AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - MILITÄR - BPB
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70. Jahrgang, 16–17/2020, 14. April 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Militär Benjamin Ziemann Johannes Varwick MILITÄR UND GESELLSCHAFT VON LEISTUNGSGRENZEN IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT UND TRENDWENDEN. WAS SOLL UND KANN Herbert Obinger DIE BUNDESWEHR? MILITÄR ALS IMPULSGEBER STAATLICHER SOZIALPOLITIK Aurel Croissant · David Kuehn MILITÄR UND POLITIK Nina Leonhard IN DEMOKRATIEN WANDEL DES UND AUTOKRATIEN SOLDATENBERUFS Victoria M. Basham Klaus Naumann ÜBER LIBERALEN RECHTSEXTREMISMUS MILITARISMUS UND RECHTSPOPULISMUS ALS PROBLEME DER BUNDESWEHR ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Militär APuZ 16–17/2020 BENJAMIN ZIEMANN JOHANNES VARWICK MILITÄR UND GESELLSCHAFT VON LEISTUNGSGRENZEN IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT UND TRENDWENDEN. WAS SOLL Die Militärgeschichte hat sich von einem UND KANN DIE BUNDESWEHR? Nischenthema zu einer anerkannten Teildisziplin Die deutschen Streitkräfte leben seit Jahren von der Geschichtswissenschaft entwickelt. Eines der der Substanz, leiden also an einer Unterfinan- wichtigsten Themen für Europa im 19. und 20. zierung bei gleichzeitig erhöhtem Gestaltungs- Jahrhundert ist die allgemeine Wehrpflicht. anspruch seitens der Politik. Wie lassen sich Seite 04–10 Auftrag und Mittel wieder in Balance bringen? Seite 31–37 HERBERT OBINGER MILITÄR ALS IMPULSGEBER STAATLICHER AUREL CROISSANT · DAVID KUEHN SOZIALPOLITIK MILITÄR UND POLITIK IN DEMOKRATIEN Geleitet von außenpolitischen Machtambitionen UND AUTOKRATIEN des Staates, haben auch militärische Interessen, Das Militär ist auch im 21. Jahrhundert Symbol Krieg und die Kriegsfolgenbewältigung die und Grundelement moderner Staatlichkeit. staatliche Sozialpolitik geprägt. Vereinzelt war Das Verhältnis zwischen Streitkräften und das Militär ein relevanter sozialpolitischer Akteur. politischem System zu regeln, ist daher ein Seite 11–17 Ordnungsproblem fast aller modernen Staaten. Seite 39–47 NINA LEONHARD WANDEL DES SOLDATENBERUFS VICTORIA M. BASHAM Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem ÜBER LIBERALEN MILITARISMUS Aufkommen neuartiger Konfliktlagen sind für Liberale Demokratien betrachten sich selbst meist die Bundeswehr wie für die meisten Streitkräfte nicht als militaristisch. Doch ist Militarismus in Europa neue Aufgaben entstanden. Auch das – sich auf Krieg vorzubereiten und Kriegführung soldatische Berufsverständnis hat sich verändert. als Mittel der Politik zu normalisieren – Bestand- Seite 18–24 teil ihrer Funktionsweise. Seite 48–52 KLAUS NAUMANN RECHTSEXTREMISMUS UND RECHTSPOPULISMUS ALS PROBLEME DER BUNDESWEHR Häufung von „Verdachtsfällen“, Berichte über eine „Schattenarmee“: Extremistische Tendenzen in einem bewaffneten Machtorgan des demokra- tischen Staates sind gefährlich. Doch wie dicht dran am rechten Rand ist die Bundeswehr? Seite 25–30
EDITORIAL Island hat keins, Liechtenstein auch nicht, und Costa Rica verzichtet seit 1949 darauf: Die Anzahl der Staaten auf der Welt ohne eigenes Militär ist überschau- bar, und vielen Kleinstaaten garantiert eine „Schutzmacht“ die Landesvertei- digung. Ansonsten gilt: Wo ein Staat ist, ist auch Militär. Dessen Rolle variiert von Land zu Land, insbesondere von Demokratien zu Autokratien, aber auch zwischen Staaten mit ähnlicher Herrschafts- und Gesellschaftsordnung. „Mili- tarismus“ wird meist mit undemokratischen Systemen in Verbindung gebracht oder in der Vergangenheit verortet; es gibt aber auch Stimmen, die eine beson- dere Form des Militarismus bei liberalen Demokratien identifizieren. Für die europäische Geschichte war die Einführung der allgemeinen Wehr- pflicht von besonderer Bedeutung, beförderte sie doch Prozesse der Nations- bildung im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Heute zieht nur noch eine Minderheit der Nato-Mitgliedsstaaten ihre Bürger zum Dienst an der Waffe ein; seit 2011 ist die Wehrpflicht auch in Deutschland ausgesetzt. Veränderungen der (inter)nationalen sicherheitspolitischen Lage und Anpassungen wie Erweiterun- gen des Aufgabenspektrums der Bundeswehr wurden stets begleitet von Diskus- sionen um die notorische Unterausstattung bei Finanzen, Personal und Material. Auch aus historischen Gründen ist in Deutschland der Einsatz des Militärs im Innern nur begrenzt möglich. Über die Amtshilfe nach Artikel 35 Grund- gesetz ist die Bundeswehr und insbesondere ihr Sanitätsdienst zurzeit in der „Corona-Krise“ tätig. Die Hilfs- und Einsatzbereitschaft ist groß, auch unter den Reservisten. Neue Debatten um erweiterte Möglichkeiten des Einsatzes der Bundeswehr im Inland, die zuletzt mit Blick auf terroristische Bedrohungen geführt wurden, zeichnen sich ab. Anne Seibring 03
APuZ 16–17/2020 MILITÄRGESCHICHTE Perspektiven auf Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert Benjamin Ziemann Die Militärgeschichte hat einen langen Weg hin- VON DER KRIEGS- ter sich, in Deutschland ebenso wie in anderen ZUR MILITÄRGESCHICHTE europäischen Ländern und den USA. Zuge- spitzt formuliert, hat sich die Militärgeschichte In Deutschland sind die Anlaufschwierigkeiten von einem in der akademischen Geschichtswis- der Militärgeschichte in der sogenannten applika- senschaft nur schwach verankerten Nischenthe- torischen, auf Anwendung in der Gegenwart zie- ma mit geringer wissenschaftlicher Reputation lenden Methode zu suchen. Im preußisch-deut- zu einer zentralen Arena für die Diskussion von schen Militär des 1871 gegründeten Kaiserreichs Annahmen über den Zusammenhang von Mi- trug die historische Aufarbeitung vergangener litär, ziviler Gesellschaft und organisierter Ge- Feldzüge zur Ausbildung der Offiziersanwär- walt in der Moderne entwickelt.01 Die Probleme ter bei und sollte in der operativen Planung die und Ausgangslagen für die inhaltliche und me- Wiederholung einmal gemachter Fehler vermei- thodische Erneuerung dieser Teildisziplin wa- den. Der Schwerpunkt lag dabei deutlich auf der ren dabei unterschiedlich. Im Vereinigten Kriegsgeschichte, die von Offizieren aus der Bin- Königreich und in den USA leidet die Militär- nenperspektive des Militärs analysiert wurde. In- geschichte bis heute unter ihrer enormen Po- nere Struktur und Rekrutierung der Streitkräfte pularität bei einem aus Laien und interessierten im „Normalzustand“ des Friedens waren nicht Hobbyhistorikern bestehenden Publikum. Wo von Interesse.04 Auch nach 1918/19, als die Nie- immer man in Großbritannien einen Buchla- derlage gegen die Alliierten und die Entmilitari- den betritt, sticht das große Regal mit Büchern sierungsbestimmungen des Versailler Vertrages zur „military history“ ins Auge. Im Zentrum eine tiefe Zäsur für das deutsche Militär markier- steht dabei allerdings nur ein Genre: die popu- ten, änderte sich daran vorerst nichts. Mit der im läre „battlefield history“,02 konventionelle Er- Versailler Vertrag vereinbarten Auflösung des zählungen berühmter und weniger berühmter Großen Generalstabes musste sich auch dessen Schlachten als ein in Raum und Zeit abgeschlos- kriegsgeschichtliche Abteilung eine neue Heim- senes Drama. Der Akzent liegt hauptsächlich stätte suchen. Dies geschah 1919 mit der Grün- auf der Schilderung ergreifender Einzelschick- dung des Reichsarchivs in Potsdam, das die Ak- sale und dramatischer Wendepunkte, und zwar ten des kaiserlichen Heeres übernahm. in der Regel nur aus der Perspektive einer Ar- Formal unterstand das Reichsarchiv dem mee, deren Gegner bestenfalls sehr schematisch Reichsministerium des Innern. Aber Ziele und eingeführt wird. Dabei lässt sich Schlachtenge- inhaltliche Ausrichtung bestimmten die ehemali- schichte auch abseits der gängigen Erzählmus- gen Offiziere unter dem ersten Präsidenten, Ge- ter schreiben und kann so wichtige Einsichten neralmajor a. D. Hermann Mertz von Quirnheim. in die Dynamik des Krieges und dessen an- Im Zentrum der amtlichen Darstellung des Ers- dauernde kulturelle Präsenz liefern. Allerdings ten Weltkrieges stand so eine geschönte, allen kri- ist es dazu nötig, die Schlacht aus einer trans- tischen Anfragen ausweichende Operationsge- nationalen Perspektive zu analysieren, die bei- schichte. Für sie beanspruchte man, unterstützt de Armeen als eigenständige Akteure ebenso durch den restriktiv gehandhabten Zugang zu den in den Blick nimmt wie die vor Ort lebenden Akten, ein Deutungsmonopol. Durch populär Zivilisten.03 angelegte Reihen wie die „Schlachten des Welt- 04
Militär APuZ krieges“ versuchte das Reichsarchiv zudem, seine als Kriegshistoriker arbeitenden Offizieren auf Sichtweise auch einer breiteren Öffentlichkeit nä- Ablehnung. Zu einer Einbindung kriegs- und mi- herzubringen.05 Die Kriegsgeschichte des Reichs- litärgeschichtlicher Fragestellungen in die univer- archivs war damit Teil der erbitterten Auseinan- sitäre Forschung kam es erst im „Dritten Reich“. dersetzungen in der Weimarer Republik über die Dort verdichteten sich personelle und instituti- Ursachen und Folgen der deutschen Niederlage onelle Netzwerke in den sogenannten Wehrwis- im Herbst 1918. Hauptmann George Soldan, der senschaften. Dieser 1926 neu geprägte Begriff be- ab 1920 die Abteilung für „Volkstümliche Schrif- zeichnete die Absicht, die soziale, politische und ten“ im Reichsarchiv leitete, hatte im Mai 1919 in militärische Mobilisierung für den Krieg interdis- einer Denkschrift die „Aufgaben“ der militärge- ziplinär zu begreifen. Dem diente unter anderem schichtlichen Arbeit des Reichsarchivs so zusam- das 1937 an der Friedrich-Wilhelms-Universität mengefasst: „[E]in zusammengebrochenes Volk in Berlin eingerichtete Institut für Wehrpolitik.08 aufrichten, ihm den Glauben an sich selber wie- Von den Wehrwissenschaften des „Drit- dergeben, aus gemeinsam ertragenem Glück und ten Reiches“ gibt es eine direkte Kontinuitäts- Unglück deutschnationales Empfinden erwach- linie zur Militärgeschichte in der Bundesrepu- sen lassen (…); den großen erzieherischen Wert blik. Sie wird von Werner Hahlweg verkörpert, der Geschichte ausnützen, um ein unpolitisch der seine akademische Karriere 1934 im Kon- denkendes und empfindendes Volk zur Reife zu text der wehrwissenschaftlichen Arbeit an der führen.“06 Berliner Universität begann. Als einer der we- Die universitär verankerte Geschichtswissen- nigen Protagonisten der NS-Wehrwissenschaf- schaft blieb bei all diesen Bemühungen außen vor. ten konnte er seine akademische Karriere nach Einzig der Historiker Hans Delbrück, der an der 1945 fortsetzen. Von 1950 an war er in Müns- Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität lehr- ter als Dozent für Neuere Geschichte tätig, ab te, versuchte bereits vor 1914, sich von der „ap- 1969 dann als ordentlicher Professor für Mili- plikatorischen“ Methode der Generalstäbler zu tärgeschichte. Damit hatte er die einzige Profes- lösen und die historisch-kritische Methode der sur für dieses Fachgebiet in der Bundesrepublik Geschichtswissenschaft auf das Militär anzu- inne.09 Doch die wichtigsten Anstöße zur Ver- wenden. Mit den vier Bänden seiner „Geschichte ankerung der Militärgeschichte in der Bundesre- der Kriegskunst im Rahmen der politischen Ge- publik gingen vom Militärgeschichtlichen For- schichte“ (1900–1920) machte er Krieg und Mili- schungsamt (MGFA) aus, einer Einrichtung der tär zum Thema der allgemeinen Geschichte.07 Mit Bundeswehr, die ab 1958 in Freiburg im Breis- diesem Vorhaben stieß Delbrück aber sowohl un- gau arbeitete. Vor allem der leitende Historiker ter den universitären Historikern als auch bei den des MGFA von 1970 bis 1988, Manfred Messer- schmidt, legte zahlreiche Arbeiten zum preu- 01 Zur Militärgeschichte der Vormoderne vgl. Ralf Pröve ßisch-deutschen Militär und zur Wehrmacht vor, (Hrsg.), Klio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer mo- die durch ihre breite empirische Fundierung wie dernen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, Paderborn 1997. durch ihre unbefangen kritische Perspektive be- 02 Vgl. Jeremy Black, Rethinking Military History, London–New stachen. So war Messerschmidt einer der ersten, York 2004, S. X. der das Schicksal der von der NS-Militärjustiz 03 Vgl. Mark Connelly/Stefan Goebel, Ypres. Great Battles, Oxford 2018; Marian Füssel/Michael Sikora (Hrsg.), Kulturge- verfolgten Deserteure und „Wehrkraftzerset- schichte der Schlacht, Paderborn 2014, insb. Christoph Nübel, zer“ erforschte und damit soldatische Verweige- Die Geschichte der Schlacht. Methodische Überlegungen am rungsstrategien zum Thema machte.10 Im Kon- Beispiel der Michael-Offensive 1918, S. 231–258. 04 Bernhard R. Kroener, Militär, Staat und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, München 2011, S. 52. 08 Vgl. Frank Reichherzer, „Alles ist Front.“ Wehrwissenschaften 05 Vgl. Markus Pöhlmann, Kriegsgeschichte und Geschichts- in Deutschland und die Bellifizierung der Gesellschaft vom Ers- politik: Der Erste Weltkrieg. Die amtliche deutsche Militärge- ten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg, Paderborn 2012, S. 140, schichtsschreibung 1914–1956, Paderborn 2002. S. 253–327. 06 Bernd Ulrich/Benjamin Ziemann (Hrsg.), Krieg im Frieden. 09 Vgl. ebd., S. 399 f. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, Frank 10 Vgl. Manfred Messerschmidt, Militarismus, Vernichtungs- furt/M. 1997, S. 65–68, hier S. 66. krieg, Geschichtspolitik. Zur deutschen Militär- und Rechts- 07 Vgl. Wilhelm Deist, Hans Delbrück. Militärhistoriker und geschichte, Paderborn u. a. 2006; ders., Was damals Recht Publizist, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen (MGM) 2/1998, war … NS-Militär- und Strafjustiz im Vernichtungskrieg, Essen S. 371–383. 1996. 05
APuZ 16–17/2020 text des MGFA gab es auch erste Überlegungen Die methodische Erweiterung der Militär- zu einer methodischen Ausrichtung der Militär- geschichte seit den 1980er Jahren erfolgte im geschichte an den allgemeinen Standards der Ge- Anschluss an Entwicklungen in der allgemei- schichtswissenschaft.11 nen Geschichtswissenschaft. Wichtig waren da- Seit den 1980er Jahren ist ein stark wach- bei vor allem die Impulse der kulturhistorischen sendes Interesse gerade auch jüngerer Histo- Wende, die die Deutungsmuster und kollektiven rikerinnen und Historiker an Fragen der Mi- Mentalitäten von Soldaten und Offizieren sowie litärgeschichte zu verzeichnen, das mit einer die symbolischen Repräsentationen des Militärs inhaltlichen und methodischen Erweiterung in öffentlichen Paraden, Feiern und Ritualen in einherging. Inhaltlich wurde dabei unter an- das Zentrum der Analyse rückte.14 Zusammen derem die Abkehr von der Kommandopers- mit der Rezeption von Fragen und Ansätzen pektive der Offiziere und Generalstäbler an- der Geschlechter-, Sozial- und Technikgeschich- gemahnt, die in vielen traditionellen Werken te wurde damit eine multiperspektivische He- nicht nur zum deutschen Militär immer noch rangehensweise an das Militär auf breiter Front im Mittelpunkt stand. An ihre Stelle sollte eine verankert.15 „Militärgeschichte von unten“ treten. Sie wid- met sich jenen in der Zeit vor 1945 im Schnitt ALLGEMEINE WEHRPFLICHT: etwa 95 Prozent der Angehörigen des Militärs, MILITÄR UND NATIONSBILDUNG die als einfache Soldaten oder Unteroffiziere in der subalternen Position des Befehlsempfängers Ein zentrales Thema der neueren Militärge- dienten. Deren Erfahrungen und ihr Alltag im schichte ist die Verschränkung von Militär und Militär sollten nun in das Zentrum des Interesses Gesellschaft. Deren wichtigster Transmissi- rücken. Deutlich erkennbar war dabei, dass die onsriemen war in vielen Ländern Europas die Herausstellung dieser Perspektive die Gefahr in zwangsweise Einberufung junger Männer im sich barg, die einfachen Soldaten mit der Beto- System der allgemeinen Wehrpflicht. Als der nung ihrer „Leidensgeschichte“ in einer Opfer- Historiker Gerhard Ritter nach der Katastrophe rolle festzuschreiben.12 Das war nicht nur des- des „Dritten Reiches“ über die deutsche Tradi- halb problematisch, weil Soldaten im Frieden tion des Militarismus reflektierte, hob er in be- wie im Krieg über ein vielfältiges Handlungsre- wusst dramatischen Worten die Folgen der Ein- pertoire verfügen, mit dem sie sich den Anforde- führung einer allgemeinen Dienstpflicht im Zuge rungen des Dienstes, etwa durch die Simulation der Französischen Revolution hervor. Das Mo- von Krankheiten oder niederschwellige Akte der dell dafür war die von den Jakobinern 1793 pro- Resistenz, entziehen können. Die in der „Mili- klamierte „Levée en masse“, die Einberufung tärgeschichte von unten“ anzutreffende Opfer- junger unverheirateter Männer. Für Ritter lag perspektive stand auch im Widerspruch zur Ent- darin der Beginn einer verhängnisvollen Ent- deckung der Soldaten als Täter des vom „Dritten wicklung, die eine „neuartige, ungeheuer gestei- Reich“ geführten Vernichtungskrieges in der So gerte Dynamik der Kriegführung ermöglicht: wjetunion, die die kontroverse Wehrmachtsaus- einen fast ungehemmten Einsatz von Menschen- stellung des Hamburger Instituts für Sozialfor- leben“, der selbst die „kühnsten Feldherrnphan- schung und andere Arbeiten zur gleichen Zeit tasien“ der Vergangenheit übertraf. „Am fer- herausstellten.13 nen Horizont“, so Ritter, tauche hier „bereits das Schreckbild des modernen ‚totalen‘ Krieges auf“, dem es um „totale Vernichtung“ des Geg- 11 Vgl. Rainer Wohlfeil, Wehr-, Kriegs- oder Militärgeschichte?, in: MGM 1/1967, S. 21–29. 12 Vgl. Wolfram Wette, Militärgeschichte von unten. Die 14 Als Pionierstudie vgl. Jakob Vogel, Nationen im Gleich- Perspektive des „kleinen Mannes“, in: ders. (Hrsg.), Der Krieg schritt. Der Kult der „Nation in Waffen“ in Deutschland und des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München Frankreich 1871–1914, Göttingen 1997. 1992, S. 9–47, hier S. 13. 15 Vgl. als erste Bestandsaufnahme Thomas Kühne/Benjamin 13 Vgl. Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungs- Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000; krieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944, Hamburg 1995; weiterführend: Jörg Echternkamp/Wolfgang Schmidt/Thomas als Detailstudie bereits zuvor erschienen: Omer Bartov, Hitler’s Vogel (Hrsg.), Perspektiven der Militärgeschichte. Raum, Gewalt Army. Soldiers, Nazis and War in the Third Reich, New York– und Repräsentation in historischer Forschung und Bildung, Mün- Oxford 1991. chen 2010. 06
Militär APuZ ners gehe.16 Ganz offenkundig versuchte Ritter bleme stets nur ein geringer Teil der Wehrpflich- hier, die Eskalation der Gewalt im Vernichtungs- tigen tatsächlich ausgehoben wurde, noch um krieg der Wehrmacht 1941 bis 1945 auf eine an- 1850 nicht mehr als ein Viertel.17 dere historische Traditionslinie zurückzuführen Trotz ihrer begrenzten Reichweite fungier- als auf den spezifisch deutschen Militarismus, te die Wehrpflicht bereits vor 1871 als eine „Bil- der sich in den anti-napoleonischen Befreiungs- dungsschule der Nation“ – so der preußische kriegen 1813 bis 1815 herausgebildet hatte und Kriegsminister Hermann von Boyen 1816 –, in der hervorgehobenen Rolle des Militärs in den in der junge Männer ihrer staatsbürgerlichen drei nationalen Einigungskriegen der Jahre 1864 Pflicht nachkamen und in den Kasernen eine bis 1871 in das Zentrum des Nationalstaates ge- Vergemeinschaftung erfolgte, die ungeachtet ih- rückt war. res hierarchischen Charakters Männer aus unter- Das Thema Ritters und anderer in der bo- schiedlichen Landesteilen und sozialen Schich- russischen Tradition geschulter Militärhistori- ten zusammenbrachte.18 Dabei schliffen sich ker war die Rolle der allgemeinen Wehrpflicht mittelfristig auch die Widerstände unter den Li- bei der äußeren Nationsbildung, für die neben beralen gegen das Prinzip des stehenden Hee- der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 res ab, gegen das sie hartnäckig die Landwehr als auch die bis 1861 weitgehend abgeschlossene eine bürgerliche Alternative verteidigten. Eine italienische Einigung als Paradebeispiel dien- Minderheit deutscher Liberaler und Radikalde- te. Demgegenüber konzentriert sich die neue- mokraten setzten ab 1830 ihre Hoffnungen auf re militärgeschichtliche Forschung vornehmlich das schweizerische Milizsystem als Alternati- auf die Rolle der allgemeinen Wehrpflicht bei ve zum stehenden Heer. Mit dem Verzicht auf der inneren Nationsbildung. Auch in der preu- dauerhaft organisierte Verbände und eine über- ßischen Reformdiskussion nach der Niederla- greifende Organisationsstruktur in der Form ei- ge gegen Napoleon 1807 stand das jakobinische nes Kriegsministeriums schien es das freiheit- Modell der allgemeinen Wehrpflicht im Vorder- lich-selbstbestimmte Gegenteil des preußischen grund. Das musste jene bürgerlichen Schichten Zwangsapparates zu verkörpern. Die Ironie die- beunruhigen, die in der bis dahin gültigen alt- ser Hoffnungen lag darin, dass die Schweiz nach preußischen Wehrverfassung vom Militärdienst dem Sonderbundskrieg 1847, der den liberalen ausgenommen (eximiert) waren. Als Preußen Bundesstaat begründete, selbst Schritte zur An- dann 1814 die Wehrpflicht einführte, waren die gleichung ihrer Wehrverfassung an den west bislang eximierten Stände davon ebenso betrof- europäischen Standard unternahm, um die inne- fen. Die Möglichkeit einer Stellvertretung – bei re Nationsbildung zu beschleunigen. Das begann der betuchte Familien einen Einsteher aus den 1848 mit der Gründung des eidgenössischen Mi- unterbürgerlichen Schichten bezahlten, der den litärdepartements als übergeordneter Behörde Wehrdienst für ihren Sohn ableistete – gab es und war 1874 mit der Einführung einer dauerhaft nicht. Die Einführung des sogenannten Einjäh- organisierten Schweizer Armee mit einheitlicher rig-Freiwilligen, einer verkürzten Dienstzeit von Ausbildung weitgehend abgeschlossen.19 nur einem Jahr bei freiwilliger Meldung und dem Die gesellschaftliche Prägekraft der Wehr- Vorliegen eines Gymnasialabschlusses, versüß- pflicht in den deutschen Ländern blieb bis 1867 te dem Bürgertum diese bittere Pille. Zugleich auch deshalb begrenzt, weil die Staaten des so- wurde neben dem stehenden Heer der Linie eine Landwehr eingerichtet, die bürgerliche Offiziere 17 Vgl. Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst kommandierten. Statt in der Kaserne zu schmo- und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001, S. 18–132. ren, mussten die Landwehrmänner nur zu sonn- 18 Vgl. dies., Das jakobinische Modell. Allgemeine Wehrpflicht täglichen Schießübungen und zweiwöchigen und Nationsbildung in Preußen-Deutschland, in: dies. (Hrsg.), Übungskursen antreten. Doch insgesamt blieb Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart die Prägekraft der Wehrpflicht in der zivilen Ge- 1997, S. 17–47, hier S. 36. sellschaft über Jahrzehnte hinweg gering. Das lag 19 Vgl. Rudolf Jaun, „Das einzig wahre und ächte Volksheer.“ Die schweizerische Miliz und die helvetische Projektion deutscher vor allem daran, dass aufgrund fiskalischer Pro- Radikal-Liberaler und Demokraten 1830–1870, in: Christian Jansen (Hrsg.), Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung euro- 16 Gerhard Ritter, Das Problem des Militarismus in Deutsch- päischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert, Essen 2003, land, in: Historische Zeitschrift 1/1954, S. 21–48, hier S. 27. S. 68–82. 07
APuZ 16–17/2020 genannten Dritten Deutschland – vor allem Ba- maßen abgeleisteten Wehrdienst berief.22 Der den, Württemberg und Bayern – sich nicht am Militarismus der Kriegervereine produzierte preußischen Vorbild orientierten, sondern in also nicht gehorsame Untertanen, sondern war verschiedenen Varianten die Möglichkeit der eher ein Vehikel der Partizipation. Stellvertretung beibehielten.20 Erst nach der ös- Das größte Hindernis auf dem Weg zur in- terreichischen Niederlage bei Königgrätz 1866, neren Nationsbildung durch eine Wehrpflicht- mit der Österreich aus dem Deutschen Bund aus- armee war die sprachliche und ethnische Vielfalt schied und der Weg zur Gründung eines klein- der multi-ethnischen Reiche in Europa vor 1914. deutschen Nationalstaates frei war, mussten die Das deutsche Kaiserreich war trotz der großen süddeutschen Staaten Preußens Militärverfas- polnischen Minderheit in Preußen hiervon noch sung übernehmen, in der seit der Heeresreform am wenigsten betroffen. Aber auch hier brach der 1860er Jahre die Landwehr Teil des stehen- der latente Konflikt zwischen dem deutschen Mi- den Heeres war. Im Protest von Partikularisten, litär und den Bewohnern im 1871 annektierten Demokraten und Katholiken in Baden, Bayern Elsass-Lothringen massiv hervor, als ein Leut- und Württemberg gegen die dreijährige Dienst- nant in der Garnison Zabern 1913 elsässische pflicht im stehenden Heer entstand der Begriff Rekruten und Zivilisten beleidigte. Die Zabern- des „Militarismus“, der als antipreußische Parole Affäre entwickelte sich rasch zur schwersten Ver- rasch populär wurde. So geißelte etwa der baye- fassungskrise des wilhelminischen Kaiserreichs.23 rische Politiker Josef Edmund Jörg das Schutz- Weitaus komplizierter war die Lage in Ös- und Trutzbündnis mit Preußen mit den Worten, terreich-Ungarn. Nur zwei Jahre nach der Nie- dies sei die „Quelle, aus welcher sich das Unheil derlage gegen Preußen führte die Doppelmon- des Militarismus über die einst so glücklichen archie 1868 eine allgemeine Wehrpflicht ein, die Länder Süddeutschlands“ ergieße. Diese militär- auf einem jährlich neu fixierten Rekrutenkontin- kritische Pointe des Begriffs „Militarismus“ soll- gent basierte, was zu zahlreichen Streitigkeiten te nicht übersehen werden. Sie speiste sich aus in den Parlamenten der beiden Landesteile führ- der Außenwahrnehmung von Partikularisten, te. Die majoritäre Gruppe der Deutschen stellte Pazifisten und bald auch Sozialdemokraten, die aber gerade einmal 24 Prozent der Gesamtbevöl- die negativen Folgen der Wehrpflicht für die zi- kerung, gefolgt von den Ungarn mit 20 Prozent. vile Gesellschaft beklagten.21 Noch neun andere Nationalitätengruppen waren Unstrittig ist, dass die Wehrpflicht erst im offiziell anerkannt, auch innerhalb des Militärs. deutschen Kaiserreich ab 1871 zum wichtigs- Also versuchte die Armee, mit einer vorsichtigen ten Vehikel der inneren Nationsbildung mit Durchmischung der Wehrpflichtigen verschiede- breiter Massenwirkung auch über die bürgerli- ner Nationalitätengruppen einen Beitrag zur Ho- chen Schichten hinaus avancierte. Davon zeugen mogenisierung zu leisten. Zwar blieb Deutsch bis nicht zuletzt die Kriegervereine des Kyffhäuser- 1918 die einzige offizielle Kommandosprache. bundes, in denen sich ehemalige Wehrpflichti- Doch daneben gab es sogenannte Regimentsspra- ge in egalitärer männlicher Gesellschaft trafen. chen, die auch die Offiziere beherrschen muss- Mit 2,8 Millionen Mitgliedern im Jahr 1913 war ten, wenn mindestens 20 Prozent ihrer Soldaten der Kyffhäuserbund eine der größten Massen- sie sprachen. So gab es Regimenter mit bis zu fünf organisationen des Kaiserreichs. Die Attraktivi- Regimentssprachen.24 Durch dieses ausgeklügelte tät dieser Vereine lag auch darin, dass sie unter- System ließen sich die Nationalitätenspannungen bürgerlichen Schichten – Arbeitern und kleinen Parzellenbesitzern – die Möglichkeit boten, so- 22 Vgl. Robert von Friedeburg, Klassen-, Geschlechter- oder ziale Anerkennung und Gleichberechtigung ein- Nationalidentität? Handwerker und Tagelöhner in den Krieger- zufordern, die sich auf den von allen gleicher- vereinen der neupreußischen Provinz Hessen-Nassau 1890– 1914, in: Frevert (Anm. 18), S. 229–244; Frevert (Anm. 17), S. 193–301. 20 Vgl. Frevert (Anm. 17), S. 133–192. 23 Vgl. David Schoenbaum, Zabern 1913. Consensus Politics in 21 Vgl. Benjamin Ziemann, Sozialmilitarismus und militärische Imperial Germany, London 1982. Sozialisation im deutschen Kaiserreich 1870–1914. Ergebnis- 24 Vgl. Christa Hämmerle, Die k. (u.) k. Armee als „Schule des se und Desiderate in der Revision eines Geschichtsbildes, in: Volkes“? Zur Geschichte der Allgemeinen Wehrpflicht in der Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 3/2002, S. 148–164, multinationalen Habsburgermonarchie, in: Jansen (Anm. 19), hier S. 150. S. 175–213. 08
Militär APuZ in der k. u.k-Armee zumindest teilweise auffan- Lebensphase zwei oder drei Jahre in einer exklu- gen, wenngleich sie bis 1914 deutlich zunahmen, siv männlichen, geschlossenen Form der Verge- wie die seit 1905 wieder zunehmende Zahl der meinschaftung in der Kaserne verbringen. Das nicht zur Einstellung erscheinenden Rekruten Militär wurde damit, wie der Pädagoge Friedrich zeigte. Auch der Blick auf populäre Militärfei- Paulsen 1902 prägnant formulierte, zur „Schule ern und Kriegervereine verdeutlicht, dass es der der Männlichkeit“.28 Vor 1914 entwickelte diese auf Kaiser Franz Joseph I. als paternalistischen Reformulierung männlicher Geschlechteridea- Landesvater fokussierten Militärkultur der Dop- le in verschiedenen Formen eine prägende Wir- pelmonarchie bis 1914 insgesamt erstaunlich gut kung in der Zivilgesellschaft. Das geschah über gelang, die Loyalität ihrer multi-ethnischen Be- den Glanz, den die farbenprächtigen Uniformen völkerung sicherzustellen.25 ausstrahlten, ebenso wie über die Gewöhnung an Ganz anders war die Lage in dem auf übersee- die stramme Haltung, die Soldaten und Offizie- ische Besitzungen gegründeten Britischen Empire. re erlernen mussten und die ihre Körperlichkeit Dessen Weltgeltung sicherte die Royal Navy, und prägte. so blieben die Landstreitkräfte eine vergleichs- Die militärische Umprägung männlicher Ge- weise winzige und dafür im Unterhalt recht teu- schlechterbilder war bereits vor 1914 kein ge- re Berufsarmee. In Großbritannien ersetzte „die radliniger Prozess. So hatten viele Bauernsöhne Einkommensteuer (…) den Wehrdienst“.26 Eine sichtliche Schwierigkeiten, ihren Körper an die Wehrpflicht wurde erst 1916 im Zuge des Welt- genau abgezirkelten Bewegungen zu gewöhnen, krieges eingeführt und nach seinem Ende bald die der Parademarsch ihnen abverlangte. Und wieder ausgesetzt. Eine Krise der „imperial de- auch im bürgerlichen Offiziersnachwuchs gab es fense“ trat aber bereits im Burenkrieg 1899 bis Zweifel und Ambivalenzen, wie etwa das Beispiel 1902 gegen die zumeist niederländischen Siedler Martin Niemöllers zeigt, des späteren Theologen in Südafrika hervor. Der schlechte Gesundheits- und Mitglieds der Bekennenden Kirche. Er trat zustand vieler weißer Soldaten aus dem Mutter- 1910 als Seekadett in die kaiserliche Marine ein, land machte Schlagzeilen und legte die ungenü- hatte aber erhebliche Probleme, sich an den rau- gende Versorgung der britischen Arbeiterklasse en Ton der Männerkameradschaft zu gewöhnen. bloß. Um den Krieg zu gewinnen, musste Stabs- Wortreich beklagte er sich 1913 in seinem Tage- chef Lord Kitchener auch Schwarze als Soldaten buch über die „Zoten gemeinster Art“, mit der rekrutieren. Damit bereitete er die multi-ethni- viele Marineoffiziere ihm wichtige Ideale wie die sche Zusammensetzung der britischen Armee im Familie und die aufrichtige Liebe zu einer Frau Ersten Weltkrieg vor.27 zur Zielscheibe ihres Spottes machten.29 Aber die eigentliche Belastungsprobe militäri- MILITÄR UND scher Männlichkeit kam erst mit dem Ersten Welt- GESCHLECHTERORDNUNG krieg, wie vor allem die innovative Forschung zur britischen Armee eindringlich herausgearbeitet Die allgemeine Wehrpflicht mobilisierte nicht nur hat. Die in der Kitchener Army dienenden Frei- personelle Ressourcen mit einschneidenden Im- willigen mussten bald nach ihrer Ankunft auf den plikationen für die Zivilgesellschaft und trug zur Schlachtfeldern Belgiens und Nordfrankreichs inneren Nationsbildung bei. Sie hatte außerdem erfahren, dass die körperliche Realität des Mili- fundamentale Auswirkungen auf die Geschlech- tärdienstes sich von den hochfliegenden Erwar- terordnung. Ein langfristig steigender Prozent- tungen der Vorkriegszeit dramatisch unterschied. satz junger Männer musste in einer formativen In den kärglichen Lebensbedingungen der ver- dreckten Frontquartiere brachen die Vorstellun- 25 Vgl. Laurence Cole, Military Culture and Popular Patriotism in Late Imperial Austria, Oxford 2014. 28 Ute Frevert, Das Militär als Schule der Männlichkeit. Er- 26 Hew Strachan, Militär, Empire und Civil Society. Großbri- wartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert, in: dies. tannien im 19. Jahrhundert, in: Frevert (Anm. 18), S. 78–93, hier (Anm. 18), S. 145–173, hier S. 145. S. 92. 29 Zit. nach Benjamin Ziemann, Ambivalente Männlichkeit. 27 Vgl. Jörn Leonhard, Integrationserwartungen und Desin- Geschlechterbilder und -praktiken in der kaiserlichen Marine tegrationserfahrungen. Empire und Militär in der Habsburger- am Beispiel von Martin Niemöller, in: L’Homme. Europäische monarchie und in Großbritannien vor 1914, in: Echternkamp/ Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 2/2018, Schmidt/Vogel (Anm. 15), S. 149–164, hier S. 160 f. S. 91–108, hier S. 99. 09
APuZ 16–17/2020 gen eines reinlichen und gesunden Männerkör- FAZIT pers rasch zusammen. Die Realität massenhafter physischer Verstümmelungen zeigte, dass die sol- Durch die Annäherung der Militärgeschichte an datischen Männerkörper den Belastungen des Fragestellungen und Methoden der Kultur-, So- Maschinenkrieges nicht gewachsen waren. Jun- zial- und Geschlechtergeschichte in den vergan- ge bürgerliche Soldaten und Frontoffiziere such- genen 30 Jahren haben sich neue Perspektiven ten in dieser verwirrenden Realität eine emotio- auf das Verhältnis von Militär und Gesellschaft nale Selbstvergewisserung in der Korrespondenz im 19. und 20. Jahrhundert ergeben. Damit ist mit ihren Müttern. Aber dieser briefliche Dialog die Militärgeschichte zu einem wichtigen und brachte die sanften, femininen Seiten ihrer Rol- weithin anerkannten Teil der historischen For- le im Militär nur umso stärker hervor.30 In allen schung geworden. Diese inhaltliche und metho- europäischen Ländern antworteten die Veteranen dische Neuorientierung geschah nicht ohne Ab- und Veteranenverbände auf diesen Schock mit der wehrreflexe einzelner Militärhistoriker. Nach Flucht in den Mythos der Kameradschaft. Nur in deren Überzeugung muss die Analyse militä- der intimen Kameradschaft unter Männern lie- rischer Operationen weiterhin ein „zentraler“ ße sich der Schrecken des Krieges ertragen und und damit methodisch privilegierter „Bestandteil die aggressiv-maskulinen und fürsorglich-passi- der Kriegsgeschichte“ bleiben.33 Vorbehalte gab ven Seiten der Rolle des Soldaten ausbalancieren. es auch dagegen, dass die Militärgeschichte nun Nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht in aus ihrer lebensweltlichen Verankerung im Mili- Deutschland 1935 wurde der Kameradschaftsmy- tär herausgelöst und vorwiegend von „ungedien- thos zu einem tragenden Gerüst der Gruppenkul- ten“ Zivilisten praktiziert wurde. Wenn man sei- tur der Wehrmacht und prägte auch noch die Er- ne Kenntnisse „allein aus Handbüchern“ schöpfe, innerungskultur an den Zweiten Weltkrieg in der so der Einwand, werde das „tiefere Verständnis Bundesrepublik.31 Soldaten, die diesem hegemo- der Militärgeschichte vielleicht verborgen blei- nialen Männlichkeitsmodell nicht folgen wollten, ben“.34 Doch dies waren, in militärischer Diktion blieben Außenseiter in der Truppe. Es ist deshalb formuliert, letztlich nur Nachhutgefechte, die der kein Zufall, dass ein nicht hegemoniales, unsolda- weiteren thematischen Ausweitung militärhisto- tisches Verständnis der eigenen Männlichkeit das rischer Arbeiten nicht im Wege stehen.35 wichtigste gemeinsame Merkmal all jener Wehr- machtssoldaten war, die sich dem Militärdienst durch die Fahnenflucht entzogen.32 30 Vgl. Joanna Bourke, Dismembering the Male: Men’s Bodies, Britain & the Great War, Chicago–London 1996; Michael Roper, The Secret Battle. Emotional Survival in the Great War, Manchester 2009. 31 Vgl. ebd.; Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttin- gen 2006; Mark Cornwall/John Paul Newman (Hrsg.), Sacrifice and Rebirth: The Legacy of the Last Habsburg War, New York– Oxford 2016. 32 Vgl. Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehr- macht im Zweiten Weltkrieg. Lebenswege und Entscheidungen, Paderborn 2008. 33 Rolf-Dieter Müller, Militärgeschichte, Köln–Weimar–Wien 2009, S. 20 f. 34 Ebd. Vgl. Sönke Neitzel, Militärgeschichte ohne Krieg? Eine Standortbestimmung der deutschen Militärgeschichtsschreibung über das Zeitalter der Weltkriege, in: Hans-Christof Kraus/Tho- mas Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege, München 2007, S. 287–308, hier insb. S. 293 f., S. 302. BENJAMIN ZIEMANN 35 Vgl. die Kritik bei Jörg Echternkamp, Wandel durch Annä- herung oder: Wird die Militärgeschichte ein Opfer ihres Erfol- ist Professor für neuere deutsche Geschichte an der ges?, in: ders./Schmidt/Vogel (Anm. 15), S. 1–38, hier S. 22 ff., University of Sheffield. S. 29 f. b.ziemann@sheffield.ac.uk 10
Militär APuZ „VORSORGENDE WOHLFAHRTSARBEIT AM VOLKSKÖRPER“ Militär und militärische Interessen als Impulsgeber staatlicher Sozialpolitik Herbert Obinger Im Verlauf des 19. Jahrhunderts schufen alle west- dann augenscheinlich werden, wenn die Verän- europäischen Staaten ihre ersten Sozialgesetze. derungen in der Militärorganisation und -tech- Den Auftakt machte die Arbeiterschutzgesetz nologie, die tief greifenden sozioökonomischen gebung, die vorerst auf Kinder und Jugendliche Umbrüche sowie die steigenden internationalen beschränkt blieb, später auf Frauen und schließ- Spannungen im späten 19. Jahrhundert in der Zu- lich die gesamte Industriearbeiterschaft aus- sammenschau betrachtet werden. gedehnt wurde. Ab den 1880er Jahren erfolg- Fast alle kontinentaleuropäischen Länder te ausgehend vom Deutschen Kaiserreich der führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- Durchbruch der Sozialversicherung, und am Vor- derts die allgemeine Wehrpflicht ein.04 Gleich- abend des Ersten Weltkrieges hatten bereits alle zeitig machte die Militärtechnologie enorme westeuropäischen Staaten zumindest ein Sozial- Fortschritte: Die Entwicklung des Maschinenge- versicherungsprogramm geschaffen.01 Nach dem wehrs und technische Innovationen bei der Ar- Ersten Weltkrieg fand die Arbeitslosenversiche- tillerie und Marine erhöhten massiv Feuer- und rung in Europa rasch Verbreitung, und rund um Zerstörungskraft der Waffensysteme. Transport- den Zweiten Weltkrieg wurden erstmals staatli- mittel wie die Eisenbahn, die Motorisierung der che Geldleistungen für Familien eingeführt. Streitkräfte und neue Kommunikationstechno- Die Entstehung und Expansion des moder- logien wie Telegraf und Telefon beschleunigten nen Sozialstaates hat viele Ursachen. Neben tief die räumliche Ausdehnung von Kriegen. All das greifenden sozialen und wirtschaftlichen Umwäl- trug zu einer Totalisierung der Kriegführung bei, zungen im Zuge der Industriellen Revolution und die nun darauf abzielte, den Gegner vollständig dem damit verbundenen Aufstieg der Arbeiterbe- zu unterwerfen und seine militärischen und wirt- wegung spielten auch die Entstehung von Nati- schaftlichen Kapazitäten zu vernichten. Die stei- onalstaaten, die Legitimationsnöte autokratischer genden Spannungen zwischen den europäischen Regime sowie Säkularisierungs- und Demokrati- Nationalstaaten machten dieses Szenario immer sierungsprozesse eine wichtige Rolle.02 Die Ent- wahrscheinlicher, bis es schließlich 1914 grausa- stehungsgeschichte des Sozialstaates hat jedoch me Realität wurde. auch dunkle Seiten. Geleitet von außenpoliti- Diese Umwälzungen in der Militärtechnologie schen Machtambitionen des Staates, haben auch und Armeeorganisation fielen zeitlich in eine Pha- militärische Interessen, Krieg und die Kriegsfol- se fortschreitender Industrialisierung und demo- genbewältigung die staatliche Sozialpolitik ge- grafischer Umbrüche. Infolge der Wanderungs- prägt. Vereinzelt war sogar das Militär ein rele- bewegung in die meist urbanen Industriezentren vanter sozialpolitischer Akteur, und zwar nicht lösten sich die familialen und berufsförmigen So- nur, wenn es um die soziale Sicherung von Ar- zialschutzeinrichtungen der alten, agrarisch-hand- meeangehörigen und ihren Familien ging.03 werklich geprägten Welt auf, während der neue Ein Einfluss des Militärs und militärischer kapitalistische Arbeitsmarkt die Arbeitgeber von Interessen auf Sozialpolitik mag auf den ersten jeglicher sozialen Fürsorgepflicht entkoppelte, so- Blick überraschen. Bei näherer Betrachtung zei- dass auch Kinder und Jugendliche durch Fabrik- gen sich jedoch eine Reihe von Schnittstellen, die arbeit zur Existenzsicherung beitragen mussten. 11
APuZ 16–17/2020 Mit dem Aufkommen des industrialisierten Mas- des jedoch zeitversetzt. Ungewöhnlich früh setz- senkriegs rückten die Quantität und Qualität der te der Rückgang der Geburtenrate in Frankreich Bevölkerung05 und damit verbundene Implikatio- ein. Aufgrund der vergleichsweise geringen Ge- nen für die „Volks- und Wehrkraft“ in den Blick- burtenziffern kursierten dort seit den 1880er Jah- punkt. Aus diesem Zusammenhang resultierten ren massive Depopulationsängste. Demografi- wichtige Impulse für sozial- und bildungspoliti- sche Untergangsszenarien („finis Galliae“) und sche Reformen sowie ein gesteigertes Interesse die traumatische Niederlage im deutsch-franzö- des Militärs an diesen Fragen. Handlungsleitend sischen Krieg 1870/71 gaben Anstoß für eine pro- waren rein machtstrategische und militärfunktio- natalistische Bevölkerungspolitik, die über brei- nale Motive, die bereits in der Phase der Kriegs- ten Rückhalt in Politik und Militär verfügte.07 planung sozialpolitischen Niederschlag fanden. Neben Propaganda wurde die Sozial- und Steu- Bei Kriegsausbruch wurden militärisch motivierte erpolitik als Instrument entdeckt, die Geburten- Legitimations- und Motivationsaspekte sozialpo- rate zu steigern und die Kindersterblichkeit zu litisch bedeutsam, während nach Kriegsende die bekämpfen. So wurde Frankreich zum Pionier Demobilisierung der Millionenheere und die Be- staatlicher Familienpolitik. Noch vor dem Ers- wältigung des kriegsinduzierten Massenelends die ten Weltkrieg wurden Steuerbegünstigungen und Expansion des Sozialstaats antrieben. selektive Transferleistungen für kinderreiche Fa- milien sowie 1931 universelle Geldleistungen für PRONATALISTISCHE Familien eingeführt. BEVÖLKERUNGSPOLITIK Als der demografische Übergang mit Verspä- tung in Deutschland und Italien einsetzte, tauch- Im Zeitalter des Massenkriegs rückte die Bevöl- ten im Kontext der militärischen Expansionsbe- kerungspolitik in den Fokus militärstrategischer strebungen des italienischen Faschismus und des Planungen. Das von den Militärs abschätzig meist deutschen Nationalsozialismus ähnliche demo- als „Menschenmaterial“ bezeichnete Potenzial an grafische Untergangsszenarien auf. Die Einwoh- mobilisierbaren Soldaten zog Ende des 19. Jahr- nerzahl eines Landes wurde mit Macht und Welt- hunderts durch den einsetzenden demografi- geltung gleichgesetzt. Benito Mussolini forderte schen Übergang, also die lange und mehrstufige 1927 für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Transformation von sehr hohen zu niedrigen Ge- den Anstieg der Bevölkerung Italiens auf 60 Mil- burten- und Sterberaten, zunehmend Aufmerk- lionen, denn „was sind 40 Millionen Italiener ge- samkeit auf sich. Für das Militär war primär die gen 90 Millionen Deutsche und 200 Millionen Größe der wehrfähigen Bevölkerung von Inte- Slawen?“08 Die Nationalsozialisten sahen im Ge- resse, vor allem die Geburtenrate. Die moderni- burtenrückgang einen Vorboten des drohenden sierungsbedingten demografischen Veränderun- „Volkstods“.09 Für einen Apologeten des totalen gen waren in der Tat enorm, zwischen 1870 und Krieges wie Erich Ludendorff war der Geburten- 1940 sank die Geburtenhäufigkeit in der westli- schwund eine „unermeßliche Gefahr“, die „sich chen Welt um etwa 50 Prozent.06 Diese Transfor- in der Wehrmacht fühlbar machen muß“.10 Daher mation erfolgte in Abhängigkeit des nationalen forderte er eine pronatalistische und nach eugeni- Modernisierungs- und Industrialisierungsgra- schen Prinzipien ausgerichtete Bevölkerungspoli- tik. Dadurch entstünde ein „gesundes, sich meh- 01 Vgl. Jens Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat, Frankfurt/M.–New York 1982. 07 Vgl. Richard Tomlinson, The „Disappearance“ of France, 02 Zu den Theorien des Sozialstaates vgl. Herbert Obinger/ 1860–1940. French Politics and the Birth Rate, in: The Historical Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Handbuch Sozialpolitik, Wiesbaden Journal 2/1985, S. 405–415; Nikolas Dörr, „As far as numbers 2019, Teil 2. are concerned, we are beaten“. Finis Galliae and the Nexus Bet- 03 Für die USA vgl. etwa Jennifer Mittelstadt, The Military ween Fears of Depopulation, Welfare Reform and the Military Welfare State, Cambridge MA 2014. in France During the Third Republic, 1870–1940, in: Historical 04 Vgl. Roland G. Foerster, Die Wehrpflicht. Entstehung, Er- Social Research 2020 (i. E.) scheinungsformen und politisch-militärische Wirkung, München 08 Zit. nach David Victor Glass, Italian Attempts to Encourage 1994. Population Growth, in: The Review of Economic Studies 2/1936, 05 Vgl. Richard Titmuss, War and Social Policy, in: ders., Essays S. 106–119, hier S. 106. on the Welfare State, London 1958, S. 75–87. 09 Vgl. Eckart Reidegeld, Krieg und staatliche Sozialpolitik, in: 06 Vgl. Michael S. Teitelbaum/Jay M. Winter, The Fear of Leviathan 4/1989, S. 479–526. Population Decline, London 1985, S. 14. 10 Erich Ludendorff, Der totale Krieg, München 1937, S. 23. 12
Militär APuZ rendes Geschlecht, das dem Heere zahlreichen gender Kinderzahl progressive steuerliche Ent- und kraftvollen Ersatz gibt und fähig ist, den to- lastung von Familien, die höhere Besteuerung talen Krieg zu führen und zu ertragen“. von Kinderlosen und Schulgeldnachlässe für kin- Ludendorff sprach aus Erfahrung. Als fak- derreiche Familien. Ähnliche Maßnahmen wur- tischer Chef der 3. Obersten Heeresleitung den auch im Reichstag diskutiert, wegen fehlen- (OHL) beauftragte er im Ersten Weltkrieg an- der Mittel und politischen Widerstands blieben gesichts der hohen Verluste und der zunehmend konkrete Maßnahmen in der späten Kriegsphase desaströsen Versorgungslage den preußischen aber aus. Generalstabsarzt und Leiter des Feldsanitätswe- Die Nationalsozialisten knüpften an eini- sens Otto von Schjerning mit der Ausarbeitung ge dieser familienpolitischen Vorschläge an. Die einer aus sozialpolitischer Sicht bemerkenswer- Einführung der Ehestandsdarlehen, des Kinder- ten Denkschrift.11 Ausgehend von der These, gelds und die Reform der Steuerklassen diente dass Macht und Wohlfahrt eines Staates auf der pronatalistisch-völkischen Zielen und war nicht Zahl und Kraft seiner Bevölkerung gründet, wird zuletzt militärisch motiviert.13 Militärische Ex- darin konzediert, dass erst der Weltkrieg die Re- pansionsbestrebungen lagen auch dem Pronata- levanz dieser Faktoren drastisch vor Augen ge- lismus des italienischen Faschismus zugrunde, führt hat.12 Konkret werden in der Denkschrift wo neben Propaganda und einer Verschärfung der Rückgang der Geburtenziffer, die hohe Säug- des Abtreibungsrechts auch mit sozial- und steu- lingssterblichkeit und die hohen direkten und erpolitischen Maßnahmen versucht wurde, die indirekten Kriegsverluste beklagt. Zur „Wie- Geburtenraten zu erhöhen. Hierzu zählten Straf- derherstellung und Hebung der deutschen Volks- steuern für Ledige und kinderlose Paare, Steuer- und Wehrkraft“ werden dutzende Maßnahmen entlastungen für kinderreiche Familien, Kinder- vorgeschlagen, die einem sozialpolitischen Ak- geld, die Bevorzugung verheirateter Personen tionsprogramm gleichkommen: Zuschüsse und mit Kindern bei Beschäftigung und im Woh- günstige Kredite für Hausstandsgründungen, die nungswesen sowie diverse Maßnahmen zur Ver- Besserstellung von Verheirateten im Erwerbsle- besserung des Mutterschutzes und zur Eindäm- ben, Steuerentlastungen für Verheiratete bei hö- mung der Kindersterblichkeit.14 Ein Effekt auf herer Besteuerung von Unverheirateten sowie die Geburtenrate blieb aus, was den Frankfur- bessere Wohnverhältnisse in den Städten zur Be- ter Journalisten und Kommunalpolitiker Ernst kämpfung von Hygieneproblemen, Kinderarmut Kahn zur spöttischen Bemerkung veranlasste, und Kindersterblichkeit. Letztere sollte durch dass „die Macht des italienischen Diktators vor bessere Säuglingsernährung und Säuglingspflege, dem Schlafzimmer ein Ende findet, denn trotz al- den Bau von „Gebäranstalten“, ein Hebammen- ler Bemühungen sinkt die Fruchtbarkeit in Italien gesetz sowie Stillprämien eingedämmt werden. von Jahr zu Jahr“.15 Maßnahmen zum Kinder- und Jugendschutz umfassen den Ausbau von Kinderkrippen und STÄRKUNG DER WEHRKRAFT Kindergärten, die Einführung flächendeckender schulärztlicher Untersuchungen, die Ausweitung Neben der Menge an Soldaten wurde im Kon- des Turnunterrichts, bessere Hygienebedingun- text der geschilderten militärtechnologischen gen in Schulen, die Bereitstellung von Milch und und sozioökonomischen Umwälzungen auch die die höhere Besteuerung von Tabak und Alkohol. „Qualität“ der Bevölkerung von zunehmender Breiten Raum nehmen in der Denkschrift auch militärischer Relevanz. Allen voran galt dies für Maßnahmen zur Abgeltung familienbedingter Mehrkosten ein. Dazu zählen eine (private) Mut- 13 Vgl. Klaus-Jörg Ruhl, Die nationalsozialistische Familienpoli- ter- und Elternschaftsversicherung, eine mit stei- tik (1933–1945). Ideologie – Maßnahmen – Bilanz, in: Geschich- te in Wissenschaft und Unterricht 8/1991, S. 479–488. 14 Vgl. Glass (Anm. 8), S. 3; Lauren E. Forcucci, Battle for Bir- 11 Vgl. Denkschrift der Obersten Heeresleitung über die ths. The Fascist Pronatalist Campaign in Italy 1925 to 1938, in: deutsche Volks- und Wehrkraft, BArch-Militärarchiv PH 3/446, Journal of the Society for the Anthropology of Europe 1/2010, S. 1–52. S. 4–13. 12 Vgl. Nikolas Dörr/Lukas Grawe, Military Influence on 15 Ernst Kahn, Der internationale Geburtenstreik. Umfang, German Pronatalism Before and During the First World War, in: Ursachen, Wirkungen, Gegenmaßnahmen?, Frankfurt/M. 1930, Contemporanea. Rivista di storia dell’800 e del ’900 2020 (i. E.). S. 49. 13
APuZ 16–17/2020 den Gesundheits- und Bildungsstand potenziel- der Arbeiterschutzgesetzgebung zur Stärkung der ler Rekruten. Der Übergang von der Agrar- zur Wehrkraft. Es waren von wenigen Ausnahmen Industriegesellschaft blieb auch für die Armee abgesehen aber nicht Militärs, sondern die poli- nicht folgenlos. Anstelle physisch kräftiger jun- tischen Eliten, die Argumente dieser Art bemüh- ger Männer vom Land traten immer mehr städ- ten. Selbst die Sozialdemokraten versuchten, mit tische Industriearbeiter vor die Musterungskom- dem Wehrkraftargument die Konservativen von missionen. Die Musterungen lieferten erstmals der Sinnhaftigkeit potenzieller Sozialreformen zu Massendaten zum Gesundheits- und Bildungs- überzeugen.19 Die bereits erwähnte Denkschrift stand der männlichen Bevölkerung.16 In Ländern der 3. OHL regte ebenfalls Arbeitsschutzmaßnah- wie Österreich-Ungarn waren bis zu 70 Prozent men an, etwa die Ausdehnung des Fabrikarbeiter- der gemusterten jungen Männer untauglich.17 Mit schutzes bis zum 18. Lebensjahr oder einen besse- Blick auf nationale Wehrkraft und hohe Mobili- ren Schutz für werdende Mütter sowie Frauen in sierungsstärke waren diese Zahlen angesichts sin- körperlich anspruchsvollen Berufen. Auch das na- kender Geburtenziffern spätestens im Kriegsfall tionalsozialistische Jugendschutzgesetz (1938) und für die Militärs besorgniserregend. das Mutterschutzgesetz (1942) standen in der Tra- In der Tat gibt es hinreichend Belege, dass die dition einer militärisch motivierten Sozialpolitik.20 schlechte körperliche Verfassung der jungen Be- Dieser Nexus zwischen Arbeiterschutz und völkerung sozialpolitische Maßnahmen zur Ver- Wehrkraft war keinesfalls auf Deutschland be- besserung der Volksgesundheit mit angestoßen schränkt, sondern findet sich auch in den Begrün- hat. Im Zentrum standen neben der Arbeitsschutz- dungen für die schweizerische Fabrikgesetzgebung gesetzgebung auch gesundheitspolitische Pro- oder die Arbeiterschutzreformen der Habsburger- gramme, die auf die Verringerung der Säuglings- monarchie in den 1880er Jahren. In Großbritanni- und Kindersterblichkeit abzielten. Eines der ersten en wurde das militärische Desaster der Burenkrie- Beispiele ist das preußische „Regulativ über die ge mit den negativen Folgen der Industrialisierung Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ („soziale Degeneration“) im Mutterland in Ver- vom 9. März 1839. Den Impuls lieferte ein Land- bindung gebracht und gab in der Folge Anstoß für wehrgeschäftsbericht des preußischen General- Sozialreformen im Bereich der Kinder- und Ju- leutnants Heinrich Wilhelm von Horn aus dem gendfürsorge.21 In Japan waren es sogar rechtsna- Jahr 1828, in dem er auf sinkende Rekrutenzahlen tionale Militärs, die im Kontext eines Expansions- aufgrund der weitverbreiteten Kinderarbeit in den kriegs Sozialreformen initiierten. Angesichts einer rheinländischen Industrieregionen hingewiesen Untauglichkeitsquote von 40 Prozent wurde 1938 hatte.18 Dieses Regulativ umfasste Arbeitsschutz- auf Betreiben des Generals und Militärarztes Chi- maßnahmen für Kinder und Jugendliche und kop- kahiko Koizumi ein Wohlfahrtsministerium ge- pelte eine zulässige Erwerbsarbeit Minderjähriger schaffen, dessen Leitung er später übernahm. Zen- an einen Schulbesuch. Zwar spielen militärische trale Maßnahme war eine massive Ausweitung der Argumente im Entscheidungsprozess keine Rol- Krankenversicherung, deren Deckungsgrad von le mehr, dennoch kann dieses frühe Sozialgesetz 3,9 Millionen im Jahr 1937 auf über 50 Millionen als ein Beleg für eine militärisch inspirierte Staats Versicherte im Jahr 1944 anstieg. Die 1942 einge- tätigkeit in der Sozial- und Bildungspolitik in ei- führte Rentenversicherung diente nicht zuletzt ner Pioniernation der allgemeinen Wehrpflicht an- auch der Kriegsfinanzierung.22 gesehen werden. Auch in der späteren deutschen Arbeiterschutzgesetzgebung tauchen wiederholt militärische Motive auf – allen voran der Beitrag 19 Vgl. Nikolas Dörr/Lukas Grawe/Herbert Obinger, The Military Origins of Labor Protection Legislation in Imperial Germany, in: Historical Social Research 2020 (i. E.). 16 Vgl. Heinrich Hartmann, Der Volkskörper bei der Muste- 20 Vgl. Lukas Grawe, „Im Interesse der Volksgesundheit und rung. Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten der Wehrhaftmachung des deutschen Volkes“. Militärische Weltkrieg, Göttingen 2011. Motive in der Genese des Jugendschutzgesetzes von 1938, in: 17 Vgl. Emmerich Tálos, Staatliche Sozialpolitik in Österreich, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2020 (i. E.). Wien 1981. 21 Vgl. Deborah Dwork, War is Good for Babies and Other 18 Horns Bericht ist verschollen, erhalten ist aber die Reaktion Young Children. A History of the Infant and Child Welfare von Friedrich Wilhelm III. darauf, siehe GStA PK, I. HA Rep. Movement in England, 1898–1918, London 1987. 120, Ministerium für Handel und Gewerbe, BB VII 3, Nr. 1, 22 Vgl. Gregory J. Kasza, War and Welfare Policy in Japan, in: Bd. 1, 85 VS. Journal of Asian Studies 2/2002, S. 417–435, hier S. 425. 14
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