Beziehungsbasierte Pflege und ressourcenorientierte Organisat - Karla Kämmer
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Beziehungsbasierte Pflege und ressourcenorientierte Organisati Organisation Karla Kämmer In kurzer Zeit hat uns der wachsende Fachpersonalmangel in der deutschen Pflegelandschaft in das „post-ganzheitliche Zeitalter“ katapultiert. Ganzheitliche Pflege bedeutete in der klassischen Auslegung: Die Leistungserbringung orientiert sich an den Bedürfnissen der einzelnen hilfebedürftigen Person. Die Leistungen sollen so wenig wie möglich in einzelne Arbeitsschritte zergliedert werden. Die Leistungen sollen durch eine kontinuierlich persönlich zuständige Pflegefachperson (Bezugspflegefachkraft) professionell gesteuert werden. Ganzheitliche Pflege soll als eine sinnvoll verbundene, rundum persönlich abgestimmte Leistung zu großen Teilen auch durch die Bezugspflegefachkraft und einen überschaubaren Kreis von Kollegen erfolgen. Das Angebot in Pflege und Begleitung soll durch die Bezugspflegefachkraft eigenverantwortlich evaluiert werden. Hier wird deutlich, dass dieses System die Pflegefachperson als Bezugspflegeperson mit hoher Verantwortung und persönlicher Zuständigkeit stark in den Mittelpunkt stellte. Sie war die Drehscheibe des gesamten Prozesses. Gerade in der deutschen Altenpflege hat sich aus dieser Philosophie ein Allee-Aus-Einer-Hand-Anspruch entwickelt, der viele Fachkräfte gerade im Bereich der Prozessgestaltung überforderte und die Pflegeassistenten (Pflegehelfer(innen), Altenpflegehelfer(innen) und Krankenpflegehelfer(innen) in die Rolle der rein ausführenden Umsetzer im Bereich direkter Pflege und Hauswirtschaft brachte. Ging man in den ersten zwanzig Jahren der Umsetzung des 6-Schritte-Pflegemodells nach Fiechter/Meier (1998) noch davon aus, dass das Erlernen dieser zentralen Verantwortung in Planung, Dienstleistungsgestaltung und -durchführung eine Frage von Weiterbildung und Training sei, mehren sich in den letzten Jahren vor dem Hintergrund der deutlicher werdenden Überforderungssituation der Fachkräfte kritische Fragen: Stellt die Konzentration der gesamten Verantwortung für Erfassung, Konzeptionierung, Umsetzung und Evaluation des Pflegeprozesses auf eine dreijährig qualifizierte Person nicht eine Überforderung für viele dar? Ist der Anspruch an einen einzelnen Menschen, einen anderen „umfassend“ wahrzunehmen, wirklich einzulösen und – genauer betrachtet – auch ein wenig größenwahnsinnig? Ist die Kompetenzstruktur der Fachpersonen in der Altenpflege so gestaltet, dass jede Pflegefachperson in der Lage ist, den heutigen hoch komplexen Anforderungen in Versorgung, Planung und Dokumentation so gerecht zu werden, dass ausreichend Finanz- und Prüfsicherheit gegeben ist?
Die Erfahrungen der letzten Jahre lassen hier Zweifel aufkommen, dabei ist eins klar: Die Kompetenzverteilung in den nachfolgende Fachkraftgenerationen wird sich in Zukunft weiter verschlechtern. Primary Nursing und beziehungsbasierte Pflege Als Alternative wird zurzeit das aus dem Klinikbereich bekannte Primary Nursing (Primäre Pflege) nach Marie Manthey (2005) diskutiert. Primary Nursing trägt jedoch insbesondere der für die Begleitung Demenzbetroffener vorrangig wichtigen personalen Kontinuität in der direkten, körperlichen Leistungserbringung (insbesondere in den intimen Handlungen rund um die Körperpflege) und der Wahrung von personalen Ritualen zu wenig Rechnung (vgl. Person 2011: 141). Zudem beschränkt es sich auf den Aspekt der Pflege. Für die Weiterentwicklung der Pflege alter Menschen ist es erforderlich, ein Modell zu finden, dass Beziehungskontinuität, Alltag, fachliche Beobachtung und direkte Pflegeleistungen auf hohem Niveau insbesondere durch beruflich entsprechend sozialisierte Pflegeassistent(inn)en absichert und somit den Anforderungen der hilfebedürftigen Person nach Kontinuität in der direkten Pflege entspricht. Gleichzeitig sollen die geringen Ressourcen an Fachpersonal gezielt für a) Pflegediagnostik, Planung und Evaluation von Pflegeprozessen und -leistung und b) für gefahrengeneigte Tätigkeiten sowie Leistungen der Arztassistenz (Behandlungspflege) eingesetzt werden. Außerdem soll das neue Modell der Interdisziplinarität der Pflege alter Menschen Rechnung tragen, indem es alle Professionen im Sinne des Klienten/der Klientin verknüpft. Beziehungsbasierte Pflege Mit dem im Jahr 2011 von Mary Koloroutis veröffentlichten Modell der „Beziehungsbasierten Pflege“ (RBC = Relationship Based Care) liegt eine intelligente Kombinationsmöglichkeit von Anforderungen, Ressourcen und Rahmenbedingungen vor, die eine Differenzierung des personenorientierten Pflegesystems in sinnvoller arbeitsteiliger Kooperation zwischen Pflegefachpersonen und Pflegeassistent(inn)en darstellt. In der beziehungsbasierten Pflege stehen die Person des hilfe- und pflegebedürftigen Menschen und die Beziehung zu ihr im Mittelpunkt der gesamten Organisation. Unterschied zwischen Primary Nursing und RBC: Während Primary Nursing sich auf die Pflege bezieht, ist RBC eine Organisationsform, die den gesamten Dienstleistungsprozess des Hauses einbezieht. Alle Prozesse sämtlicher Bereiche werden aus der Perspektive der hilfebedürftigen Person betrachtet. RBC erfordert ein Umdenken aller, während PN sich auf die Pflegeteams beschränkt.
Beziehungsbasierte Pflege als Modell Unter beziehungsbasierter Pflege wird eine Haltung und ein Herangehen an Pflege verstanden, die der Gestaltung der Beziehung und dem Einlassen auf die Lebenswelt der individuellen Person des pflegebedürftigen Menschen und ihrer Umwelt/Mitwelt einen hohen Wert beimessen (vgl. Kämmer 2007). Sie beinhaltet nach Manthey (2005) und nach Koloroutis (vgl. 2011: 21) drei grundlegende Beziehungen: - die Beziehung der Pflegenden zur hilfebedürftigen Person, - die Beziehung der Pflegenden zu sich selbst und - die Beziehung zu den Kolleg(inn)en. Die Beziehung zur hilfebedürftigen Person stellt diese und ihr familiäres Umfeld in das Zentrum der Aufmerksamkeit, beziehungsbasierte Pflege ist geprägt durch einen Haltung des Verstehens, des unerschütterlichen Respekts und der Übernahme der persönlichen Sorge (vgl. Felgen 2011: 41 ff.,45, 47) Die Beziehung der Pflegenden zu sich selbst gründet auf Selbsterkenntnis und Selbstpflege. Selbsterkenntnis ist eine Bedingung für emotionale Reife, für gesunde Interpretation von Beziehungen und die Fähigkeit zur Empathie (vgl. Goleman 1995 zit. n. Kolouritis 2011: 22 ).. "Effektive Selbstpflege bedeutet, dass der Einzelne über die Fähigkeit verfügt, mit den eigenen Schwierigkeiten fertig zu werden, seine persönlichen Bedürfnisse und Wertvorstellungen zu artikulieren und die Anforderungen der Arbeit mit seinem physischen und emotionalen Wohlbefinden und seiner Gesundheit in Einklang zu bringen“ (Koloroutis 2011:22). Die dritte Beziehung ist die zu den anderen Mitgliedern des Teams. Sie setzt gelingende Kooperation und Kommunikation voraus. Das heißt, die Entwicklung einer Umwelt “in der es für alle Mitarbeitenden zum Standard gehört, den besonderen Zuständigkeitsbereich und den Beitrag jedes einzelnen Kollegen zu respektieren, zu stärken und in gegenseitiger Abhängigkeit einen gemeinsamen Zweck zu verfolgen. Hierzu gehört auch, sich dafür verantwortlich zu fühlen, eine Kultur des Lernens, der gegenseitigen Unterstützung und des kreativen Problemlösens zu schaffen“ (Koloroutis 2011: 23). Beim Modell der beziehungsbasierten Pflege steht der hilfe- und pflegebedürftige Mensch im Mittelpunkt und wird von zwei Seiten her umsorgt: - Relationship Based Care (eine auf Beziehung ausgerichtete Umsorge) - Caring and Healing Environments (eine Umgebung, die auf Fürsorge und Heil- Werden ausgerichtet ist) Während auf der individuellen Ebene die Beziehung zur hilfebedürftigen Person zentraler Punkt guter Pflege ist, stellt auf organisatorischer Ebene die „heilende und sorgende Umgebung“ – d. h. eine Umgebung, in der ein Mensch sich wohl, unterstützt und gefördert fühlt, in der ein Umgang mit Würde und Respekt gepflegt wird – eine Voraussetzung für Wohlbefinden und eine gute Lebensqualität dar.
Um die hilfe- und pflegebedürftige Person in diesem Sinne im Alltag zu begleiten, ist Arbeit an folgenden Aspekten erforderlich: 1. Führung 2. Teamarbeit 3. Ressourcengeleitete Organisation und Praxis 4. Versorgungsmodell 5. Ergebnisse 1. Führung Führungskräfte in RBC-Organisationen richten ihre Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden. Wenn die Mitarbeitenden sich von ihren Vorgesetzten „gesehen“ fühlen, können sie dieses „Caring“ auch an die pflegebedürftigen Personen weitergeben. Von den Führungskräften wird erwartet, dass - sie Herausforderungen angehen und die Überzeugung vertreten, schwierige Situationen meistern zu können, - sie das Wissen und die Erfahrungen ihrer Mitarbeitenden wertschätzen und über die Fähigkeit verfügen, sich in deren Lage zu versetzen, - sie im Gespräch mit Mitarbeitenden emotional präsent sein können sowie aufmerksam zuhören ohne zu urteilen, - Hilfe und Unterstützung bereitstellen, um „die Dinge“ anzugehen, - Entwicklung ermöglichen und für transparente Kommunikation sorgen. Ein klares Verständnis von und professioneller Umgang mit Verantwortung, Autorität und Rechenschaftspflicht sind für Führungskräfte essenzielle Voraussetzung. 2. Teamarbeit Die Umsetzung der beziehungsbasierten Pflege ermöglicht eine weiterführende Reflexion von Verantwortung, Autorität und Rechenschaft sowie einen neu zu definierenden Mix von Dezentralität und Zentralität in der Dienstleistungserbringung. Insbesondere wird durch den Fachkräftemangel eine neue Arbeitsteilung von Pflegefachpersonen und Assistenten notwendig. Während sich die Fachpersonen so weit wie möglich auf ihre professionellen Kernaufgaben konzentrieren, übernehmen die Assistenten weitgehende Handlungsbereiche in Krankenbeobachtung, Beziehungs- und Alltagsgestaltung und Organisation. Das setzt gelingende Teamarbeit sowie Kooperation in klarer Verantwortungsstruktur und auf Augenhöhe voraus. Es ist wichtig, dass gegenseitiger Respekt herrscht. Von zentraler Bedeutung für eine gelungene Zusammenarbeit sind: - Vertrauen, - gegenseitige Unterstützung sowie - eine zielgerichtete, offene und differenzierte Kommunikation zwischen Fachpersonen und Helfern auf Augenhöhe unter Berücksichtigung der fachlichen und persönlichen Kompetenzen. 3. Ressourcengeleitete Organisation und Praxis Autonomie und Handlungsspielräume bezüglich des Arbeitsinhaltes sind die wichtigsten Grundlagen für Arbeitszufriedenheit. Insbesondere spielen hier nach Palm (2012: 51)
Erfolgserlebnisse, Anerkennung für die geleistete Arbeit, die Arbeit selbst und eine passende Verantwortungsstruktur eine große Rolle. In der Pflegepraxis sind unterschiedliche Anforderungen auszufüllen, die durch Teamstruktur und Kompetenzverteilung sinnvoll miteinander abgestimmt werden: • Beobachten (z. B. von Veränderungen Gesundheitszustand) • Reflektieren und Denken (z. B. über das Wohlbefinden der Bewohnerin/des Bewohners) • Begleiten (in der Lebenswelt, im Alltag) • Diagnostizieren, Planen, Überwachen und Evaluieren (Pflegeprozess und - steuerung) • Therapieren‚ Unterstützen des Heil-Werdens einer Person (im Sinne von Akzeptieren und Bewältigen des Gesundheitszustandes) • Zusammenarbeiten (innerhalb der Profession und mit anderen) • Lehren (Anleiten und Unterweisen) • Leiten (Schichten, Dienste und Arbeitsgruppen) Diese Anforderungen gilt es durch optimale Arbeitsplanung und durch das Zuschneiden geeigneter Zuständigkeitsbereiche optimal zu bewältigen, der gezielte Einsatz von Expertenwissen im Sinne von Patricia Benner (s. Kap. Kompetenzkompass) kann hilfreich sein. Ressourcengeleitete Praxis Eine ressourcengeleitete Praxis setzt Prioritäten (Was ist für den Einzelnen und seine Familie am wichtigsten?) und berücksichtigt den Bedarf aller Bewohner(innen) (vgl. Koloroutis 2011:156 ff.). Es findet eine Haltungsänderung statt von „Ich nehme mir Zeit“ zu „Ich bin da“ für die betroffene Person und zu einer gemeinsamen Bestimmung der zentralen Aspekte von Pflege. "In dieser neuen Ära muss unsere Haltung in einer gegenseitigen Annäherung bestehen, bei der jeder Einzelne sich für das finanzielle Management verantwortlich fühlt" (ebenda:164). Ziel ist hierbei für alle Beteiligten, die eingeübten, passiven Opferrollen zugunsten eines ressourcenorientierten Denkens aufzugeben. Statt „Ich benötige mehr Hilfe, damit ich den Patienten gut pflegen kann. Meine Leitung sollte sich darum kümmern, dass ich hier anständig arbeiten kann“ heißt es im ressourcenorientiertes Denken: „Ich werde die Bedürfnisse der Bewohner(innen) einschätzen und abwägen, was unbedingt notwendig ist und was ggf. an einem anderen Tag oder u. U. gar nicht erledigt werden muss.“ Sowohl kritisches als auch kreatives Denken ist gefragt. Die Reflexion der eigenen Rolle ist sehr bedeutsam. Hierfür muss eine kontinuierliche Form der Selbstreflexion gefunden werden. Es gilt die unterschiedlichsten Ressourcen zu überprüfen: Finanzen, Zusammensetzung des Teams (Kompetenzmix), Arbeitszeitsysteme, Stellenplanung, Veränderung von pflegerischem Denken und Handeln. RBC fördert vier Schlüsselgedanken: Die Pflegefachperson akzeptiert, dass sie die Verantwortung hat, wie die zur Verfügung stehende Zeit mit der einzelnen hilfebedürftigen Person gestaltet wird. Das sinnvolle Delegieren von Aufgaben ist erforderlich und über organisatorische "Leitplanken" zu regeln.
ihre persönliche Sorgeverantwortung für den/die Bewohner(in) bestehen bleibt, solange diese Person lebt. wenn mehr Arbeit als Pflegepersonal vorhanden ist, der Ruf nach mehr Pflegepersonal nicht immer angebracht ist. Wenn mehr Arbeit zu erledigen ist als Zeit zur Verfügung steht, hat die Pflegefachperson die Verantwortung und Autorität zu entscheiden, was nicht getan wird. die Entscheidung über die Ressourcenverteilung aus der Wahrnehmung und dem Verständnis für die dringendsten Bedürfnisse der jeweiligen Bewohner(innen) getroffen werden muss. Diese Bedürfnisse sind mit den Betroffenen zu besprechen. Praxistipp: Verabschieden Sie sich von der Vorstellung, dass jede Ihrer Pflegefachpersonen den Herausforderungen an ein modernes Pflegesystem gewachsen ist. Setzen Sie Ihre Spitzenleute in die Verantwortung, nutzen Sie bei den anderen Mitarbeitenden deren individuellen Stärken und überfordern diese nicht.
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