Bitte keinen Rentenwahlkampf! - Der Chefökonom - 30. April 2021 - Handelsblatt

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Bitte keinen Rentenwahlkampf! - Der Chefökonom - 30. April 2021 - Handelsblatt
Der Chefökonom – 30. April 2021

Bitte keinen Rentenwahlkampf!
Die nächste Regierung bewegt sich im Spannungsfeld aus Zukunftsgestaltung und
Vergangenheitsbewältigung. Die Herausforderungen sind immens, doch das Geld ist
knapp.
von Professor Bert Rürup

Die Hälfte der im Herbst Wahlberechtigten wird 54 Jahre oder älter sein. Für Annalena Baerbock, Armin Laschet und
Olaf Scholz ist es daher verlockend, mit Wahlversprechen für die Älteren oder zumindest mit Zusagen, von
Belastungen für die älteren Generationen abzusehen, punkten zu wollen. So jugendlich wie die Grünen-Kandidatin
Baerbock sich gibt, so schwer wird es für ihre Partei, allein mit den jüngeren Wählern und mit Zukunftsthemen die
Wahl zu gewinnen.

Dass Klimaschutz ein zentrales Thema ist, werden vermutlich viele Wähler bejahen, doch die Einsicht, dass sie dafür in
irgendeiner Form werden bezahlen müssen, dürfte weit weniger verbreitet sein. Die Präferenzen einer so schnell
alternden Gesellschaft wie der deutschen dürften vor allem darauf gerichtet sein, das Erreichte zu bewahren. Denn für
viele Menschen ist die eigene Rente die Zukunft. Daher sind Digitalisierungsdefizite und Skepsis gegenüber neuen
Techniken ebenso wenig ein Zufall wie der in die Jahre gekommene öffentliche Kapitalstock und das abnehmende
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Trendwachstum. Zwei Zahlen sagen viel: Das Sozialbudget des Staates beläuft sich auf gut eine Billion Euro pro Jahr;
die Künstliche-Intelligenz-Forschung wird bis 2025 mit fünf Milliarden Euro unterstützt.

Das zurückliegende Jahrzehnt war durch eine demografische Pause gekennzeichnet. Zudem fanden die beiden
Bundestagswahlen 2013 und 2017 in Zeiten eines kräftigen Aufschwungs statt, der die Steuer- und Beitragseinnahmen
sprudeln ließ. So konnten Union und SPD der Versuchung nicht widerstehen, neue Sozialleistungen zugunsten ihrer
vermuteten Klientel zu versprechen - und zu realisieren. Wichtige, den Standort voranbringende Programme wurden
aufgeschoben; Wachstumspolitik stand acht Jahre nicht auf der Agenda.

Und unabhängig davon, wer ab Herbst anstelle von Angela Merkel auf dem Chefsessel im Kanzleramt sitzen wird, eins
wird sie oder er dort nicht vorfinden: finanzielle Reserven. Die Erträge des Aufschwungs sind verbraucht, und die
Corona-Rezession hat die Reserven aufgezehrt. Die Staatshilfen zur Abfederung der wirtschaftlichen Corona-Schäden
ließen die Verschuldung sprunghaft steigen - was den Spielraum für neue, nicht kreditfinanzierte Staatsausgaben
begrenzt.

Bezogen auf die Rente bedeutet dies: Wer die Leistungen stabil halten oder gar verbessern will, der muss entweder die
Beiträge oder das Renteneintrittsalter anheben - oder den Zuschuss des Bundes noch weiter erhöhen und damit die
bislang hochgehaltene Beitragsbezogenheit des Systems noch mehr infrage stellen. Nicht ohne Grund mahnte Ex-
Verfassungsrichter Udo Di Fabio im "FAZ"-Interview: "Die Rentenausgaben des Bundes sind schon ein gewaltiger
Posten, der durch die demografischen Bedingungen sicher nicht kleiner werden wird. Je mehr Steuergeld hier
hineinfließt, desto mehr Menschen werden den Sinn von Sozialversicherungen hinterfragen, die ein tragender Baustein
der Sozialen Marktwirtschaft sind."

Nun kann mit Ausnahme der AfD keine Partei sicher sein, ab Herbst nicht doch Regierungsverantwortung übernehmen
zu müssen. Alle potenziellen Regierungsparteien wären daher gut beraten, nicht mit neuen Rentenversprechen in den
Wahlkampf zu ziehen. Bei Licht betrachtet, müsste jedem klar sein, dass angesichts des irreversiblen und
wachstumsfeindlichen Alterungsschubs höhere Rentenleistungen gesamtwirtschaftlich sehr problematisch wären. Wer
dennoch vor der Wahl so etwas verspricht, wird nach der gewonnenen Wahl umso eher Versprechen brechen müssen -
so wie dies Gerhard Schröder musste, als er den 1998 von Norbert Blüm in die Rentenformel eingebauten
demografischen Faktor erst aussetzte, dann strich, um ihn später durch die Riester-Treppe und den
Nachhaltigkeitsfaktor zu ersetzen.

Bei den Parteien links der Mitte ist es populär, eine Ausweitung des Versichertenkreises der gesetzlichen
Rentenversicherung zu fordern. Aus Gründen der Gleichbehandlung wäre dies richtig. Zudem käme so frisches Geld ins
Rentensystem, mit dem zunächst verbesserte Leistungen finanziert werden könnten. Unstrittig ist aber auch, dass diesen
zusätzlichen Beitragsgeldern künftige Leistungsansprüche gegenüberstehen. Hinzu kommt, dass die neuen Mitglieder -
Beamte, Freiberufler und Unternehmer - im Schnitt länger leben als die derzeit Versicherten.

Die Rentenversicherung müsste also viele versicherungstechnisch schlechte Risiken aufnehmen. Das würde langfristig
zu einer Umverteilung vom gegenwärtigen Versichertenkollektiv zu den Neumitgliedern führen. Im Interesse der
Gleichbehandlung würde die Nachhaltigkeit der Finanzierung der Rentenversicherung also eher geschwächt als
gestärkt. Außerdem würde die Abwickelung der bisherigen Systeme immense Kosten verursachen.

Rentenreformen sind stets mit Umverteilung verbunden. Ein wirklich großer Wurf ist angesichts der Wählerdemografie
ungemein schwierig. Daher ist die Politik gut beraten, sich auf das Machbare zu konzentrieren und von Zeit zu Zeit die
Stellschrauben des Systems zu justieren, um sie an geänderte Rahmenbedingungen anzupassen. Nach dem absehbaren

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Ende der derzeitigen Koalition hat die neue Regierung zudem die Chance, eine klare rentenpolitische Fehlentscheidung
und eine überhastete Entscheidung zu korrigieren.

Bis zum Jahr 2008 folgten die Renten - um ein Jahr versetzt - der Lohnentwicklung. Dann wurden auf Drängen des
damaligen Sozialministers Olaf Scholz Rentenkürzungen im Falle sinkender Löhne ausgeschlossen. Entfallene
Rentenkürzungen mussten jedoch durch verringerte Rentenerhöhungen in den Folgejahren nachgeholt werden.
Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit und ohne parlamentarische Diskussion wurde 2018 dieser Nachholfaktor
ausgesetzt. Dies bewirkt, dass die Renten zum 1. Juli 2021 trotz des Rückgangs der Pro-Kopf-Löhne im Vorjahr nicht
gekürzt werden und diese ausfallende Kürzung auch nicht nachgeholt wird. Die Corona-Rezession führt mithin zu
einem dauerhaft höheren Rentenniveau.

Auf zwei schwierige Dekaden vorbereiten

Zudem sollte die Grundrente überarbeitet werden. Die Grundidee ist zwar richtig und Praxis in vielen OECD-Staaten.
Die nach zähen Verhandlungen gefundene Lösung ist aber verwaltungstechnisch aufwendig und wenig zielgenau. Denn
derzeit ist es nicht möglich, bei der Rentenfestsetzung festzustellen, ob geringe Ansprüche nach einer langen
Versicherungsbiografie das Ergebnis einer Vollzeitbeschäftigung im Niedriglohnbereich oder einer gut bezahlten
Teilzeitbeschäftigung sind. Soll die gesetzliche Rente Altersarmut von langjährig Versicherten zielgenau verhindern,
wird man nicht umhinkommen, bei der Rentenfestsetzung neben der Beschäftigungsdauer das hinter dem Arbeitsentgelt
stehende Arbeitsvolumen zu berücksichtigen.

Die nächste Regierung darf die Augen nicht vor den demografischen Wahrheiten verschließen. Grund zu Resignation
oder gar Panik besteht nicht. Gleichwohl gilt es, Deutschland und seinen Sozialstaat auf die kommenden, sehr
schwierigen zwei Dekaden vorzubereiten. Allein darauf zu hoffen, dass wie 2009 einer tiefen Krise ein
gesamtwirtschaftlich goldenes Jahrzehnt folgen könnte, wäre fehl am Platze. Die kommenden Regierungen werden aller
Voraussicht nach weder von massiven Zinssenkungen noch von hoher qualifizierter Zuwanderung aus der EU
profitieren. Wachstum bleibt aus, Deutschland ergraut.

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