BETROFFENE VON MENSCHENHANDEL IM ASYLKONTEXT ERKENNEN - Policy Paper
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Policy Paper BETROFFENE VON MENSCHENHANDEL IM ASYLKONTEXT ERKENNEN PROBLEMBESCHREIBUNG UND HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
INHALT 1. Einführung und Hintergrund 1 2. Problembeschreibung 2 2.1 Das Erkennen Betroffener von Menschenhandel im Asylkontext 2 2.2 Probleme bei der Identifizierung innerhalb des Asylverfahrens 4 2.3 Herausforderungen für die spezialisierten Fachberatungsstellen 6 3. Empfehlungen 7 3.1 Empfehlungen an Bund und Länder 7 3.2 Empfehlungen an die Unterstützungsstrukturen 8 3.3 Empfehlungen an die Politik 8 3.4 Empfehlungen an das BAMF 8
Betroffene von Menschenhandel im Asylkontext erkennen Einführung und Hintergrund 1 1. EINFÜHRUNG UND HINTERGRUND Der KOK beobachtet und benennt kontinuier- Die Identifizierung Betroffener von Menschen- lich aktuelle Problemstellungen aus der Praxis handel und Ausbeutung ist die grundlegende für Betroffene von Menschenhandel - auch im Voraussetzung für die Gewährung von Schutz Kontext von Flucht. Daraus abgeleitete Hand- und Unterstützung sowie der ihnen zuste- lungsempfehlungen trägt der KOK an relevante henden Rechte. Aber auch die Strafverfolgung Akteure aus Politik und Behörden heran. Das der Täter*innen hängt im Wesentlichen von der vorliegende Policy Paper beschäftigt sich mit Identifizierung Betroffener ab, da die Verfahren der Identifizierung geflüchteter Betroffener wegen Menschenhandel und Ausbeutung auf von Menschenhandel. den Personenbeweis, also die Aussage der Betroffenen oder Zeug*innen, angewiesen sind. Menschen auf der Flucht sind besonders gefährdet, Gewalt zu erfahren und ausgebeutet Die Notwendigkeit der Identifizierung von zu werden.1 Faktoren wie prekäre Unter- Betroffenen wird zwar von den meisten bringung, eingeschränkte Rechte, Lücken im Akteuren, die sich mit Fällen von Menschen- Unterstützungssystem sowie fehlende Infor- handel befassen oder mit Betroffenen in mationen zur eigenen rechtlichen Situation Kontakt kommen könnten, anerkannt. Dennoch können das Risiko erhöhen, in ausbeuterische gelingt es in Deutschland nach wie vor nicht, Situationen zu gelangen. Die COVID-19-Pan- Betroffene von Menschenhandel innerhalb des demie und die zu deren Bekämpfung ergrif- Asylsystems systematisch zu identifizieren. fenen Maßnahmen verstärken die Vulnera- bilität von Geflüchteten und Betroffenen von Das Policy Paper macht auf diese Problematik Menschenhandel und Ausbeutung zusätz- aufmerksam, erläutert mögliche Gründe und lich. Quarantänebestimmungen begünstigen gibt Handlungsempfehlungen, um die Identifi- die Isolation von Betroffenen. Ermittlungsbe- zierung Betroffener von Menschenhandel und hörden führen aufgrund der Einschränkungen Ausbeutung im Kontext von Flucht und Asyl zu weniger Untersuchungen durch. Ebenso der verbessern. fehlende oder erschwerte Zugang für Fachbe- ratungsstellen (FBS) zu möglichen Betroffenen Die hier dargestellten Sachverhalte und Beobach- von Menschenhandel hat gravierende Auswir- tungen und aus ihnen abgeleitete Forderungen kungen, da die FBS eine große Rolle bei der basieren auf den Ergebnissen einer Bestands- Identifikation von Betroffenen von Menschen- aufnahme aus dem Jahr 20192 für den Zeit- handel spielen. raum 2016 – 2018 (im Folgenden: Erfassungs- zeitraum) sowie auf einer Desktop-Recherche. Laut der EU-Aufnahmerichtlinie (AufnRL Weitere Problembeschreibungen der KOK- 2013/33/EU; Art. 12) gehören Betroffene Mitgliedsorganisationen3 ergänzen und bestä- von Menschenhandel zur Gruppe besonders tigen die Ergebnisse der Bestandsaufnahme. schutzbedürftiger Personen. Diese Richtlinie Die daraus resultierenden Handlungsempfeh- verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten dazu, lungen sind aus Sicht der spezialisierten Fachbe- besonders schutzbedürftige Personen unter ratungsstellen (FBS) notwendige Maßnahmen, den Geflüchteten im Verlauf des Asylverfah- damit Betroffene von Menschenhandel ange- rens möglichst frühzeitig zu erkennen und messen geschützt und unterstützt werden und ihnen Schutzmaßnahmen zu gewährleisten. ihre Rechte in Anspruch nehmen können. 1. Scherrer, A. (2019). Detecting and protecting victims of trafficking in hotspots. Ex-post evaluation. Brussels: European Parliamentary Research Service. Abgerufen am 14.08.2020 von https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2019/631757/EPRS _ STU(2019)631757 _ EN.pdf. 2. In der Bestandsaufnahme haben sich 16 Mitgliedsorganisationen der damals 39 beteiligt. Einige Fragebögen spiegeln in ihren Antworten die Beratungser- fahrungen und Aussagen mehrerer Zweigstellen wieder. So antwortete bspw. eine Mitgliedsorganisation stellvertretend für die ihr zugehörigen insgesamt 17 Beratungsstellen. Es ist zu beachten, dass nicht alle KOK-Mitgliedsorganisationen unmittelbare Beratung für Betroffene von Menschenhandel anbieten. Unter den KOK-Mitgliedsorganisationen sind spezialisierte Fachberatungsstellen für Betroffene von Menschenhandel, Migrant*innenorganisationen, Frauen- rechts- und Lobbyorganisationen oder auch Wohlfahrtsverbände. Die Bestandsaufnahme kann auf Nachfrage zur Verfügung gestellt werden. 3. Der KOK steht im ständigen Austausch mit seinen Mitgliedsorganisationen und organisiert zweimal jährlich Mitgliederversammlungen. Dabei diskutieren die Mitgliedsorganisationen den aktuellen politischen Handlungsbedarf und beschließen die jeweiligen Arbeitsschwerpunkte des KOK sowie Forderungen an Politik und Gesellschaft.
2 Policy Paper Problembeschreibung 2. PROBLEMBESCHREIBUNG In der Praxis ist die Identifizierung von Betrof- tung an die konkreten Gewalterfahrungen. fenen von Menschenhandel und Ausbeu- Der Wunsch, damit nicht mehr konfrontiert tung selbst unter günstigen Umständen zu werden und abschließen zu können, kann kompliziert.4 Den schutzsuchenden Betrof- dazu führen, dass über das Erlebte nicht fenen von Menschenhandel fehlt oftmals ein noch zusätzlich gesprochen wird – auch nicht Verständnis des Phänomens Menschenhandel in Asylanhörungen. Darüber hinaus kann und das Wissen hinsichtlich der Unterstüt- aufgrund von Scham und Angst vor Stigmati- zungsmöglichkeiten und Rechtsansprüche, sierung, wie Sexarbeiter*innen diese beispiels- die ihnen zustehen. So wissen sie zwar meist weise oft erfahren, die sexuelle Ausbeutung sehr genau, dass ihnen Gewalt und Unrecht verschwiegen werden. Wenn über das Erlebte widerfahren ist. Dass dies jedoch strafrecht- gesprochen wird, kann dies oft abgespalten lich relevant ist und sie Opferschutzrechte in und dissoziiert wirken und lückenhaft sein. Anspruch nehmen können, ist so gut wie nie Die Erzählenden wirken dann oft emotionslos bekannt. Ganz im Gegenteil: diese Personen und vermeintlich unbeteiligt an ihrer eigenen haben meist Angst, selbst strafrechtlich Biografie. Dies darf nicht als Indiz zur Infrage- verfolgt zu werden, beispielsweise aufgrund stellung der Glaubhaftigkeit fehlinterpretiert einer nicht regulären Einreise, nicht vorhan- werden, sondern stellt eine Überlebensstra- dener gültiger Ausweispapiere oder auch tegie der Menschen dar, damit sie in stressigen wenn sie neben einer unfreiwilligen Prosti- Situationen funktionieren und diese emotional tutionstätigkeit gezwungen wurden, unter unbeschädigt überstehen können. Strafe stehende Handlungen5, wie Laden- diebstähle oder Urkundenfälschung, zu bege- Überwiegend sind Betroffene von Menschen- hen.6 Die Gefahr, selbst polizeilich verfolgt handel aufgrund der benannten Schwierig- und gerichtlich verurteilt und/oder abge- keiten darauf angewiesen, dass Dritte ihre schoben zu werden, wird vielfach durch die Notlagen erkennen und sie über ihre Rechte Täter*innen erst aufgebaut oder verstärkt. informieren. Bei Betroffenen von Menschen- Zudem werden sie von Täter*innen bedroht, handel mit Fluchthintergrund ergeben sich erpresst und eingeschüchtert. darüber hinaus weitere Faktoren, die eine Iden- tifizierung ungleich schwieriger machen.7, 8 Betroffene von Menschenhandel und Ausbeu- tung brauchen meist lange Zeit und vor allem Vertrauen, sich gegenüber Dritten zu offen- baren. Vielfach ist die Zwangslage und Ausbeu- 2.1 Das Erkennen Betroffener von tungssituation für die Betroffenen traumati- Menschenhandel im Asylkontext sierend und infolgedessen weisen sie häufig eine chronifizierte Traumafolgestörung auf. Eine im Asylverfahren frühzeitige Identifi- Das fortwährende erneute Erleben der Gewalt zierung ist bei geflüchteten Betroffenen von als ein klassisches Symptom bei Posttrau- Menschenhandel grundlegend notwendig. matischen Belastungsstörungen, beispiels- Fehleinschätzungen und/oder Unkenntnis weise in Form von Flashbacks, Körperer- der Entscheider*innen über den bestehenden innerungen oder Albträumen, bindet die Sachverhalt können zur Ablehnung des Asylan- Personen auch nach Beendigung der Ausbeu- trags, einer Dublin-Überstellung oder Abschie- 4. Frei, N. (2018). Menschenhandel und Asyl. Die Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Opferschutz im schweizerischen Asylverfahren. 5. Seit der umfassenden Modifizierung der Straftatbestände im Jahr 2016 sind folgende Ausbeutungsformen strafrechtlich erfasst: Menschenhandel, Zwangs- prostitution, Zwangsarbeit, Ausbeutung der Arbeitskraft, Ausbeutung bei der Begehung strafbarer Handlungen, Ausbeutung bei der Bettelei, rechtswidrige Organentnahme. 6. Oftmals reisen minderjährige Betroffene von Menschenhandel mit Nationalpässen ein, die von den Täter*innen organisiert wurden und nach denen sie die Volljährigkeit erreicht haben. 7. Hoffmann, U. (2013). Die Identifizierung von Opfern von Menschenhandel im Asylverfahren und im Fall der erzwungenen Rückkehr, Working Paper 56 der Forschungsgruppe des Bundesamtes. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. 8. Brunovskis, A. & Surtees, R. (2019). Identifying trafficked migrants and refugees along the Balkan route. Exploring the boundaries of exploitation, vulnerabili- ty and risk. In: Crime, Law and Social Change 72, (S. 73–86. https://doi.org/10.1007/s10611-019-09842-9).
Betroffene von Menschenhandel im Asylkontext erkennen Problembeschreibung 3 bung ins Herkunftsland führen. Somit ist das Entscheidungen über ihre weitere Zukunft Erkennen von Betroffenen von Menschen- zu treffen. Insbesondere bezüglich der Frage, handel entscheidend für den Ausgang des Asyl- ob eine Aussage bei den zuständigen Ermitt- gesuchs. lungsbehörden getätigt werden soll, brauchen Betroffene diese Bedenkzeit. Menschenhandel Die EU-Aufnahmerichtlinie und EU-Verfah- ist ein sogenanntes Offizialdelikt12 und mit rensrichtlinie für die Zuerkennung und Aber- Beginn der polizeilichen und staatsanwalt- kennung des internationalen Schutzes (VerfRL) schaftlichen Ermittlungen steigt oft die Gefahr verpflichten die Mitgliedstaaten, besonders für die Betroffenen, teilweise auch für deren schutzbedürftige Menschen zu identifizieren, Angehörige, von den Täter*innen verstärkt dies im Asylverfahren zu beachten und deren gesucht, erpresst und bedroht zu werden. Wie Vulnerabilität hinsichtlich der Aufnahme und an vorheriger Stelle schon erwähnt, sind die Unterbringung zu berücksichtigen. Eine beson- Aussagen der betroffenen Personen zentral dere Schutzbedürftigkeit ergibt sich beispiels- für die Ermittlungsbehörden zur Identifizie- weise, wenn die Antragsteller*innen schwere rung sowie für die gerichtliche Verurteilung Formen psychischer, physischer oder sexu- der Täter*innen. Innerhalb des Aufenthaltsge- eller Gewalt und Folter erfahren haben. Die setzes regelt § 25 Abs. 4a AufenthG die Möglich- Verfahrensgrundsätze garantieren, dass die keit der Erteilung eines Aufenthalts für soge- Antragsteller*innen notwendige Unterstüt- nannte Opferzeug*innen in Strafverfahren.13 zung erhalten. Nur die Identifizierung einer konkreten Form von Schutzbedürftigkeit kann Menschenhandel ist mittlerweile als wich- dazu führen, dass mit dieser spezifischen Form tiges Thema im Bundesamt für Migration und verbundene Rechte eingeräumt werden.9 Flüchtlinge etabliert. Seit 2012 gibt es Sonder- beauftragte zu Menschenhandel14, zusätz- Gibt es im Vorfeld einer Anhörung keine lich wurden Handlungsanweisungen und Hinweise auf Menschenhandel, soll dies inner- Indikatorenlisten für Asylentscheider*innen halb der Anhörung von Asylentscheider*innen erstellt. Auf Länderebene gibt es z. T. regel- festgestellt werden.10, 11 Innerhalb des Asyl- mäßigen Austausch und Kontakt zwischen verfahrens schreiben die AufnRL und VerfRL den Sonderbeauftragten und den FBS; außer der Anhörung keine anderen belast- Mitarbeiter*innen der FBS unterstützen bei baren Wege für die Identifizierung der Betrof- Schulungen von BAMF-Mitarbeiter*innen. fenen von Menschenhandel vor. Insgesamt gab es also in der jüngeren Vergan- genheit einen Ausbau der Strukturen; Unter- Für die identifizierten geflüchteten Betrof- künfte wurden geschaffen, Beratungsstellen fenen von Menschenhandel in Deutsch- und Unterstützungsprojekte etablierten land sollte eine mindestens dreimonatige sich; in Behörden und auch im BAMF wurde Bedenk- und Stabilisierungsfrist (§ 59 Abs. Personal aufgestockt. So gab und gibt es eine 7 AufenthG) eingeräumt werden. Diese Frist Vielzahl neuer Akteure, die in ihrem berufli- soll der betroffenen Person ermöglichen, sich chen Kontext mit Geflüchteten zu tun haben ihrer aktuellen Situation sowie ihrer Rechte und so auch mit potentiell Betroffenen von und Möglichkeiten bewusst zu werden, Bera- Menschenhandel und Ausbeutung in Kontakt tung in Anspruch zu nehmen und fundierte kommen können. 9. Hinz, T. (2020). Menschenhandel im Asylkontext – Entscheider*innen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als Sonderbeauftragte für Opfer von Menschenhandel. In: Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e. V. (Hrsg.), Menschenhandel in Deutschland – Rechte und Schutz für Betroffene, (S. 235-245). 10. Vgl. Hinz, T. (2020). 11. Vgl. Hoffmann, U. (2013). 12. Dies bedeutet, dass bei Kenntnis des Straftatbestands von den Ermittlungsbehörden ein Verfahren eingeleitet wird. Das Rückziehen einer Anzeige führt bei diesen Delikten nicht zu einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Den angezeigten Tatvorwürfen muss auch dann nachgegangen werden, wenn der Tatort außerhalb Deutschlands liegt. 13. Voraussetzung zur Erteilung eines Aufenthaltes nach § 25 Abs. 4a AufenthG ist eine Bestätigung von der jeweils zuständigen Staatsanwaltschaft. 14. Seit 2012 werden in den Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Sonderbeauftragte für Opfer von Menschenhandel eingesetzt. Stellt sich ein Verdacht auf Menschenhandel erst im Verlauf einer Anhörung heraus, sollen entsprechend geschulte Sonderbeauftragte nach der Anhörung hinzugezogen oder die Anhörung in Absprache mit der*dem Schutzsuchenden abgebrochen und zu einem späteren Zeitpunkt von einem*einer Sonder- beauftragten weitergeführt werden. Mit dem Einverständnis der betroffenen Person nimmt der*die Sonderbeauftragte Kontakt zu einer spezialisierten Fachberatungsstelle auf. Es besteht kein rechtlicher Anspruch auf Anhörung durch eine*n Sonderbeauftragte*n.
4 Policy Paper Problembeschreibung Dennoch stellen die FBS in ihrer täglichen als sie selbst. Nach Berichten einiger FBS Arbeit nach wie vor erhebliche Defizite bei der wurden insbesondere Schilderungen von nige- systematischen Identifizierung Betroffener im rianischen Betroffenen vom BAMF zum Teil als Asylkontext fest. „unglaubwürdig“, „unsubstantiiert“ oder „nicht nachvollziehbar“ eingestuft. Darüber hinaus enthalten einige Asylbescheide des BAMF aus den Jahren 2018 und 2019 Hinweise darauf, 2.2 Probleme bei der Identifizierung dass die Problematik des Menschenhandels innerhalb des Asylverfahrens und entsprechende Gefährdungsgründe zwar thematisiert wurden, diese jedoch dann als Die Bestandsaufnahme der FBS problemati- „späteres Vorbringen“, „kein opfertypisches siert mehrere Bereiche, die sich negativ auf Verhalten“, „irrational wirkendes Verhalten“, Betroffene von Menschenhandel auswirken „realitätsfremd“ oder auch als „blumige Formu- bzw. das Erkennen der möglichen Betroffenen lierungen“ von den BAMF Entscheider*innen erschweren. Im Folgenden werden die Defizite beurteilt wurden. Infolgedessen wurden die beschrieben, die bei der systematischen Identifi- Asylgesuche der Betroffenen abgelehnt, u. a. zierung Betroffener im Asylkontext auftauchen. als „Dublin, offensichtlich unbegründet“. Stellungnahmen der FBS, die die Glaubhaf- Identifizierung durch tigkeit der Schilderungen der betroffenen BAMF-Mitarbeiter*innen Personen untermauern, werden nicht immer anerkannt. Die Fachberatungsstellen haben Die Zusammenarbeit mit den Sonderbeauf- die Erfahrung gemacht, dass die Sonderbeauf- tragten für Menschenhandel und den FBS ist tragten zu wenig Kapazitäten haben. Genügend sehr unterschiedlich. Knapp 60 % der Rück- Zeit und geschulte Kompetenz für den Umgang meldungen der Bestandsaufnahme bestätigen mit potentiellen Betroffenen sind unabdingbar, zwar, dass sich der Kontakt mit den Sonder- nicht nur für das Erkennen von Menschen- beauftragten im Erfassungszeitraum verbes- handel und Ausbeutung, sondern auch für die sert hat.15 Inhaltlich bemerken einzelne FBS Kontaktaufnahme zu Fachberatungsstellen jedoch immer wieder, dass Mitarbeiter*innen und der Berücksichtigung ihrer Expertise. des BAMF nicht auf die Indizien für Menschen- handel aufmerksam werden und dementspre- chend nicht reagieren. Die Fachberatungsstellen Anwendung der Dublin-Verordnung führen aus, dass selbst wenn die Ausbeutungs- erfahrung indirekt in der Anhörung ange- Die Ausbeutung als inhärenter Bestandteil des geben wird (z. B. wenn eine Frau erzählt, dass Menschenhandels findet häufig in anderen und sie sich nach der Ankunft in Europa prostitu- mehreren EU-Ländern statt. Am häufigsten ieren musste, um ihre angeblichen Schulden benannt wurden Italien, Spanien und Frank- zu begleichen), die Person nicht als Betroffene reich. In diesen Fällen kommt allerdings auch von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung bei Betroffenen von Menschenhandel die identifiziert wird. Das zeugt von der mangelnden Dublin-III-Verordnung zum Tragen. So droht Sensibilisierung der Entscheider*innen bezüg- den Betroffenen innerhalb eines Dublin- lich der Besonderheiten von Menschenhandel Verfahrens eine Rücküberstellung in einen sowie auch davon, dass die Glaubhaftigkeit der Staat, in dem sie ausgebeutet wurden. Dies Angaben angezweifelt wird. führt zu einer erhöhten Gefahr der Revikti- misierung, also erneut Ausbeutung durch Mehrfach berichten spezialisierte Fachbera- Menschenhändler*innen, denen sie durch die tungsstellen von Konstellationen, in denen das Flucht nach Deutschland entkommen sind, zu BAMF zu einer anderen Einschätzung kommt erfahren.16 15. Die Fachberatungsstellen beschreiben, dass sich u. a. die Erreichbarkeit und Absprache bei z. B. Terminverschiebungen oder Terminvergabe verbessert haben. 16. Nach Angaben der Fachberatungsstellen, fand die Ausbeutung von Klient*innen, die sich im Jahr 2018 an eine Beratungsstelle gewandt haben, überwie- gend auf dem Fluchtweg statt. In wenigen Fällen begann die Ausbeutung schon im Herkunftsland. Bei dem Ausbeutungsort wurde überwiegend Nigeria als Herkunftsland benannt. Über ein Drittel der Fachberatungsstellen gibt an, dass mehr als 80 % der Betroffenen mehr als einmal – im Herkunftsland, auf dem Fluchtweg oder in Deutschland – ausgebeutet wurden.
Betroffene von Menschenhandel im Asylkontext erkennen Problembeschreibung 5 Die FBS berichten von alarmierend starken Wie schon erwähnt, brauchen Betroffene von Zunahmen negativer Dublin-Bescheide für Menschenhandel Zeit, Ruhe und eine vertrau- Betroffene von Menschenhandel seit Anfang ensvolle Situation, um das Erlebte benennen zu 2018. Nach den Erfahrungen der FBS wurden können. Beschleunigte Asylverfahren stehen bei Dublin-Anhörungen die speziell geschulten diesem Prozess vehement im Wege. In Folge Sonderbeauftragten z. T. nicht einbezogen. In dessen werden mögliche Betroffene nicht manchen Fällen werden die Stellungnahmen erkannt und können von ihren Rechten keinen von Sonderbeauftragten als nicht erforderlich Gebrauch machen. erachtet.17 Eine erhöhte Gefahr der Reviktimi- sierung in den jeweiligen Tatort-Ländern wird FBS bemängeln hier jedoch nicht nur die oftmals mit dem Verweis, dass diese Staaten erschwerte Identifizierung von und den Teil der EU sind, verharmlost oder bagatelli- Zugang zu möglichen Betroffenen, sondern siert. Eine Schutzgewährung bzw. Ausübung ebenso die Form der Unterbringung in den des Selbsteintrittsrechts für die Betroffenen Zentren für Ankunft, Entscheidung und erfolgt in diesen Fällen nicht. Vermehrt sollen Rückführung (AnkER-Zentren). Neben den Rücküberstellung nach Italien erfolgen, wo fehlenden Informations- und Beratungsange- erwiesenermaßen ein sehr gut funktionie- boten sind Betroffene teilweise gemeinsam rendes Netzwerk der Menschenhändler*innen mit Täter*innen untergerbacht. Die Lebens- aus Nigeria existiert. Diese Tatsache wurde umstände, in Form der Unterbringung in Mehr- auch zuletzt (Juni 2020) in einem Länderreport bettzimmern, geteilter Nutzung der sanitären des BAMF über Nigeria bestätigt.18 Anlagen und großen Speisesälen, lassen kaum Intims- und Privatsphäre oder Rückzugs- Die geschilderten Erfahrungen zeigen, dass möglichkeiten zu. Die beengten Räumlich- selbst nach einer Identifizierung der Betrof- keiten erhöhen die Gefahr, erneut übergrif- fenen kein Schutz vor Abschiebung oder Rück- figem Verhalten ausgesetzt zu sein. Darüber überstellung auf Grundlage der Dublin-Verord- hinaus hat die derzeitige COVID-19-Pandemie nung besteht. noch einmal verdeutlicht, was Fachberatungs- stellen schon von Beginn an kritisierten: die Unterbringung in Sammelunterkünften ist Beschleunigte Asylverfahren und menschenunwürdig und gesundheitsgefähr- Unterbringung in AnkER-Zentren dend; und das nicht nur in Pandemie-Zeiten. Für Menschen, die u. a. aus Krisengebieten vor Ein weiteres großes Problem sind die Not, Armut, Folter, Krieg, Menschenhandel beschleunigten Asylverfahren19, da hierdurch und Ausbeutung flüchten konnten, ist eine die Möglichkeit zur Identifizierung wesent- sichere und geschützte Unterbringung zwin- lich erschwert wird. Die Betroffenen müssen gend notwendig, in der sie weitestgehend schon in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft frei und selbstbestimmt agieren können und eine Anhörung durchlaufen. Dies erschwert Zugriff auf umfassende Informationen und es den Anhörer*innen, die zudem meist nicht Unterstützungsangebote haben. speziell zum Thema Menschenhandel geschult sind, mögliche Anzeichen auf Menschenhandel Es ist essenziell, dass alle Akteure in den Schutz- zu erkennen. Vor allem aber haben die Betrof- und Unterstützungsstrukturen für Geflüch- fenen meistens nur sehr eingeschränkten tete genügend sensibilisiert und geschult sind, Zugang zu externen Beratungsstellen und um frühzeitig (bereits vor der Anhörung) eine zu wenig Zeit, um eine umfangreiche Bera- besondere Vulnerabilität wie die Betroffenheit tung in Anspruch nehmen zu können und sich von Menschenhandel zu erkennen und eine ihrer Situation und Rechte bewusst zu werden. entsprechende Unterstützung anzubieten. 17. Meding, R. L. (2019). Grundrechtsschutz gegen Abschiebungen gemäß der Dublin-III-Verordnung von Betroffenen des Menschenhandels. Eine Untersuchung der aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte. S. 10. Berlin: KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel. 18. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2020). Länderreport 27. Nigeria. Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung. Abgerufen am 17.08.2020 von https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/Laenderreporte/2020/laenderreport-27-nigeria.pdf;jsessioni d=28EB44D9C8869BD04B3051EE5CD11E81.internet541? _ _ blob=publicationFile&v=3. 19. Nach dem beschleunigten Verfahren gemäß § 30a AsylG wird in einer besonderen Aufnahmeeinrichtung das Asylverfahren durchführt, wenn die Asylsuchen- den z. B. aus einem sicheren Herkunftsland stammen oder einen Folgeantrag gestellt haben. Innerhalb einer Woche soll dort über den Asylantrag entschieden werden. Bei einem negativen Bescheid auf den Asylantrag erfolgt die Abschiebung aus der Einrichtung heraus innerhalb von drei Wochen.
6 Policy Paper Problembeschreibung 2.3 Herausforderungen für die spezi- alisierten Fachberatungsstellen Die spezialisierten Fachberatungsstellen für Betroffene von Menschenhandel können auf eine langjährige Praxis des Beratens und Begleitens von Betroffenen, die Asyl bean- tragen, zurückblicken. Schon vor dem Jahr 2015 befanden sich Betroffene von Menschenhandel, die aus Drittstaaten kamen, im deutschen Asyl- verfahren und waren in FBS angebunden. Im Zuge der höheren Anzahl an Schutzsuchenden in Deutschland haben auch die FBS einen Anstieg von Fallzahlen verzeichnet. Damit verbunden sind Herausforderungen für die FBS: eine Erweiterung ihrer Aufgaben und die Veränderung von Anforderungen an die Bera- tungsarbeit. Dazu kamen neue Anforderungen an die Vernetzung mit weiteren relevanten Akteuren in Behörden wie BAMF und Bundes- polizei sowie der Unterstützungsstruktur für Geflüchtete. Die Finanzierung von Fachberatungsstellen ist nicht ausreichend und langfristig genug abgesichert, um all diesen Anforderungen im notwendigen Umfang nachkommen und dieser Zielgruppe vollumfängliche Beratungs- und Unterstützungsangebote anbieten zu können. Dies führt dazu, dass nicht mehr alle hilfesu- chenden Betroffenen von Menschenhandel sofort unterstützt werden können.
Betroffene von Menschenhandel im Asylkontext erkennen Empfehlungen 7 3. EMPFEHLUNGEN Vor dem Hintergrund der immer ausdifferen- nahmeeinrichtungen für Geflüchtete – in zierteren Strukturen, in denen sich Geflüchtete AnkER-Zentren und Erstaufnahmeeinrich- bewegen, mit einer Vielzahl an Akteuren, wird tungen – muss erleichtert werden, um vor eine umfassende Sensibilisierung und eine gut Ort beraten zu können und ggf. Aufklä- funktionierende Kooperation und Vernetzung rungsarbeit über das Phänomen Menschen- aller relevanten Akteure in der Schutz- und handel zu gewährleisten. Unterstützungsstruktur umso bedeutender. Die Identifizierung möglicher Betroffener bleibt aufgrund fehlenden Wissens, dem Über- › Besonders Schutzbedürftige sollten früh- sehen oder Fehlinterpretieren von Indikatoren zeitig im Asylverfahren identifiziert wer- und Sachverhalten sowie aufgrund verkürzter den, um entsprechende Schutzmaßnahmen Fristen und erschwerter Zugänge zu FBS oft aus. einzuleiten. Es sollten bundesweit ange- messene Verweis- und Unterstützungsver- Um eine systematische Identifizierung von fahren vorhanden sein. Betroffenen von Menschenhandel möglichst schon zu Beginn des Asylverfahrens sicherzu- stellen und gewährleisten zu können, sollten › Schulungen und Sensibilisierungsmaßnah- folgende Empfehlungen berücksichtigt werden: men relevanter Akteure in den Schutz- und Unterstützungsstrukturen für Geflüchtete zu Indikatoren von Menschenhandel und der Arbeit der spezialisierten Fachberatungs- 3.1 Empfehlungen an Bund und Länder stellen, insbesondere für Mitarbeiter*innen der (Bundes-)Polizei, Registrierungsbehör- › Die Finanzierung von Unterstützungsein- den und Mitarbeiter*innen in den (Erst-) richtungen für Geflüchtete sowie der spezi- Aufnahmeeinrichtungen sowie Beratungs- alisierten Fachberatungsstellen für Betrof- stellen20 für Geflüchtete, sollten regelmäßig fene von Menschenhandel muss gesichert stattfinden. sein, um den Herausforderungen begeg- nen zu können, aber auch, um neue Ansätze zu entwickeln und einen flächendecken- › Die Sicherstellung eines niedrigschwelli- den Ausbau der Fachberatungsstellen zu gen Zugangs zu Rechtsberatung sowie einer gewährleisten. unabhängigen und ausführlichen Asylver- fahrensberatung bzw. Anhörungsvorbe- reitung, auch vor einem Dublin-Verfahren, › Ein menschenwürdiger Umgang und eine muss gewährleistet werden. adäquate Unterbringung Asylsuchender muss bundesweit gewährleistet sein. Diese umfasst u. a. das Recht auf Privatsphäre, Maßnahmen des Schutzes vor Infektio- nen/Einhaltung der Hygienestandards, das 3.2 Empfehlungen an die Selbstbestimmungsrecht – auch, was die Unterstützungsstrukturen Mahlzeiten/das Essen betrifft – oder die freie Ärzt*innenwahl. › Schutzsuchenden muss psychosoziale Unterstützung angeboten werden, um erlebte Gewalterfahrungen und Ausbeu- › Der Zugang von Mitarbeiter*innen der tung auf dem Fluchtweg nach Deutschland Fachberatungsstellen zu besonderen Auf- verarbeiten zu können. 20. Allgemeine Beratungsstellen für Geflüchtete spielen eine große Rolle bei der Identifikation von Betroffenen von Menschenhandel. So zeigt die Bestands- aufnahme, dass der Anteil der von Menschenhandel betroffenen Klient*innen, der von Mitarbeiter*innen in der Beratungs- und Unterstützungsstruktur für Geflüchtete identifiziert und an die FBS weitergeleitet wurde, im Erfassungszeitraum deutlich angestiegen ist.
8 Policy Paper Empfehlungen › Zeitgleich müssen niedrigschwellige Ange- 3.4 Empfehlungen an das BAMF bote für Geflüchtete geschaffen werden. Die Entwicklungen in der Unterstützungs- › Mitarbeiter*innen des BAMF (u. a. struktur für Betroffene von Menschenhan- Verfahrensberater*innen, Sonderbeauf- del zeigen, dass Maßnahmen wie bspw. tragte für Opfer von Menschenhandel, Frauencafés dazu beitragen, das Vertrauen Entscheider*innen und Anhörer*innen), als von geflüchteten Frauen aufzubauen und die wichtigsten Akteure bei der Identifizie- Kontakt zu Betroffenen von Menschenhan- rung der Betroffenheit von Menschenhan- del herzustellen. del innerhalb des Asylverfahrens, müssen bundesweit ausreichend sensibilisiert und geschult sein, um die Betroffenen proaktiv › Asylsuchende müssen trotz der evtl. ver- zu erkennen. kürzten Asylverfahrensdauer umfassend zu ihren Rechten und Unterstützungsmög- lichkeiten für Betroffene von Menschen- › Die Anzahl der für die Thematik Menschen- handel informiert werden. handel grundsensibilisierten Anhörer*innen und Entscheider*innen muss verfestigt bzw. erhöht werden. › Der Ausbau der regionalen und bundeswei- ten Vernetzung der im Kontext von Flucht arbeitenden Einrichtungen, Beratungsstel- › Sonderbeauftragte für Opfer von Men- len, Gewaltschutzkoordinator*innen und schenhandel müssen in die Entscheidungen, Initiativen muss intensiviert werden. auch bei Dublin-Fällen, tatsächlich einbe- zogen werden, wobei ihr Votum Durchset- zungskraft haben muss. 3.3 Empfehlungen an die Politik › Eine Kooperation zwischen den FBS und den Dublin-Referaten sollte etabliert wer- › Abschaffung der beschleunigten Asylver- den. fahren, um potentiell Betroffene von Men- schenhandel und Ausbeutung (aber auch weitere besonders schutzbedürftige) iden- › Die Zusammenarbeit zwischen den Sonder- tifizieren zu können. beauftragten für Opfer von Menschenhan- del des BAMF und den spezialisierten Fach- beratungsstellen muss weiter gefestigt und › Das Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 der ausgebaut werden. Bei Verdacht auf Men- Dublin-III-VO soll bei Betroffenen von Men- schenhandel sollten spezialisierte Fach- schenhandel ausgeübt werden. beratungsstellen einbezogen werden. Die Expertise von Fachberatungsstellen sollte vom BAMF respektiert und anerkannt wer- › Vorgaben zur systematischen Erkennung den. besonders schutzbedürftiger Personen im Asylverfahren sollen entwickelt werden.
Policy Paper Betroffene von Menschenhandel im Asylkontext erkennen: Problembeschreibung und Handlungsempfehlungen« Herausgegeben vom Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel – KOK e. V. Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V. Lützowstraße 102-104 Hof 1, Aufgang A 10785 Berlin T 030 / 263 911 76 F 030 / 263 911 86 info@kok-buero.de www.kok-gegen-menschenhandel.de V. i.S. d.P.: Sophia Wirsching Gestaltung und Satz: Kathrin Windhorst / www.kwikwi.org Berlin, November 2020 ©KOK e. V. Alle Rechte vorbehalten
Sie können auch lesen