Regionencluster gilt, in dem mit 40 Mio. nahezu die wirtschaftliche Produktion hat sich in Ostdeutschland Hälfte der Deutschen wohnt. Das sollte die nicht selten zu seit der Wiedervereinigung verdoppelt. Im Jahr 2019 hörende Enttäuschung, ja Resignation angesichts „des“ erzielten die neuen Länder eine Wirtschaftsleistung (je wirtschaftlichen Rückstands „des“ Ostens gegenüber Einwohner:in) von 69 % im Vergleich zu den alten Län- „dem“ Westen relativieren. Die 16 Mio. Ostdeutschen sind dern. Vor 30 Jahren (1991) waren es nur 32 %.1 Das ist wirtschaftlich ebenso wenig „abgehängt“ wie die 40 Mio. ein gewaltiger Aufholprozess. Bedeutet der verbliebene aus Westdeutschland. Um kein Missverständnis zuzulas- Rückstand nicht aber, dass die staatliche Förderpolitik sen: Abfinden mit unterdurchschnittlicher Wirtschafts- für die neuen Länder wenigstens teilweise gescheitert ist? kraft muss sich niemand, weder im Osten noch im Wes- Dem ist zu widersprechen. Der Staat hat getan, was er tun ten. Regionalpolitik muss immer versuchen, Regionen mit konnte. Keine gute Idee wurde ignoriert. Patentrezepte für niedriger Wirtschaftsleistung voranzubringen. Nur ist das eine vollständige Angleichung hat niemand geboten. Am keine spezifisch ostdeutsche Aufgabe, sondern gilt im Ende ist erreicht worden, was zu erreichen war. Westen gleichermaßen. Und: Aufholprozesse auf 100 % wird es in der Breite auch künftig nicht geben, weder im Dieses positive Urteil wird nicht teilen, wer die volle An- Westen noch im Osten. gleichung der Wirtschaftsleistung Ost an das Westniveau nach wie vor als Ziel propagiert. Dem ist klipp und klar Wie steht es dann aber um die „Herstellung gleichwer- entgegenzuhalten: Die vollständige Angleichung ist ei- tiger Lebensverhältnisse“ (Art. 72 GG), die propagierte ne Illusion. Das vereinte Deutschland muss hinnehmen, politische Forderung? Mit „Gleichwertigkeit“ kann nicht was in Westdeutschland und anderen Volkswirtschaften die Gleichheit der Wirtschaftsleistung zwischen den seit jeher Realität ist: Regionale Unterschiede in der Wirt- Regionen gemeint sein. Denn die lässt sich nirgendwo herstellen. Elemente gleichwertiger Lebensverhältnis- se zwischen Ost und West lassen sich dennoch viele benennen. Die persönliche Freiheit der ostdeutschen 1 Die statistischen Angaben in diesem Abschnitt sind den Veröffent- lichungen „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder“, Bürger:innen fand mit der Wiedervereinigung ihre poli- VGRdL (2020), entnommen. tisch-institutionelle Absicherung wie im Westen. Die Le- ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 19
Deutsche Einheit Historie Abbildung 1 längst wieder den Rücken gekehrt. In meinem Umfeld Regionalgefälle der Wirtschaftsleistung in treffe ich auf erfreulich viele Ostdeutsche, die diese po- Deutschland sitive Wertung teilen und leben. Ich werbe dafür, das Ge- BIP je Einwohner:in, 1.000 Euro, 2017 geneinandersetzen des Ostens und des Westens 30 Jahre 200 nach der Vereinigung endlich zu beenden. Ost und West 180 West West Ost sind heute eng verflochten, wirtschaftlich, institutionell und 26 40 Mio. 16 politisch sowieso. In nicht geringer Zahl leben ehemals 160 Einwohner:innen Westdeutsche in Ostdeutschland, wie ehemals Ostdeut- 140 sche in Westdeutschland leben. Es mögen immer noch 120 Mentalitätsunterschiede bestehen (die unterschiedlichen 100 Gesellschaftssysteme vor der Wiedervereinigung wirken 80 nach); aber sie werden sich verwischen. Wenn Ost und 60 West heute vor Herausforderungen stehen – Sicherung Durchschnitt der Energieversorgung, Bewältigung des Klimawandels, 40 Integration von Migrant:innen, Umgang mit der Alterung 20 –, dann gibt es hierfür keine ostdeutschen und westdeut- 0 schen Lösungen, sondern eben nur gesamtdeutsche. 1 104 324 401 Regionen in Deutschland (401 Kreise) Quelle: VGR der Länder (2019), R2B1 Literatur Aufruf (1989), „Für unser Land“, Neues Deutschland, 29. November, 2. Die Endfassung des Aufrufs hatte die Schriftstellerin Christa Wolf ver- fasst. Öffentlich vorgetragen hat ihn der Schriftsteller Stefan Heym, https://www.chronik-der-mauer.de/material/178900/aufruf-fuer-un- bensbedingungen im Osten sind heute denen im Westen ser-land-neues-deutschland-26-november-1989; (18. Januar 2021). gleich. Im Rechtswesen, Informationssystem (freie Pres- Bundeskanzler Kohl (1989a), Rede im Deutschen Bundestag, Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll, 11/173, 13016. se, keine Zensur), Bildungssystem, in der medizinischen Bundeskanzler Kohl (1989b), Rede im Deutschen Bundestag („10-Punkte Versorgung, im Kulturangebot – nirgendwo ist der Os- Programm“), Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll, 11/177, 13511. ten im Nachteil. Die Verkehrsinfrastruktur ist in Ost und Bundeskanzler Kohl (1990), Regierungserklärung vom 15. Februar, Deut- scher Bundestag, Plenarprotokoll, 11/197, 15105. West vergleichbar, ebenfalls die Qualität von Wohnraum, Gegenaufruf der „Initiative zur demokratischen Umgestaltung Plauen“ das Angebot von Konsumgütern. Die Standards im Um- (1989), Für die Menschen in unserem Land, http://www.ddr89.de/ weltschutz unterscheiden sich nicht mehr. Das alles sind ddr89/d/plauen_land.html (18. Januar 2021). Institut für Demoskopie Allensbach (2019), Umfrage Bevölkerung ab 16 Belege für die inzwischen erreichte Gleichwertigkeit. Das Jahren, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Juli. schlägt sich in Umfragen nieder. Danach sind Ostdeut- Konrad-Adenauer-Stiftung (2020), Regionale Vielfalt 30 Jahre nach der sche heute mehrheitlich (78 %) „mit ihrem gegenwärtigen Wiedervereinigung. Modrow, H. (1989), Regierungserklärung vom 17.11.89, Neues Deutsch- Leben“ zufrieden (Konrad-Adenauer-Stiftung, 2020). Und land, 18./19. November, http://www.glasnost.de/hist/ddr/89regerkl. das mit Recht. html (18. Januar 2021). Schürer, G., G. Beil, A. Schalk, E. Höfner und A. Donda (1989), Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen. Vorlage für Zum Abschluss noch eine persönliche Anmerkung: Ich das Politbüro des Zentralkomitees der SED, 30. Oktober, https://doc- bin 1993 von West nach Ost gezogen und erlebte damals player.org/21375465-Betreff-analyse-der-oekonomischen-lage-der- nicht, empfinde aber heute jeden Tag die Gleichwertigkeit ddr-mit-schlussfolgerungen.html (18. Januar 2021). der Lebensverhältnisse. Ohne diese hätte ich dem Osten Title: „Aufbau Ost“ (Reconstruction East): Was There Something Wrong? Abstract: The socialist economic system of the GDR collapsed in 1990. After reunification, the core objective of the Aufbau Ost was to create a business sector in the former GDR that could survive in international competition. The former socialist enterprises were privatised or closed down. The state has massively encouraged investment through subsidies. Eastern Germany now has an economic performance comparable to that of large parts of Western Germany (though not all of them). It is particularly noteworthy that the general living conditions in Eastern Germany today are similar to those in the West. The reconstruction of the East has achieved what could be achieved. JEL Classification: O10, R11 Wirtschaftsdienst 2021 | Konferenzheft 20
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