AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - MILITÄR - BPB

Die Seite wird erstellt Pierre-Oliver Stahl
 
WEITER LESEN
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - MILITÄR - BPB
70. Jahrgang, 16–17/2020, 14. April 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
      Militär
       Benjamin Ziemann                           Johannes Varwick
  MILITÄR UND GESELLSCHAFT               VON LEISTUNGSGRENZEN
 IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT                UND TRENDWENDEN.
                                          WAS SOLL UND KANN
        Herbert Obinger
                                            DIE BUNDESWEHR?
  MILITÄR ALS IMPULSGEBER
 STAATLICHER SOZIALPOLITIK                 Aurel Croissant · David Kuehn
                                             MILITÄR UND POLITIK
        Nina Leonhard
                                              IN DEMOKRATIEN
        WANDEL DES
                                             UND AUTOKRATIEN
      SOLDATENBERUFS
                                                 Victoria M. Basham
        Klaus Naumann
                                                ÜBER LIBERALEN
   RECHTSEXTREMISMUS
                                                 MILITARISMUS
  UND RECHTSPOPULISMUS
      ALS PROBLEME
    DER BUNDESWEHR

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - MILITÄR - BPB
Militär
                                       APuZ 16–17/2020
BENJAMIN ZIEMANN                                       JOHANNES VARWICK
MILITÄR UND GESELLSCHAFT                               VON LEISTUNGSGRENZEN
IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT                             UND TRENDWENDEN. WAS SOLL
Die Militärgeschichte hat sich von einem               UND KANN DIE BUNDESWEHR?
Nischenthema zu einer anerkannten Teildisziplin        Die deutschen Streitkräfte leben seit Jahren von
der Geschichtswissenschaft entwickelt. Eines der       der Substanz, leiden also an einer Unterfinan-
wichtigsten Themen für Europa im 19. und 20.           zierung bei gleichzeitig erhöhtem Gestaltungs-
Jahrhundert ist die allgemeine Wehrpflicht.            anspruch seitens der Politik. Wie lassen sich
Seite 04–10                                            Auftrag und Mittel wieder in Balance bringen?
                                                       Seite 31–37
HERBERT OBINGER
MILITÄR ALS IMPULSGEBER STAATLICHER                    AUREL CROISSANT · DAVID KUEHN
SOZIALPOLITIK                                          MILITÄR UND POLITIK IN DEMOKRATIEN
Geleitet von außenpolitischen Machtambitionen          UND AUTOKRATIEN
des Staates, haben auch militärische Interessen,       Das Militär ist auch im 21. Jahrhundert Symbol
Krieg und die Kriegsfolgenbewältigung die              und Grundelement moderner Staatlichkeit.
staatliche Sozialpolitik geprägt. Vereinzelt war       Das Verhältnis zwischen Streitkräften und
das Militär ein relevanter sozialpolitischer Akteur.   politischem System zu regeln, ist daher ein
Seite 11–17                                            Ordnungsproblem fast aller modernen Staaten.
                                                       Seite 39–47
NINA LEONHARD
WANDEL DES SOLDATENBERUFS                              VICTORIA M. BASHAM
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem            ÜBER LIBERALEN MILITARISMUS
Aufkommen neuartiger Konfliktlagen sind für            Liberale Demokratien betrachten sich selbst meist
die Bundeswehr wie für die meisten Streitkräfte        nicht als militaristisch. Doch ist Militarismus
in Europa neue Aufgaben entstanden. Auch das           – sich auf Krieg vorzubereiten und Kriegführung
soldatische Berufsverständnis hat sich verändert.      als Mittel der Politik zu normalisieren – Bestand-
Seite 18–24                                            teil ihrer Funktionsweise.
                                                       Seite 48–52
KLAUS NAUMANN
RECHTSEXTREMISMUS UND
RECHTSPOPULISMUS ALS PROBLEME
DER BUNDESWEHR
Häufung von „Verdachtsfällen“, Berichte über
eine „Schattenarmee“: Extremistische Tendenzen
in einem bewaffneten Machtorgan des demokra-
tischen Staates sind gefährlich. Doch wie dicht
dran am rechten Rand ist die Bundeswehr?
Seite 25–30
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - MILITÄR - BPB
EDITORIAL
Island hat keins, Liechtenstein auch nicht, und Costa Rica verzichtet seit 1949
darauf: Die Anzahl der Staaten auf der Welt ohne eigenes Militär ist überschau-
bar, und vielen Kleinstaaten garantiert eine „Schutzmacht“ die Landesvertei-
digung. Ansonsten gilt: Wo ein Staat ist, ist auch Militär. Dessen Rolle variiert
von Land zu Land, insbesondere von Demokratien zu Autokratien, aber auch
zwischen Staaten mit ähnlicher Herrschafts- und Gesellschaftsordnung. „Mili-
tarismus“ wird meist mit undemokratischen Systemen in Verbindung gebracht
oder in der Vergangenheit verortet; es gibt aber auch Stimmen, die eine beson-
dere Form des Militarismus bei liberalen Demokratien identifizieren.
   Für die europäische Geschichte war die Einführung der allgemeinen Wehr-
pflicht von besonderer Bedeutung, beförderte sie doch Prozesse der Nations-
bildung im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Heute zieht nur noch eine
Minderheit der Nato-Mitgliedsstaaten ihre Bürger zum Dienst an der Waffe ein;
seit 2011 ist die Wehrpflicht auch in Deutschland ausgesetzt. Veränderungen der
(inter)nationalen sicherheitspolitischen Lage und Anpassungen wie Erweiterun-
gen des Aufgabenspektrums der Bundeswehr wurden stets begleitet von Diskus-
sionen um die notorische Unterausstattung bei Finanzen, Personal und Material.
   Auch aus historischen Gründen ist in Deutschland der Einsatz des Militärs
im Innern nur begrenzt möglich. Über die Amtshilfe nach Artikel 35 Grund-
gesetz ist die Bundeswehr und insbesondere ihr Sanitätsdienst zurzeit in der
„Corona-Krise“ tätig. Die Hilfs- und Einsatzbereitschaft ist groß, auch unter
den Reservisten. Neue Debatten um erweiterte Möglichkeiten des Einsatzes der
Bundeswehr im Inland, die zuletzt mit Blick auf terroristische Bedrohungen
geführt wurden, zeichnen sich ab.

                                                      Anne Seibring

                                                                               03
APuZ 16–17/2020

                          MILITÄRGESCHICHTE
                  Perspektiven auf Militär und Gesellschaft
                        im 19. und 20. Jahrhundert
                                       Benjamin Ziemann

 Die Militärgeschichte hat einen langen Weg hin-                  VON DER KRIEGS-
 ter sich, in Deutschland ebenso wie in anderen                ZUR MILITÄRGESCHICHTE
 europäischen Ländern und den USA. Zuge-
 spitzt formuliert, hat sich die Militärgeschichte   In Deutschland sind die Anlaufschwierigkeiten
 von einem in der akademischen Geschichtswis-        der Militärgeschichte in der sogenannten applika-
 senschaft nur schwach verankerten Nischenthe-       torischen, auf Anwendung in der Gegenwart zie-
 ma mit geringer wissenschaftlicher Reputation       lenden Methode zu suchen. Im preußisch-deut-
 zu einer zentralen Arena für die Diskussion von     schen Militär des 1871 gegründeten Kaiserreichs
 Annahmen über den Zusammenhang von Mi-              trug die historische Aufarbeitung vergangener
 litär, ziviler Gesellschaft und organisierter Ge-   Feldzüge zur Ausbildung der Offiziersanwär-
 walt in der Moderne entwickelt.01 Die Probleme      ter bei und sollte in der operativen Planung die
 und Ausgangslagen für die inhaltliche und me-       Wiederholung einmal gemachter Fehler vermei-
 thodische Erneuerung dieser Teildisziplin wa-       den. Der Schwerpunkt lag dabei deutlich auf der
 ren dabei unterschiedlich. Im Vereinigten           Kriegsgeschichte, die von Offizieren aus der Bin-
 Königreich und in den USA leidet die Militär-       nenperspektive des Militärs analysiert wurde. In-
 geschichte bis heute unter ihrer enormen Po-        nere Struktur und Rekrutierung der Streitkräfte
 pularität bei einem aus Laien und interessierten    im „Normalzustand“ des Friedens waren nicht
 Hobbyhistorikern bestehenden Publikum. Wo           von Interesse.04 Auch nach 1918/19, als die Nie-
 immer man in Großbritannien einen Buchla-           derlage gegen die Alliierten und die Entmilitari-
 den betritt, sticht das große Regal mit Büchern     sierungsbestimmungen des Versailler Vertrages
 zur „military history“ ins Auge. Im Zentrum         eine tiefe Zäsur für das deutsche Militär markier-
 steht dabei allerdings nur ein Genre: die popu-     ten, änderte sich daran vorerst nichts. Mit der im
 läre „battlefield history“,02 konventionelle Er-    Versailler Vertrag vereinbarten Auflösung des
 zählungen berühmter und weniger berühmter           Großen Generalstabes musste sich auch dessen
 Schlachten als ein in Raum und Zeit abgeschlos-     kriegsgeschichtliche Abteilung eine neue Heim-
 senes Drama. Der Akzent liegt hauptsächlich         stätte suchen. Dies geschah 1919 mit der Grün-
 auf der Schilderung ergreifender Einzelschick-      dung des Reichsarchivs in Potsdam, das die Ak-
 sale und dramatischer Wendepunkte, und zwar         ten des kaiserlichen Heeres übernahm.
 in der Regel nur aus der Perspektive einer Ar-          Formal unterstand das Reichsarchiv dem
 mee, deren Gegner bestenfalls sehr schematisch      Reichsministerium des Innern. Aber Ziele und
 eingeführt wird. Dabei lässt sich Schlachtenge-     inhaltliche Ausrichtung bestimmten die ehemali-
 schichte auch abseits der gängigen Erzählmus-       gen Offiziere unter dem ersten Präsidenten, Ge-
 ter schreiben und kann so wichtige Einsichten       neralmajor a. D. Hermann Mertz von Quirnheim.
 in die Dynamik des Krieges und dessen an-           Im Zentrum der amtlichen Darstellung des Ers-
 dauernde kulturelle Präsenz liefern. Allerdings     ten Weltkrieges stand so eine geschönte, allen kri-
 ist es dazu nötig, die Schlacht aus einer trans-    tischen Anfragen ausweichende Operationsge-
 nationalen Perspektive zu analysieren, die bei-     schichte. Für sie beanspruchte man, unterstützt
 de Armeen als eigenständige Akteure ebenso          durch den restriktiv gehandhabten Zugang zu den
 in den Blick nimmt wie die vor Ort lebenden         Akten, ein Deutungsmonopol. Durch populär
­Zivilisten.03                                       angelegte Reihen wie die „Schlachten des Welt-

04
Militär APuZ

krieges“ versuchte das Reichsarchiv zudem, seine                  als Kriegshistoriker arbeitenden Offizieren auf
Sichtweise auch einer breiteren Öffentlichkeit nä-                Ablehnung. Zu einer Einbindung kriegs- und mi-
herzubringen.05 Die Kriegsgeschichte des Reichs-                  litärgeschichtlicher Fragestellungen in die univer-
archivs war damit Teil der erbitterten Auseinan-                  sitäre Forschung kam es erst im „Dritten Reich“.
dersetzungen in der Weimarer Republik über die                    Dort verdichteten sich personelle und instituti-
Ursachen und Folgen der deutschen Niederlage                      onelle Netzwerke in den sogenannten Wehrwis-
im Herbst 1918. Hauptmann George Soldan, der                      senschaften. Dieser 1926 neu geprägte Begriff be-
ab 1920 die Abteilung für „Volkstümliche Schrif-                  zeichnete die Absicht, die soziale, politische und
ten“ im Reichsarchiv leitete, hatte im Mai 1919 in                militärische Mobilisierung für den Krieg interdis-
einer Denkschrift die „Aufgaben“ der militärge-                   ziplinär zu begreifen. Dem diente unter anderem
schichtlichen Arbeit des Reichsarchivs so zusam-                  das 1937 an der Friedrich-Wilhelms-Universität
mengefasst: „[E]in zusammengebrochenes Volk                       in Berlin eingerichtete Institut für Wehrpolitik.08
aufrichten, ihm den Glauben an sich selber wie-                       Von den Wehrwissenschaften des „Drit-
dergeben, aus gemeinsam ertragenem Glück und                      ten Reiches“ gibt es eine direkte Kontinuitäts-
Unglück deutschnationales Empfinden erwach-                       linie zur Militärgeschichte in der Bundesrepu-
sen lassen (…); den großen erzieherischen Wert                    blik. Sie wird von Werner Hahlweg verkörpert,
der Geschichte ausnützen, um ein unpolitisch                      der seine akademische Karriere 1934 im Kon-
denkendes und empfindendes Volk zur Reife zu                      text der wehrwissenschaftlichen Arbeit an der
führen.“06                                                        Berliner Universität begann. Als einer der we-
    Die universitär verankerte Geschichtswissen-                  nigen Protagonisten der NS-Wehrwissenschaf-
schaft blieb bei all diesen Bemühungen außen vor.                 ten konnte er seine akademische Karriere nach
Einzig der Historiker Hans Delbrück, der an der                   1945 fortsetzen. Von 1950 an war er in Müns-
Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität lehr-                     ter als Dozent für Neuere Geschichte tätig, ab
te, versuchte bereits vor 1914, sich von der „ap-                 1969 dann als ordentlicher Professor für Mili-
plikatorischen“ Methode der Generalstäbler zu                     tärgeschichte. Damit hatte er die einzige Profes-
lösen und die historisch-kritische Methode der                    sur für dieses Fachgebiet in der Bundesrepublik
Geschichtswissenschaft auf das Militär anzu-                      inne.09 Doch die wichtigsten Anstöße zur Ver-
wenden. Mit den vier Bänden seiner „Geschichte                    ankerung der Militärgeschichte in der Bundesre-
der Kriegskunst im Rahmen der politischen Ge-                     publik gingen vom Militärgeschichtlichen For-
schichte“ (1900–1920) machte er Krieg und Mili-                   schungsamt (MGFA) aus, einer Einrichtung der
tär zum Thema der allgemeinen Geschichte.07 Mit                   Bundeswehr, die ab 1958 in Freiburg im Breis-
diesem Vorhaben stieß Delbrück aber sowohl un-                    gau arbeitete. Vor allem der leitende Historiker
ter den universitären Historikern als auch bei den                des MGFA von 1970 bis 1988, Manfred Messer-
                                                                  schmidt, legte zahlreiche Arbeiten zum preu-
01 Zur Militärgeschichte der Vormoderne vgl. Ralf Pröve
                                                                  ßisch-deutschen Militär und zur Wehrmacht vor,
(Hrsg.), Klio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer mo-     die durch ihre breite empirische Fundierung wie
dernen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, Paderborn 1997.      durch ihre unbefangen kritische Perspektive be-
02 Vgl. Jeremy Black, Rethinking Military History, London–New     stachen. So war Messerschmidt einer der ersten,
York 2004, S. X.
                                                                  der das Schicksal der von der NS-Militärjustiz
03 Vgl. Mark Connelly/Stefan Goebel, Ypres. Great Battles,
Oxford 2018; Marian Füssel/Michael Sikora (Hrsg.), Kulturge-
                                                                  verfolgten Deserteure und „Wehrkraftzerset-
schichte der Schlacht, Paderborn 2014, insb. Christoph Nübel,     zer“ erforschte und damit soldatische Verweige-
Die Geschichte der Schlacht. Methodische Überlegungen am         rungsstrategien zum Thema machte.10 Im Kon-
Beispiel der Michael-Offensive 1918, S. 231–258.
04 Bernhard R. Kroener, Militär, Staat und Gesellschaft im
20. Jahrhundert, München 2011, S. 52.                             08 Vgl. Frank Reichherzer, „Alles ist Front.“ Wehrwissenschaften
05 Vgl. Markus Pöhlmann, Kriegsgeschichte und Geschichts-         in Deutschland und die Bellifizierung der Gesellschaft vom Ers-
politik: Der Erste Weltkrieg. Die amtliche deutsche Militärge-    ten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg, Paderborn 2012, S. 140,
schichtsschreibung 1914–1956, Paderborn 2002.                     S. 253–327.
06 Bernd Ulrich/Benjamin Ziemann (Hrsg.), Krieg im Frieden.       09 Vgl. ebd., S. 399 f.
Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, Frank­          10 Vgl. Manfred Messerschmidt, Militarismus, Vernichtungs-
furt/M. 1997, S. 65–68, hier S. 66.                               krieg, Geschichtspolitik. Zur deutschen Militär- und Rechts-
07 Vgl. Wilhelm Deist, Hans Delbrück. Militärhistoriker und       geschichte, Paderborn u. a. 2006; ders., Was damals Recht
Publizist, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen (MGM) 2/1998,   war … NS-Militär- und Strafjustiz im Vernichtungskrieg, Essen
S. 371–383.                                                       1996.

                                                                                                                               05
APuZ 16–17/2020

text des MGFA gab es auch erste Überlegungen                            Die methodische Erweiterung der Militär-
zu einer methodischen Ausrichtung der Militär-                      geschichte seit den 1980er Jahren erfolgte im
geschichte an den allgemeinen Standards der Ge-                     Anschluss an Entwicklungen in der allgemei-
schichtswissenschaft.11                                             nen Geschichtswissenschaft. Wichtig waren da-
    Seit den 1980er Jahren ist ein stark wach-                      bei vor allem die Impulse der kulturhistorischen
sendes Interesse gerade auch jüngerer Histo-                        Wende, die die Deutungsmuster und kollektiven
rikerinnen und Historiker an Fragen der Mi-                         Mentalitäten von Soldaten und Offizieren sowie
litärgeschichte zu verzeichnen, das mit einer                       die symbolischen Repräsentationen des Militärs
inhaltlichen und methodischen Erweiterung                           in öffentlichen Paraden, Feiern und Ritualen in
einherging. Inhaltlich wurde dabei unter an-                        das Zentrum der Analyse rückte.14 Zusammen
derem die Abkehr von der Kommandopers-                              mit der Rezeption von Fragen und Ansätzen
pektive der Offiziere und Generalstäbler an-                        der Geschlechter-, Sozial- und Technikgeschich-
gemahnt, die in vielen traditionellen Werken                        te wurde damit eine multiperspektivische He-
nicht nur zum deutschen Militär immer noch                          rangehensweise an das Militär auf breiter Front
im Mittelpunkt stand. An ihre Stelle sollte eine                   ­verankert.15
„Militärgeschichte von unten“ treten. Sie wid-
met sich jenen in der Zeit vor 1945 im Schnitt                              ALLGEMEINE WEHRPFLICHT:
etwa 95 Prozent der Angehörigen des Militärs,                             MILITÄR UND NATIONSBILDUNG
die als einfache Soldaten oder Unteroffiziere in
der subalternen Position des Befehlsempfängers                     Ein zentrales Thema der neueren Militärge-
dienten. Deren Erfahrungen und ihr Alltag im                       schichte ist die Verschränkung von Militär und
Militär sollten nun in das Zentrum des Interesses                  Gesellschaft. Deren wichtigster Transmissi-
rücken. Deutlich erkennbar war dabei, dass die                     onsriemen war in vielen Ländern Europas die
Herausstellung dieser Perspektive die Gefahr in                    zwangsweise Einberufung junger Männer im
sich barg, die einfachen Soldaten mit der Beto-                    System der allgemeinen Wehrpflicht. Als der
nung ihrer „Leidensgeschichte“ in einer Opfer-                     Historiker Gerhard Ritter nach der Katastrophe
rolle festzuschreiben.12 Das war nicht nur des-                    des „Dritten Reiches“ über die deutsche Tradi-
halb problematisch, weil Soldaten im Frieden                       tion des Militarismus reflektierte, hob er in be-
wie im Krieg über ein vielfältiges Handlungsre-                    wusst dramatischen Worten die Folgen der Ein-
pertoire verfügen, mit dem sie sich den Anforde-                   führung einer allgemeinen Dienstpflicht im Zuge
rungen des Dienstes, etwa durch die Simulation                     der Französischen Revolution hervor. Das Mo-
von Krankheiten oder niederschwellige Akte der                     dell dafür war die von den Jakobinern 1793 pro-
Resistenz, entziehen können. Die in der „Mili-                     klamierte „Levée en masse“, die Einberufung
tärgeschichte von unten“ anzutreffende Opfer-                      junger unverheirateter Männer. Für Ritter lag
perspektive stand auch im Widerspruch zur Ent-                     darin der Beginn einer verhängnisvollen Ent-
deckung der Soldaten als Täter des vom „Dritten                    wicklung, die eine „neuartige, ungeheuer gestei-
Reich“ geführten Vernichtungskrieges in der So­                    gerte Dynamik der Kriegführung ermöglicht:
wjet­union, die die kontroverse Wehrmachtsaus-                     einen fast ungehemmten Einsatz von Menschen-
stellung des Hamburger Instituts für Sozialfor-                    leben“, der selbst die „kühnsten Feldherrnphan-
schung und andere Arbeiten zur gleichen Zeit                       tasien“ der Vergangenheit übertraf. „Am fer-
herausstellten.13                                                  nen Horizont“, so Ritter, tauche hier „bereits
                                                                   das Schreckbild des modernen ‚totalen‘ Krieges
                                                                   auf“, dem es um „totale Vernichtung“ des Geg-
11 Vgl. Rainer Wohlfeil, Wehr-, Kriegs- oder Militärgeschichte?,
in: MGM 1/1967, S. 21–29.
12 Vgl. Wolfram Wette, Militärgeschichte von unten. Die            14 Als Pionierstudie vgl. Jakob Vogel, Nationen im Gleich-
Perspektive des „kleinen Mannes“, in: ders. (Hrsg.), Der Krieg     schritt. Der Kult der „Nation in Waffen“ in Deutschland und
des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München      Frankreich 1871–1914, Göttingen 1997.
1992, S. 9–47, hier S. 13.                                         15 Vgl. als erste Bestandsaufnahme Thomas Kühne/Benjamin
13 Vgl. Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungs-           Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000;
krieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944, Hamburg 1995;           weiterführend: Jörg Echternkamp/Wolfgang Schmidt/Thomas
als Detailstudie bereits zuvor erschienen: Omer Bartov, Hitler’s   Vogel (Hrsg.), Perspektiven der Militärgeschichte. Raum, Gewalt
Army. Soldiers, Nazis and War in the Third Reich, New York–        und Repräsentation in historischer Forschung und Bildung, Mün-
Oxford 1991.                                                       chen 2010.

06
Militär APuZ

ners gehe.16 Ganz offenkundig versuchte Ritter                    bleme stets nur ein geringer Teil der Wehrpflich-
hier, die Eskalation der Gewalt im Vernichtungs-                  tigen tatsächlich ausgehoben wurde, noch um
krieg der Wehrmacht 1941 bis 1945 auf eine an-                    1850 nicht mehr als ein Viertel.17
dere historische Traditionslinie zurückzuführen                       Trotz ihrer begrenzten Reichweite fungier-
als auf den spezifisch deutschen Militarismus,                    te die Wehrpflicht bereits vor 1871 als eine „Bil-
der sich in den anti-napoleonischen Befreiungs-                   dungsschule der Nation“ – so der preußische
kriegen 1813 bis 1815 herausgebildet hatte und                    Kriegsminister Hermann von Boyen 1816 –,
in der hervorgehobenen Rolle des Militärs in den                  in der junge Männer ihrer staatsbürgerlichen
drei nationalen Einigungskriegen der Jahre 1864                   Pflicht nachkamen und in den Kasernen eine
bis 1871 in das Zentrum des Nationalstaates ge-                   Vergemeinschaftung erfolgte, die ungeachtet ih-
rückt war.                                                        res hierarchischen Charakters Männer aus unter-
     Das Thema Ritters und anderer in der bo-                     schiedlichen Landesteilen und sozialen Schich-
russischen Tradition geschulter Militärhistori-                   ten zusammenbrachte.18 Dabei schliffen sich
ker war die Rolle der allgemeinen Wehrpflicht                     mittelfristig auch die Widerstände unter den Li-
bei der äußeren Nationsbildung, für die neben                     beralen gegen das Prinzip des stehenden Hee-
der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871                      res ab, gegen das sie hartnäckig die Landwehr als
auch die bis 1861 weitgehend abgeschlossene                       eine bürgerliche Alternative verteidigten. Eine
italienische Einigung als Paradebeispiel dien-                    Minderheit deutscher Liberaler und Radikalde-
te. Demgegenüber konzentriert sich die neue-                      mokraten setzten ab 1830 ihre Hoffnungen auf
re militärgeschichtliche Forschung vornehmlich                    das schweizerische Milizsystem als Alternati-
auf die Rolle der allgemeinen Wehrpflicht bei                     ve zum stehenden Heer. Mit dem Verzicht auf
der inneren Nationsbildung. Auch in der preu-                     dauerhaft organisierte Verbände und eine über-
ßischen Reformdiskussion nach der Niederla-                       greifende Organisationsstruktur in der Form ei-
ge gegen Napoleon 1807 stand das jakobinische                     nes Kriegsministeriums schien es das freiheit-
Modell der allgemeinen Wehrpflicht im Vorder-                     lich-selbstbestimmte Gegenteil des preußischen
grund. Das musste jene bürgerlichen Schichten                     Zwangsapparates zu verkörpern. Die Ironie die-
beunruhigen, die in der bis dahin gültigen alt-                   ser Hoffnungen lag darin, dass die Schweiz nach
preußischen Wehrverfassung vom Militärdienst                      dem Sonderbundskrieg 1847, der den liberalen
ausgenommen (eximiert) waren. Als Preußen                         Bundesstaat begründete, selbst Schritte zur An-
dann 1814 die Wehrpflicht einführte, waren die                    gleichung ihrer Wehrverfassung an den west­
bislang eximierten Stände davon ebenso betrof-                    europäischen Standard unternahm, um die inne-
fen. Die Möglichkeit einer Stellvertretung – bei                  re Nationsbildung zu beschleunigen. Das begann
der betuchte Familien einen Einsteher aus den                     1848 mit der Gründung des eidgenössischen Mi-
unterbürgerlichen Schichten bezahlten, der den                    litärdepartements als übergeordneter Behörde
Wehrdienst für ihren Sohn ableistete – gab es                     und war 1874 mit der Einführung einer dauerhaft
nicht. Die Einführung des sogenannten Einjäh-                     organisierten Schweizer Armee mit einheitlicher
rig-Freiwilligen, einer verkürzten Dienstzeit von                 Ausbildung weitgehend abgeschlossen.19
nur einem Jahr bei freiwilliger Meldung und dem                       Die gesellschaftliche Prägekraft der Wehr-
Vorliegen eines Gymnasialabschlusses, versüß-                     pflicht in den deutschen Ländern blieb bis 1867
te dem Bürgertum diese bittere Pille. Zugleich                    auch deshalb begrenzt, weil die Staaten des so-
wurde neben dem stehenden Heer der Linie eine
Landwehr eingerichtet, die bürgerliche Offiziere                  17 Vgl. Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst
kommandierten. Statt in der Kaserne zu schmo-                     und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001,
                                                                  S. 18–132.
ren, mussten die Landwehrmänner nur zu sonn-
                                                                  18 Vgl. dies., Das jakobinische Modell. Allgemeine Wehrpflicht
täglichen Schießübungen und zweiwöchigen                          und Nationsbildung in Preußen-Deutschland, in: dies. (Hrsg.),
Übungskursen antreten. Doch insgesamt blieb                       Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart
die Prägekraft der Wehrpflicht in der zivilen Ge-                 1997, S. 17–47, hier S. 36.
sellschaft über Jahrzehnte hinweg gering. Das lag                 19 Vgl. Rudolf Jaun, „Das einzig wahre und ächte Volksheer.“
                                                                  Die schweizerische Miliz und die helvetische Projektion deutscher
vor allem daran, dass aufgrund fiskalischer Pro-
                                                                  Radikal-Liberaler und Demokraten 1830–1870, in: Christian
                                                                  Jansen (Hrsg.), Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung euro-
16 Gerhard Ritter, Das Problem des Militarismus in Deutsch-       päischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert, Essen 2003,
land, in: Historische Zeitschrift 1/1954, S. 21–48, hier S. 27.   S. 68–82.

                                                                                                                                07
APuZ 16–17/2020

genannten Dritten Deutschland – vor allem Ba-                   maßen abgeleisteten Wehrdienst berief.22 Der
den, Württemberg und Bayern – sich nicht am                     Militarismus der Kriegervereine produzierte
preußischen Vorbild orientierten, sondern in                    also nicht gehorsame Untertanen, sondern war
verschiedenen Varianten die Möglichkeit der                     eher ein Vehikel der Partizipation.
Stellvertretung beibehielten.20 Erst nach der ös-                    Das größte Hindernis auf dem Weg zur in-
terreichischen Niederlage bei Königgrätz 1866,                  neren Nationsbildung durch eine Wehrpflicht-
mit der Österreich aus dem Deutschen Bund aus-                  armee war die sprachliche und ethnische Vielfalt
schied und der Weg zur Gründung eines klein-                    der multi-ethnischen Reiche in Europa vor 1914.
deutschen Nationalstaates frei war, mussten die                 Das deutsche Kaiserreich war trotz der großen
süddeutschen Staaten Preußens Militärverfas-                    polnischen Minderheit in Preußen hiervon noch
sung übernehmen, in der seit der Heeresreform                   am wenigsten betroffen. Aber auch hier brach
der 1860er Jahre die Landwehr Teil des stehen-                  der latente Konflikt zwischen dem deutschen Mi-
den Heeres war. Im Protest von Partikularisten,                 litär und den Bewohnern im 1871 annektierten
Demokraten und Katholiken in Baden, Bayern                      ­Elsass-Lothringen massiv hervor, als ein Leut-
und Württemberg gegen die dreijährige Dienst-                   nant in der Garnison Zabern 1913 elsässische
pflicht im stehenden Heer entstand der Begriff                  Rekruten und Zivilisten beleidigte. Die Zabern-
des „Militarismus“, der als antipreußische Parole               Affäre entwickelte sich rasch zur schwersten Ver-
rasch populär wurde. So geißelte etwa der baye-                 fassungskrise des wilhelminischen Kaiserreichs.23
rische Politiker Josef Edmund Jörg das Schutz-                       Weitaus komplizierter war die Lage in Ös-
und Trutzbündnis mit Preußen mit den Worten,                     terreich-Ungarn. Nur zwei Jahre nach der Nie-
dies sei die „Quelle, aus welcher sich das Unheil                derlage gegen Preußen führte die Doppelmon-
des Militarismus über die einst so glücklichen                   archie 1868 eine allgemeine Wehrpflicht ein, die
Länder Süddeutschlands“ ergieße. Diese militär-                  auf einem jährlich neu fixierten Rekrutenkontin-
kritische Pointe des Begriffs „Militarismus“ soll-               gent basierte, was zu zahlreichen Streitigkeiten
te nicht übersehen werden. Sie speiste sich aus                  in den Parlamenten der beiden Landesteile führ-
der Außenwahrnehmung von Partikularisten,                        te. Die majoritäre Gruppe der Deutschen stellte
Pazifisten und bald auch Sozialdemokraten, die                   aber gerade einmal 24 Prozent der Gesamtbevöl-
die negativen Folgen der Wehrpflicht für die zi-                 kerung, gefolgt von den Ungarn mit 20 Prozent.
vile Gesellschaft beklagten.21                                   Noch neun andere Nationalitätengruppen waren
    Unstrittig ist, dass die Wehrpflicht erst im                 offiziell anerkannt, auch innerhalb des Militärs.
deutschen Kaiserreich ab 1871 zum wichtigs-                      Also versuchte die Armee, mit einer vorsichtigen
ten Vehikel der inneren Nationsbildung mit                       Durchmischung der Wehrpflichtigen verschiede-
breiter Massenwirkung auch über die bürgerli-                    ner Nationalitätengruppen einen Beitrag zur Ho-
chen Schichten hinaus avancierte. Davon zeugen                   mogenisierung zu leisten. Zwar blieb Deutsch bis
nicht zuletzt die Kriegervereine des Kyffhäuser-                 1918 die einzige offizielle Kommandosprache.
bundes, in denen sich ehemalige Wehrpflichti-                    Doch daneben gab es sogenannte Regimentsspra-
ge in egalitärer männlicher Gesellschaft trafen.                 chen, die auch die Offiziere beherrschen muss-
Mit 2,8 Millionen Mitgliedern im Jahr 1913 war                   ten, wenn mindestens 20 Prozent ihrer Soldaten
der Kyffhäuserbund eine der größten Massen-                      sie sprachen. So gab es Regimenter mit bis zu fünf
organisationen des Kaiserreichs. Die Attraktivi-                 Regimentssprachen.24 Durch dieses ausgeklügelte
tät dieser Vereine lag auch darin, dass sie unter-              System ließen sich die Nationalitätenspannungen
bürgerlichen Schichten – Arbeitern und kleinen
Parzellenbesitzern – die Möglichkeit boten, so-
                                                                22 Vgl. Robert von Friedeburg, Klassen-, Geschlechter- oder
ziale Anerkennung und Gleichberechtigung ein-
                                                                Nationalidentität? Handwerker und Tagelöhner in den Krieger-
zufordern, die sich auf den von allen gleicher-                 vereinen der neupreußischen Provinz Hessen-Nassau 1890–
                                                                1914, in: Frevert (Anm. 18), S. 229–244; Frevert (Anm. 17),
                                                                S. 193–301.
20 Vgl. Frevert (Anm. 17), S. 133–192.                          23 Vgl. David Schoenbaum, Zabern 1913. Consensus Politics in
21 Vgl. Benjamin Ziemann, Sozialmilitarismus und militärische   Imperial Germany, London 1982.
Sozialisation im deutschen Kaiserreich 1870–1914. Ergebnis-     24 Vgl. Christa Hämmerle, Die k. (u.) k. Armee als „Schule des
se und Desiderate in der Revision eines Geschichtsbildes, in:   Volkes“? Zur Geschichte der Allgemeinen Wehrpflicht in der
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 3/2002, S. 148–164,   multinationalen Habsburgermonarchie, in: Jansen (Anm. 19),
hier S. 150.                                                    S. 175–213.

08
Militär APuZ

in der k. u.k-Armee zumindest teilweise auffan-                     Lebensphase zwei oder drei Jahre in einer exklu-
gen, wenngleich sie bis 1914 deutlich zunahmen,                     siv männlichen, geschlossenen Form der Verge-
wie die seit 1905 wieder zunehmende Zahl der                        meinschaftung in der Kaserne verbringen. Das
nicht zur Einstellung erscheinenden Rekruten                        Militär wurde damit, wie der Pädagoge Friedrich
zeigte. Auch der Blick auf populäre Militärfei-                     Paulsen 1902 prägnant formulierte, zur „Schule
ern und Kriegervereine verdeutlicht, dass es der                    der Männlichkeit“.28 Vor 1914 entwickelte diese
auf Kaiser Franz Joseph I. als paternalistischen                    Reformulierung männlicher Geschlechteridea-
Landesvater fokussierten Militärkultur der Dop-                     le in verschiedenen Formen eine prägende Wir-
pelmonarchie bis 1914 insgesamt erstaunlich gut                     kung in der Zivilgesellschaft. Das geschah über
gelang, die Loyalität ihrer multi-ethnischen Be-                    den Glanz, den die farbenprächtigen Uniformen
völkerung sicherzustellen.25                                        ausstrahlten, ebenso wie über die Gewöhnung an
    Ganz anders war die Lage in dem auf übersee-                    die stramme Haltung, die Soldaten und Offizie-
ische Besitzungen gegründeten Britischen Empire.                    re erlernen mussten und die ihre Körperlichkeit
Dessen Weltgeltung sicherte die Royal Navy, und                     prägte.
so blieben die Landstreitkräfte eine vergleichs-                        Die militärische Umprägung männlicher Ge-
weise winzige und dafür im Unterhalt recht teu-                     schlechterbilder war bereits vor 1914 kein ge-
re Berufsarmee. In Großbritannien ersetzte „die                     radliniger Prozess. So hatten viele Bauernsöhne
Einkommensteuer (…) den Wehrdienst“.26 Eine                         sichtliche Schwierigkeiten, ihren Körper an die
Wehrpflicht wurde erst 1916 im Zuge des Welt-                       genau abgezirkelten Bewegungen zu gewöhnen,
krieges eingeführt und nach seinem Ende bald                        die der Parademarsch ihnen abverlangte. Und
wieder ausgesetzt. Eine Krise der „imperial de-                     auch im bürgerlichen Offiziersnachwuchs gab es
fense“ trat aber bereits im Burenkrieg 1899 bis                     Zweifel und Ambivalenzen, wie etwa das Beispiel
1902 gegen die zumeist niederländischen Siedler                     Martin Niemöllers zeigt, des späteren Theologen
in Südafrika hervor. Der schlechte Gesundheits-                     und Mitglieds der Bekennenden Kirche. Er trat
zustand vieler weißer Soldaten aus dem Mutter-                      1910 als Seekadett in die kaiserliche Marine ein,
land machte Schlagzeilen und legte die ungenü-                      hatte aber erhebliche Probleme, sich an den rau-
gende Versorgung der britischen Arbeiterklasse                      en Ton der Männerkameradschaft zu gewöhnen.
bloß. Um den Krieg zu gewinnen, musste Stabs-                       Wortreich beklagte er sich 1913 in seinem Tage-
chef Lord Kitchener auch Schwarze als Soldaten                      buch über die „Zoten gemeinster Art“, mit der
rekrutieren. Damit bereitete er die multi-ethni-                    viele Marineoffiziere ihm wichtige Ideale wie die
sche Zusammensetzung der britischen Armee im                        Familie und die aufrichtige Liebe zu einer Frau
Ersten Weltkrieg vor.27                                             zur Zielscheibe ihres Spottes machten.29
                                                                        Aber die eigentliche Belastungsprobe militäri-
                 MILITÄR UND                                        scher Männlichkeit kam erst mit dem Ersten Welt-
            GESCHLECHTERORDNUNG                                     krieg, wie vor allem die innovative Forschung zur
                                                                    britischen Armee eindringlich herausgearbeitet
Die allgemeine Wehrpflicht mobilisierte nicht nur                   hat. Die in der Kitchener Army dienenden Frei-
personelle Ressourcen mit einschneidenden Im-                       willigen mussten bald nach ihrer Ankunft auf den
plikationen für die Zivilgesellschaft und trug zur                  Schlachtfeldern Belgiens und Nordfrankreichs
inneren Nationsbildung bei. Sie hatte außerdem                      erfahren, dass die körperliche Realität des Mili-
fundamentale Auswirkungen auf die Geschlech-                        tärdienstes sich von den hochfliegenden Erwar-
terordnung. Ein langfristig steigender Prozent-                     tungen der Vorkriegszeit dramatisch unterschied.
satz junger Männer musste in einer formativen                       In den kärglichen Lebensbedingungen der ver-
                                                                    dreckten Frontquartiere brachen die Vorstellun-
25 Vgl. Laurence Cole, Military Culture and Popular Patriotism
in Late Imperial Austria, Oxford 2014.                              28 Ute Frevert, Das Militär als Schule der Männlichkeit. Er-
26 Hew Strachan, Militär, Empire und Civil Society. Großbri-        wartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert, in: dies.
tannien im 19. Jahrhundert, in: Frevert (Anm. 18), S. 78–93, hier   (Anm. 18), S. 145–173, hier S. 145.
S. 92.                                                              29 Zit. nach Benjamin Ziemann, Ambivalente Männlichkeit.
27 Vgl. Jörn Leonhard, Integrationserwartungen und Desin-           Geschlechterbilder und -praktiken in der kaiserlichen Marine
tegrationserfahrungen. Empire und Militär in der Habsburger-        am Beispiel von Martin Niemöller, in: L’Homme. Europäische
monarchie und in Großbritannien vor 1914, in: Echternkamp/          Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 2/2018,
Schmidt/Vogel (Anm. 15), S. 149–164, hier S. 160 f.                 S. 91–108, hier S. 99.

                                                                                                                                09
APuZ 16–17/2020

gen eines reinlichen und gesunden Männerkör-                                               FAZIT
pers rasch zusammen. Die Realität massenhafter
physischer Verstümmelungen zeigte, dass die sol-                     Durch die Annäherung der Militärgeschichte an
datischen Männerkörper den Belastungen des                           Fragestellungen und Methoden der Kultur-, So-
Maschinenkrieges nicht gewachsen waren. Jun-                         zial- und Geschlechtergeschichte in den vergan-
ge bürgerliche Soldaten und Frontoffiziere such-                     genen 30 Jahren haben sich neue Perspektiven
ten in dieser verwirrenden Realität eine emotio-                     auf das Verhältnis von Militär und Gesellschaft
nale Selbstvergewisserung in der Korrespondenz                       im 19. und 20. Jahrhundert ergeben. Damit ist
mit ihren Müttern. Aber dieser briefliche Dialog                     die Militärgeschichte zu einem wichtigen und
brachte die sanften, femininen Seiten ihrer Rol-                     weithin anerkannten Teil der historischen For-
le im Militär nur umso stärker hervor.30 In allen                    schung geworden. Diese inhaltliche und metho-
europäischen Ländern antworteten die Veteranen                       dische Neuorientierung geschah nicht ohne Ab-
und Veteranenverbände auf diesen Schock mit der                      wehrreflexe einzelner Militärhistoriker. Nach
Flucht in den Mythos der Kameradschaft. Nur in                       deren Überzeugung muss die Analyse militä-
der intimen Kameradschaft unter Männern lie-                         rischer Operationen weiterhin ein „zentraler“
ße sich der Schrecken des Krieges ertragen und                       und damit methodisch privilegierter „Bestandteil
die aggressiv-maskulinen und fürsorglich-passi-                      der Kriegsgeschichte“ bleiben.33 Vorbehalte gab
ven Seiten der Rolle des Soldaten ausbalancieren.                    es auch dagegen, dass die Militärgeschichte nun
Nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht in                         aus ihrer lebensweltlichen Verankerung im Mili-
Deutschland 1935 wurde der Kameradschaftsmy-                         tär herausgelöst und vorwiegend von „ungedien-
thos zu einem tragenden Gerüst der Gruppenkul-                       ten“ Zivilisten praktiziert wurde. Wenn man sei-
tur der Wehrmacht und prägte auch noch die Er-                       ne Kenntnisse „allein aus Handbüchern“ schöpfe,
innerungskultur an den Zweiten Weltkrieg in der                      so der Einwand, werde das „tiefere Verständnis
Bundesrepublik.31 Soldaten, die diesem hegemo-                       der Militärgeschichte vielleicht verborgen blei-
nialen Männlichkeitsmodell nicht folgen wollten,                     ben“.34 Doch dies waren, in militärischer Diktion
blieben Außenseiter in der Truppe. Es ist deshalb                    formuliert, letztlich nur Nachhutgefechte, die der
kein Zufall, dass ein nicht hegemoniales, unsolda-                   weiteren thematischen Ausweitung militärhisto-
tisches Verständnis der eigenen Männlichkeit das                     rischer Arbeiten nicht im Wege stehen.35
wichtigste gemeinsame Merkmal all jener Wehr-
machtssoldaten war, die sich dem Militärdienst
durch die Fahnenflucht entzogen.32

30 Vgl. Joanna Bourke, Dismembering the Male: Men’s Bodies,
Britain & the Great War, Chicago–London 1996; Michael
Roper, The Secret Battle. Emotional Survival in the Great War,
­Manchester 2009.
 31 Vgl. ebd.; Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des
 nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttin-
 gen 2006; Mark Cornwall/John Paul Newman (Hrsg.), Sacrifice
 and Rebirth: The Legacy of the Last Habsburg War, New York–
 Oxford 2016.
 32 Vgl. Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehr-
macht im Zweiten Weltkrieg. Lebenswege und Entscheidungen,
Paderborn 2008.
33 Rolf-Dieter Müller, Militärgeschichte, Köln–Weimar–Wien
 2009, S. 20 f.
 34 Ebd. Vgl. Sönke Neitzel, Militärgeschichte ohne Krieg? Eine
 Standortbestimmung der deutschen Militärgeschichtsschreibung
 über das Zeitalter der Weltkriege, in: Hans-Christof Kraus/Tho-
 mas Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege,
 München 2007, S. 287–308, hier insb. S. 293 f., S. 302.
                                                                     BENJAMIN ZIEMANN
 35 Vgl. die Kritik bei Jörg Echternkamp, Wandel durch Annä-
herung oder: Wird die Militärgeschichte ein Opfer ihres Erfol-
                                                                     ist Professor für neuere deutsche Geschichte an der
 ges?, in: ders./Schmidt/Vogel (Anm. 15), S. 1–38, hier S. 22 ff.,   University of Sheffield.
 S. 29 f.                                                            b.ziemann@sheffield.ac.uk

10
Militär APuZ

    „VORSORGENDE WOHLFAHRTSARBEIT
           AM VOLKSKÖRPER“
                     Militär und militärische Interessen
                  als Impulsgeber staatlicher Sozialpolitik
                                        Herbert Obinger

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts schufen alle west-   dann augenscheinlich werden, wenn die Verän-
europäischen Staaten ihre ersten Sozialgesetze.      derungen in der Militärorganisation und -tech-
Den Auftakt machte die Arbeiterschutzgesetz­         nologie, die tief greifenden sozioökonomischen
gebung, die vorerst auf Kinder und Jugendliche       Umbrüche sowie die steigenden internationalen
beschränkt blieb, später auf Frauen und schließ-     Spannungen im späten 19. Jahrhundert in der Zu-
lich die gesamte Industriearbeiterschaft aus-        sammenschau betrachtet werden.
gedehnt wurde. Ab den 1880er Jahren erfolg-               Fast alle kontinentaleuropäischen Länder
te ausgehend vom Deutschen Kaiserreich der           führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
Durchbruch der Sozialversicherung, und am Vor-       derts die allgemeine Wehrpflicht ein.04 Gleich-
abend des Ersten Weltkrieges hatten bereits alle     zeitig machte die Militärtechnologie enorme
westeuropäischen Staaten zumindest ein Sozial-       Fortschritte: Die Entwicklung des Maschinenge-
versicherungsprogramm geschaffen.01 Nach dem         wehrs und technische Innovationen bei der Ar-
Ersten Weltkrieg fand die Arbeitslosenversiche-      tillerie und Marine erhöhten massiv Feuer- und
rung in Europa rasch Verbreitung, und rund um        Zerstörungskraft der Waffensysteme. Transport-
den Zweiten Weltkrieg wurden erstmals staatli-       mittel wie die Eisenbahn, die Motorisierung der
che Geldleistungen für Familien eingeführt.          Streitkräfte und neue Kommunikationstechno-
    Die Entstehung und Expansion des moder-          logien wie Telegraf und Telefon beschleunigten
nen Sozialstaates hat viele Ursachen. Neben tief     die räumliche Ausdehnung von Kriegen. All das
greifenden sozialen und wirtschaftlichen Umwäl-      trug zu einer Totalisierung der Kriegführung bei,
zungen im Zuge der Industriellen Revolution und      die nun darauf abzielte, den Gegner vollständig
dem damit verbundenen Aufstieg der Arbeiterbe-       zu unterwerfen und seine militärischen und wirt-
wegung spielten auch die Entstehung von Nati-        schaftlichen Kapazitäten zu vernichten. Die stei-
onalstaaten, die Legitimationsnöte autokratischer    genden Spannungen zwischen den europäischen
Regime sowie Säkularisierungs- und Demokrati-        Nationalstaaten machten dieses Szenario immer
sierungsprozesse eine wichtige Rolle.02 Die Ent-     wahrscheinlicher, bis es schließlich 1914 grausa-
stehungsgeschichte des Sozialstaates hat jedoch      me Realität wurde.
auch dunkle Seiten. Geleitet von außenpoliti-             Diese Umwälzungen in der Militärtechnologie
schen Machtambitionen des Staates, haben auch        und Armeeorganisation fielen zeitlich in eine Pha-
militärische Interessen, Krieg und die Kriegsfol-    se fortschreitender Industrialisierung und demo-
genbewältigung die staatliche Sozialpolitik ge-      grafischer Umbrüche. Infolge der Wanderungs-
prägt. Vereinzelt war sogar das Militär ein rele-    bewegung in die meist urbanen Industriezentren
vanter sozialpolitischer Akteur, und zwar nicht      lösten sich die familialen und berufsförmigen So-
nur, wenn es um die soziale Sicherung von Ar-        zialschutzeinrichtungen der alten, agrarisch-hand-
meeangehörigen und ihren Familien ging.03            werklich geprägten Welt auf, während der neue
    Ein Einfluss des Militärs und militärischer      kapitalistische Arbeitsmarkt die Arbeitgeber von
Interessen auf Sozialpolitik mag auf den ersten      jeglicher sozialen Fürsorgepflicht entkoppelte, so-
Blick überraschen. Bei näherer Betrachtung zei-      dass auch Kinder und Jugendliche durch Fabrik-
gen sich jedoch eine Reihe von Schnittstellen, die   arbeit zur Existenzsicherung beitragen mussten.

                                                                                                      11
APuZ 16–17/2020

Mit dem Aufkommen des industrialisierten Mas-                       des jedoch zeitversetzt. Ungewöhnlich früh setz-
senkriegs rückten die Quantität und Qualität der                    te der Rückgang der Geburtenrate in Frankreich
Bevölkerung05 und damit verbundene Implikatio-                      ein. Aufgrund der vergleichsweise geringen Ge-
nen für die „Volks- und Wehrkraft“ in den Blick-                    burtenziffern kursierten dort seit den 1880er Jah-
punkt. Aus diesem Zusammenhang resultierten                         ren massive Depopulationsängste. Demografi-
wichtige Impulse für sozial- und bildungspoliti-                    sche Untergangsszenarien („finis Galliae“) und
sche Reformen sowie ein gesteigertes Interesse                      die traumatische Niederlage im deutsch-franzö-
des Militärs an diesen Fragen. Handlungsleitend                     sischen Krieg 1870/71 gaben Anstoß für eine pro-
waren rein machtstrategische und militärfunktio-                    natalistische Bevölkerungspolitik, die über brei-
nale Motive, die bereits in der Phase der Kriegs-                   ten Rückhalt in Politik und Militär verfügte.07
planung sozialpolitischen Niederschlag fanden.                      Neben Propaganda wurde die Sozial- und Steu-
Bei Kriegsausbruch wurden militärisch motivierte                    erpolitik als Instrument entdeckt, die Geburten-
Legitimations- und Motivationsaspekte sozialpo-                     rate zu steigern und die Kindersterblichkeit zu
litisch bedeutsam, während nach Kriegsende die                      bekämpfen. So wurde Frankreich zum Pionier
Demobilisierung der Millionenheere und die Be-                      staatlicher Familienpolitik. Noch vor dem Ers-
wältigung des kriegsinduzierten Massenelends die                    ten Weltkrieg wurden Steuerbegünstigungen und
Expansion des Sozialstaats antrieben.                               selektive Transferleistungen für kinderreiche Fa-
                                                                    milien sowie 1931 universelle Geldleistungen für
                PRONATALISTISCHE                                    Familien eingeführt.
              BEVÖLKERUNGSPOLITIK                                       Als der demografische Übergang mit Verspä-
                                                                    tung in Deutschland und Italien einsetzte, tauch-
Im Zeitalter des Massenkriegs rückte die Bevöl-                     ten im Kontext der militärischen Expansionsbe-
kerungspolitik in den Fokus militärstrategischer                    strebungen des italienischen Faschismus und des
Planungen. Das von den Militärs abschätzig meist                    deutschen Nationalsozialismus ähnliche demo-
als „Menschenmaterial“ bezeichnete Potenzial an                     grafische Untergangsszenarien auf. Die Einwoh-
mobilisierbaren Soldaten zog Ende des 19. Jahr-                     nerzahl eines Landes wurde mit Macht und Welt-
hunderts durch den einsetzenden demografi-                          geltung gleichgesetzt. Benito Mussolini forderte
schen Übergang, also die lange und mehrstufige                      1927 für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
Transformation von sehr hohen zu niedrigen Ge-                      den Anstieg der Bevölkerung Italiens auf 60 Mil-
burten- und Sterberaten, zunehmend Aufmerk-                         lionen, denn „was sind 40 Millionen Italiener ge-
samkeit auf sich. Für das Militär war primär die                    gen 90 Millionen Deutsche und 200 Millionen
Größe der wehrfähigen Bevölkerung von Inte-                         Slawen?“08 Die Nationalsozialisten sahen im Ge-
resse, vor allem die Geburtenrate. Die moderni-                     burtenrückgang einen Vorboten des drohenden
sierungsbedingten demografischen Veränderun-                        „Volkstods“.09 Für einen Apologeten des totalen
gen waren in der Tat enorm, zwischen 1870 und                       Krieges wie Erich Ludendorff war der Geburten-
1940 sank die Geburtenhäufigkeit in der westli-                     schwund eine „unermeßliche Gefahr“, die „sich
chen Welt um etwa 50 Prozent.06 Diese Transfor-                     in der Wehrmacht fühlbar machen muß“.10 Daher
mation erfolgte in Abhängigkeit des nationalen                      forderte er eine pronatalistische und nach eugeni-
Modernisierungs- und Industrialisierungsgra-                        schen Prinzipien ausgerichtete Bevölkerungspoli-
                                                                    tik. Dadurch entstünde ein „gesundes, sich meh-
01 Vgl. Jens Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat,
Frank­furt/M.–New York 1982.                                        07 Vgl. Richard Tomlinson, The „Disappearance“ of France,
02 Zu den Theorien des Sozialstaates vgl. Herbert Obinger/          1860–1940. French Politics and the Birth Rate, in: The Historical
Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Handbuch Sozialpolitik, Wiesbaden       Journal 2/1985, S. 405–415; Nikolas Dörr, „As far as numbers
2019, Teil 2.                                                       are concerned, we are beaten“. Finis Galliae and the Nexus Bet-
03 Für die USA vgl. etwa Jennifer Mittelstadt, The Military         ween Fears of Depopulation, Welfare Reform and the Military
Welfare State, Cambridge MA 2014.                                   in France During the Third Republic, 1870–1940, in: Historical
04 Vgl. Roland G. Foerster, Die Wehrpflicht. Entstehung, Er-        Social Research 2020 (i. E.)
scheinungsformen und politisch-militärische Wirkung, München        08 Zit. nach David Victor Glass, Italian Attempts to Encourage
1994.                                                               Population Growth, in: The Review of Economic Studies 2/1936,
05 Vgl. Richard Titmuss, War and Social Policy, in: ders., Essays   S. 106–119, hier S. 106.
on the Welfare State, London 1958, S. 75–87.                        09 Vgl. Eckart Reidegeld, Krieg und staatliche Sozialpolitik, in:
06 Vgl. Michael S. Teitelbaum/Jay M. Winter, The Fear of            Leviathan 4/1989, S. 479–526.
Population Decline, London 1985, S. 14.                             10 Erich Ludendorff, Der totale Krieg, München 1937, S. 23.

12
Militär APuZ

rendes Geschlecht, das dem Heere zahlreichen                         gender Kinderzahl progressive steuerliche Ent-
und kraftvollen Ersatz gibt und fähig ist, den to-                   lastung von Familien, die höhere Besteuerung
talen Krieg zu führen und zu ertragen“.                              von Kinderlosen und Schulgeldnachlässe für kin-
    Ludendorff sprach aus Erfahrung. Als fak-                        derreiche Familien. Ähnliche Maßnahmen wur-
tischer Chef der 3. Obersten Heeresleitung                           den auch im Reichstag diskutiert, wegen fehlen-
(OHL) beauftragte er im Ersten Weltkrieg an-                         der Mittel und politischen Widerstands blieben
gesichts der hohen Verluste und der zunehmend                        konkrete Maßnahmen in der späten Kriegsphase
desaströsen Versorgungslage den preußischen                          aber aus.
Generalstabsarzt und Leiter des Feldsanitätswe-                          Die Nationalsozialisten knüpften an eini-
sens Otto von Schjerning mit der Ausarbeitung                        ge dieser familienpolitischen Vorschläge an. Die
einer aus sozialpolitischer Sicht bemerkenswer-                      Einführung der Ehestandsdarlehen, des Kinder-
ten Denkschrift.11 Ausgehend von der These,                          gelds und die Reform der Steuerklassen diente
dass Macht und Wohlfahrt eines Staates auf der                       pronatalistisch-völkischen Zielen und war nicht
Zahl und Kraft seiner Bevölkerung gründet, wird                      zuletzt militärisch motiviert.13 Militärische Ex-
darin konzediert, dass erst der Weltkrieg die Re-                    pansionsbestrebungen lagen auch dem Pronata-
levanz dieser Faktoren drastisch vor Augen ge-                       lismus des italienischen Faschismus zugrunde,
führt hat.12 Konkret werden in der Denkschrift                       wo neben Propaganda und einer Verschärfung
der Rückgang der Geburtenziffer, die hohe Säug-                      des Abtreibungsrechts auch mit sozial- und steu-
lingssterblichkeit und die hohen direkten und                        erpolitischen Maßnahmen versucht wurde, die
indirekten Kriegsverluste beklagt. Zur „Wie-                         Geburtenraten zu erhöhen. Hierzu zählten Straf-
derherstellung und Hebung der deutschen Volks-                       steuern für Ledige und kinderlose Paare, Steuer-
und Wehrkraft“ werden dutzende Maßnahmen                             entlastungen für kinderreiche Familien, Kinder-
vorgeschlagen, die einem sozialpolitischen Ak-                       geld, die Bevorzugung verheirateter Personen
tionsprogramm gleichkommen: Zuschüsse und                            mit Kindern bei Beschäftigung und im Woh-
günstige Kredite für Hausstandsgründungen, die                       nungswesen sowie diverse Maßnahmen zur Ver-
Besserstellung von Verheirateten im Erwerbsle-                       besserung des Mutterschutzes und zur Eindäm-
ben, Steuerentlastungen für Verheiratete bei hö-                     mung der Kindersterblichkeit.14 Ein Effekt auf
herer Besteuerung von Unverheirateten sowie                          die Geburtenrate blieb aus, was den Frankfur-
bessere Wohnverhältnisse in den Städten zur Be-                      ter Journalisten und Kommunalpolitiker Ernst
kämpfung von Hygieneproblemen, Kinderarmut                           Kahn zur spöttischen Bemerkung veranlasste,
und Kindersterblichkeit. Letztere sollte durch                       dass „die Macht des italienischen Diktators vor
bessere Säuglingsernährung und Säuglingspflege,                      dem Schlafzimmer ein Ende findet, denn trotz al-
den Bau von „Gebäranstalten“, ein Hebammen-                          ler Bemühungen sinkt die Fruchtbarkeit in Italien
gesetz sowie Stillprämien eingedämmt werden.                         von Jahr zu Jahr“.15
Maßnahmen zum Kinder- und Jugendschutz
umfassen den Ausbau von Kinderkrippen und                                       STÄRKUNG DER WEHRKRAFT
Kindergärten, die Einführung flächendeckender
schulärztlicher Untersuchungen, die Ausweitung                       Neben der Menge an Soldaten wurde im Kon-
des Turnunterrichts, bessere Hygienebedingun-                        text der geschilderten militärtechnologischen
gen in Schulen, die Bereitstellung von Milch und                     und sozioökonomischen Umwälzungen auch die
die höhere Besteuerung von Tabak und Alkohol.                        „Qualität“ der Bevölkerung von zunehmender
Breiten Raum nehmen in der Denkschrift auch                          militärischer Relevanz. Allen voran galt dies für
Maßnahmen zur Abgeltung familienbedingter
Mehrkosten ein. Dazu zählen eine (private) Mut-
                                                                     13 Vgl. Klaus-Jörg Ruhl, Die nationalsozialistische Familienpoli-
ter- und Elternschaftsversicherung, eine mit stei-                   tik (1933–1945). Ideologie – Maßnahmen – Bilanz, in: Geschich-
                                                                     te in Wissenschaft und Unterricht 8/1991, S. 479–488.
                                                                     14 Vgl. Glass (Anm. 8), S. 3; Lauren E. Forcucci, Battle for Bir-
11 Vgl. Denkschrift der Obersten Heeresleitung über die              ths. The Fascist Pronatalist Campaign in Italy 1925 to 1938, in:
deutsche Volks- und Wehrkraft, BArch-Militärarchiv PH 3/446,         Journal of the Society for the Anthropology of Europe 1/2010,
S. 1–52.                                                             S. 4–13.
12 Vgl. Nikolas Dörr/Lukas Grawe, Military Influence on              15 Ernst Kahn, Der internationale Geburtenstreik. Umfang,
German Pronatalism Before and During the First World War, in:        Ursachen, Wirkungen, Gegenmaßnahmen?, Frank­furt/M. 1930,
Contemporanea. Rivista di storia dell’800 e del ’900 2020 (i. E.).   S. 49.

                                                                                                                                   13
APuZ 16–17/2020

den Gesundheits- und Bildungsstand potenziel-                      der Arbeiterschutzgesetzgebung zur Stärkung der
ler Rekruten. Der Übergang von der Agrar- zur                      Wehrkraft. Es waren von wenigen Ausnahmen
Industriegesellschaft blieb auch für die Armee                     abgesehen aber nicht Militärs, sondern die poli-
nicht folgenlos. Anstelle physisch kräftiger jun-                  tischen Eliten, die Argumente dieser Art bemüh-
ger Männer vom Land traten immer mehr städ-                        ten. Selbst die Sozialdemokraten versuchten, mit
tische Industriearbeiter vor die Musterungskom-                    dem Wehrkraftargument die Konservativen von
missionen. Die Musterungen lieferten erstmals                      der Sinnhaftigkeit potenzieller Sozialreformen zu
Massendaten zum Gesundheits- und Bildungs-                         überzeugen.19 Die bereits erwähnte Denkschrift
stand der männlichen Bevölkerung.16 In Ländern                     der 3. OHL regte ebenfalls Arbeitsschutzmaßnah-
wie Österreich-Ungarn waren bis zu 70 Prozent                      men an, etwa die Ausdehnung des Fabrikarbeiter-
der gemusterten jungen Männer untauglich.17 Mit                    schutzes bis zum 18. Lebensjahr oder einen besse-
Blick auf nationale Wehrkraft und hohe Mobili-                     ren Schutz für werdende Mütter sowie Frauen in
sierungsstärke waren diese Zahlen angesichts sin-                  körperlich anspruchsvollen Berufen. Auch das na-
kender Geburtenziffern spätestens im Kriegsfall                    tionalsozialistische Jugendschutzgesetz (1938) und
für die Militärs besorgniserregend.                                das Mutterschutzgesetz (1942) standen in der Tra-
    In der Tat gibt es hinreichend Belege, dass die                dition einer militärisch motivierten Sozialpolitik.20
schlechte körperliche Verfassung der jungen Be-                        Dieser Nexus zwischen Arbeiterschutz und
völkerung sozialpolitische Maßnahmen zur Ver-                      Wehrkraft war keinesfalls auf Deutschland be-
besserung der Volksgesundheit mit angestoßen                       schränkt, sondern findet sich auch in den Begrün-
hat. Im Zentrum standen neben der Arbeitsschutz-                   dungen für die schweizerische Fabrikgesetzgebung
gesetzgebung auch gesundheitspolitische Pro-                       oder die Arbeiterschutzreformen der Habsburger-
gramme, die auf die Verringerung der Säuglings-                    monarchie in den 1880er Jahren. In Großbritanni-
und Kindersterblichkeit abzielten. Eines der ersten                en wurde das militärische Desaster der Burenkrie-
Beispiele ist das preußische „Regulativ über die                   ge mit den negativen Folgen der Industrialisierung
Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“                   („soziale Degeneration“) im Mutterland in Ver-
vom 9. März 1839. Den Impuls lieferte ein Land-                    bindung gebracht und gab in der Folge Anstoß für
wehrgeschäftsbericht des preußischen General-                      Sozialreformen im Bereich der Kinder- und Ju-
leutnants Heinrich Wilhelm von Horn aus dem                        gendfürsorge.21 In Japan waren es sogar rechtsna-
Jahr 1828, in dem er auf sinkende Rekrutenzahlen                   tionale Militärs, die im Kontext eines Expansions-
aufgrund der weitverbreiteten Kinderarbeit in den                  kriegs Sozialreformen initiierten. Angesichts einer
rheinländischen Industrieregionen hingewiesen                      Untauglichkeitsquote von 40 Prozent wurde 1938
hatte.18 Dieses Regulativ umfasste Arbeitsschutz-                  auf Betreiben des Generals und Militärarztes Chi-
maßnahmen für Kinder und Jugendliche und kop-                      kahiko Koizumi ein Wohlfahrtsministerium ge-
pelte eine zulässige Erwerbsarbeit Minderjähriger                  schaffen, dessen Leitung er später übernahm. Zen-
an einen Schulbesuch. Zwar spielen militärische                    trale Maßnahme war eine massive Ausweitung der
Argumente im Entscheidungsprozess keine Rol-                       Krankenversicherung, deren Deckungsgrad von
le mehr, dennoch kann dieses frühe Sozialgesetz                    3,9 Millionen im Jahr 1937 auf über 50 Millionen
als ein Beleg für eine militärisch inspirierte Staats­             Versicherte im Jahr 1944 anstieg. Die 1942 einge-
tätigkeit in der Sozial- und Bildungspolitik in ei-                führte Rentenversicherung diente nicht zuletzt
ner Pioniernation der allgemeinen Wehrpflicht an-                  auch der Kriegs­finanzierung.22
gesehen werden. Auch in der späteren deutschen
Arbeiterschutzgesetzgebung tauchen wiederholt
militärische Motive auf – allen voran der Beitrag                  19 Vgl. Nikolas Dörr/Lukas Grawe/Herbert Obinger, The
                                                                   Military Origins of Labor Protection Legislation in Imperial
                                                                   Germany, in: Historical Social Research 2020 (i. E.).
16 Vgl. Heinrich Hartmann, Der Volkskörper bei der Muste-          20 Vgl. Lukas Grawe, „Im Interesse der Volksgesundheit und
rung. Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten    der Wehrhaftmachung des deutschen Volkes“. Militärische
Weltkrieg, Göttingen 2011.                                         Motive in der Genese des Jugendschutzgesetzes von 1938, in:
17 Vgl. Emmerich Tálos, Staatliche Sozialpolitik in Österreich,    Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2020 (i. E.).
Wien 1981.                                                         21 Vgl. Deborah Dwork, War is Good for Babies and Other
18 Horns Bericht ist verschollen, erhalten ist aber die Reaktion   Young Children. A History of the Infant and Child Welfare
von Friedrich Wilhelm III. darauf, siehe GStA PK, I. HA Rep.       Movement in England, 1898–1918, London 1987.
120, Ministerium für Handel und Gewerbe, BB VII 3, Nr. 1,          22 Vgl. Gregory J. Kasza, War and Welfare Policy in Japan, in:
Bd. 1, 85 VS.                                                      Journal of Asian Studies 2/2002, S. 417–435, hier S. 425.

14
Sie können auch lesen