Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zukunftsfähig und krisenfest gestalten

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Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zukunftsfähig und krisenfest gestalten
Stadtentwicklung
                                          Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zukunftsfähig und krisenfest gestalten

Annalena Baerbock, Irene Mihalic

Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe zukunftsfähig
und krisenfest gestalten
Erste Lehren aus der Hochwasserkatastrophe – ein Autorinnenpapier vom 26. Juli 2021

Die Starkregenfälle und das Hochwasser der vergangenen Tage in Teilen Deutschlands mit über 170 Toten ist eine
der schlimmsten Naturkatastrophen der deutschen Geschichte. Häuser sind in den Fluten verschwunden und Stra-
ßen, Bahngleise und Brücken zerstört. Ganze Existenzen der Menschen vor Ort sind vernichtet. Die Versorgung mit
Trinkwasser und Strom ist in einigen Regionen zusammengebrochen. Es wird Jahre dauern, bis alle Häuser, Kitas,
Klärwerke, die vielen zerstörten Gebäude wiederaufgebaut, die mehr als 600 Kilometer zerstörten Bahngleise re-
pariert und Brücken sowie Straßen wieder instand gesetzt sind. Erste Schätzungen gehen von Schäden durch die
Hochwasserkatastrophe von mehreren Milliarden Euro aus. Deshalb braucht es jetzt schnelle und unbürokratische
Hilfen für die Betroffenen sowie für den kommunalen Wiederaufbau in enger Abstimmung zwischen Bund und Län-
dern. Beeindruckend ist, wie Hilfsorganisationen, Helferinnen und Helfer sofort anpackten und unterstützten. Ihnen
allen gilt ein besonderer Dank.

In den betroffenen Regionen sind lokal extreme Regenmen-              Neben Klimaanpassungsmaßnahmen müssen der Katas-
gen von bis zu 250 Liter pro Quadratmeter in kürzester Zeit           trophenschutz und die Katastrophenhilfe für solche über-
gefallen. Das Wasser hat kleine Bäche in reißende Ströme              regionalen Ereignisse für die Zukunft besser ausgestaltet
verwandelt und ganze Ortsteile verwüstet. Die Katastrophe             werden. Es ist jetzt Aufgabe von Bund, Ländern und Kom-
reiht sich in eine Folge von klimabedingten Naturkatastro-            munen, die Schwachstellen zu analysieren und daraus zu
phen ein, die wir in den vergangenen Jahren in Deutschland            lernen. Denn diese wurden teils bereits bei Extremereig-
und Europa erlebt haben: Die Klimakrise wird uns mehr und             nissen, wie Waldbränden oder in der COVID-19-Pande-
extremere Unwetter bringen, häufigere und langanhaltende              mie, sichtbar und haben in der aktuellen Lage noch mal
Dürrephasen, Waldbrände, Starkregenereignisse und Über-               an Brisanz gewonnen. Dabei muss es unser gemeinsamer
schwemmungen. Die Ereignisse machen deutlich, dass wir                Anspruch sein, die Stärke unserer föderalen Struktur zu
die Menschen und unsere Städte, Dörfer und Infrastruktu-              nutzen und zugleich die überregionale Zusammenarbeit
ren vor solchen Extremwettern besser schützen müssen.                 zu stärken. So stellen wir sicher, dass die richtige Hilfe am
                                                                                 richtigen Ort zur richtigen Zeit ankommt. Nur so
                                                                                 können Menschen besser geschützt, Schäden
                                                                                 begrenzt und unsere Infrastruktur bewahrt wer-
                                                                                 den. Dazu gehören:

                                                                                  1. Zusammenarbeit im föderalen Katastro-
                                                                                  phenschutz stärken – Zentralstelle beim
                                                                                  Bundesamt für Bevölkerungsschutz schaffen
                                                                                  Katastrophenschutz ist in Deutschland laut
                                                                                  Grundgesetz zuallererst Aufgabe der Bundes-
                                                                                  länder. Das ist historisch gewachsen und auch
                                                                                  sinnvoll, da die Behörden und Organisationen
                                                                                  vor Ort im Katastrophenschutzfall regionale Be-
                                                                                  sonderheiten am besten kennen sowie hand-
                                                                                  lungs- und leistungsfähig sind. Das Rückgrat
                                                                                  dieser föderalen Struktur bilden die überwie-
                                                                                  gend ehrenamtlichen Mitglieder der Hilfsorga-
                                                                                  nisationen. Durch den dezentralen Aufbau un-
Abb. 1: Zerstörungen an der Ahr im Juli 2021 (Foto: C. George)                    seres Hilfeleistungssystems ist sichergestellt,

                                                                                    vhw FWS 1 / Januar–Februar 2022             11
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Stadtentwicklung
          Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zukunftsfähig und krisenfest gestalten

dass Hilfe schnell in allen Teilen des Landes verfügbar ist.    Software, klare Zuständigkeiten und notwendige Doppelun-
Der Bund trägt in Deutschland die Verantwortung für den         gen bzw. Rückfallebenen kann einer Überlastung und Über-
Zivilschutz im Verteidigungsfall und kann auf Anfrage der       forderung wichtiger lokaler Strukturen vorgebeugt werden.
Länder mit seinen Fähigkeiten die Länder im Katastrophen-
                                                                Valide Lageinformationen sind im Bevölkerungsschutz es-
fall unterstützen.
                                                                senziell und entscheiden oft über den Erfolg der Maßnah-
Doch es ist an der Zeit, diese Strukturen mit Blick auf große   men. Wir wollen, dass diese allen jederzeit zur Verfügung
Naturkatastrophen, Unglücksfälle und besondere Lagen,           stehen: durch die Vereinheitlichung von Schnittstellen und
die das gesamte Bundesgebiet betreffen oder bundeslän-          Software, Digitalisierung analoger Strukturen, Standardi-
der- und regionenübergreifend sind, weiterzuentwickeln.         sierung notwendiger Kennzahlen und verpflichtende Mel-
Der Grundsatz für die Zusammenarbeit zwischen Bund,             deverfahren und insbesondere den Ausbau des gemeinsa-
Ländern und Kommunen muss die Dezentralität bei star-           men Lagezentrums von Bund und Ländern (GMLZ) zu einem
ker Koordinierung sein. Dazu muss das Bundesamt für Be-         gemeinsamen, ständigen Krisenstab der nichtpolizeilichen
völkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) mit einer          Gefahrenabwehr respektive des Bevölkerungsschutzes.
Zentralstellenkompetenz für den Bevölkerungsschutz zur
                                                                Die operativen Fähigkeiten des Technischen Hilfswerks
Unterstützung der Länder ausgestattet werden, neben ei-
                                                                (THW) wollen wir mit dem BBK besser verzahnen und zu-
ner erheblichen personellen Aufstockung. Ähnliches gibt es
                                                                sammenführen. Des Weiteren wollen wir die Fähigkeiten
beispielsweise im polizeilichen Bereich mit dem Bundes-
                                                                der Hilfsorganisationen und weiterer Partner der nichtpoli-
kriminalamt (BKA). Dies bedarf einer Änderung im Grund-
                                                                zeilichen Gefahrenabwehr mit denen des THW stärker ver-
gesetz.
                                                                zahnen und an das BBK und das GMLZ anbinden.
Wir wollen, dass der Bund in bestimmten Lagen besonde-
                                                                Durch den Bund beschaffte bzw. betriebene Einsatzmittel,
ren Ausmaßes koordinierende Aufgaben übernimmt und
                                                                wie etwa die Zivilschutzhubschrauber oder andere am Boden
den Informationsfluss steuert. Das BBK muss dann z. B.
                                                                gebundene Einsatzmittel, sollen in Organisation, Steuerung
Bewertungen und Handlungsempfehlungen an die Länder
                                                                und Verfügbarkeit im Einsatzfall stärker an das BBK ange-
geben dürfen. Hierzu müssen auf Bundesebene alle Infor-
                                                                bunden und an neue Herausforderungen, wie etwa die Aus-
mationen über Fähigkeiten, Ressourcen sowie Entwicklun-
                                                                stattung von Rettungshubschraubern mit Rettungswinden,
gen zusammenlaufen und fortlaufende Lagebilder erstellt
                                                                angepasst werden. Dazu werden wir die Zuweisungsverfü-
werden. Dabei ist es notwendig, dass Länder und Kommu-
                                                                gung dieser Einsatzmittel an die Länder weiterentwickeln.
nen zukünftig nicht mehr freiwillig, sondern verpflichtend
Informationen an den Bund melden. Hierzu zählen z. B. In-       Ein besonderes Augenmerk muss auf den Schutz kritischer
formationen über die Verfügbarkeit von Einsatzmitteln der       Infrastruktur (KRITIS) gelegt werden, um die Versorgung
Feuerwehren mit Standortinformationen, die Verfügbarkeit        der Menschen auch in einer Krise weiterhin sicherstellen
von Intensivbetten, Unterbringungskapazitäten, der Sta-         zu können. Dafür muss neben dem Schutz vor Cyberan-
tus der kritischen Infrastruktur oder die Bereitschaft von      griffen der physische Schutz als gemeinsame Aufgabe von
Hubschraubern oder anderer Spezialkapazitäten der Bun-          Betreibern kritischer Infrastrukturen stärker in den Fokus
deswehr und des Gesundheitssektors. Durch diese bes-            rücken. Durch ein KRITIS-Dachgesetz können vorsorgende
sere Koordinierung können Fähigkeiten und Ressourcen            Maßnahmen bei den Betreibern gestärkt, eine Basis für das
schnellstmöglich an dem Ort zur Verfügung stehen, an dem        gemeinsame Handeln von privaten und staatlichen Betrei-
sie benötigt werden. So werden auch die Hilfsorganisatio-       bern in der Krise gelegt und so die Versorgungssicherheit
nen entlastet. Dabei ist wichtig, dass die Daten fortlaufend    der Menschen direkt erhöht werden.
aktualisiert und nach Möglichkeit live und tagesaktuell ab-     2. Nationale Resilienzstrategie
gerufen werden können.
                                                                Katastrophen nationaler Tragweite sind ressortübergreifen-
Bund und Länder müssen gemeinsam dafür Sorge tragen,            de Lagen, die eine ressortübergreifende Steuerung benöti-
dass diese Struktur auf der Landesebene gespiegelt wird.        gen. Dabei können die Anforderungen und benötigten Be-
Dazu bedarf es der Einrichtung entsprechender Landes-           darfe so unterschiedlich wie die denkbaren Szenarien sein.
katastrophenschutzstellen. Nur so kann sichergestellt           Eine Pandemie ist in erster Linie eine Herausforderung für
werden, dass Informationen aus den Kommunen zügig die           den Bereich der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Sie
Landes- und Bundesebene erreichen und umgekehrt. Dazu           fordert aber auch ein enges Zusammenspiel mit den Orga-
wird es u. a. flächendeckend wirkungsvolle Landesgesetze        nisationen des Katastrophenschutzes. Naturkatastrophen
zum Katastrophenschutz, Katastrophenschutzbedarfspläne          können großflächig KRITIS, wie die Stromversorgung, außer
und ein organisatorisches sowie technisches Ineinander-         Funktion setzen. Die Wiederherstellung erfordert ein enges
greifen von Krisenstabs- und Leitstellenarbeit geben müs-       Zusammenspiel von Privatwirtschaft und Katastrophen-
sen. Nur durch einen linearen Führungsaufbau, einheitliche      schutz. In der Folge können u. a. Lieferketten unterbrochen

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Stadtentwicklung
                                 Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zukunftsfähig und krisenfest gestalten

werden und die Lebensmittelversorgung gefährdet sein. Die     schnell eine Anordnung durch die Bundesnetzagentur und
Klimakrise droht, diese Gefahren weiter zu verschärfen.       ggf. eine gesetzliche Verpflichtung im Gesetz über den Zi-
                                                              vilschutz und die Katastrophenhilfe des Bundes (ZSKG) für
Darüber hinaus stellen sogenannte hybride Gefahren, die
                                                              die Betreiber, die diesen Dienst zur Verfügung stellen.
äußere Sicherheit schwierig machen, eine große Gefahr für
unsere Gesellschaft dar. Das „Sendai-Rahmenwerk“ zur          4. Stärkung der Frühwarnsysteme und Krisenforschung
Katastrophenvorsorge der Vereinten Nationen beschreibt        Auch wenn manche Wetterphänomene, wie Starkregen-
die Notwendigkeit der Katstrophenvorsorge mit der Zielset-    ereignisse, verhältnismäßig schwierig vorherzusehen sind,
zung der Steigerung der Resilienz gegenüber Katastrophen.     weil sie häufig sehr kurzfristig und lokal auftreten, braucht
Deutschland hat sich zur Umsetzung des Rahmenwerks            es hier weitere Forschung und ein engmaschiges Monitoring
verpflichtet. Das BBK hat gemeinsam mit vielen Akteuren       von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Dazu wollen
erste Schritte zur Umsetzung unternommen.                     wir die Unwetterforschung beim Deutschen Wetterdienst
Wir wollen, dass eine nationale Resilienzstrategie das Dach   (DWD) stärken, um lokale und kleinräumige Vorhersagen
für alle Aktivitäten zur Katastrophenvorsorge und Erhöhung    von Wetterereignissen besser treffen zu können. Außerdem
der Resilienz der Bevölkerung in Deutschland wird. Dazu       möchten wir die Forschung für zivile Sicherheit stärker mit
müssen wir eine umfassende, ressortübergreifende na-          der Klimaforschung verschränken, um die Ergebnisse in die
tionale Resilienzstrategie entwickeln, die diesem Anspruch    Katastrophenszenarien der zuständigen Behörden einfließen
gerecht wird. Die Erarbeitung und Zusammenführung der         zu lassen. Zusätzlich muss die Weiterentwicklung der Mess-
Strategie muss ressortübergreifend gebündelt werden und       und Beobachtungsinfrastruktur sowie der Datenauswertung
die Länder miteinbeziehen.                                    auch in neuen, interdisziplinären Modellverbünden auf Dauer
                                                              sichergestellt werden. In einem ersten Schritt sollen für die
3. Verbesserung der Warnsysteme im Bevölkerungs-              Klima- und Klimafolgenforschung 100 Millionen Euro zusätz-
schutz                                                        lich bereitgestellt werden. Die Forschungsprojekte sollen
In Katastrophenfällen ist eine frühzeitige und vielfältige    zum Ziel haben, die Ergebnisse der Modellierungen sobald
Kommunikation eines der entscheidenden Kriterien, um          wie möglich in die Hochwasserschutzplanungen und Katas-
Menschen zu schützen und Schäden zu verringern. Eine          trophenschutzpläne vor Ort einfließen zu lassen.
moderne Krisenkommunikation muss unterschiedliche
                                                              In Regionen mit einem hohen Risiko für Extremwetterereig-
Medienkanäle nutzen, um sicherzustellen, dass alle Be-
                                                              nisse, wie Hochwasser oder Tornados, können Freiwillige
völkerungsgruppen erreicht werden. Dazu gehört auch,
                                                              im Sinn des lokalen Selbstschutzes das Monitoring von
dass die Informationen verständlich aufbereitet sind und
                                                              Hochwassermeldungen und Unwetterwarnungen des DWD
klare Handlungsempfehlungen enthalten. Die Warnungen
                                                              als Teil der Feuerwehren oder Wasserwehren übernehmen,
müssen so gestaltet werden, dass sie besonders vulne-
                                                              um so frühzeitig mögliche Einsätze vorzubereiten. Spezielle
rable Gruppen, wie beispielsweise ältere Menschen oder
                                                              Wasserwehren, oft als Teil der Feuerwehren, werden in ei-
Personen mit Behinderungen, erreichen. Zusammen mit
                                                              nigen Regionen, u. a. in Thüringen und in Sachsen-Anhalt,
den Ländern wollen wir eine gesetzliche Grundlage für die
                                                              seit einiger Zeit erprobt. Wir regen an, deren Erfahrungen in
Schaffung eines Hilfe- und Evakuierungsregisters schaf-
                                                              einem länderweiten Modellprojekt aufzugreifen und als Teil
fen, mit dem im Katastrophenfall besonders hilfsbedürf-
                                                              des Hochwasserschutzes zu verstetigen.
tige Menschen schnell unterstützt oder gerettet werden
können.                                                       5. Ehrenamt im Katastrophenschutz stärken und
                                                              Spontanhelfende besser einbinden
Essenziell ist auch die Schaffung eines flächendeckenden
                                                              Die rund 1,8 Millionen ehrenamtlichen Mitglieder der Blau-
Netzes von verschiedenen und lageangepassten Kommu-
                                                              lichtorganisationen bilden mit ihrem freiwilligen Enga-
nikationskanälen, die von Sirenen über den Weckruf bis
                                                              gement das Rückgrat des Bevölkerungsschutzes und der
hin zu digitalen Plattformen, wie der Warnapp „NINA“,
                                                              Katastrophenhilfe und sind damit eine wichtige Säule der
für umfangreiche Hinweise reichen sowie eines Ausbaus
                                                              inneren Sicherheit in Deutschland. Damit sind mehr als 90
des Modularen Warnsystems (MoWas) des BBK. Zusätz-
                                                              % der Einsatzkräfte in diesem Bereich ehrenamtlich tätig.
lich zu den bestehenden Warnwegen braucht es ein robus-
                                                              Dieser wichtige Beitrag für unsere Gesellschaft braucht
tes und niedrigschwelliges System für Notfallnachrichten
                                                              mehr Anerkennung, die über die aktuelle Katastrophe hi-
durch Cell Broadcasting. In vielen Ländern, wie Griechen-
                                                              nausgeht.
land, Italien, Rumänien oder Israel, wird dieses System in
Katastrophenfällen erfolgreich genutzt. Mit Cell Broad-       Wir brauchen deshalb ein Ehrenamtskonzept für die Blau-
casting erreicht man alle Empfänger in einer Funkzelle –      lichtorganisationen, das das Ehrenamt fördert, Barrieren
man braucht nicht mal ein Smartphone dafür. Ein norma-        abbaut und Anerkennung ausdrückt. Um dem Nachwuchs-
les Handy reicht aus. Dazu braucht es auf Bundesebene         mangel bei den Hilfsorganisationen entgegenzuwirken,

                                                                            vhw FWS 1 / Januar–Februar 2022             13
Stadtentwicklung
         Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zukunftsfähig und krisenfest gestalten

müssen Werbemaßnahmen für ein Engagement auch durch           deren Angehörige brauchen in der Zeit der Krise psychoso-
den Bund mit unterstützt und neue Formen eines Mitei-         ziale Unterstützung. Auch die Hilfe für die Helfenden selbst
nanders von Ehrenamt und Teilzeithauptamt entwickelt          muss weiter gestärkt werden und darf auch nach dem Ende
werden. Zudem muss das Ehrenamt an Schulen und Hoch-          des Einsatzes nicht aus dem Blick geraten. Zusammen mit
schulen Bestandteil und Gegenstand des Unterrichts bzw.       den Ländern wollen wir eine flächendeckende gesetzliche
Bildungsangebots sein.                                        Regelungslage von Versorgungsansprüchen und Zustän-
                                                              digkeiten in der psychosozialen Notfallversorgung schaffen.
Zusammen mit den Ländern wollen wir die Regelungen
in den Katastrophen- und Brandschutzgesetzen der Län-         Die Koordinierungsstelle „NOAH“ zur Nachsorge, Opfer-
der dahingehend harmonisieren und ausbauen, dass die          und Angehörigenhilfe beim BBK wollen wir weiterent-
Sonderurlaube und Freistellungen von Freiwilligen (auch       wickeln und für Katastrophen besonderen Ausmaßes im
in Hilfsorganisationen) zum ehrenamtlichen Einsatz bun-       Inland nutzbar machen, die bisher nur für deutsche Staats-
desweit unbürokratisch, schnell und bei Lohnfortzahlung       angehörige bei Katastrophen im Ausland gelten. Dadurch
ermöglicht werden. Kein Ehrenamtlicher sollte das Enga-       können Menschen in Krisenlagen eine geschulte Beratung
gement für die Gesellschaft vor dem Arbeitgeber verste-       erfahren und kommunale Stellen entlastet werden.
cken müssen oder Nachteile erfahren. Ein Arbeitgeber, der
freiwilliges Engagement unterstützt, darf ebenfalls keine
Nachteile erfahren. Eine Rahmengesetzgebung zur Helfer-
freistellung und Erstattung sollte im Rahmen der Innenmi-
nisterkonferenz (IMK) erarbeitet werden.

Eine Anerkennung der ehrenamtlichen Arbeit kann auch
mit vielen kleinen, aber wertschätzenden Maßnahmen aus-
gedrückt werden. Eine bundesweit gültige Ehrenamtskarte
kann Vergünstigungen für öffentliche Einrichtungen vorse-
hen, oder im Ehrenamt erlernte Fähigkeiten können in Beruf,
Ausbildung oder Studium anerkannt werden. Ein wichtiger
Bestandteil der Wertschätzung ist zudem, dass Ausrüstung,
Ausstattung und Liegenschaften jederzeit auf dem neuesten
Stand sind. Den Sanierungsbedarf bei den Liegenschaften
des THW wollen wir entschieden angehen. Ehrenamtliches
                                                              Abb. 2: Einsatz im Katastrophengebiet (Foto: Thomas Dreifke/Feuerwehr
Engagement wollen wir auch auf digitale Bereiche ausweiten    Bocholt)
und z. B. ein Cyberhilfswerk einrichten.
                                                              7. Europäische Zusammenarbeit stärken und gemein-
Zudem möchten wir Spontanhelfende besser in die pro-
                                                              same Flugstaffel aufbauen
fessionellen Strukturen einbinden. Dafür braucht es eine
bundesweite Plattform, die Hilfe nach Bedarf und Fähig-       Katastrophen machen nicht an Ländergrenzen halt. Große
keit koordiniert. Ein solches „Bundes-Freiwilligen-Kontakt-   Schadenslagen können schnell mehrere Staaten betreffen
Zentrum“ bündelt dann sowohl personelle Ressourcen als        oder einzelne Länder überfordern. So auch im aktuellen
auch die Verfügbarkeit von Spezialmaschinen und ordnet        Fall, in dem Regionen in Belgien oder Österreich ebenfalls
diese regional zu, wo sie gebraucht werden. Dazu zählt        stark betroffen sind. Die Europäische Kommission hat aus
schweres Gerät, wie Traktoren von Landwirten, Baumaschi-      diesem Grund den Aufbau gemeinsamer europäischer Re-
nen von Unternehmen oder Fähigkeiten von Handwerkern          serven, der „rescEU“, initiiert, die zunächst von der Bun-
oder Gesundheitspersonal. In Großbritannien gibt es dies      desregierung ablehnend betrachtet wurden. Die europäi-
etwa mit den „Volunteer Reception Centres“ und einer App      schen Reserven halten unter anderem Löschflugzeuge zur
zur Koordination von Freiwilligen.                            Bekämpfung von Vegetationsbränden, Rettungshubschrau-
                                                              ber zur Notfallversorgung oder Hochleistungspumpen für
6. Notfallseelsorge stärken und den Helfenden helfen          Überschwemmungen vor. Die gegenseitige Unterstützung
Bei Katastrophen mit vielen Opfern kommt es nicht nur auf     im Katastrophenfall ist nicht nur gelebte Solidarität inner-
deren medizinische Versorgung, sondern auch auf die psy-      halb der europäischen Wertegemeinschaft, sondern ist am
chosoziale und seelsorgerische Krisenintervention an. Die     Ende auch für die Mitgliedsstaaten günstiger, als wenn je-
Notfallseelsorge muss durch eine bessere Koordinierung        des Land eigene und umfassende Spezialressourcen vor-
ihrer Einsätze vor Ort gestärkt werden. Auch hier müssen      hält. Die Reserve bildet vor allem die Möglichkeit, bei be-
die Helfenden für die Zeit des Einsatzes flächendeckend       sonders schweren Schadenslagen die betroffenen Staaten
vom Beruf freigestellt werden. Aber nicht nur die Opfer und   bestmöglich zu unterstützen.

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Stadtentwicklung
                                  Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zukunftsfähig und krisenfest gestalten

Wir wollen, dass der europäische Katastrophenschutzme-         Schutzkonzepte für Gefahrenlagen und gefährdete Regio-
chanismus und die europäische Reserve „rescEU“ weiter          nen zu erstellen. Zudem sollte das BBK niedrigschwellig
ausgebaut werden und Deutschland eine aktive Rolle bei         Informationen und Bildungsangebote für Bürgerinnen und
der Weiterentwicklung einnimmt sowie zusätzliche Res-          Bürger zu Prävention und Verhalten während einer Gefah-
sourcen einbringt. Wir wollen außerdem, dass die länder-       renlage bereitstellen.
übergreifende Zusammenarbeit durch Übungen verschie-
dener Nationen gestärkt wird.                                  10. Notfallreserven stärken
                                                               Wir brauchen eine stärkere Notfallbevorratung von Gütern,
8. Technik und Fähigkeiten den veränderten Lagen an-           die in der Krise knapp sind und gebraucht werden. Die CO-
passen                                                         VID-19-Krise hat uns auf dramatische Weise gezeigt, dass
Die Zunahme an Extremwettereignissen bedarf einer An-          Schutzausrüstung nicht in ausreichendem Maße vorhanden
passung der Technik und Fähigkeiten des Katstrophen-           war. Der Bund hat inzwischen auf diese Situation reagiert und
schutzes. Im besonderen Maße stellen die Starkregenereig-      die für den Verteidigungsfall vorgesehene Sanitätsmittelbe-
nisse sowie die Dürreperioden und Hitzewellen eine Gefahr      vorratung um entsprechende Komponenten erweitert sowie
dar, die fortlaufende Anpassungen des Katastrophenschut-       eine Nationale Reserve Gesundheitsschutz auf den Weg ge-
zes erfordern. Die in den vergangenen Jahren angestoße-        bracht. Eine umfassende Vorhaltung von Reserven kennen
nen Investitionen des Bundes in das THW sowie in die er-       wir in Deutschland aktuell vor allem aus dem Bereich der
gänzende Ausstattung des Katastrophenschutzes müssen           Versorgung mit Lebensmitteln, die im Rahmen des Ernäh-
fortgeschrieben und angepasst werden. Dazu gehört ins-         rungssicherstellungs- und Vorsorgegesetzes geregelt ist.
besondere eine Stärkung der Luftrettung in Verantwortung
                                                               Außerdem müssen die Kapazitäten zur medizinischen Ver-
des Bundes sowie die Beschaffung von Löschflugzeugen
                                                               sorgung, Notunterbringung und Verpflegung von Menschen
oder entsprechenden Hubschraubern. Darüber hinaus
                                                               weiter ausgebaut werden. Dazu wollen wir ein Gesundheits-
müssen mehr geländefähige und wasserführende Fahrzeu-
                                                               versorgungssicherstellungsgesetz auf den Weg bringen, das
ge beschafft werden. Die Notfallversorgung mit Trinkwas-
                                                               in einer Krise die stationäre und ambulante Gesundheitsver-
ser, Funkmasten und Strom muss ausgebaut werden. Die
                                                               sorgung sowie die Versorgung mit Medizinprodukten, Medi-
Veränderung der Katastrophenszenarien bedarf neben der
                                                               kamenten und Schutzausrüstung sicherstellt, analog zu an-
veränderten Ausstattung auch eine angepasste Ausbildung
                                                               deren elementaren Versorgungsgütern, wie Lebensmitteln.
der haupt- und ehrenamtlichen Kräfte.
                                                               Darüber hinaus ist systematisch zu prüfen, für welche Güter
9. Stärkere Betrachtung von Krisenszenarien und
                                                               eine Notfallbevorratung notwendig ist oder ob andere Vor-
Durchführung von ressort- und ebenenübergreifenden
                                                               sorgemaßnahmen getroffen werden müssen, um in groß-
Übungen
                                                               flächigen oder langanhaltenden Katastrophenlagen eine
Die Herausforderungen im Katastrophenschutz unterliegen        Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Dabei muss
einer ständigen Veränderung, dennoch lassen sich Trends        sichergestellt werden, dass die strategischen Reserven und
erkennen, und potenzielle Risiken sind bekannt. Das BBK        Bevorratungen in der Krise unter verschiedenen Szenarien
erstellt jährliche Risikoanalysen, die bisher wenig Einfluss   auch dort verfügbar sind, wo sie benötigt werden.
auf die praktische Arbeit in den Ländern und Kommunen
finden. Auf der anderen Seite sind die operativen Fähigkei-
                                                                                 Annalena Baerbock MdB
ten in den Kommunen kaum auf Landes- und Bundesebene
                                                                                 Bundesministerin des Auswärtigen,
bekannt. Zuletzt gibt es wenige gemeinsame Übungen, die                          Bundesvorsitzende von
alle Ebenen umfassen. Die länder- und ressortübergrei-                           BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Berlin
fende Krisenmanagementübung (LÜKEX) bildet zwar einen
großen Mehrwert für die Betrachtung möglicher Szenarien
und Abläufe, der operative Mehrwert ist aufgrund der Kon-
zeption als Übung der aufgerufenen Krisenstäbe, ohne ope-                        Dr. Irene Mihalic MdB
                                                                                 Erste Parlamentarische Geschäftsführerin
rative Einheiten, jedoch gering.
                                                                                 der Bundestagsfraktion
Wir wollen, dass gemeinsame und ressortübergreifen-                              BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Berlin
de sowie risikobasierte Übungen von Bund, Ländern und
Kommunen regelmäßig stattfinden und Erkenntnisse aus
den Übungen implementiert werden. Dazu gehört ggf. auch
eine Stärkung der Krisenzentren und Leitstellen von Bund,
Ländern und Kommunen. Ein Transfer von Wissen und Ri-
sikobewertungen muss zwischen den Ebenen gefördert und
ausgebaut werden. Auf dieser Grundlage sind ebenfalls

                                                                             vhw FWS 1 / Januar–Februar 2022                15
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