SOZIALE UND WIRTSCHAFTLICHE HERAUSFORDERUNGEN CHINAS: DIE WICHTIGSTEN STRUKTURELLEN FRAGEN IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE - BPB

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Soziale und wirtschaftliche Herausforderungen Chinas: Die wichtigsten
strukturellen Fragen in historischer Perspektive
Jörg-Meinhard Rudolph

Was ist mit Herausforderungen Chinas gemeint? Die, die sich im bzw. dem Lande stellen, der Regierung oder
der Bevölkerung? Oder diejenigen Herausforderungen, die China der restlichen Menschheit stellt? Zum Beispiel,
wenn die Entwicklung des Landes so weiter geht wie in den vergangenen Jahren?

Im Folgenden verstehe ich die Fragestellung so, dass damit die Herausforderungen gemeint sind, die China für
die Welt darstellen könnte, wenn dort alles in der Weise fortschreitet, wie wir es in den letzten Jahren gewohnt
wurden zu sehen.

Europas Kaufleute, Könige, Glücksritter, Kapitalisten und Manager sind seit Jahrhunderten, seit Marco Polos
Bestseller Il Millione, von Chinas Reichtum und Potential fasziniert. Immer wieder haben sie versucht, mit
Gewalt und mit Diplomatie, diesen Riesenmarkt für sich zu öffnen. Bislang ist es ihnen nicht gelungen. Bislang
sind sie noch immer an der chinesischen Welt gescheitert, deren Schriftzeichen-Kultur für sie undurchdringlich
bleibt, aber auch verlockend-geheimnisvoll.

Heute sind Manager in Wirtschaft und Politik, Unternehmensvorstände, Kanzler, Bundes- und Landesminister,
Ministerialbeamte und Verbandsfunktionäre von China und seiner wirtschaftlichen Entwicklung in einer Weise
hypnotisiert, die es bisher noch nicht gab. Manchmal scheint es, wenn man ihnen folgt, als käme alle Hoffnung
nur noch aus jenem Lande. Seit Jahren setzen sie in der Öffentlichkeit die China-Themen, und derer gibt es nur
noch zwei: die Absatzchancen die der riesige Markt Unternehmen und der deutschen Wirtschaft insgesamt
biete und - abgeleitet daraus - die Rendite von China-Investitionen.

Die so das Thema setzen, denken freilich immer nur im Rahmen der Firma, die sie angestellt hat, ja, im Grunde
nur im Rahmen eines einzelnen Produkts oder einer Produktfamilie, die sie betreuen - Autos oder Luftfracht.
Darüber, was ihr so energisches Tun eines vielleicht gar nicht allzu fernen Tages für die Welt - inklusive der
chinesischen natürlich- bedeuten könnte, reden diese Manager und Politiker nicht.

Dabei lohnt es sich, zur Abwechslung auch einmal in diese Richtung zu denken, die Prognosen ernst zu nehmen
und zu fragen, ob dieses riesige Land mit seinen vielen emsigen Bewohnern nicht schon bald eine ebenso riesige
Belastung für die Welt darstellen könnte. Immerhin hat dies vor 200 Jahren schon einmal jemand getan, ein auch
heute noch sehr bekannter Eroberer, der quasi von Berufs wegen andere Länder einschätzen musste. Er sagte:

           China ist ein schlafender Riese. Laßt ihn liegen und schlafen, denn wenn er sich erhebt, erzittert die
           Welt.
           (Napoleon, nach der Lektüre des Reiseberichtes des ersten offiziellen, königlichen englischen
           Gesandten nach China [1793], Lord Macartney, vermutlich um 1800.)

Dieser Satz Napoleons ist übrigens auch in China gut bekannt, löst dort allerdings nicht Furcht oder
Beklommenheit aus, sondern großen Stolz.

1
Chinas Wirtschaft boomt
                                                                                             1
    ·   Das chinesische Wirtschaftswachstum beträgt seit Jahren um die 8 Prozent . Das
        Bruttoinlandsprodukt stieg 2002 auf 1.200 Milliarden US-Dollar, womit das Land an 6. Stelle
                                                                                     2
        der Welt liegt, schon vor Italien und nicht mehr weit hinter Frankreich.
    ·   Die Sparguthaben der Chinesen lagen Anfang 2003 bei 13 000 Milliarden Yuan (ca. 150
        Milliarden Euro).
    ·   Im Jahre 2002, das feiern die PR-Abteilungen vieler Autohersteller seit einigen Monaten
        besonders laut, seien in China erstmals mehr als 1 Million PKW verkauft, worden (knapp die
        Hälfte davon mit dem VW-Zeichen. Volkswagen bezeichnete China in seinen letzten
        Mitteilungen als seinen größten Auslandsmarkt, also auch größer als die Vereinigten
        Staaten!).
    ·   Im gleichen Jahr reisten 16,6 Millionen Chinesen als Touristen ins Ausland (+ 37 Prozent
        gegenüber 2001), meist nach Asien zwar (nach Japan 611 000), aber mit deutlich steigender
        Tendenz auch nach Europa. Die staatliche Deutsche Zentrale für Tourismus, deren Aufgabe
        es ist, ausländische Besucher nach Deutschland zu locken, rechnet ganz ernsthaft für dieses
                                                         3
        Jahr mit 600 000 Chinesen für Deutschland und erwartet 2009 nicht weniger als 1 Million.
    ·   Die Einkommen der Chinesen erhöhten sich von 1980 bis heute um rund das Zwanzigfache
        (die der Deutschen in der gleichen Zeit hingegen nur um das Doppelte).
    ·   Im vergangenen Jahr investierten Ausländer 52 Milliarden US$ in China, insgesamt sind seit
        den frühen 90er Jahren ca. 700 Milliarden US$ ausländischer Direktinvestitionen nach China
                              4
        transferiert worden .
    ·   Die Devisenreserven Chinas beliefen sich Ende Januar auf 300 Milliarden US$.
    ·   Weit über 30 Millionen Chinesen besaßen Ende 2002 einen PC
    ·   und 60 Millionen einen Internet-Zugang (4 Millionen hingen am Breitband, also DSL) - damit
        liegt China an Platz zwei in der Welt, nur hinter den USA.
    ·   Die Exporte Chinas betrugen im vergangenen Jahr 325 Milliarden Dollar und lagen damit um
        22 Prozent über dem Vorjahr.
    ·   200 Millionen Chinesen hatten Ende 2002 ein Mobiltelefon - 25 Prozent mehr als 2001 -
        Platz eins in der Welt.

        1
        Die Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg meldet sogar, im ersten Quartal 2003 habe das
Wachstum 9,9 Prozent betragen! Vgl. South China Morning Post, 15. April 2003.
        2
            1. USA mit 10 000 Milliarden $, 2. Japan mit 4000, 3. Deutschland mit 1800, 4. GB mit 5. Frankreich
mit 1300.
        3
          Nicht ganz klar ist, ob die DZT damit die Zahl der Besucher meint (Kristina Läsker, "Chinesen lieben
bayerische Schlösser und Seen", Süddeutsche Zeitung, 8. März 2003) oder Übernachtungen (Roland Mischke,
"Bierkrüge, Kuckucksuhren - und wo bitte ist die Mauer?", Die Welt, 27. März 2003).
        4
         Allen T. Cheng, "After a decade at the economy's helm, statistics tell Zhu Rongji's story", South China
Morning Post, 28. Februar 2003.

2
Es sind solche Zahlen und die dahinter stehende Entwicklung, die unser China-Bild seit einigen Jahren
bestimmen. Es sind die Medien, meist die gedruckte Presse, die sie in unser Bewusstsein heben.

Zum Beispiel mit Überschriften wie diesen, die in den letzten Wochen erschienen sind:

    ·    "Von einem Rekord zum anderen: China ist für deutsche Autobauer eine Goldgrube",
         Handelsblatt, 19.3.03
    ·    "Transrapid [in China] als Symbol der Hoffnung für 2003", Stuttgarter Zeitung, 30.12.02
    ·    "... einzig in China sehen die deutschen Hersteller von Werkzeugmaschinen einen Lichtblick
         ...", Stuttgarter Zeitung, 19.2.03
    ·    "... einziger Lichtblick für die Flugbranche war die Region Asien/Pazifik ... Triebfeder dabei
         bleibt China ...", FAZ, 12.2.03
    ·    "China für die deutsche Wirtschaft ein Lichtblick in der Krise", Berliner Morgenpost, 22.12.02
    ·    "Wäre China doch überall", Manager Magazin, 18.12.02
    ·    "China verwirklicht deutschen Traum", Ostfriesen Zeitung, 30.12.02
    ·    "Der chinesische Markt entwickelt sich für Volkswagen zur Goldgrube", Manager Magazin,
         14.2.03
    ·    "Lufthansa setzt in Krisenzeiten auf weiteres Wachstum in Asien - China wird erstmals
         wichtiger als Japan", Frankfurter Allgemeine Zeitung, Wirtschaft am 3.3.03

Da mögen auch die Chinesen selbst nicht zurückstehen: "China - Ray of Hope for Sluggish German Economy"
schrieb das Parteiblatt Volkszeitung am 22.12.02.

Chinas fast durchweg zweistellige Wachstumszahlen bewirken offenbar eine Art Rauschzustand bei Leuten, die
etwas verkaufen wollen. Aber was bedeutet es, wenn diese Entwicklung - worauf ja alle Beteiligten unermüdlich
hinarbeiten- so weitergeht? Was wird passieren, wenn sie Erfolg haben?

Die von der offiziellen Statistik letztlich genannten Steigerungsraten für einige Bereiche der Wirtschaft
fortgeschrieben, würden für die Jahre 2010, 2020 und 2025 folgendes Bild5 ergeben:
                                                         Stand
                                           Steigerung(*) 2002         2010          2020          2025
             BIP, Mrd. $                   8%             1,1         2,036         4,396         6,459
             Sparguthaben, Mrd. ¥          16,7%          150         516           2,418         5,233
             Neue Autos, Mio.              25%            1           6             56            169
             Chin. Ausl.-Touristen, Mio.   30%            16          131           1,799         6,681
             Chin. Deut.-Touristen, Tsd.   23%            236         1005          9800          27589
             Einkommen, städtisch, $       12,9%          800         2097          6993          12770
             A-Investitionen, Mrd. $       25%            52          310           2,887         8,809

         5
          Eigene Zusammenstellung des Autors nach verbreiteten Pressemeldungen, insbesondere der
chinesischen Nachrichtenagentur.

3
PC, Mio.                        25%             30         179            1,665         -
           Internetnutzer, Mio.            46%             60         1,239          -             -
           Mobiltelefone, Mio.             45%             200        3,908          -             -
           Devisenreserven, Mrd. $         7%              280        481            946           1,327
           Exporte. Mrd. $                 12%             325        805            2,499         4,405
           Int. Luftfracht, Mio. t         17%             0,5        1,6            7,6           16,7
           Nat. Luftfracht, Mio. t         10%             1,5        3,2            8,3           13,4
(*) Durchschnittliche Steigerungsrate in Prozent.

Sicher, in einigen Punkten ist es eher unwahrscheinlich, dass die Entwicklung (die Zahlen grosso modo als
korrekt unterstellt) anhält wie bisher.

So dürfte es ausgeschlossen sein, dass die jährlichen ausländischen Direktinvestitionen in hergebrachter Art
weiter steigen und 2025 die unglaubliche Summe von 8800 Milliarden Dollar erreichen. Schon 310 Milliarden
Dollar im Jahre 2010 sind unmöglich, denn das wären 60 Prozent der derzeitigen weltweiten ausländischen
Direktinvestitionen.

Und wenn man bedenkt, dass die Exportnation Nr. 1, die Vereinigten Staaten, 2001 Waren und Dienstleistungen
für 1000 Milliarden Dollar exportierten, dann würde China im Jahre 2020 mit 2499 Milliarden einen Wert
erreichen, der zweimal dem der USA plus dem der weltweiten No. 2, Deutschland, zusammen entspräche. Das
letztjährige Wachstum der Weltexporte um 4 Prozent als anhaltend unterstellt, wüchse Chinas Anteil daran von
derzeit 5 Prozent über 9 Prozent 2010 auf 20 Prozent 2020 und 28 Prozent 2025. Im Jahre 2042 entfielen gar 100
Prozent der Weltexporte auf China, was unmöglich ist.

Auch werden wohl weder die Welt noch China im Jahre 2025 die Zahl von 6,6 Milliarden Touristen verkraften,
das Zehnfache der Welt-Auslandsreisenden 2001 (700 Millionen).

Chinas Zukunft: Ein mögliches Szenario
Es wird in den kommenden Jahren mit Sicherheit ein Abflachen des bisherigen Wachstums geben, was allein
schon daraus resultiert, dass die jeweilige Basis, an der die Zunahme sich misst, größer wird. Und je größer sie
ist, desto geringer fällt in der Regel die prozentuale Zunahme aus. Für Unternehmen führt eine solche
Entwicklung aber in der Regel zur Krise, denn die mit hohen Investitionen (meist Krediten) geschaffenen
Kapazitäten für immer mehr Waren sind plötzlich nicht mehr ausgelastet. Die Firmen machen dann schnell
Verluste, entlassen Mitarbeiter oder gehen sogar pleite.

Dann müssen die kreditgebenden Banken für sie sogenannte faule Kredite abschreiben und Sparer
möglicherweise um ihr Geld fürchten. Nicht nur in China würde eine solche Situation zu einer ernsten Lage in
Staat und Gesellschaft führen.

Besonderes Augenmerk verdienen in diesem Zusammenhang die erwähnten ausländischen Direktinvestitionen,
denn sie spielen für das bisher so starke Wachstum der Wirtschaft von alljährlich 8 Prozent eine zentrale Rolle:

4
Die chinesische Wirtschaft wächst nämlich nicht aus eigener Kraft, sondern zum größeren Teil nur deshalb, weil
unaufhörlich Geld aus dem Ausland hereinströmt, seit Jahren ca. 40 Milliarden Dollar als Direktinvestitionen
per annum, insgesamt derzeit ca. 700 Milliarden Dollar.

Über die Hälfte des chinesischen Außenhandels, sowohl der Importe wie der Exporte, wird von ausländisch
investierten und geführten, nach ausländischen Plänen produzierenden und ihre Waren im Ausland
vermarktenden Betrieben erbracht. Warum aber werden diese Artikel alle ausgeführt? Weil sie in China selbst
zur Zeit nicht absetzbar sind, weil sie viel zu teuer für Konsumenten sind, die in den Städten pro Kopf gerade
mal 800 Dollar pro Jahr zur Verfügung haben.

Nach chinesischen Berechnungen nun tragen die ausländischen Investitionen in ihrem Land seit Jahren 2,7
Prozent zum Wachstum der Wirtschaft bei.

Wenn wir nun auch die anderen vielen Milliarden Dollar noch berücksichtigen, die zusätzlich zu den
Direktinvestitionen, nämlich auf Grund der Anwesenheit und Tätigkeit von ca. 300 000 Ausländern im Land als
Kaufkraftzufluss hereinkommen, plus die Milliarden Auslandskredite und Milliarden an Entwicklungshilfe, so
kommen wir leicht auf fünf oder mehr Prozent Wirtschaftswachstum, die ausschließlich darauf zurückgehen,
dass Geld aus dem Ausland nach China fließt. (Der Rest des 8-Prozent-Dauer-Wachstums resultiert sodann -
nach verbreiteter Experten-Auffassung - aus mit Inlandschulden finanzierten Multi-Milliarden-
Investitionsprogrammen der Pekinger Regierung.6) Es findet also kein originäres chinesisches Wachstum statt,
sondern ein vom Ausland induziertes.

Eine Abnahme der ausländischen Investitionen und des ausländischen Kaufkraftzuflusses, das ergibt sich daraus
unmittelbar, müsste ziemlich drastische und negative Folgen für das Land haben. Nämlich für die Exporte und
damit die Deviseneinnahmen und damit für die zur Zeit als gut eingestufte internationale Kreditwürdigkeit
(trotz derzeit 170 Milliarden Dollar Auslandschulden) sowie letztlich dann auch für die Einkommen der
Menschen in den vom ausländischen Investitions- und Kaufkraftzufluss profitierenden Städten an der Küste.
Dies könnte deren Aufmerksamkeit auf ihre Sparguthaben lenken und sie damit konfrontieren, dass diese
inzwischen weitgehend in den faulen Krediten der Banken aufgegangen sein dürften bzw. in der seit Jahren von
der Regierung vorangetriebenen Inlandsverschuldung (derzeit ca. 200 Milliarden Dollar, steigend).

Die Erkenntnis der Menschen, dass ihre Sparguthaben von der Regierung verbraucht wurden, dürfte eine
politisch-gesellschaftliche Lage schaffen, die vermutlich alle Spekulationen über Chinas kommende Bedeutung
für die Welt wie Blasen platzen lassen würde: Es gäbe einen allgemeinen Aufstand - Chaos. China würde sich -
wie ja die längste Zeit in seiner Geschichte- aus der Welt abmelden. Im Unterschied zu früher aber, dürfte dies
wohl in Amerika, Japan und Europa bemerkt werden.

In einem Rückgang des ausländischen Geldzuflusses lauert daher für die Zukunft der chinesischen
Gesellschaftsordnung eine gewaltige Gefahr. Sie heißt: Unruhe und Instabilität, und das nehmen nicht nur die

         6
             Das Haushaltsdefizit liegt 2003 erneut bei 38 Milliarden US-Dollar.

5
Machthaber in Peking, sondern auch die sogenannten westlichen Staaten sehr ernst.

Denken wir nur einmal kurz an ein chinesisches Flüchtlingsproblem!
Nicht zuletzt mit ängstlichem Blick auf weitere Container mit toten, aber erst recht mit lebenden chinesischen
Emigranten in Europa unternehmen Bundesregierung und EU deshalb seit Jahren was sie können, um den
Kapitalfluss nach China aufrechtzuerhalten. Ich gehe deshalb im folgenden davon aus, dass die Entwicklung in
etwa so anhält wie bisher.

Wenn jedoch keine große Krise den Gang der Entwicklung in China ändert, wie könnte es dann mit diesem Land
weitergehen?

Wenn das ausländische Geld in etwa so weiter fließt wie bisher, läßt die Entwicklung mit zweistelligen
Wachstumsraten nichts Gutes ahnen.

In Bezug auf Autos zum Beispiel ist die oben ermittelte Zahl von ca. 6 Millionen Neuzulassungen im Jahre 2010
gar nicht so weit von dem entfernt, was deutsche, japanische, amerikanische, französische etc. Auto-Manager in
den letzten Monaten als Planung für ihre Produktionsanlagen in China bekanntgegeben haben.

Eine Zusammenstellung ihrer angekündigten Produktionspläne ergibt bereits für das Jahr 2009 eine
Jahresproduktion von 7,5 Millionen PKW in China (ohne Motorräder, LKWs, Busse etc.)7.

Im Vergleich dazu sind die obigen sechs Millionen für 2010 also noch sehr konservativ gerechnet. Im Jahre
2020 aber würden 56 Millionen PKW neu zugelassen, was ziemlich genau dem Weltjahresabsatz von 2002
entspräche.
Und warum sollte China nicht in 17 Jahren billig sein, was Europäern, Amerikanern, Japanern etc. schon heute
recht ist? Oder gibt es ein Argument, den Chinesen ihre Autos zu verbieten, solange man sie selbst fährt bzw.
herstellt und (gut) davon lebt?
Bei so vielen Autos allerdings fällt uns natürlich sofort unsere Erde ein. Könnte die das verkraften?

Ein Wachstum der bunten, schönen Autowelt ist schließlich unmöglich ohne steigenden Verbrauch von
Energie, Roh- und Betriebsstoffen zu ihrer Herstellung und natürlich der sozusagen industriellen
Ausscheidungen, die damit und mit ihrer Außerbetriebstellung verbunden sind wie Abgas, Abwasser, Abfall,
Müll. Und dann werden diese Autos gefahren und verbrauchen Benzin. Wenn wir eine jährliche Fahrleistung
dieser chinesischen Autos von 10 000 Kilometer zu Grunde legen und einen Verbrauch von 10 Litern pro
100km, dann ergibt das eine Tonne Benzin pro Fahrzeug und Jahr oder 56 Millionen Tonnen nur für die neu in
Verkehr gebrachten Autos.

Aber die alten PKW fahren derweil ja auch noch. Wie viele werden das sein? In Deutschland werden pro Jahr
ca. 3,2 Millionen Autos neu in den Verkehr gebracht,

         7
             Vgl.: Sju Tsai Nr. 4 vom 7.2.03 auf: http://Xiucai.OAI.de

6
der Gesamtbestand aber liegt derzeit bei ca. 40 Millionen. Dieses Verhältnis von rund 1:13 zwischen
Neuzulassungen und Bestand auf China übertragen würde im Jahre 2020 einen chinesischen PKW-Bestand von
13 mal 56 Millionen gleich 700 Millionen Autos bedeuten. Das wäre mehr als der heutige Weltbestand von 500
Millionen. Ihr Jahres-Benzinverbrauch läge bei ca. 700 Millionen Tonnen, was knapp eine Verdoppelung des
heutigen Welt-Benzinverbrauchs pro Jahr entspräche.

Spontan bekommt jeder, der diese Zahlen hört, einen Schreck. Man mag sich das anscheinend gar nicht
vorstellen und wehrt die Zahlen als unrealistisch ab. Sind sie das aber wirklich? Erzählt uns nicht jeder China-
Besucher aus Wirtschaft und Politik heute von aktuellen Zuständen und Entwicklungen, die er "vor zehn Jahren"
für gänzlich unmöglich gehalten hätte? (Dazu gehört auch die Entstehung eines privaten Automarktes!) Oder
stimmen die obigen Zahlen nicht, obwohl sie doch als Jahresfaktum allseits so positiv wahrgenommen werden?
Sind sie vielleicht nur zur Hälfte wahr? Nun, dann wird es nur doppelt solange dauern, bis der genannte Zustand
erreicht ist. An der Sache ändert es nichts.

Vielleicht aber sind 700 Millionen zusätzliche PKW auch gar nicht so schlimm. Die Ingenieure werden das
richten mit der Massenproduktion eines rückstandsfreien Verbrennungsmotors vielleicht. Aber: Autos sind ja nur
ein einziges Produkt. Was ist mit dem Getreideverbrauch bei steigendem Fleischkonsum? Dem
Stromverbrauch der Personal Computer und anderen Elektrogeräte in chinesischen Haushalten? Wie viele
Millionen Tonnen Kohle werden chinesische Kraftwerke verbrennen, um den benötigten Strom herzustellen?
Wie viele Barrel Öl müssen ins Land eingeführt werden, das schon heute zu 30 Prozent von Importen abhängt?
Um wieviel muss die Produktion all jener Güter steigen, die zur Herstellung eines Autos benötigt werden - Stahl,
Lacke, Kunststoff, Gummi, Kupfer etc. etc.?

Wenn eintrifft, worauf sich die Deutsche Zentrale für Tourismus und viele deutsche Hoteliers derzeit - trotz
SARS- freuen, nämlich dass schon 2009 eine Million Chinesen als Touristen nach Deutschland kommen, so
würde das für die Lufthansa und die Air China bedeuten, dass sie 2564 Flüge von und 2564 Flüge nach China
zusätzlich betreiben könnten. Es würden also schon in sechs Jahren pro Tag in Deutschland bzw. in China 14
zusätzliche Starts bzw. Landungen stattfinden.
Und wenn die Touristen aus China im Schnitt für sieben Tage blieben, fielen 7 Millionen zusätzliche
Übernachtungen an, ein Fünftel aller internationalen Übernachtungen in Deutschland im Jahre 2000. Für das
Jahr 2020 müssten wir diese Zahlen dann allesamt verzehnfachen: 25 000 zusätzliche Starts, 25 000 zusätzliche
Landungen im Jahr, je 140 pro Tag in Deutschland und China, 70 Millionen zusätzliche Übernachtungen in
Deutschland.

Ob und wie viel davon tatsächlich eintrifft, hängt vor allem von der Entwicklung der chinesischen Einkommen
ab. Nach der obigen Rechnung stiegen sie in den Städten, also für ca. 400 Millionen Menschen, auf fast 13 000
Dollar pro Jahr, womit dort ein Lebensstandard erreicht wäre, der 50 Prozent des heutigen deutschen8 betrüge.
Damit würden also im Jahre 2020 ca. 400 Millionen Chinesen, fünfmal die heutige deutsche Bevölkerung, etwa
die Hälfte dessen verbrauchen, was wir heute konsumieren. Oder, deutlicher gesagt, die Welt müsste in nur 17

         8
             Laut Statistisches Jahrbuch 2001 Für die Bundesrepublik Deutschland betrug das BIP je Einwohner

7
Jahren mehr als das 2,5fache des heutigen deutschen Konsums verkraften. Ist das erreichbar?

Tatsache ist, dass die derzeit am sogenannten China-Geschäft Beteiligten mit großem Einsatz auf dieses Ziel
zusteuern.

Von zwei Seiten her wird mit aller Kraft auf einen Zustand hingearbeitet, der bislang jedem, mit dem ich darüber
sprach, zunächst einmal die Haare zu Berge stehen ließ.

Es sind - um bei Autos zu bleiben und Personen zu nennen - Manager wie die Herren Pischetsrieder und
Büchelhofer von Volkswagen, Hideyasu Tagaya von Mitsubishi, Liu Weidong von Dongfeng Peugeot Citroën
und einige andere sowie ihre mit der Marktentwicklung China betrauten Mitarbeiter. Sie und ihre vielen, vielen
Auto-Mitbewerber, aber auch alle in den anderen Branchen aktiven, haben nur ein Ziel und suchen bei seiner
Verwirklichung alles auszuschalten, was behindern könnte: immer mehr von allem - größere Umsätze, größeren
Verbrauch, größere Gewinne, schnellerer Umschlag, schnellerer Ersatz. Und sie sind nicht allein.

Ihre Partner dabei, auf der anderen Seite des eurasischen Kontinents, sind die großen und kleinen Machthaber
in China - vom Partei- und Staatschef über den Premier und Parlamentschef, die Provinz-Gouverneure, die
Bürgermeister der großen Städte wie Shanghai, Kanton und Wuhan (aber auch der kleinen) bis hinab an die
Basis, die Joint-Venture-Fabrikdirektoren.

Die alle sind genauso hinter den großen Zahlen und dem großen Wachstum her wie die kapital-schweren
Firmen-Vorstände in Europa, Amerika und Japan. Sie verfolgen die grundsätzlich gleichen Ziele: Mehr!

Diese Chinesen aber sind auch vollkommen frei in ihrem Handeln, sofern es nur dem Ziel einer Steigerung des
chinesischen Bruttosozialprodukts dient. Nichts schränkt sie ein, selbst größte und ziemlich fragwürdige Projekte
zu beschließen und in Windeseile, ohne dass sie auf nennenswerten Widerstand in der Gesellschaft treffen, in die
Tat umsetzen zu lassen.

·   Deng Xiaoping ließ in Shanghai Pudong bebauen, weil er ein eigenes Hongkong haben wollte
    und es bekam. Ein Denkmal, bezahlt mit Staatsgeld.
·   Li Peng bekam den Drei-Schluchten-Damm. Ein Denkmal, bezahlt mit Staatsgeld.
·   Zhu Rongji bekam den Transrapid in Shanghai. Ein Denkmal, bezahlt mit chinesischem und
    deutschem Staatsgeld.

Und dies setzt sich fort über die Denkmäler der Provinz-Gouverneure bis zu denen der Bürgermeister auch
kleiner Städte. Kurz: Das gesamte Land ist - in abgestuftem Umfang - die Beute seiner großen und kleinen
Machthaber. Die können frei über China und seine Ressourcen verfügen, ohne Rechenschaft darüber ablegen zu
müssen. Neben ihrem Ziel des Immer-Mehr-Von-Allem (selbstverständlich auch für sich selbst und die
Familienangehörigen) kommt bei Chinesen noch ein weiteres Motiv als mächtige Treibkraft hinzu, nämlich,
China endlich wieder zur Nummer Eins in der Welt zu machen.

48 000 DM = ca. 24 000 Dollar im Jahre 2000, S. 655.

8
Dies ist ein Ziel, das chinesische Herrscher seit etwa 150 Jahren um- und antreibt. Mit ihm legitimieren sie auch
ihre Herrschaft, seit sie durch die vernichtende und demütigende Niederlage vor allem im 2. Opiumkrieg 1858,
den folgenden Land- und Privilegiennahmen der Europäer sowie ihrer Niederlage im 1. japanisch-chinesischen
Krieg von 1894/95 lernen mussten, dass ihr China keineswegs die höchst entwickelte Kultur der Erde war, wie
sie immer gedacht hatten, sondern vielmehr ein Land, das in keinerlei Hinsicht mit Wirtschaft, Industrie,
Technik, Wissenschaft und Kultur der Europäer mithalten konnte.

Bis heute sitzt der Stachel dieser Erfahrung mit den europäischen Barbaren tief im Fleische aller chinesischen
Machthaber und, sofern sie propagandistisch-demagogisch daran rühren, antwortet auch die Bevölkerung
umgehend und willig auf entsprechende Appelle. Kein Volk der Erde dürfte so leicht beleidigt reagieren und zur
Weißglut gelangen wie das chinesische, wenn es meint, schon wieder ungerecht behandelt zu werden. Und kein
anderes Volk dürfte so versessen darauf sein, diese immer noch lebendige Schande von gestern lieber heute als
morgen durch größtmögliche Erfolge auf jeglichem Gebiet abzustreifen. Chinesen möchten es der Welt
(bisweilen) zeigen oder, in den oft gebrauchten Worten der Machthaber, wenn sie feierliche Reden halten: China
muss größere Beiträge für die Welt leisten. Welcher andere Staat sagt das noch von sich?

In diesem Sendungsbewusstsein eines Verkannten liegt die Wurzel für das ewige Funktionieren auch
unsinnigster Kampagnen wie dem Großen Sprung Nach Vorn (1958). In Massen nahmen die Chinesen daran teil
und in Massen beteiligten sie sich auch an der Kulturrevolution, die das gleiche Ziel hatte - ein neuer
chinesischer Mensch als Vorbild für die Welt. In Massen und erregter Ausländerfeindlichkeit strömen
chinesische Studenten - Intellektuelle!- 1999 zusammen, als ihre Botschaft in Belgrad bombardiert worden war,
spontan - nicht organisiert! - feierten sie in Peking zu Tausenden im Sommer 2001 den Zuspruch der
Olympischen Spiele 2008, und im Folgejahr in Shanghai sogar den der Expo (die sonst keiner mehr haben will).
Im Herbst 2003 soll der erste chinesische Astronaut um die Erde fliegen ...9
So treffen also ein viel-mehr-verfolgender West-Manager mit viel Kapital in China auf absolute Machthaber,
die nach Anerkennung dürsten und alles tun, um Nr. eins zu werden. Das scheint mir eine ideale Ergänzung für
den Erfolg zu sein. Oder ein recipe for disaster?

Die Frage ist jetzt natürlich: Haben die Chinesen überhaupt das Potential, das Napoleon ihnen zuschrieb? Wird
diese Kombination aus West-Kapital und Ost-Willen die oben genannten Resultate (früher oder später) bewirken
und die Welt erzittern lassen?

Wir wissen, dass China sich im letzten Jahrtausend weder wirtschaftlich, noch technisch, noch
wissenschaftlich nennenswert entwickelte. Hatte es also kein Potential?

Ich glaube, doch. Denn wir wissen auch, zum Beispiel aus den sehr detaillierten Berichten der Jesuiten in China
im 17. und 18. Jahrhundert oder aus geschichtlichen Aufzeichnungen und aus Forschungen des 20. Jahrhunderts,
dass die chinesische Gesellschaft im gleichen Jahrtausend über ein anscheinend riesiges Potential verfügte,

         9
             "China Trains 14 Astronauts for Fall Launch-Paper", Reuters, 16. Februar 2003.

9
seine Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Gesellschaft mindestens so entscheidend zu entwickeln wie das im
Europa des 16. und vor allem 18. Jahrhunderts der Fall war.

Über wichtige, die Wirtschaft mächtig fördernde Erfindungen und Erkenntnisse verfügten die Chinesen bis zum
16. Jahrhundert meist vor den Europäern wie zum Beispiel das Papier, den Buchdruck, das Pulver, den
Kompass. Sie betrieben Überseehandel, navigierten riesige Schiffe auf interkontinentalen Expeditionen,
unterhielten einen wohl organisierten Staat und Güterfertigungen, die bisweilen industrielle Dimensionen
erreichten.

Das gültige Wertesystem der chinesischen Welt aber gab darauf nichts. Hier zählten nicht wie in Europa
Abenteurer-Konquistadoren, Goldsucher, Erfinder, Ingenieure, Rationalisierer und Kaufleute, auch nicht das
Geld und der Wunsch, möglichst viel davon zu besitzen und es überall auf der Erde an sich zu bringen.
In China zählte jedoch nur der belesene, gebildete Literat, der sich selbst vervollkommnete, um ein Edler zu
werden, der schöne Gedichte und weise Sprüche in noch schöneren, aber wenig präzisen Schriftzeichen
schreiben konnte. Vielleicht hätte ein Funke genügt, um den in Wirtschaft und Gesellschaft Chinas vorhandenen
Treibsatz zu zünden. Aber niemand schlug ihn.

Bis zum Sturz des dynastischen Systems 1911 kapselte sich das Land stattdessen in Arroganz vom
aufklärerischen, wissenschaftlichen, technischen und schließlich industrialisierten Europa ab. Bis zum Ende des
19. Jahrhunderts nannten die Machthaber Chinas die Europäer Barbaren. Freilich gelang es nicht, sie draußen zu
halten. Sie waren im Land. Und auch viele Mandarine erkannten die Überlegenheit ihrer Technik und
Organisation. Ihre Versuche ab 1864, diese Dinge zu übernehmen - sie nannten es bezeichnenderweise
Selbststärkungsbewegung, weil sie damit ihre doch überlegene chinesische Welt erhalten wollten - stießen
jedoch auf die Abwehr derjenigen, die ganz oben in der Hierarchie die letzten Entscheidungen trafen.

Es kam deshalb zu keiner Öffnung mit blitzartiger Entwicklung wie in Japan zur gleichen Zeit, sondern nur
zum Einkauf von diesem und jenem und fruchtlosen Versuchen des Kopierens und Wurstelns auf chinesische
Art. Als die Dynastie schließlich 1911 stürzte, war dieser arrogante Widerstand zwar beseitigt, doch es folgten -
wie so oft in der Geschichte des Landes - bis 1927 erst einmal Jahre der Selbstzerfleischung, die eine
Entfesselung der chinesischen Potentiale verhinderten. Gleichwohl zeigten die Menschen in den Städten sofort
ihre große Aufnahmebereitschaft für die sogenannten westlichen Dinge: Sie schnitten nicht nur die
erzwungenen Mandschu-Zöpfe ab, sondern gingen gleich komplett zu westlichen Haarschnitten über und
kleideten sich europäisch. Chinesisches war nicht sehr hoch geachtet.

Radikale Reformer wie Liang Qichao forderten in dieser Zeit sogar, restlos Schluss zu machen mit China und
auch die Schriftzeichen, diese urchinesische Eigenheit, gleich mitabzuschaffen. Liang bezeichnete die Zeichen
als Kloake und als Wurzel der Rückständigkeit Chinas.

Die Landeseinigung unter Tschiang Kai-schek 1927 bot eine neue Chance, das Potential zu zünden. Erst recht,
weil zu diesem Zeitpunkt zahlreiche Ausländer im Lande lebten, die nicht geringe westliche Investitionen
vertraten und Management und Organisation aus dem Westen hereingebracht hatten. Der Krieg der

10
Zentralregierung gegen Maos separaten Staat-im-Staate verhinderte jedoch erneut den Startschuss, die
japanische Besetzung ab 1931 und besonders ab 1937 und schließlich der ab 1945 folgende erneute Bürgerkrieg
der Regierung gegen Maos Armeen taten ein Übriges.

Ab 1949 bestand zwar endlich ein befriedeter, einheitlicher Staat, wohl auch die Bereitschaft der neuen
Herrscher zur flächendeckenden Öffnung, doch machte jetzt erst einmal der Westen dicht: Der Einmarsch
chinesischer Soldaten in Korea und ihr Krieg gegen die UNO-Truppen bewirkten ein westliches Embargo gegen
China, das weitgehend intakt bis zum Februar 1972 andauerte. China schmorte weiter im eigenen Saft, während
der Super-Revolutionär Mao Tse-tung alles unternahm, die Chinesen vom Bleigewicht ihrer Geschichte zu
befreien, alles zu zerstören, was chinesisch war.

Der Nixon-Besuch 1972, sechs Jahrzehnte nach dem Zerbrechen der chinesisch-dynastischen Herrschaftswelt
1911, schuf dann endlich eine ideale Voraussetzung für die Zündung des Potentials: ein befriedeter, effektiv
verwalteter Zentralstaat mit großem Potential erhielt eine Schnittstelle zum Westen. Einige andere
Gegebenheiten sorgten überdies dafür, dass diese lebenswichtige Schnittstelle sehr breit war und in der Folge
extrem durchlässig wurde, nämlich die Erkenntnis der Machthaber, dass die Wirtschaft ihres Landes völlig
ruiniert und mit eigenen Mitteln nicht mehr in den Griff zu bekommen war. Und auf Seiten des Westens kam die
geradezu liebevolle China-Wahrnehmung der dortigen Manager und Politiker hinzu, nämlich:
·    erstens, ihr jahrhundertealter Glauben an einen Riesenmarkt;
·    zweitens, die Anziehungskraft der exotischen chinesischen Welt;
·    drittens, die Liebe des Westens für Mao, weil er in den 60er Jahren mit den Sowjets gebrochen
     hatte, sie gar bekämpfte, und schließlich
·    viertens, der nicht totzukriegende europäisch-amerikanische Missionars- oder Ausbildergeist,
     wenn es darum geht, lernbegierigen Chinesen zu zeigen, wie etwas richtig gemacht werden muss.

Und noch ein günstiger Umstand wäre zu erwähnen, auf den sich diese Kräfte in China stützen konnten: Mao
Tse-tung hatte die traditionelle chinesische Gesellschaft zum Zeitpunkt der sogenannten Öffnung tatsächlich
ziemlich weit zerstört, eine geistige Wüste geschaffen, die nur allzu bereit war, alle Einflüsse und jedes Angebot
des Westens aufzunehmen10. Maos Zerstörung der chinesischen Welt erzielte ihren durchschlagendsten Erfolg
mit der Kulturrevolution, eine durch und durch westliche, europäische Bewegung, die alles ausradieren wollte,
was von der entwicklungs-hemmenden chinesischen Welt noch übrig war.
Eine solche Bewegung der Massenhysterie hatte es in der gesamten zurückliegenden chinesischen Geschichte
nicht gegeben. Sie zeigte so die Verwestlichung Chinas.

         10
           Mao wollte die chinesische Welt vollkommen vernichten, was am deutlichsten vielleicht darin zum
Ausdruck kommt, daß er die Beseitigung der Schriftzeichen anstrebte. Ihm war freilich klar, dass dies ein langer
Prozeß sein musste, weshalb er ja davon sprach, dass die Dämonen alle sieben Jahre wieder hervorkämen und
eine neue Bewegung zu ihrer Vernichtung notwendig machen würden. Dieser revolutionäre Eifer war jedoch
nach seinem Tode nicht mehr vorhanden, weshalb die Dämonen tatsächlich nicht nur wieder hervorkamen,
sondern sich seit dem Ende der neunziger Jahre in immer größerem Tempo prächtig entwickeln. Die chinesische
Welt kommt mächtig zurück, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann wieder vertikal und in den
sogenannten Langzeichen geschrieben werden wird.

11
Ihre Bedeutung für das, was heute in China geschieht, ist nicht zu überschätzen. Jeder Manager kann Mao
dankbar dafür sein, dass er so sehr Tabula rasa gemacht und ihnen wichtigste Voraussetzungen für das
geschaffen hatte, was in den frühen neunziger Jahren machtvoll einsetzte: Die willige Aufnahme westlicher
Wirtschaftsziele. Die heute über China Herrschenden sind in ihren ökonomischen Zielsetzungen und in den
Methoden, sie zu verwirklichen, verwestlicht. Das chinesische Erbe in dieser Hinsicht haben sie weggeworfen.

Müssen wir also davon ausgehen, dass im heutigen China die Potential-Zündung stattgefunden hat, und der
Kapitalismus in seiner Reinkultur des 19. Jahrhunderts mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts die Entwicklung
hemmungslos vorantreibt?

Während sie die ökonomischen Ziele des Westens heute mit den Methoden des Westens verfolgen, unterliegen
die chinesischen Herrscher - wie ausgeführt - nicht den Einschränkungen ihrer westlichen Partner. Keine
öffentliche Kontrolle, keine Medienfreiheit, keine Gerichtsbarkeit, keine Bürgerinitiativen, keine
konkurrierenden Parteien und Interessengruppen hemmen sie. Sie müssen sich niemals rechtfertigen für das, was
sie tun und anordnen. Die chinesischen Machthaber können ihre Ziele ungehemmt ansteuern: Heute brauchen sie
Öl, amerikanische Investitionen und den amerikanischen Absatzmarkt. Und deshalb verhalten sie sich in der
Irak-Frage zurückhaltend, denn sie möchten die vielen Geschäfte, die sie dort in den letzten Jahren begonnen
haben, gerne weiterführen.

Wirtschaftlich sind sie dem Rausch des Mehr, Mehr, Mehr verfallen und nichts in ihrem Staat, der ihre Beute
ist, hält sie davon ab, diesen Rausch auszuleben.
Ja, sie müssen das sogar, denn ihre eigene Herrschaftslegitimation ist immer noch das Wachstum, das Mehr-
von-Allem. Aus Angst vor ihrem Untergang - und der war meist schrecklich in China - müssen sie dem
nachkommen. Gleichzeitig wässern die Manager kapitalkräftiger westlicher Unternehmen, welche die gleichen
Ziele verfolgen11, mit Milliarden Dollars die chinesische Wüste.

Wir haben es deshalb mit einer sehr effektiven Konstellation zu tun, die es in der Geschichte Chinas bisher nicht
gab. Und wie schnell eine abgeschlossene, nicht zuletzt auf chinesischen Kulturgrundlagen basierende
Gesellschaft selbst ohne tatkräftige ausländische Unterstützung industriell expandieren kann, wenn der
europäische Funke ihr Potential entzündet, das bewies nachhaltig und nicht immer mit positiven Folgen Japan
schon in den letzten dreißig Jahren des 19. Jahrhunderts - von der Zeit bis 1945 ganz zu schweigen.

Realistische Prognosen
Folgende Thesen scheinen mir möglich:

1)   Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass eine japanische Entwicklung Chinas nicht stattfinden kann.
2)   Es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass eine wirtschaftliche Krise China für längere Zeit und
     nennenswert hinter den Stand des heute erreichten zurückwerfen könnte.
3)   Es gibt schließlich keinen Grund anzunehmen, dass der seit Jahren nach China sich ergießende Kapital- und

         11
              Dies zu Hause aber wegen konkurrierender öffentlicher Interessen nicht immer so können, wie sie

12
Geldzufluss versiegen würde. Die Attraktivität des letzten Riesenmarktes ist zu groß für eine Wirtschaft, die
     immer weiter wachsen muss. 100 Milliarden Dollar Direktinvestitionen pro Jahr werden heute schon für
     möglich gehalten.
4)   Auch eine politische Krise, die zur Teilung Chinas in kleinere Einzelstaaten führte, wie es oft in der
     Geschichte des Landes der Fall gewesen ist, würde an der grundsätzlichen Richtung der Entwicklung nichts
     ändern. Warum sollte die Summe der Teile weniger ergeben als das Ganze? Eher wäre noch eine
     Beschleunigung der Entwicklung zu erwarten, ausgelöst durch eine verschärfte Konkurrenz der Teile.
5)   So richten wir uns besser darauf ein, dass noch zu unseren Lebzeiten 700 Millionen Autos in China
     umherfahren und auch der restliche Verbrauch vieler hundert Millionen Chinesen in etwa dem deutschen
     Stand von 1980 entsprechen wird.
6)   Napoleons Ratschlag, den Drachen schlafen zu lassen, ist nicht befolgt worden. Der Versuch, ihn heute zu
     betäuben, ist sinnlos.

Dr. Jörg-Meinhard Rudolph war lange Jahre Delegierter der Deutschen Wirtschaft in Peking. Er ist
jetzt Mitarbeiter des Ostasieninstituts der FH Ludwigshafen. Sein Arbeitsschwerpunkte sind
Chinesische Geschichte, Landeskunde Taiwan und Hongkong sowie aktuelle Politik und
Wirtschaftsfragen Chinas.
Kontakt: Rudolph@OAI.de
Weiter Informationen:http://Xiucai.OAI.de/

Zum Thema „China 2020: Vor großen Herausforderungen“ ist von der „Deutschen Bank Research“ eine Studie
im Netz zu finden: http://www.dbresearch.de/servlet/reweb.ReWEB unter dem Punkt Themen -> Emerging
Markets

möchten: siehe Transrapid, siehe Ausbau des Frankfurter Flughafens und, und, und ...

13
Datenmaterial Rudolph
Chinesische Wachstumsraten fortgeschrieben

                                              Durchschn. Steig. Stand   2010    2020    2025
                                              rate             2002

BIP, Mrd. US$                                 8%               1        2       4       6
Deutschland 2002, Mrd. €                                       2

Sparguthaben, Mrd. ¥                          16,7%            150      516     2.418   5.233
Deutschland 2002 Mrd. ¥ (ohne LebVers)                         586

Neue Autos, Mio.                              25%              1        6       56      169
Deutschland 2002, Mio.                                         3,2

Auslands-Touristen, Mio.                      30%              16       131     1.799   6.681
D 2001/02 (nur über Veranstalter)                              40

Einkommen, städt., US$                        17,5%            800      2.097   6.993   12.770
Deutschland (Durchschnitt) 2000 €                              24 000

Ausländische Direkt-Investitionen, Mrd. US$   25%              52       310     2.887   8.809
Deutschland 2001 Mrd. €                                        45

Bestand Personal Computer, Mio.               25%              30       179     1.665   5.082
Deutschland 2002 Mio.                                          30

Internetnutzer, Mio.                          46%              60       1.239   -       -
Deutschland 2001, Mio.                                         31

Bestand Mobiltelefone, Mio.                   45%              200      3.908   -       -
Deutschland 2001, Mio.                                         53

14
Bestand Devisenreserven, Mrd. US$   7%    280   481   946     1.327
Deutschland 2002, Mrd. €                  90

Exporte. Mrd. US$                   12%   325   805   2.499   4.405
Deutschland 2002 Mrd. €                   748

Intern. Luftfracht, Mio. t          17%   0,5   1,6   7,6     16,7
Deutschland 2002 Mio. t                   1

Nat. Luftfracht, Mio. t             10%   1,5   3,2   8,3     13,4

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