Bewerbungsunterstützung erhöht die Kita-Inanspruchnahme von Kindern aus bildungsferneren Familien
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FORSCHUNGSERGEBNISSE Henning Hermes, Philipp Lergetporer, Frauke Peter, Simon Wiederhold, Vera Freundl und Olivia Wirth* Bewerbungsunterstützung erhöht die Kita-Inanspruchnahme von Kindern aus bildungsferneren Familien Eine Vielzahl bildungsökonomischer Studien zeigt, IN KÜRZE dass sich frühkindliche Betreuungsangebote in Kin- dertageseinrichtungen (Kitas) positiv auf die Entwick- lung von Kindern und deren spätere Bildungs- und Kinder aus bildungsferneren Familien profitieren besonders Arbeitsmarktchancen auswirken (vgl. Currie und Al- stark vom Besuch einer Kindertageseinrichtung (Kita), besu- mond 2011; Fryer et al. 2020). Vor allem Kinder aus chen diese aber deutlich seltener. Wir untersuchen, ob Infor- bildungsferneren Familien profitieren von der Kita-In- mationen und Unterstützungsmaßnahmen für Familien bei anspruchnahme, weshalb Kitas einen wichtigen Bei- trag zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit leisten der Bewerbung um einen Kitaplatz die sozioökonomische Un- können (vgl. Currie 2001; Schütz et al. 2008; Björklund gleichheit in der Kita-Inanspruchnahme verringern kann. In und Salvanes 2011). Allerdings sind Kinder aus Fami- der hier betrachteten Studie mit über 600 Familien mit Kin- lien mit geringerem Bildungsniveau in Kitas oftmals dern unter drei Jahren erhalten zufällig ausgewählte Eltern unterrepräsentiert: In Deutschland beispielsweise be- Informationen und ein personalisiertes Unterstützungsangebot suchen Kinder unter drei Jahren aus bildungsferneren für ihre Kita-Bewerbung. Diese Maßnahme erhöht die Bewer- Familien deutlich seltener eine Kita als gleichaltrige Kinder aus bildungsnäheren Familien – und das trotz bungsquote und die Kita-Inanspruchnahme von bildungsfer- öffentlicher Förderung von Kitaplätzen und einem neren Familien deutlich. Auf bildungsnähere Familien hat die Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung für Kinder ab Maßnahme hingegen keine Auswirkungen, wodurch sie die so- der Vollendung des ersten Lebensjahres (Jessen et zioökonomische Ungleichheit im Kita-Besuch stark reduziert. al. 2020).1 Unsere Befunde legen nahe, dass bildungsfernere Familien Eine mögliche Erklärung für diese sozioökono- aufgrund fehlender Informationen bzw. einer zu hohen Kom- mischen Unterschiede in der Kita-Inanspruchnahme sind Barrieren, mit denen sich insbesondere Eltern plexität des Kita-Bewerbungsprozesses oftmals nicht dazu in mit geringerem Bildungsniveau im Bewerbungsver- der Lage sind, die von ihnen gewünschten frühkindlichen Be- fahren um einen Kitaplatz konfrontiert sehen. Der treuungsangebote auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Kita-Markt in Deutschland ist durch Platzknappheit, dezentrale Entscheidungsprozesse und undurchsich- tige Priorisierungskriterien gekennzeichnet. Um einen Kitaplatz zu erhalten, müssen sich Eltern frühzeitig und einhalten. Vor allem Eltern aus bildungsferne- informieren, die notwendigen Formulare ausfüllen ren Schichten stellt die Komplexität des Kita-Bewer- und eine Reihe von Deadlines (z.B. Bewerbungs- bungsprozesses vor besondere Herausforderungen: schluss oder Tage der offenen Tür) im Blick haben Ihnen fehlen häufiger wichtige Informationen über das Bewerbungsverfahren und das nötige Know- * Dr. Henning Hermes ist Assistant Professor am FAIR Center of how, um den Bewerbungsprozess erfolgreich zu Excellence der Norwegian School of Economics (NHH) Bergen. Prof. Philipp Lergetporer ist Assistant Professor an der Technischen meistern. Universität München School of Management, Fakultät für Wirt- Vor diesem Hintergrund untersuchen Henning schaftswissenschaften, und Forschungsprofessor am ifo Institut München. Dr. Frauke Peter ist stellvertretende Abteilungsleiterin der Hermes, NHH Bergen, Philipp Lergetporer, Techni- Abteilung »Bildungsverläufe und Beschäftigung« des DZHW Hanno- sche Universität München und ifo Institut, Frauke ver. Prof. Simon Wiederhold ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insb. Makroökonomik, an der Katholischen Universität (KU) Eich- Peter, DZHW Hannover, und Simon Wiederhold, KU stätt-Ingolstadt und Forschungsprofessor am ifo Institut München. Eichstätt-Ingolstadt, in einem groß angelegten Feld Vera Freundl ist Fachreferentin am Zentrum für Bildungsökonomik des ifo Instituts München. Olivia Wirth ist Studentin der Volkswirt- experiment, ob die Bereitstellung von relevanten schaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Informationen zum Kita-Bewerbungsprozess sowie Details zu den hier berichteten Untersuchungen und Ergebnissen finden sich in Hermes et al. (2021). Wir danken der Jacobs Stiftung ein personalisiertes Unterstützungsangebot für die für finanzielle Unterstützung des Projekts. Kita-Bewerbung die sozioökonomische Ungleichheit 1 Jessen et al. (2020) kategorisieren das Bildungsniveau von Famili- en danach, ob die Eltern das Abitur haben oder nicht. Die Autoren in der Kita-Inanspruchnahme reduzieren kann. Der der hier berichteten Studie folgen dieser Einteilung. vorliegende Beitrag fasst die Studienergebnisse zu- ifo Schnelldienst 9 / 2021 74. Jahrgang 15. September 2021 41
FORSCHUNGSERGEBNISSE sammen (Hermes et al. 2021 für eine detaillierte Dar- Gründe dafür sein, dass in Deutschland trotz deut- stellung des Forschungsprojekts). licher Übernachfrage Kitaplätze unbesetzt bleiben: In einer Umfrage mit mehr als 400 Kitaleiter*innen, HINTERGRUND: FRÜHKINDLICHE BETREUUNG die von Hermes et al. (2021) durchgeführt wurde, IN DEUTSCHLAND gibt mehr als die Hälfte an, dass in ihrer Einrichtung mindestens ein Platz nicht besetzt ist. Mehr als ein In Deutschland hat jedes Kind ab dem Alter von ei- Drittel sagt sogar, dass mehr als fünf Plätze nicht nem Jahr einen Rechtsanspruch auf eine Kinderbe- besetzt sind. treuung (Kita oder Kindertagespflege). Dabei wird die Schließlich ist in Deutschland die Kita-Inan- Betreuung in einer Kita bei weitem nicht von allen spruchnahme stark vom familiären Hintergrund ab- in Anspruch genommen: Etwa ein Drittel der Kinder hängig: So zeigen etwa Jessen et al. (2020), dass Kin- unter drei Jahren wird in einer Kita betreut, wobei der von Eltern ohne Abitur eine um 14 Prozentpunkte die Betreuungsquote mit zunehmendem Alter stark geringere Wahrscheinlichkeit haben, eine Kita zu be- ansteigt (1% für Kinder unter einem Jahr, 29% für suchen, als Kinder von Eltern mit Abitur. Dieser Unter- Einjährige, 55% für Zweijährige) (Autorengruppe Bil- schied nach dem elterlichen Bildungsabschluss bleibt dungsberichterstattung 2020). Frühkindliche Betreu- auch dann bestehen, wenn man berücksichtigt, dass ung wird in hohem Maße öffentlich subventioniert. die Nachfrage von bildungsferneren Eltern nach Kin- Die öffentliche Hand übernimmt etwa drei Viertel der derbetreuung geringer ist. Die hier vorgestellte Studie Gesamtkosten, so dass Eltern im Durchschnitt etwa untersucht, inwieweit die Beseitigung von Barrieren 250 Euro pro Monat für einen Kitaplatz zahlen (Spiess bei der Kita-Bewerbung dabei hilft, die sozioökono- 2013; Felfe und Lalive 2018). Einkommensschwächere mischen Unterschiede in der Kita-Inanspruchnahme Familien haben in der Regel Anspruch auf Gebühren zu verringern. ermäßigung oder -befreiung. Die hier vorgestellte Studie wurde in zwei Groß- Im deutschlandweiten Durchschnitt übersteigt städten (Einwohnerzahl > 100 000) in Rheinland-Pfalz die Nachfrage nach Kitaplätzen das Angebot deut- durchgeführt. Der Anteil an Kindern in frühkindlicher lich: So wünschen sich im Durchschnitt 44% der El- Betreuung ist in Rheinland-Pfalz mit 31% vergleich- tern einen Betreuungsplatz, aber nur 31% der Kinder bar mit dem deutschlandweiten Durchschnitt (Auto- besuchen tatsächlich eine Kita (Jessen et al. 2020). rengruppe Bildungsberichterstattung, 2020), in den Aufgrund der dezentralen Organisation der Kinderbe- beiden betrachteten Städten ist er etwas geringer treuung unterscheidet sich die Platzvergabe je nach (20–30%). Beide Städte nutzen ein zentralisiertes Region, Trägerschaft (z.B. öffentlich, kirchlich oder Online-Bewerbungssystem, die Zulassungsentschei- privat) und sogar zwischen einzelnen Kitas. Oft gibt dungen werden jedoch eigenständig durch die Kitas es keine transparenten Priorisierungskriterien für die getroffen und nicht zwischen den Einrichtungen ko- Kitaplatz-Vergabe.2 Für Eltern stellt der Kita-Bewer- ordiniert. Die Kita-Betreuung ist in Rheinland-Pfalz bungsprozess eine große Herausforderung dar. Um für Kinder ab zwei Jahren kostenlos. Für Kinder unter bei der Platzvergabe erfolgreich zu sein, müssen sie zwei Jahren sind die Gebühren vergleichsweise gering sich frühzeitig bewerben, möglicherweise mehrere und hängen vom Einkommen, der Anzahl der Kinder Bewerbungen verschicken und den Überblick über im Haushalt und der Anzahl der gewünschten Betreu- verschiedene Fristen, Zulassungsentscheidungen und ungsstunden pro Woche ab. Wartelisten behalten. Der Prozess erfordert auch das Ausfüllen umfangreicher Formulare und das Einrei- DIE STUDIE chen zahlreicher Dokumente. Besonders für Eltern, denen es an Wissen, Zeit oder finanziellen Ressourcen Vor diesem Hintergrund untersuchen Hermes et al. mangelt, ist es häufig schwierig, sich in diesem Umfeld (2021), ob eine Maßnahme zum Abbau möglicher Bar- zurecht zu finden. rieren im Kita-Bewerbungsprozess die sozioökonomi- Mehrere Studien weisen darauf hin, dass das Ver- schen Unterschiede in der Kita-Inanspruchnahme ver- gabeverfahren für Kitaplätze ineffizient ist. Einerseits ringern kann. Dazu wurde eine Stichprobe von 607 Fa- stehen manche Familien trotz Rechtsanspruch jahre- milien mit Kindern unter einem Jahr im Rahmen eines lang auf Wartelisten, bevor sie einen Betreuungsplatz randomisierten Feldexperimentes untersucht (vgl. finden (Carlsson und Thomsen 2015). Andererseits Box »Methodik der Studie« für Details). Um die kau- erhalten Familien oftmals Platzangebote von meh- salen Effekte der Maßnahme auf Kita-Inanspruch- reren Einrichtungen, da die Aufnahmeentscheidun- nahme zu untersuchen, wurden die Familien zufällig gen zwischen den Kitas nicht koordiniert werden, in zwei Gruppen eingeteilt: eine »Treatmentgruppe« wodurch sich die Wartezeiten für andere Familien (320 Familien), und eine »Kontrollgruppe« (287 Fami- weiter verlängern (Fugger et al. 2017). Dies können lien). Die Familien in der Treatmentgruppe erhielten im Rahmen der Maßnahme Hilfe zum Abbau mög 2 Insofern es Kriterien gibt bzw. diese an die Eltern kommuniziert licher Barrieren bei der Kita-Bewerbung, die Fami- werden, umfassen sie häufig die Erwerbstätigkeit beider Elternteile, ob Eltern alleinerziehend sind oder ob Geschwisterkinder bereits lien in der Kontrollgruppe hingegen nicht. Durch die dieselbe Kita besuchen. zufällige Einteilung zeigt die Kontrollgruppe auf, wie 42 ifo Schnelldienst 9 / 2021 74. Jahrgang 15. 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FORSCHUNGSERGEBNISSE METHODIK DER STUDIE Die Stichprobe wurde aus der Grundgesamtheit aller video gezeigt und eine Karte mit Kontaktinformatio Familien mit Kindern im Alter von bis zu einem Jahr nen für das personalisierte Unterstützungsangebot basierend auf Einwohnermeldeamtsdaten gezogen. Im ausgehändigt. Familien in der Kontrollgruppe wurde Vorfeld erhielten alle Familien ein Einladungsschreiben hingegen kein Video gezeigt, und sie erhielten keine per Post, in dem angeboten wurde, an einem univer- Kontaktinformationen für die personalisierte Unter- sitären Forschungsprojekt teilzunehmen. Die Basiser- stützung. Die Ergebnisvariablen wurden im Rahmen hebung wurde in Form von persönlichen Interviews einer Folgebefragung nach neun Monaten (zwischen zwischen August und Oktober 2018 durchgeführt. Ins- Mai und Juli 2019) als Telefoninterviews durchgeführt. gesamt wurden 607 Familien für die Studie rekrutiert. Hierbei konnten mehr als 85% der Familien aus der Die zufällige Zuteilung der Familien in Treatment- und Basiserhebung wiederbefragt werden. Weiterführende Kontrollgruppe wurde unmittelbar nach der Basiser- Analysen zeigen, dass die zufällige Gruppenzuteilung hebung durchgeführt. keine Auswirkungen auf die Wiederbefragungswahr- Im Anschluss an die Basiserhebung wurde den scheinlichkeit hat. Familien in der Treatmentgruppe das Informations- sich die Kita-Inanspruchnahme in der Treatment- Ausfüllen und Einreichen von Anträgen oder die Erin- gruppe ohne unsere Maßnahme entwickelt hätte. nerung an wichtige Termine wie Bewerbungsfristen Die getestete Maßnahme besteht aus zwei Tei- oder Tage der offenen Tür bei den Kitas. Analog zum len: Informationsbereitstellung und personalisierte Informationsvideo wurden die Hilfskräfte angewie- Bewerbungsunterstützung. Um mögliche Wissens sen, die Eltern nicht von einer bestimmten Form der lücken zum Kita-Bewerbungsverfahren zu schließen, Kinderbetreuung zu überzeugen, sondern ihnen zu wurde den Eltern ein kurzes Informationsvideo gezeigt helfen, die von den Eltern gewünschte Betreuungs- (4 min). Das Video informierte darüber, dass alle El- form zu realisieren. tern in Deutschland einen Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz nach dem ersten Geburtstag ERGEBNISSE des Kindes haben, dass die frühkindliche Betreuung im untersuchten Bundesland für alle Kinder ab zwei Abbildung 1 zeigt die Ergebnisse der Studie. Die Wir- Jahren kostenlos ist, dass es für Kinder unter zwei kung der Maßnahme wird getrennt nach dem elterli- Jahren Gebührenermäßigungen (z. B. für einkommens- chen Bildungsniveau dargestellt. Familien, in denen schwache Familien) gibt und dass eine frühzeitige Be- der befragte Elternteil kein Abitur hat, werden als werbung bei mehreren Kitas die Chance erhöht, einen »bildungsfernere Familien« bezeichnet (42%), jene Kitaplatz zu bekommen.3 Das Ziel der Informationsbe- mit Abitur als »bildungsnähere Familien« (58%).4 Für reitstellung bestand darin, den Eltern die Suche nach bildungsfernere Familien zeigen sich große und sta- einem Betreuungsplatz zu erleichtern, und nicht, sie tistisch hochsignifikante Effekte der Unterstützungs- von einem bestimmten Betreuungsmodell zu überzeu- maßnahmen auf die Kita-Bewerbung und auf die tat- gen. Das Video betonte daher, dass die frühkindliche sächliche Kita-Inanspruchnahme. Neun Monate nach Betreuung in Kitas nur eine von mehreren Betreuungs- der Maßnahme ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich möglichkeiten ist und dass es allein die Entscheidung bildungsfernere Familien in der Treatmentgruppe um der Eltern ist, welche Möglichkeit sie wählen. Zudem einen Kitaplatz bewerben, um 21 Prozentpunkte hö- erhielten die Eltern das Angebot einer personalisierten her als jene von bildungsferneren Familien in der Kon- Bewerbungsunterstützung durch speziell geschulte trollgruppe (vgl. oberer dunkelblauer Balken). Auf die studentische Hilfskräfte, die die Familien bei der Kita- Bewerbungswahrscheinlichkeit von bildungsnäheren platzsuche und Bewerbung unterstützten. Dazu gehör- Familien haben die Unterstützungsmaßnahmen kei- ten beispielsweise die Beschaffung von Informationen nen Effekt (oberer hellblauer Balken). Damit nivelliert über Bewerbungsverfahren, die Unterstützung beim die Maßnahme fast den gesamten sozioökonomischen Unterschied bei der Kita-Bewerbung (oberer grauer 3 Tatsächlich zeigen bisherige Studien, dass Eltern fehlende Infor- Balken), der in der Kontrollgruppe zu beobachten ist. mationen über Bewerbungsverfahren und -fristen als ein wichtiges Hindernis bei der Kitaplatzsuche ansehen (Camehl et al. 2018; Stahl et al. 2018). Hermes et al. (2021) zeigen zudem, dass bildungsfernere 4 Eltern in Bezug auf zentrale Informationen deutliche Wissenslücken Unsere Ergebnisse bleiben auch dann erhalten, wenn wir »bil- aufweisen: Eltern ohne Abitur wissen im Vergleich zu Eltern mit Abi- dungsfernere« Familien so definieren, dass keiner der beiden Eltern- tur deutlich seltener, dass sie einen Rechtsanspruch auf Kinderbe- teile das Abitur hat. Auch bei umfassenderen Definitionen für den treuung haben, dass sie sich nicht bei der nächstgelegenen Kita an- sozioökonomischen Hintergrund, bei denen die Informationen zum melden müssen und dass für Kinder ab zwei Jahren im Studien-Bun- Bildungsabschluss mit Haushaltseinkommen und/oder Alleinerzie- desland keine Gebühren erhoben werden. hungsstatus kombiniert werden, erzielen wir sehr ähnliche Ergebnisse. ifo Schnelldienst 9 / 2021 74. Jahrgang 15. September 2021 43
FORSCHUNGSERGEBNISSE Abb. 1 also tatsächlich auf die Verringerung von Barrieren Effekte der Unterstützungsmaßnahmen auf Kita-Bewerbung und -Inanspruchnahme bei der Kita-Bewerbung zurückzuführen sein. Sozioökonomischer Unterschied bei Bewerbung fast vollständig geschlossen, bei Inanspruchnahme mehr als halbiert ZUSAMMENFASSUNG Sozioökonomischer Unterschied Maßnahmeneffekt für bildungsfernere Familien Kita-Bewerbung Maßnahmeneffekt für bildungsnähere Familien Die vorgestellte Studie von Hermes et al. (2021) unter- 22 sucht, ob die Bereitstellung von Informationen und ein 21 personalisiertes Unterstützungsangebot für Kita-Be- werbungen die Kita-Inanspruchnahme insbesondere Kita-Inanspruchnahme für bildungsfernere Familien erhöhen kann. Die Studie 28 zeigt, dass sich durch die Unterstützungsmaßnahmen 16 die Wahrscheinlichkeit für bildungsfernere Familien, –1 sich um einen Kitaplatz zu bewerben, um 21 Prozent- 0 10 20 30 punkte erhöht. Die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich Prozentpunkte Anmerkungen: Die Abbildung zeigt die Effekte der Unterstützungsmaßnahmen (»Maßnahmeneffekt«) auf Bewerbung einen Kitaplatz in Anspruch zu nehmen, steigt für um und Inanspruchnahme von Kitaplätzen zur frühkindlichen Betreuung. Um die Größe der Effekte zu veranschauli- bildungsfernere Familien um 16 Prozentpunkte. Das chen, ist jeweils auch die Differenz in der jeweiligen Variable zwischen bildungsferneren und bildungsnäheren Familien (»sozioökonomischer Unterschied«) in der nicht an den Maßnahmen teilnehmenden Kontrollgruppe angegeben. Bewerbungsverhalten und die Kita-Inanspruchnahme Quelle: Darstellung des ifo Instituts auf Basis von Hermes et al. (2021). © ifo Institut von bildungsnäheren Familien ändern sich durch die Unterstützungsmaßnahmen hingegen nicht. Dadurch wird der große sozioökonomische Unterschied in der Darüber hinaus erhöhen die Unterstützungsmaß- Nutzung frühkindlicher Betreuungsangebote, der in nahmen die Wahrscheinlichkeit von bildungsferneren der Kontrollgruppe beobachtet wird, erheblich ver- Familien, tatsächlich einen Kitaplatz in Anspruch zu ringert. Aus diesen Ergebnissen lässt sich schlussfol- nehmen, um 16 Prozentpunkte (unterer dunkelblauer gern, dass bildungsfernere Familien aufgrund fehlen- Balken). Der Maßnahmeneffekt ist für bildungsfer- der Informationen bzw. einer zu hohen Komplexität nere Familien mit anfänglich geringem Wissen über des Kita-Bewerbungsprozesses oftmals nicht dazu in frühkindliche Betreuung oder auch für jene mit Migra- der Lage sind, von ihnen gewünschte frühkindliche tionshintergrund besonders stark ausgeprägt. Ähn- Betreuungsangebote auch tatsächlich in Anspruch lich zum Bewerbungsverhalten haben die Unterstüt- zu nehmen. zungsmaßnahmen keine Auswirkung auf die Kita-Inan- Die diskutierten Barrieren bei der Kita-Bewerbung spruchnahme von bildungsnäheren Familien (unterer sind sicherlich nur einer von mehreren Faktoren, die hellblauer Balken). Zusammengenommen verringern die sozioökonomische Ungleichheit in der Kita-Inan- folglich die Unterstützungsmaßnahmen den sozioöko- spruchnahme erklären.5 Dies spiegelt sich auch darin nomischen Unterschied in der Kita-Inanspruchnahme wider, dass die Unterstützungsmaßnahmen den Un- um mehr als die Hälfte. terschied in der Kita-Bewerbung nach Bildungsstand Außerdem analysieren Hermes et al. (2021) mög- zwar vollständig beseitigen, nicht aber den Unter- liche Mechanismen, die die Effekte auf die Kita-Inan- schied in der Kita-Inanspruchnahme. Die Untersuchung spruchnahme erklären könnten. Die Unterstützungs- zusätzlicher Faktoren für die verbleibende frühkind- maßnahmen erhöhen nicht nur die Bewerbungswahr- liche Bildungsungleichheit ist also ein interessanter scheinlichkeit, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, Gegenstand zukünftiger Forschung. während des Bewerbungsverfahrens eine Kita vor Ort Aus politischer Sicht haben unsere Ergebnisse di- zu besuchen – ein wichtiger Faktor für den Erhalt ei- rekte Implikationen für die Gestaltung von Politikmaß- nes Betreuungsplatzes. Fast die Hälfte des Effektes nahmen, die Chancengleichheit in der Gesellschaft för- der Unterstützungsmaßnahmen auf die Kita-Inan- dern sollen. Unsere Studie lässt darauf schließen, dass spruchnahme kann auf diese beiden Veränderungen bildungsfernere Familien beispielsweise Schwierig- im Bewerbungsverhalten zurückgeführt werden. Die keiten haben, sich in komplexen, dezentralen Bewer- in der Treatmentgruppe dokumentierte Erhöhung des bungs- oder Antragsverfahren zurechtzufinden. Der Wissens über das Kita-Bewerbungsverfahren spielt Abbau von Barrieren durch die Vereinfachung solcher dagegen für die Erklärung des Effektes der Unter- Verfahren (z.B. durch Verringerung des bürokratischen stützungsmaßnahmen auf die Kita-Inanspruchnahme Aufwands, Zentralisierung des Zulassungssystems und keine entscheidende Rolle. Bereitstellung leicht verständlicher Informationen) Schließlich belegen die Daten auch, dass die Un- kann eine einfache, aber wirksame Strategie sein, um terstützungsmaßnahmen keinen Einfluss darauf ha- allen Familien gleichermaßen Zugang zu Politikmaß- ben, ab wann Eltern für ihr Kind eine Kinderbetreuung nahmen zu ermöglichen und damit die Persistenz von in Anspruch nehmen wollen oder wie viel sie bereit Ungleichheit zu verringern. wären, für einen Betreuungsplatz zu bezahlen. In Ein- klang mit dem Studienziel haben die Unterstützungs- 5 Weitere potenzielle Faktoren sind zum Beispiel sozioökonomische Unterschiede in der elterlichen Nachfrage nach Kinderbetreuung, maßnahmen also nicht die Betreuungswünsche der regionale Engpässe von Plätzen und Kinderbetreuungsgebühren Eltern beeinflusst. Die Maßnahmeneffekte dürften (Jessen et al. 2020). 44 ifo Schnelldienst 9 / 2021 74. Jahrgang 15. September 2021
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