BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG

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BULLETIN
                               DER
                         BUNDESREGIERUNG
                             Nr. 84-2 vom 12. Juni 2021

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

bei der Verleihung des Theodor-Wolff-Preises
am 9. Juni 2021 in Berlin:

Niemand von Ihnen, das weiß ich natürlich, tut seine Arbeit, um eines Tages dafür
einen Preis zu bekommen. Im Gegenteil glaube ich, dass gerade diejenigen Stücke,
die für den Theodor-Wolff-Preis vorgeschlagen und dann letztlich ausgezeichnet wer­
den, gerade aus einem selbstverständlichen journalistischen Ethos heraus geschrie­
ben werden.

Wer so arbeitet wie diejenigen, die in den vergangenen Jahren mit diesem Preis aus­
gezeichnet wurden, und die, die heute Kandidaten sind, der hat nicht zuerst sich selbst
oder sein Ansehen bei Kolleginnen und Kollegen im Kopf, sondern ist leidenschaftlich
an der Sache interessiert, an der Wahrheit und an der Relevanz einer Sache, auch an
der öffentlichen Diskussion darüber – und vor allem und jeden Tag neu an den Lese­
rinnen und Lesern.

Ich danke heute, noch bevor gleich Lob und Preis Einzelne von Ihnen ereilt, ganz be­
wusst allen Journalistinnen und Journalisten in unserem Land – allen, die mit dieser
ethischen Einstellung und mit dieser Leidenschaft und auch Lust an der Sache ihrer
Arbeit nachgehen.

Der Theodor-Wolff-Preis wird von der gesamten Branche vergeben, und man kann ihn
nur einmal bekommen. Der Preis erinnert an einen der besten deutschen Journalisten,
einen begnadeten Redakteur und einen entschiedenen Republikaner und Demokra­
ten. Einer, der die oft beengenden Zustände im Kaiserreich noch gut kennengelernt
hatte und der im Ersten Weltkrieg schon früh und mutig für einen Verständigungsfrie­
den mit Frankreich eingetreten ist. Und der dann mit aller Kraft dafür arbeitete, dass
Bulletin Nr. 84-2 vom 12. Juni 2021 / Bpräs. – zur Verleihung des Theodor-Wolff-Preises, Berlin

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die junge deutsche Republik mit ihren demokratischen Freiheiten in einer europäi­
schen Friedensordnung von ihren Bürgerinnen und Bürgern auch angenommen und
geschätzt werden konnte. Hätte man ihm, der dann von den Nazis vertrieben und aus­
gebürgert wurde, vorgeworfen, für eine sogenannte Systempresse zu arbeiten, so
wäre ihm das nicht als unrühmlich, sondern vermutlich eher als Ehrentitel erschienen.
Denn dieses sogenannte System: Es sind Freiheit, Recht, Demokratie, Menschlichkeit.
Theodor Wolff und sein Werk verpflichten uns.

Das Wichtigste, das der kritische Qualitätsjournalismus erhalten und stärken muss, ist
Vertrauen der Leserinnen und Leser; ist Vertrauen in die Wahrheit des Geschriebenen,
ist Vertrauen in die Integrität und die Unbestechlichkeit der Schreibenden, ist Ver­
trauen in die unparteiische Vollständigkeit des Berichteten und Vertrauen in die gewis­
senhafte, kritische Prüfung der Sachverhalte.

Und vielleicht auch das Vertrauen darauf, dass es sich bei den Berichtsgegenständen
nicht um zufällige Lieblingsthemen des Autors oder einen momentanen Hype handelt.
Dass es vielmehr um Geschichten, Personen, Prozesse geht, die für das politische
und gesellschaftliche Zusammenleben oder für das persönliche Leben der Leserinnen
und Leser wichtig sind.

Das gilt besonders für den Lokaljournalismus. Das möglicherweise eher kleinteilige
Puzzle von schwierig zu bekommenden Informationen in Stadtteil und Kommune, erst
recht während des Lockdowns und der Kontaktbeschränkungen, ist per se keine leich­
tere Aufgabe als der analytische Blick des Korrespondenten auf die große Geopolitik
in Washington oder Peking – keine leichtere Aufgabe und vor allem keine unwichti­
gere! Und dazu kommt: In der Unmittelbarkeit des Lokaljournalismus ist es für die Le­
ser selbst viel leichter, zwischen wahr und falsch, zwischen genau und ungenau zu
unterscheiden.

Guter Journalismus gibt Orientierung. Oder richtiger: Er schafft die Voraussetzungen
dafür, dass der Einzelne und die Gesellschaft sich orientieren können. Dazu braucht
es nicht in erster Linie entschiedene Meinungen. Meinungen bilden sich die Menschen
gerne selber – auch wenn sie gelegentlich gerne wissen möchten, wie erfahrene Be­
obachter dieses oder jenes einschätzen und bewerten. Die besondere Verantwortung,
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die mit solchen Meinungsstücken verbunden ist, von denen ganz zu Recht auch ein
herausragendes Beispiel heute ausgezeichnet wird, versteht sich von selbst.

Meistens aber wollen die Menschen in erster Linie kritisch geprüfte, verständlich dar­
gestellte Tatsachen: Transparenz im Unübersichtlichen, Entdeckung von verborgenen
Zusammenhängen. Und dazu brauchen Sie, die Journalistinnen und Journalisten, ei­
nen möglichst gerechten, möglichst erfahrenen und dennoch immer neugierigen Blick
auf die Wirklichkeit. Auf die Wirklichkeit, wie sie die Mehrheit erlebt, und auf die Wirk­
lichkeit, wie sie von Minderheiten erlebt wird.

Wenn der alte Spruch wahr ist, dass die Themen auf der Straße liegen, dann müssen
Journalistinnen und Journalisten auch tatsächlich auf die Straße gehen, um die The­
men dort zu finden. Twitter & Co. sind keine Straßen des echten Lebens. Sie sind eher
die Highways der Empörung.

Um nur ein Beispiel aus diesem aufgerauten Pandemiejahr zu nennen: In der Debatte
um #Allesdichtmachen, deren Beiträge ich hier im Einzelnen weder politisch noch äs­
thetisch kommentieren will, hatte ich den Eindruck, die Wellen aus Empörung und Ge­
genempörung schwappten sehr viel schneller und lautstärker durch die Republik, als
dass eine nüchterne Antwort auf die doch nahe liegende Frage gesucht wurde: Wer
hat da eigentlich was genau und warum gesagt? Erst Berichterstattung, dann Meinung
– diese Reihenfolge in Erinnerung zu bringen, dafür wäre ich nicht nur als Präsident,
sondern auch als Leser sehr dankbar.

Mehr als noch vor wenigen Jahren sind wir, das erleben Sie alle sehr viel stärker als
viele im Lande, nicht nur einer Überfülle von Informationen ausgesetzt, sondern immer
stärker ganz bewussten Fehlinformationen, gezielt gestreuten Lügen und Falschmel­
dungen. So können Einzelne manipuliert und inzwischen ganze Gemeinwesen desta­
bilisiert werden. Wir haben es in der jüngeren Vergangenheit erlebt – etwa bei dem
gezielten Versuch, bestimmte Impfstoffe schlechtzureden oder Ängste in einem Publi­
kum zu wecken, das selber keine Überprüfungsmöglichkeit hat –, und wir sind von den
Sicherheitsbehörden gewarnt vor dem, was etwa im Zusammenhang mit der kommen­
den Bundestagswahl an gezielten Versuchen zur Beeinflussung auf uns zukommen
kann. Wenn ausländische Geheimdienste mit gefälschter Identität und brutalen Lügen
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immer wieder versuchen, anderswo einen Onlinewahlkampf zu führen, müssen wir of­
fenkundig auf der Hut sein. Wir brauchen größtmögliche Transparenz: Wer steckt hin­
ter einem Post? Ein automatisierter Bot, eine gekaufte Influencermeinung oder eine
unabhängige Bürgerstimme?

Natürlich tragen die digitalen Plattformen in dieser Frage eine entscheidend große Ver­
antwortung. Eine Verantwortung, der sie bis jetzt noch nicht wirklich gerecht werden.
Doch auch jede Kontrolle, Filterung, Regulierung funktioniert nicht ohne das einzig
wirkliche Gegenmittel: die kritisch geprüfte Darstellung der Wirklichkeit und von Infor­
mationen, von denen die Menschen wissen, dass sie ihnen vertrauen können.

Vertrauen – das wissen Verlegerinnen und Verleger – ist schwer zu gewinnen, aber
leicht zu verspielen. Umso mehr in einer Pandemie, in der das, was als wahr gilt, nie­
mals unumstößlich feststeht, sondern um das Woche für Woche immer wieder neu
gerungen wird – durch wissenschaftliche Diskussion, durch Hypothesen und Gegen­
hypothesen, durch Testreihen und Praxiserfahrungen. Auch „die“ Wissenschaft kann
– zur Enttäuschung vieler – die Sehnsucht nach Eindeutigkeit auch in der Krise nicht
erfüllen. Und ich danke allen Journalistinnen und Journalisten, die dieser Sehnsucht
nach Eindeutigkeit nicht nachgeben, so viele Klicks das auch bringen würde.

Am Ende geht es für die Menschen immer um die gleiche Frage: Können wir dem, was
uns gesagt wird, glauben? Das ist die große Verantwortung, in der jede seriöse jour­
nalistische Arbeit steht, und ich bin froh um die vielen von Ihnen, die Journalistinnen
und Journalisten, Verlegerinnen und Verleger, die sich dieser Verantwortung mit Stolz
und Ehrgeiz stellen.

Ein letzter Gedanke: Buchstaben sind gefährlich, Wörter können verletzen, können
vernichten. Der Filmklassiker „All the President‘s Men“ über die Aufdeckung von Wa­
tergate beginnt mit dem Tippen auf einer Schreibmaschine. Die Buchstaben sieht und
hört man förmlich wie Schüsse aufs Papier knallen.

Diese erste Einstellung des Films erinnert daran, vielleicht etwas martialisch, wie ge­
fährlich aufklärender, gut recherchierter Journalismus für diejenigen werden kann, die
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verantwortlich sind für größtes Unrecht und das verbergen, auch für diejenigen an al­
lerhöchster Stelle. Heute aber erfahren wir eine andere Seite der Gefahr: Journalisten
sind selber gefährdet. Und zwar nicht nur in Diktaturen oder autoritären Systemen,
sondern auch in liberalen, demokratischen Gesellschaften. Ein Artikel, eine Sendung,
ein Podcast kann nicht nur einen bösen, ja vernichtenden Shitstorm nach sich ziehen,
er kann bis zur konkreten persönlichen Verfolgung und Bedrohung, einschließlich der
Familie, führen. Ein Vor-Ort-Bericht bei einer sogenannten Querdenkerdemonstration
kann für den Berichtenden, auch das ist geschehen, im Krankenhaus enden. Das sind
unerträgliche, durch nichts zu rechtfertigende Zustände in einer Demokratie!

Ich bin mir jedenfalls sehr bewusst, welchem Risiko sich viele von Ihnen aussetzen,
und ich will mich, auch im Namen der Leserinnen und Leser, der Hörer und Zuschauer,
bei Ihnen allen bedanken. Bei Ihnen, die das aufbringen, was man in einer freiheitli­
chen Demokratie für korrekte journalistische Arbeit eigentlich gar nicht aufbringen
müssen sollte: Mut und Unerschrockenheit, die Wahrheit herauszufinden und bei der
Wahrheit zu bleiben.

Aber Sie alle haben dafür nicht nur Dank verdient, sondern einen Staat, der Ihre Arbeit
schützt, und eine Gesellschaft, die Ihre Arbeit schätzt. Und nicht zuletzt haben Sie alle
Chefredakteure, Herausgeberinnen und Verleger verdient, die zu Ihnen stehen. Die
dann, im Ernstfall, zu Ihnen das sagen, was Ben Bradlee von der Washington Post im
Fall von Woodward und Bernstein damals ganz knapp auf einen Zettel schrieb: „We
stand by our story“, „Wir stehen zu unserer Geschichte.“

Weil man Ihnen vertrauen kann. Vielen Dank.

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