Berufsperspektive Scientist Practitioner für zukünftige nichtapprobierte klinische Neuropsycholog_innen

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Forum – Diskussionsbeitrag

Berufsperspektive Scientist
Practitioner für zukünftige
nichtapprobierte klinische
Neuropsycholog_innen
Zweigleisig zum Ziel
Konstantin Leibinger1, 2, Isabel Bauer1, 2, Milena Gölz1, 2, Sarah Stoll1, 2, Melanie Tempfli1, 2,,
Steffen Aschenbrenner3 und Jennifer Randerath1, 2
1
     Motorische Kognition und Neurorehabilitation, Fachbereich Psychologie, Universität Konstanz
2
     Lurija Institut für Rehabilitationswissenschaften und Gesundheitsforschung, Kliniken Schmieder Allensbach
3
     Sektion für Klinische Psychologie und Neuropsychologie, SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach

    Zusammenfassung: Die aktuellen Anpassungen im Psychologiestudium in Deutschland verändern die Qualifizierungswege von klinisch-neu-
    ropsychologisch Interessierten. Auch für potenzielle Nachwuchswissenschaftler_innen sind die Perspektiven über z. B. einen forschungsorien-
    tierten Master ohne Approbation noch unklar. Wir skizzieren einige Grenzen und Möglichkeiten angesichts der aktuellen Lage und schlagen
    eine kombinierte wissenschaftliche und klinisch-neuropsychologische Qualifizierung als Option vor. Dieses Modell könnte eine Brücke zwi-
    schen akademischen und patient_innenbezogenen Tätigkeitsfeldern bilden und die Sicherung angewandter Forschung stützen. Um aktuelle
    wissenschaftliche Standards für den Anwendungsbereich langfristig aufrechtzuerhalten und die neuropsychologische Versorgung zu stärken,
    müssen der zukünftige wissenschaftliche Nachwuchs und die Flexibilität in dessen Karriereplanung gefördert werden. Eine Limitation ist die
    noch unbestimmbare Umsetzbarkeit des Modells. Zuständigkeiten müssten geklärt, rechtliche Möglichkeiten evaluiert und ggf. das Modell um
    weitere Perspektiven ergänzt werden.

    Schlüsselwörter: Forschungsorientierte Qualifikation Klinische Neuropsychologie, Scientist Practitioner, Internationales Zertifikat für Klini-
    sche Neuropsychologie, Karriereplanung in der Neuropsychologie, neuropsychologische Nachwuchsförderung

    Career Prospects for Future Nonlicensed Clinical Neuropsychologists as Scientist-Practitioners: The Double Track

    Abstract: The current comprehensive changes to the university psychology curriculum in Germany are also changing the qualification paths of
    those interested in clinical work. There is now a specialized master’s program leading to a license to practice. But not all students may want
    to – or they simply may not get the chance to – choose this clinical master’s program because of limited admissions. Presently, alternative path-
    ways are unclear. For example, the perspectives and qualification paths via a research-oriented master’s degree in psychology (without the li-
    cense to practice) are still unclear for potential junior scientists interested in the field of clinical neuropsychology. In this article, we outline the
    current situation from the viewpoint of a junior research group and propose a combined scientific and clinical neuropsychological qualification
    as an option for scientist-practitioners. Hypothetically, by exploiting synergies, this model (or an adapted version thereof) could form an impor-
    tant bridge between academic and patient-centered fields of practice and provide a pillar for securing applied research in clinical neuropsy-
    chology and health services. It seems essential to us that future young scientists will be fostered to secure new developments and recommen-
    dations, and to sustain state-of-the-art scientific standards for applied research. Further, a two-track internationalized model may ensure
    more flexibility in career planning for psychology graduates. The greatest limitation lies in the yet undetermined feasibility of the model, for
    which responsibilities would have to be clarified and legal options evaluated as well as potential extensions implemented as new occupational
    perspectives become evident. We put this model up for discussion based on the motivation outlined in this article.

    Keywords: research-oriented qualification clinical neuropsychology, scientist-practitioner, international certificate for clinical neuropsycholo-
    gy, career planning in neuropsychology, promotion of young talents in neuropsychology

                                                  Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS)
                                         URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-2-fdw8w93a1bhk0

© 2022 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article                                        Zeitschrift für Neuropsychologie (2022), 33 (1), 17–25
under the license CC BY 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0)                                     https://doi.org/10.1024/1016-264X/a000351
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Einleitung                                                       Qualifizierung in mindestens einem wissenschaftlich an-
                                                                 erkannten Psychotherapieverfahren (siehe z. B. https://
Auf der Basis der neuen Entwicklungen im Studiengang             www.bptk.de/wp-content/uploads/2021/04/Muster-
Psychologie und der Neuerung der Weiterbildungsmöglich-          Weiterbildungsordnung_Psychotherapeut_innen-der-
keit zum bzw. zur approbierten Fachpsychotherapeut_in für        BPtK.pdf). In diesem Rahmen sind die vertiefenden
Neuropsychologische Psychotherapie erscheint es wichtig,         Richtlinienverfahren Verhaltenstherapie, Tiefenpsycho-
den Psychologiestudierenden die unterschiedlichsten Be-          logische Psychotherapie, Psychoanalytische Psychothera-
rufsperspektiven aufzuzeigen und flexiblere Wege für             pie oder Systemische Psychotherapie zugelassen. Insge-
Nachwuchswissenschaftler_innen anzustoßen. Gerade in             samt dauert dieser Qualifikationsweg 10 Jahre. Eine
der Phase der Umstrukturierung könnte sich die Chance            wissenschaftliche Qualifizierung, z. B. Promotion (i. d. R.
ergeben, synergetische Modelle und Optionen zu diskutie-         3 Jahre Vollzeit), ist hierbei nicht eingerechnet.
ren und auf den Weg zu bringen. In diesem Opinion-Beitrag           Mit der Möglichkeit, Neuropsychologische Psychothe-
möchten wir aus Sicht einer wissenschaftlichen Nach-             rapie als gleichwertige Weiterbildungsoption zu wählen,
wuchsgruppe einen Vorschlag für eine in der akademischen         wächst die Hoffnung auf Fachkräftenachwuchs und eine
Qualifizierung integrierte internationalisierte Fortbildung      damit in Zukunft bessere Abdeckung der qualifizierten
in Klinischer Neuropsychologie skizzieren. Wir fokussieren       ambulanten Versorgung (Thoma et al., 2020). Denn im
uns dabei auf einen Qualifizierungsweg für Studierende im        ambulanten psychotherapeutischen Bereich gibt es eine
forschungsorientierten Master ohne Approbation. Ein Bei-         eklatante Unterversorgung von Personen mit neurologi-
trag zu dem heilkundlichen Qualifizierungsweg findet in ei-      schen Erkrankungen (Bühring, 2019).
nem weiteren Artikel dieser Zeitschriftenausgabe Berück-
sichtigung (vgl. Billino, Hennig-Fast und Exner, 2022).
Postgraduale berufliche Perspektiven außerhalb der Heil-
kunde werden im Artikel von Peper und Leplow in diesem           Zur Lage der
Heft thematisiert (vgl. Peper & Leplow, 2022).
                                                                 Nachwuchswissenschaftler_innen

                                                                 Bisher realisierten einige der psychologischen Wissen-
Zur Lage der Studierenden                                        schaftler_innen die heilkundliche Qualifizierung und da-
                                                                 mit die klinische Alternative zu ihrer wissenschaftlichen
Die aktuellen inhaltlichen und formellen Veränderungen           Laufbahn erst mehrere Jahre nach dem Studium. Die
im Psychologiestudium werden sich bedeutsam auf die              Gründe für eine erst spät begonnene, oft nebenberuflich
zur Verfügung stehenden Berufsperspektiven auswirken.            umgesetzte klinische Ausbildung oder auch neuropsycho-
Psychologiestudierende beginnen nun mit einem polyva-            logische Vertiefung sind vielfältig. Beispielsweise können
lenten 3-jährigen Bachelor. Im Anschluss wählen die              bei gleichzeitig vorliegendem Interesse an der therapeuti-
meisten Psychologiestudierenden einen Masterstudien-             schen Arbeit die unsicheren akademischen Karriereoptio-
gang im Fach Psychologie. Zur Wahl steht ein 2-jähriger          nen (siehe #Ich bin Hanna, https://ichbinhanna.word-
M.Sc. Psychologie mit Schwerpunkt Klinische Psycholo-            press.com/) für den späteren Wechsel ausschlaggebend
gie & Psychotherapie (heilkundlicher Studiengang mit             sein. Zudem liegt ein Grund in der Vermeidung einer Dop-
Approbation) oder eine andere Vertiefung, wie z. B. ein          pelbelastung von akademischer und heilkundlicher Qua-
allgemein forschungsorientierter Master oder ein Master          lifizierung. Die Überschreitung eigener Kapazitäten
mit Spezialisierung in Fächern wie z. B. Kognitive Neuro-        entsteht aufgrund der aufwendigen Erarbeitung von aka-
wissenschaften. Bei der Wahl des heilkundlich orientier-         demischen Qualifikationsvoraussetzungen einerseits (Pu-
ten Masters Klinische Psychologie & Psychotherapie mit           blikationen in hochrangigen Zeitschriften, Lehrpor-
Approbation kann postgradual eine 5-jährige Weiterbil-           tfolio, Akquise von Forschungsgeldern, Netzwerkaufbau,
dung zum bzw. zur Fachpsychotherapeut_in absolviert              eingeladene Vorträge, Gremien-/Gutachtentätigkeiten,
werden. Der Abschluss gilt als Voraussetzung für den Ein-        Auszeichnungen; siehe z. B. https://www.academics.de/
trag in das Psychotherapeutenregister. Damit kann man            ratgeber/tipps-karriere-wissenschaft) und umfangreichen
die Zulassung für die Patient_innenversorgung und die            Weiterbildungscurricula andererseits (Theorie teils mit
Berechtigung zur Abrechnung über die Krankenkasse er-            Reisen verbunden, umfassende praktische Tätigkeiten,
halten. Es stehen drei Gebiete zur Verfügung: Erwachse-          Fallberichte). Zusätzlich gibt es begrenzende akademische
nenpsychotherapie, Kinder- und Jugendpsychotherapie              Rahmenbedingungen (z. B. Wissenschaftszeitvertragsge-
sowie Neuropsychologische Psychotherapie (über alle Al-          setz; siehe z. B. https://www.academics.de/ratgeber/wiss-
tersstufen). Die Gebietsweiterbildungen beinhalten die           zeitvg-wissenschaftszeitvertragsgesetz) und nicht ver-

Zeitschrift für Neuropsychologie (2022), 33 (1), 17–25                © 2022 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article
                                                              under the license CC BY 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0)
K. Leibinger, Scientist Practitioner – Zweigleisig zum Ziel                                                                                  19

knüpfbare akademische Qualifizierungskriterien. Zu                           „eine überraschend große Anzahl an Studierenden
Letzteren gehören beispielsweise Auslandsaufenthalte zur                     ohne konkretes Berufsziel in das [bisherige] Studium
Umsetzung der wissenschaftlichen internationalen Mobi-                       der Psychologie gestartet ist und über die Hälfte der
litätskriterien (Janger et al., 2021; Netz, Hampel & Aman,                   Studierenden die beruflichen Ziele mindestens
2020). Aufgrund der unzureichenden Internationalisie-                        einmal geändert haben. Etwas weniger als die
rung der Klinischen/Psychotherapeutischen Ausbildung                         Hälfte wollten ursprünglich [vor dem Studium]
ist selbst in den europäischen Nachbarländern eine lände-                    Psychotherapeut*innen werden, worunter aber ein
rübergreifende Anerkennung bei den variierenden Ausbil-                      substantieller Anteil bis zum Zeitpunkt der Studie [im
dungssystemen und gesetzlichen Regelungen mit viel Auf-                      laufenden Studium] noch das Ziel änderte oder noch
wand verbunden (Kaufmann, 2014; Könning, In-Albon &                          nicht endgültig auf ein Ziel festgelegt war“.
Schuch, 2019). Daher erscheint es aktuell nicht sinnvoll,
Ausbildungsteile während eines Forschungsaufenthaltes                      Mit dem neuen Studiengang müssen sich Studierende je-
im Ausland nebenberuflich oder in Teilzeit zu beginnen                     doch bereits in einem polyvalenten Bachelor strategisch
bzw. fortzuführen. Von essenzieller Bedeutung erscheint                    darauf festlegen, welche Praktika und Ergänzungsmodule
auch die offene Frage, wie bzw. ob diese berufliche Alter-                 sie belegen. Denn die Auswahl ergibt sich teils aus den
native zur wissenschaftlichen Karriere mit dem aktuellen                   Zulassungsvoraussetzungen des gewünschten Masterstu-
heilkundlichen Aus- und Weiterbildungsweg umsetzbar                        diengangs. Eine Herausforderung dürfte an manchen Uni-
bleibt. Dies dürfte nur möglich sein, wenn der heilkundli-                 versitäten bereits durch die Begrenzung von Kapazitäten
che Master abgeschlossen werden konnte und die Rah-                        im polyvalenten Bachelor entstehen. Hier wird mit der Be-
menbedingungen flexibel genug gestaltet werden, z. B. be-                  schränkung der Anzahl an Plätzen in z. B. klinischen Prak-
züglich der Nutzung von Synergien und Ermöglichung von                     tika und Ergänzungsmodulen der Flaschenhals zum Studi-
Verknüpfungen zwischen Forschung und Praxis. Zusätz-                       um zur Approbation in Psychotherapie eingeleitet. Zudem
lich müssten bei akademischen Folgeprogrammen mit                          bleibt wenig Spielraum für explorative Wege. Damit ver-
zeitlichen Kriterien (z. B. maximal 6 Jahre nach Promotion                 unsichern die Veränderungen insbesondere Studierende,
für die Bewerbung auf Juniorprofessuren; siehe z. B. htt-                  die noch kein deutliches Berufsbild vor Augen haben und
ps://www.academics.de/ratgeber/altersgrenze-professur-                     die die psychologischen Anwendungsfelder zunächst lie-
einstellung) klinische Zeiten ähnlich der Erziehungszeiten                 ber explorieren würden. Beispielsweise äußern einige,
(z. B. plus 2 Jahre pro Kind2) gutgeschrieben werden (vgl.                 sich mit der Entscheidung für einen Masterstudiengang
Medizin: plus 3 Jahre), um hier keine Sackgassen entste-                   die Perspektive auf die klinische Arbeit nicht verbauen zu
hen zu lassen.                                                             wollen, auch wenn Offenheit gegenüber anderen Berei-
   Demnach ist bei neueren Modellen und beruflichen                        chen besteht. Es dürfte erwartet werden, dass eine Viel-
Perspektiven dringend zu bedenken, die Länge der Quali-                    zahl der Studierenden sich daher für die heilkundliche
fizierungsphasen nicht unzumutbar zu machen. Dies gilt                     Ausrichtung entscheiden wird.
insbesondere für kombinierte Berufsmodelle, die Wissen-                       Zu befürchten ist, dass der Flaschenhals an dieser Stelle
schaft und Praxis verknüpfen, wie dies bei den Scientist                   jedoch gegebenenfalls weiter verengt wird, da an den Uni-
Practitioner der Fall ist. Mit der bleibenden Forderung                    versitäten über die Verhandlungen mit den Kultusministe-
kürzerer Qualifizierungswege sind die Nachwuchswissen-                     rien auch die Zahl der heilkundlichen Studienplätze be-
schaftler_innen nicht allein. So wird diese Meinung aktuell                grenzt sein wird. Im heilkundlichen Studiengang M.Sc.
ebenfalls durch eine Petition mit bisher mehr als 10 000                   Psychologie mit Schwerpunkt Klinische Psychologie &
Unterzeichnungen vom Fakultätentag Psychologie, der                        Psychotherapie wird damit die Zahl der Studienplätze
Deutschen Gesellschaft für Psychologie und der PsyFaKo                     deutlich niedriger als im polyvalenten B.Sc. Psychologie
(2021) unter dem Leitspruch „Vier Jahre [postgraduale                      sein. Eine Umfrage des Fakultätentages Psychologie
Weiterbildung] sind genug!“ vertreten.                                     (Stand: Mai 2021) an 50 staatlichen Universitäten zeigte
                                                                           auf, dass nur ca. 43 % aller Studienplätze im polyvalenten
                                                                           Bachelorstudiengang mit Studienplätzen des heilkundli-
                                                                           chen Masters gedeckt sind. Nach Absolvierung des polyva-
Flaschenhals im                                                            lenten Bachelors kann also die Zulassung zum heilkundli-
                                                                           chen M.Sc. Psychologie mit Schwerpunkt Klinische
Studienplatzangebot                                                        Psychologie & Psychotherapie nicht garantiert werden.
                                                                              Es ist zu erwarten, dass bei einem Übersteigen der
Adler, Götte, Thünker und Wimmer berichten aus einer                       Nachfrage des Platzangebotes sicher einige Studierende
online durchgeführten Meinungsumfrage im Jahr 2018,                        mit klinischem Interesse nicht dem Fach Psychologie den
dass                                                                       Rücken kehren, sondern einen Psychologie-Masterstudi-

© 2022 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article                            Zeitschrift für Neuropsychologie (2022), 33 (1), 17–25
under the license CC BY 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0)
20                                                                          K. Leibinger, Scientist Practitioner – Zweigleisig zum Ziel

engang mit alternativer Ausrichtung belegen. Wir gehen             Letzteres in dem ohnehin schon gedrängten Qualifizie-
davon aus, dass sich einige darunter auch für den klinisch-        rungsplan zu berücksichtigen, müsste es als ein Qualifi-
neuropsychologischen und kognitiv-neurowissenschaft-               zierungsmerkmal für die akademische Karriere gewertet
lichen Bereich mit einer potenziellen akademischen                 und gewichtet werden. Damit könnte man diesen Teil des
Karriere interessieren dürften. Dieses Potenzial sollte aus-       translationalen Vorgehens z. B. auch bereits in der späte-
geschöpft werden, um zusätzlichen Nachwuchs in den                 ren postdoktoralen Phase fördern.
Reihen der neuropsychologischen Scientist Practitioner zu
gewinnen (siehe Kasten 1).
   In unserer (erweiterten) Arbeitsgruppe sind beide
Schwerpunkte der Scientist Practitioner vertreten, mit             Die Veränderungen als Chance
praktischem und mit akademischem Schwerpunkt. Hier
wollen wir aber insbesondere auf die bisherigen und
                                                                   nutzen
möglichen zukünftigen Berufswege mit dem Schwer-
punkt im akademischen Setting eingehen. Scientist Prac-            Die Einführung und Veränderungen im Rahmen des Studi-
titioner im akademischen Setting bedeutet erfahrungsge-            ums zur Approbation in Psychotherapie sollten als Chance
mäß eine enge Kollaboration mit Ambulanzen oder                    genutzt werden, um die unzumutbaren Rahmenbedingun-
Kliniken, eine sehr umfangreiche und gleichzeitig rück-            gen mit hohen Kosten und viel zu langen Ausbildungszei-
sichtsvolle Datensammlung mit Patient_innen und/oder               ten mittels sinnvoller Verknüpfungen und Brücken zu ver-
gesunden Teilnehmer_innen. Die Resultate werden dann               bessern. Eine Schlüsselrolle kommt dabei den universitären
zur Veröffentlichung in international anerkannten Jour-            Aus- und Weiterbildungsambulanzen in (neuropsychologi-
nalen verschriftlicht. Gleichzeitig sollten Scientist Practi-      scher) Psychotherapie sowie kollaborierenden (Rehabilita-
tioner wohl auch darum bemüht sein, deutschsprachige               tions-)Kliniken zu. Die Einbettung der Fort- und Weiterbil-
und zugängliche Artikel und Workshops mit Inhalten für             dungen in ein universitäres Umfeld bietet die Möglichkeit,
praktisch arbeitende Kolleg_innen zu verfassen. Um                 eine parallele wissenschaftliche Qualifikation (z. B. Promo-
                                                                   tion) mit mehr Flexibilität umzusetzen. Für eine entspre-
                                                                   chende Umsetzung in die Praxis siehe z. B. das Bochumer
  Kasten 1. Die Gruppe der Scientist Practitioner bein-            Modell (Thoma et al., 2020). Für das in diesem Artikel vor-
  haltet einerseits Praktiker_innen, die nach Ende ihres           geschlagene Modell (siehe Abbildung 1) für vor allem
  Studiums in der Praxis nach aktuellen wissenschaftli-            Nichtapprobierte müssten entsprechende Kapazitäten mit
  chen Standards arbeiten und ihre Praxiserfahrungen               eingeplant und die rechtlichen Möglichkeiten evaluiert
  für die Forschung zugänglich machen. Beispielsweise              werden.
  veröffentlichen sie Überlegungen zu neuen Methoden                  Für die Umsetzung eines solchen Modells müssten si-
  oder Einzelfallberichte und/oder bieten Workshops an.            cherlich mit einigem Aufwand Zuständigkeiten geklärt wer-
  Andererseits beinhaltet die Gruppe der Scientist Prac-           den und rechtliche Möglichkeiten evaluiert und Hürden
  titioner auch Akademiker_innen, die ihr wissenschaft-            genommen werden. Auf der Basis der skizzierten Motivati-
  liches Arbeiten und Lehren eng mit praxisrelevant-               on möchten wir es dennoch gerne zur Diskussion stellen.
  en Themen und Aufgabenstellungen verknüpfen.
  Beispielsweise sind sie über universitäre Ambulanzen
  oder angeschlossene Kliniken in ihren Projekten an der
  Behandlung von Patient_innen beteiligt. Sie beziehen             Bisherige parallele Perspektiven für
  z. B. bedarfsorientiert Patient_innen und Klinikpersonal         Scientist Practitioner
  in die Entwicklung neuer Diagnostik oder Rehabilita-
  tionsansätze ein. Über Fallseminare bzw. Seminare mit
  teilfiktiven Fallvignetten ermöglichen sie auch im theo-          Ein Karriereziel der wissenschaftlich Tätigen kann die
  retischen Bereich Praxisnähe. (Für ausführliche Diskus-          Professur in der Klinischen Neuropsychologie sein. Ein
  sionen des Begriffs Scientist Practitioner siehe z. B.           häufiger Karrierewunsch von Nachwuchswissenschaftler_
  Lane & Corrie, 2007; Shapiro, 2002). Scientist Practi-           innen ist aber auch die Besetzung einer Stelle, bei der 50 %
  tioner beschreiben beispielsweise, dass die verknüpfte           Wissenschaft und 50 % therapeutische Arbeit angeboten
  Kompetenzerweiterung in beiden Bereichen (z. B. kli-             (und im laufenden Betrieb in der Verteilung eingehalten)
  nisch-praktische Erfahrung sowie eine trainierte wis-            wird, z. B. in Universitätsambulanzen oder Kliniken. Die
  senschaftliche Sichtweise) für Lehre, Forschung und              Begründungen sind vielfältig. Beispielsweise finden einige
  Praxis als essenzieller Zugewinn empfunden wird.                 die Kombination von ausgeprägter kognitiver und emotio-
                                                                   naler Arbeit ansprechend und/oder die Möglichkeit span-

Zeitschrift für Neuropsychologie (2022), 33 (1), 17–25                  © 2022 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article
                                                                under the license CC BY 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0)
K. Leibinger, Scientist Practitioner – Zweigleisig zum Ziel                                                                                  21

Abbildung 1. Vorschlag an möglichen Qualifizierungswegen unter Berücksichtigung des neuen Weiterbildungssystems. Der Fokus in dieser Abbil-
dung liegt entsprechend des Artikels auf dem von uns vorgeschlagenen Weg einer zu verankernden kombinierten wissenschaftlichen und klinisch
neuropsychologischen Qualifizierung. Diese hier hervorgehobene Option (graue Hinterlegung, fett gedruckte Pfeile) sollte aus unserer Sicht für
Forschungsorientierte ohne Approbation mit Interesse an einer Vertiefung in Klinischer Neuropsychologie implementiert werden. Die schlanken
durchgezogenen Linien beschreiben Möglichkeiten einer rein forschungsorientierten Qualifizierung ohne Approbation. Der graue, durchgezogene
Querstrich zeigt die Option eines späteren Beginns einer berufsbegleitenden Fortbildung während der postdoktoralen Phase. Gestrichelte Linien
zeigen mögliche Wege für eine Qualifizierung mit Approbation auf.

nend, Inspiration für Forschungsinhalte aus der Praxis und                 schaftler_innen wechselten in eine Rehaklinik, oft in Kom-
vice versa zu erhalten. Beide Stellenvarianten sind bisher                 bination mit der berufsbegleitenden neuropsychologischen
nur sehr selten verfügbar.                                                 Vertiefungsqualifizierung (z. B. bisherige Weiterbildung
   Gleichzeitig sind die bis dorthin führenden akademi-                    der Gesellschaft für Neuropsychologie e. V. [GNP]). Pro-
schen Qualifizierungsstellen oftmals befristet. Diese Unsi-                motion und die bisherige neuropsychologische Weiterbil-
cherheit in der akademischen Laufbahn spielt eine zentra-                  dung konnten zu einer leitenden Funktion oder auch im
le Rolle in der beruflichen Entscheidungsfindung der                       Rahmen von Einzelfallentscheidungen zur Beteiligung an
Absolvent_innen und Wissenschaftler_innen. Viele lehnen                    der ambulanten Versorgung führen.
aufgrund fehlender Perspektiven deshalb einen Einstieg in                     Diese inhaltlich attraktiven Optionen und langfristigen
die Wissenschaft nach dem Studium ab. Auch führt diese                     Alternativen außerhalb der Forschung könnten für Wis-
Situation dazu, dass einige ihren wissenschaftlichen Karri-                senschaftler_innen aber nun mit der Einführung des Studi-
erepfad beispielsweise zugunsten einer rein klinischen Tä-                 ums zur Approbation in Psychotherapie nach 12 Jahren
tigkeit verlassen. Die Entscheidung fällt oft auch aufgrund                Übergangsphase wegfallen. Einige Stimmen von GNP-
weiterer privater bzw. familiärer Faktoren (schwierige Ver-                Mitgliedern wiesen auf der letzten Tagung 2021 darauf
einbarkeit von Familie und akademischer Laufbahn).                         hin, dass insbesondere die ambulante Unterversorgung
   Bisher konnte eine berufliche Ausrichtung außerhalb                     noch lange anhalten wird und auch die alternativen Karri-
der Wissenschaft den Zusatz der psychotherapeutischen                      eremöglichkeiten in klinischer Tätigkeit für Wissenschaft-
Ausbildung beinhalten oder neuropsychologische Wissen-                     ler_innen weiterhin wichtig bleiben werden.

© 2022 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article                            Zeitschrift für Neuropsychologie (2022), 33 (1), 17–25
under the license CC BY 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0)
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Wie kann der neuropsychologische                                 gramm PreProPsych (siehe https://www.uni-giessen.de/
Nachwuchs unter den                                              fbz/fb06/psychologie/studium/master-sg/PrePro-
                                                                 Psych): Das Sprungbrett in die Promotion“ in der Psycho-
neuen Bedingungen gesichert                                      logischen Rundschau (Fiehler, 2021) dar. Der wissen-
und gefördert werden?                                            schaftliche Nachwuchs von morgen hat die Aufgabe, eine
                                                                 kontinuierliche Entwicklung, Prüfung und Anwendung
Diese zentrale Frage muss beständig im Blick behalten            neuer Ansätze zu garantieren und damit auch Material
werden. Es ist kaum gewinnbringend, wenn neuropsycho-            für die Erarbeitung und Erneuerung der therapeutischen
logisch-psychotherapeutische Weiterbildungswege mög-             Leitlinien zu liefern. Dazu bedarf es Scientist Practitio-
lich sind, aber der Nachwuchs die Alternativen wählt.            ner. Diese wiederum benötigen alternative Karrieremög-
Gleich mehrere Punkte könnten sich für die Förderung des         lichkeiten bei den gegebenen beruflichen Unsicherheiten
Nachwuchses als bremsend herausstellen.                          ihrer Karriere mit dem aktuellen Überhang an befristeten
   Einige junge Stimmen mit großem Interesse an der Be-          Qualifizierungsstellen im Vergleich zu entfristeten wis-
handlung neurologischer Patient_innen äußern beispiels-          senschaftlichen Positionen. Der Alternativplan sieht den
weise, dass sie sich ambulant nicht ausschließlich auf die       qualifizierten Sprung in die neuropsychologische Versor-
doch oft aufwendigen bzw. komplexen Fälle mit F00- bis           gung vor, die bisher nach wie vor in Deutschland und in-
F09-Diagnosen (ICD-10 [International Statistical Classifi-       ternational insbesondere im ambulanten Kontext nicht
cation of Diseases and Related Health Problems]: organi-         ausreichend ist.
sche, einschließlich symptomatischer psychischer Störun-
gen) fokussieren möchten, sondern eine gemischte
Patient_innengruppe bevorzugen. Derzeit ist dies noch
möglich, z. B. in Form des alten Weges der Ausbildung in         Wie könnte der Übergang
Psychologischer Psychotherapie und anschließender Wei-
terbildung in Klinischer Neuropsychologie. Ob die neue
                                                                 in die klinische oder
Weiterbildung in Neuropsychologischer Psychotherapie             pädagogische Tätigkeit für
mit der Aussicht einer Beschränkung auf F0-Diagnosen für         klinisch-neuropsychologische
den Nachwuchs ausreichend attraktiv sein wird, muss sich
                                                                 Wissenschaftler_innen ohne
wohl noch herausstellen. Es bleibt zu hoffen, dass Wege zu
einem vielfältigen Patient_innenspektrum auch in der Neu-        Approbation von morgen aussehen?
ropsychologischen Psychotherapie möglich sein werden,
zumal seit Langem bekannt ist, dass viele Patient_innen          Berufliche Perspektiven und parallele Optionen sollten
mit psychischen Störungen auch neuropsychologische Ein-          Teil der beruflichen Beratung an Universitäten sein. Ein
bußen zeigen und die Behandlung beider Aspekte sinnvoll          Vorschlag unsererseits ist ganz klar: Eine zertifizierte Fort-
erscheint (Gauggel & Mainz, 2018; Keefe, 1995; Millan et         bildung Klinische Neuropsychologie sollte eine parallele
al., 2012; Schilling, Bossert, Weisbrod & Aschenbrenner,         Option für wissenschaftlich Tätige bleiben. Mit Blick auf
2021; Weisbrod, Aschenbrenner & Buschert, 2017).                 die langen Qualifizierungswege müssten jedoch Anpas-
   Um Nachwuchs für die Versorgung von neurologischen            sungen zur Verbesserung der Zumutbarkeit und der Integ-
Patient_innengruppen zu gewinnen, ist es von großer              ration von Schwerpunkten bezüglich möglicher berufli-
Wichtigkeit, die Studierenden bereits im Masterstudium           cher Perspektiven in praktischen Bereichen vorgenommen
auf eine klinisch-neuropsychologische Tätigkeit vorzube-         werden, von denen wir einige in diesem Beitrag anregen
reiten und berufliche Perspektiven frühzeitig zu kommu-          möchten.
nizieren. Wir sind überzeugt, dass dies zweigleisig ge-             Zum einen soll dies im Hinblick auf eine wünschens-
schehen sollte. Einerseits sollte, wie bereits von Thoma et      werte Internationalisierung erfolgen, die auch an anderen
al. (2020) vorgeschlagen, für den heilkundlichen Schwer-         Stellen als erstrebenswert beschrieben wird. Die Klinische
punkt mit der Weiterbildungsperspektive „Neuropsycho-            Neuropsychologie und Zertifizierungen gewinnen welt-
logische Psychotherapie“ die Klinische Neuropsychologie          weit mehr Beachtung und Relevanz. Dennoch bleibt es
intensiv im Masterstudium gelehrt und beworben wer-              schwierig, entsprechende Zertifizierungen grenzübergrei-
den. Andererseits sollte dies über den forschungsorien-          fend zu nutzen, was unter anderem auf unterschiedliche
tierten Master umgesetzt werden können. Denn auch die            Inhalte, Rahmenbedingungen sowie sprachliche und kul-
Förderung und Rekrutierung des wissenschaftlichen                turabhängige Unterschiede zurückzuführen ist (Grote &
Nachwuchses sollte früh beginnen. Ein Beispiel zur mög-          Novitski, 2016; Ponsford, 2017). In Europa wird eine Inter-
lichen Umsetzung einer frühen Rekrutierung stellt auch           nationalisierung der Zertifizierung zum bzw. zur Klini-
der Beitrag „Forschungsorientiertes Vor-Promotionspro-           schen Neuropsycholog_in diskutiert und angestrebt, das

Zeitschrift für Neuropsychologie (2022), 33 (1), 17–25                © 2022 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article
                                                              under the license CC BY 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0)
K. Leibinger, Scientist Practitioner – Zweigleisig zum Ziel                                                                                  23

sogenannte „EuroPsy Specialist Certificate in Clinical                     (umgesetzt durch z. B. Berufsförderwerke). So hat Unter-
Neuropsychology“ (Hokkanen et al., 2020; Kasten et al.,                    suchungen zufolge ca. jeder bzw. jede dritte bis vierte Um-
2021). Auch aus der Sicht des Scientist-Practitioner-Nach-                 schüler_in im Rahmen der beruflichen Rehabilitation kog-
wuchses wäre eine Internationalisierung erstrebenswert,                    nitiv-funktionelle Defizite (Müller, Klaue, Specht & Schulz,
da es die Vereinbarkeit von internationaler Mobilität und                  2007). Müller et al. (2007) wiesen beispielsweise bereits
Vertiefung in praktischer Tätigkeit fördern könnte. Hokka-                 2007 darauf hin, dass der gezielte Einsatz neuropsycholo-
nen et al. (2019) beschreiben auf Basis einer Evaluierung                  gischer Diagnostik in Verbindung mit kognitiven Interven-
der „Task Force on Clinical Neuropsychology“, gebildet                     tionen in diesem Gebiet eine wichtige Rolle spielt. Auch ist
aus der European Federation of Psychological Associa-                      der pädagogische Bereich der Neuropsychologie ein zu-
tions (EFPA), einige Prinzipien, die als Grundlage für die                 kunftsträchtiger Zweig außerhalb der heilkundlichen Vor-
Festlegung gemeinsamer internationaler Anforderungen                       aussetzungen. In pädagogischen Einrichtungen (z. B. För-
an die Vertiefung dienen könnten. Diese sind: (A) eine                     derschulen) könnten die neuropsychologischen Scientist
mindestens 5-jährige Hochschulausbildung in Psychologie                    Practitioner hervorragend das Training und die Förderung
mit Abschluss eines Masterstudiums und mindestens                          der geistigen Funktionen von Schüler_innen vertreten (Jo-
1-jähriger klinischer Praxis; (B) die Kernelemente der fol-                hann & Karbach, 2021). Aufgrund ihres zweigleisigen Aus-
genden mehrjährigen Vertiefung sollten von der jeweili-                    bildungshintergrundes können die zukünftigen Scientist
gen nationalen Gesellschaft (z. B. Deutschland: GNP, Ös-                   Practitioner den Transfer wissenschaftlicher Befunde in
terreich: Gesellschaft für Neuropsychologie [GNPÖ])                        die Praxis in diesen Bereichen kompetent umsetzen und
akkreditierte theoretische Kurse inkludieren; (C) eine                     ihr berufliches Handeln adaptiv an die schnell wachsen-
praktische Ausbildung mit Supervision und (D) For-                         den Erkenntnisse anpassen.
schungserfahrung. Eine solche internationalisierte Fort-                      Die parallele Qualifizierung der Scientist Practitioner
bildung für Scientist Practitioner dürfte Perspektiven für                 sollte keine abschreckende Mammutaufgabe werden.
eine akademische wie auch klinische bzw. pädagogische                      Denkbar wäre eine Kombination der Promotion mit einer
praktische Tätigkeit z. B. in Rehabilitationskliniken oder                 internationalisierten Fortbildung in Klinischer Neuropsy-
Bildungseinrichtungen bieten (siehe Abbildung 1).                          chologie. Dieses Modell würde ca. 4 bis 5 Jahre in An-
   Der Anspruch, unabhängig klinisch-neuropsycholo-                        spruch nehmen und wäre inhaltlich ähnlich wie es bisher
gisch zu arbeiten, dürfte jedoch aufgrund der berufs- und                  angeboten wurde, nur an die jeweilige Infrastruktur,
sozialrechtlichen Schranken zukünftig noch mehr als bis-                   Schwerpunkte neuer beruflicher Perspektiven und an In-
her die Approbation voraussetzen. Die neuen Gegebenhei-                    ternationalität (mit sprachlichen, kulturellen Modulen)
ten eröffnen einerseits Möglichkeiten, beschränken aber                    angepasst, sowie mit Aussicht auf eine Zusammenführung
andererseits Freiheiten. Nicht alle mit dem Wunsch, die                    mit einem europäischen/internationalen Zertifikat. Die
Approbation in Psychotherapie zu erlangen, werden die                      praktischen Tätigkeiten sollten in kollaborierenden Klini-
Möglichkeit erhalten, denn die Plätze sind bereits früh im                 ken, Bildungseinrichtungen oder universitären Ambulan-
Studium begrenzt. Klinisch Interessierte jedoch, die Alter-                zen erfolgen können. Für die Umsetzung des Zertifikats
nativen wählen (wie z. B. den Weg der nichtapprobierten                    benötigt es eine aktive Einplanung von festgelegten Pra-
Scientist Practitioner), dürfen im heilkundlichen Bereich                  xisplätzen für Scientist Practitioner, damit diese nicht in
trotz hoher Qualifikation nicht unabhängig arbeiten. Er-                   Konkurrenz mit dem heilkundlichen Werdegang vergeben
freulicherweise umfasst die angewandte Neuropsycholo-                      werden müssen.
gie nicht nur die ausgewiesenen heilkundlichen Aspekte.                       Um langfristig den Nachwuchs im Bereich der Klini-
Scientist Practitioner könnten forschungsorientierte Ein-                  schen Neuropsychologie zu sichern, bedarf es sowohl mit
richtungen und Kliniken z. B. bei der Beantragung von                      Blick auf den universitären als auch auf den klinisch-prak-
Drittmitteln, methodischer Beratung, neuen Entwicklun-                     tischen Bereich gut durchdachte, attraktive, faire und rea-
gen (z. B. Digitalisierung) sowie der Durchführung von                     listisch umsetzbare Qualifizierungsangebote.
Fortbildungen und Lehrveranstaltungen unterstützen. Zu-                       In Anwendungsforschung, anwendungsbezogener Leh-
dem spielen insbesondere die diagnostischen Aspekte der                    re, Kliniken und Bildungseinrichtungen (z. B. Förderschu-
Klinischen Neuropsychologie (sorgfältige Leistungs-/Fer-                   len, Berufsförderwerke) könnten zukünftig weitergebilde-
tigkeitsdiagnostik) eine wichtige Rolle. Hier könnten Sci-                 te neuropsychologische Scientist Practitioner, z. B. die
entist Practitioner sich und ihre Expertise innerhalb eines                diagnostischen Aspekte der Neuropsychologie (sorgfältige
multiprofessionellen Teams in der Arbeit mit Patient_                      Leistungs-/Fertigkeitsdiagnostik) und die pädagogischen
innen und Rehabilitand_innen gewinnbringend einbrin-                       Aspekte (z. B. Psychoedukation, Beratung, Training, För-
gen. Weitere Bereiche könnten sich für die zukünftigen                     derung geistiger Funktionen) hervorragend vertreten.
Scientist Practitioner als wichtiges Einsatzfeld erweisen.                    Mit dem neuen forschungsorientierten Master in Psy-
Beispielsweise in der beruflichen Wiedereingliederung                      chologie wird somit über den heilkundlichen Master hin-

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aus eine hoch qualifizierte Gruppe an Absolvent_innen des                 Psychotherapie. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psy-
Psychologiestudiums für die oben aufgeführten Funktio-                    chotherapie, 66, 157–168.
                                                                        Grote, C. L. & Novitski, J. I. (2016). International perspectives on
nen zur Verfügung stehen. Um den Bedarf an neuropsy-
                                                                          education, training, and practice in clinical neuropsychology:
chologischen Leistungen zu sichern, erscheint uns daher                   Comparison across 14 countries around the world. Clinical
ein zusätzlicher, international anerkannter Qualifizie-                   Neuropsychologist, 30, 1380–1388.
rungsweg für Interessierte sinnvoll.                                    Hokkanen, L., Barbosa, F., Ponchel, A., Constantinou, M., Kosmidis,
                                                                          M. H., Varako, N. et al. (2020). Clinical neuropsychology as a spe-
   Um die Versorgung neuropsychologischer Patient_innen
                                                                          cialist profession in european health care: developing a bench-
zu stärken und für Scientist Practitioner ihrer Qualifikation             mark for training standards and competencies using the Euro-
entsprechende Berufsfelder zu etablieren, schlagen wir die                Psy model? Frontiers in Psychology, 11, 2610.
Umsetzung einer ca. 3-jährigen berufsbegleitenden Fort-                 Hokkanen, L., Lettner, S., Barbosa, F., Constantinou, M., Harper, L.,
                                                                          Kasten, E. et al. (2019). Training models and status of clinical
bildung in Klinischer Neuropsychologie vor allem für For-
                                                                          neuropsychologists in Europe: results of a survey on 30 coun-
schungsorientierte ohne Approbation vor. Zugleich ist die                 tries. Clinical Neuropsychologist, 33, 32–56.
Aufrechterhaltung der aktuellen internationalen wissen-                 Janger, J., Kügler, A., Strauss-Kollin, A., Schmidt-Padickakudy, N.,
schaftlichen Standards für den Anwendungsbereich durch                    Van Hoed, M., Lopez, L. N. et al. (2021). MORE4 support data
                                                                          collection and analysis concerning mobility patterns and care-
die Förderung begabter und motivierter Psycholog_innen
                                                                          er paths of researchers: Final report. WIFO Studies, 67165.
essenziell, um neue Entwicklungen voranzutreiben und                    Johann, V. E. & Karbach, J. (2021). Educational Application of Cog-
bspw. auch von unabhängiger wissenschaftlicher Seite an                   nitive Training. In T. Strobach & J. Karbach (Eds.), Cognitive Trai-
den S-Leitlinien mitzuwirken. Scientist Practitioner, die                 ning (2nd ed., pp. 333–350). Cham: Springer.
                                                                        Kasten, E., Barbosa, F., Kosmidis, M. H., Persson, B. A., Constanti-
sich nach dem Studium zweigleisig sowohl in der Wissen-
                                                                          nou, M., Baker, G. A. et al. (2021). European clinical neuropsy-
schaft als auch in der praktisch-neuropsychologischen Tä-                 chology: Role in healthcare and access to neuropsychological
tigkeit weiterbilden möchten, dürften in Bezug auf die Pa-                services. Healthcare, 9, 734.
tient_innenversorgung wie auch in Bezug auf neue                        Kaufmann, S. (2014). Psychotherapieausbildung in Europa. Disser-
                                                                          tation, Universität Regensburg.
wissenschaftliche Erkenntnisse eine Bereicherung für die
                                                                        Keefe, R. S. (1995). The contribution of neuropsychology to psychi-
Klinische Neuropsychologie darstellen.                                    atry. American Journal of Psychiatry, 152, 6–15.
   Das vorgeschlagene Modell könnte somit zu einer                      Könning, J., In-Albon, T. & Schuch, B. (2019). Aus-, Fort- und Wei-
wichtigen Brücke zwischen akademischen und patient_in-                    terbildung in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie
                                                                          in Deutschland, der Schweiz und Österreich. In Schneider, S. &
nenbezogenen Tätigkeitsfeldern werden und nachfolgen-
                                                                          Markgraf, J. (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Bd. 3
den Psychologieabsolvent_innen mehr Flexibilität in der                   (2. Aufl., S. 1045–1058). Berlin: Springer.
Karriereplanung gewährleisten – auch auf internationaler                Lane, D. A. & Corrie, S. (2007). The modern scientist-practitioner: A
Ebene.                                                                    guide to practice in psychology. New York: Routledge.
                                                                        Millan, M. J., Agid, Y., Brune, M., Bullmore, E. T., Carter, C. S., Clayton,
                                                                          N. S. et al. (2012). Cognitive dysfunction in psychiatric disorders:
                                                                          Characteristics, causes and the quest for improved therapy.
                                                                          Nature Review Drug Discovery, 11, 141–168.
                                                                        Müller, S., Klaue, U., Specht, A. & Schulz, P. (2007). Neuropsycholo-
Literatur                                                                 gie in der beruflichen Rehabilitation: ein neues Interventions-
                                                                          feld? Die Rehabilitation, 46, 93–101.
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Fiehler, K. (2021). Forschungsorientiertes Vor-Promotionspro-             rapie. Zeitschrift für Neuropsychologie, 31, 157–163.
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   chologische Rundschau, 72, 222–223.                                    chologische Therapie bei psychischen Erkrankungen. In H.-J.
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Zeitschrift für Neuropsychologie (2022), 33 (1), 17–25                       © 2022 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article
                                                                     under the license CC BY 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0)
K. Leibinger, Scientist Practitioner – Zweigleisig zum Ziel                                                                                   25

Historie                                                                   Interessenkonflikt
Eingereicht: 01. Dezember 2021                                             Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte.
Akzeptiert: 14. Dezember 2021
                                                                           Dr. Dipl. Psych. Jennifer Randerath
Anmerkungen                                                                Universitaet Konstanz
Die Autor_innen sind neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit in           Universitaetsstr. 10
der klinischen Praxis tätig oder streben dieses an. K. L. strebt die       78457 Konstanz
Ausbildung zum Psychotherapeuten an. S. A. ist Inhaber einer               Deutschland
Praxis. I. B. arbeitet nebenberuflich in einer Beratungsstelle. M. G.
nimmt am kombinierten Promotions- und Ausbildungsprogramm                  J_Randerath@hotmail.com
des Bodensee-Instituts für Psychotherapie an der Universität
Konstanz teil. M. G., M. T. und J. R. absolvieren aktuell die Ausbil-
dung zur psychologischen Psychotherapeutin am Zentrum für
Psychotherapie Bodensee (DGVT). J. R. absolviert im Rahmen der
verklammerten Aus- und Weiterbildung die Vertiefung in Klini-
sche Neuropsychologie an der Süd-West-Akademie für
Neuropsychologie.

© 2022 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article                             Zeitschrift für Neuropsychologie (2022), 33 (1), 17–25
under the license CC BY 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0)
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