BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG - Nr. 131-5 vom 18. Oktober 2022

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BULLETIN
                               DER
                         BUNDESREGIERUNG
                          Nr. 131-5 vom 18. Oktober 2022

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier
zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse
am 18. Oktober 2022 in Frankfurt am Main:

Die Macht und die Kraft des Buches, die große Bedeutung der Schrift, der formulierten
Gedanken, die buchstäblich weltbewegenden Möglichkeiten, die in aufgeschriebenen
Erfahrungen stecken, in Erzählungen und Beschreibungen, in Dramen und Gedichten,
die Debatten und Diskussionen, die kritische Essays, politische Analysen, philosophi­
sche Erörterungen auslösen können – wo wird all das deutlicher als auf einer Buch­
messe?

Ohne Zweifel: Die Frankfurter Buchmesse ist ein bedeutendes kulturelles, aber auch
soziales und politisches Ereignis, ohne das unser Land, unsere Kulturnation Deutsch­
land im Grunde kaum zu denken ist.

Aber diese Buchmesse ist nicht nur ein Ereignis für unser eigenes Land. Sie strahlt
weit darüber hinaus und hat sich in den vielen Jahrzehnten einen großen internationa­
len Ruf erworben. Hier finden auch nicht nur bedeutende Geschäfte statt, werden Li­
zenzen vereinbart und Verträge abgeschlossen. Hier treffen sich vor allem Autoren,
Verleger und Agenten, aber auch Leser und Journalisten aus allen Sprachen und allen
Kulturen. Hier werden internationale Beziehungen geknüpft, und wer öfter hier ist, der
weiß: auf eine sehr persönliche, individuelle Art und Weise.

Für die Besucherinnen und Besucher der Frankfurter Buchmesse sind Worte wie
„Weltliteratur“ oder „Begegnung der Kulturen“ oder „interkulturelle Debatten“ keine
abstrakten Begriffe, sondern persönlich erlebte Wirklichkeit. Verbunden hier in Frank­
furt mit einzelnen Namen und Geschichten.
Bulletin Nr. 131-5 v. 18. Okt. 2022 / Bpräs. – zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, Frankfurt a.M.

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In jedem Jahr stellt sich auf der Buchmesse ein Gastland mit seiner Literatur beson­
ders vor. Das ist keine Nebensächlichkeit, nicht bloß höfliche Zierde. Viele deutsche
Leserinnen und Leser, aber natürlich auch Verlage und Vermittler sind eben jedes Jahr
sehr neugierig auf die Entdeckungen, die man gerade dadurch hier machen kann.

In diesem Jahr nun ist Spanien das Gastland. Und wer weiß, was sich daraus für neue
Entdeckungen, für neue Erfolge oder Überraschungen entwickeln? Ich ahne, dass mit
einem solchen Auftritt auf der Buchmesse immer große Hoffnungen und Erwartungen
verbunden sind. Eines kann ich all unseren Gästen aus Spanien auf jeden Fall versi­
chern, weil das die Erfahrung lehrt: Das deutsche Publikum ist gespannt, das Leseland
Deutschland ist auf die Erfahrungen neugierig, die spanische Autorinnen und Autoren
in ihren Büchern vermitteln.

Wie sieht die Welt in Spanien aus, wie ist die soziale und politische, die kulturelle und
geistige Stimmung, die Gemütslage, welche Lebensformen werden probiert, welche
Reflexionen auf Individuen und Gesellschaft sind in Spanien gerade lebendig? Und,
das ist eine andere, nicht weniger interessante Frage: Wie wird die Welt, wie werden
die globalen und internationalen Fragen von Spanien aus gesehen? Welche Sichtwei­
sen auf die Welt, von Spanien aus betrachtet, können uns bereichern, können uns und
unseren eigenen Blick auf die Welt in Frage stellen, uns eine neue Sichtweise ermög­
lichen?

Dass sich der Beginn der Buchmesse mit dem Staatsbesuch von König Felipe und
Königin Letizia verbindet, zeigt die Bedeutung der Buchmesse als internationale kul­
turelle Plattform. Was hier geschieht, was man hier sehen und hören kann, was hier
an Begegnung und Austausch geschieht, das hat eine so große Bedeutung, dass Ihre
Majestäten uns die Ehre geben und heute dabei sind. Und dafür danken wir alle ihnen
sehr!

Mit Spanien als Gastland haben wir einerseits die reichhaltige spanische Kultur selbst
zu Gast, wo neben dem kastilischen Spanisch auch großartige und selbstbewusste
katalanische, baskische und galicische Literatur geschrieben wird. Aber auch die welt­
weite spanischsprachige Literatur rückt für uns neu in den Blick. Gerade viele süd- und
Bulletin Nr. 131-5 v. 18. Okt. 2022 / Bpräs. – zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, Frankfurt a.M.

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mittelamerikanische Autorinnen und Autoren haben ja bei uns in Deutschland auch
schon eine große und treue Lesegemeinde gefunden.

Spätestens seit Cervantes vor weit mehr als vierhundert Jahren der Welt seinen Don
Quijote geschenkt hat, dieses klassische Meisterwerk, das bis heute seine Leser fas­
ziniert, findet die spanische Literatur auf der ganzen Welt Beachtung. Ich werde jetzt
keine weiteren großen Namen aus der ruhmreichen Vergangenheit aufzählen, son­
dern, wie es sich für die Aktualität einer gegenwärtigen Messe gehört, direkt in die
Gegenwart springen.

Ich freue mich, dass ich gerade die Gelegenheit hatte, mit den beiden Autoren zu spre­
chen, die gleich hier für ihre Literatur das Wort ergreifen werden: Irene Vallejo und
Antonio Muñoz Molina. Bei Irene Vallejo fügt es sich besonders gut, dass sie ein fas­
zinierendes, bis jetzt schon sehr erfolgreiches Buch über die Bedeutung des Buches
und gleichzeitig eine Liebeserklärung an die Bibliotheken geschrieben hat. Auf
Deutsch heißt es „Papyrus: Die Geschichte der Welt in Büchern“.

Es beginnt mit der Bibliothek von Alexandrien, dem Weltwunder des Weltwissens, von
der wir, da sie komplett zerstört wurde, nur noch aus Erzählungen und Berichten und
eben jetzt aus dem Buch von Irene Vallejo wissen. Die Bücher flüstern einander in
einem ewigen Dialog zu, wie in der berühmten Szene in der Berliner Staatsbibliothek
aus Wim Wenders‘ Film „Der Himmel über Berlin“. Sie, die Bücher, bewahren und be­
schützen das große Wissen von allem, wie es auch der auf Spanisch schreibende,
unendlich gelehrte Autor und Bibliothekar Jorge Luis Borges immer wieder gezeigt hat.
Seine Erzählung „Die Bibliothek von Babel“, schreibt Irene Vallejo, „führt uns in eine
wundersame Bücherwelt, das vollständige Labyrinth der Träume und Wörter.“ Und er
wiederum, Jorge Luis Borges, war das Vorbild für den blinden Bibliothekar Jorge von
Burgos in Umberto Ecos „Der Name der Rose“. Eine Bibliothek, so lernen wir dort
allerdings, kann nicht nur der Ort unendlichen Wissens sein, sondern manchmal auch
ein Ort für Mord und Niedertracht und Unterdrückung von Wissen.

Ja, es sind gewiss die Bücher, die uns die Welt beschreiben, die uns die Welt erklären,
die uns die Welt verständlich werden lassen. Und es sind die Bücher, die uns die Welt
und ihren jeweiligen Zustand kritisch sehen lassen, die uns dialog- und diskutierfähig
Bulletin Nr. 131-5 v. 18. Okt. 2022 / Bpräs. – zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, Frankfurt a.M.

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machen, die uns den immer großen Unterschied deutlich machen zwischen der Welt,
wie sie ist – und der Welt, wie sie sein könnte oder sein sollte.

Aber wir wissen: Bücher befördern nicht immer nur das Gute. Es ist nicht immer so,
wie ein optimistisches Motto der diesjährigen Messe verkündet: „Worte verbinden Wel­
ten.“ Es gibt schlimme und verlogene Bücher, es gibt zum Bösen, zur Feindschaft, zur
Unmenschlichkeit verführende Schriften. Kein Krieg, das erleben wir ja auch jetzt wie­
der, ohne Pamphlete, ohne selbstrechtfertigende Reden, ohne Kampfschriften und lei­
der auch nicht ohne hasserfüllte Bücher und Artikel.

Und ganz bewusst möchte ich an dieser Stelle einfügen: Die Zerstörung von Bibliothe­
ken, von Verlagen, die schweren Folgen, die der Krieg für das gesamte Buch- und
Verlagswesen in der Ukraine hat, das darf uns nicht nur empören, sondern muss uns
alle zur Hilfe und Unterstützung motivieren. Ich bin mir sicher: Auch hier auf der Buch­
messe werden sich unter den Ausstellern nicht wenige finden, denen die Hilfe für den
Wiederaufbau von Buch- und Verlagswesen in der Ukraine selbstverständlich ist. Ich
danke Ihnen allen, die dazu bereit sind, schon jetzt. Diese materielle Hilfe, die dort
dringend gebraucht wird, ist in einem sehr tiefen Sinn auch ein Dienst an der Wahrheit:
ein Akt im Kampf gegen die mörderische Lüge und im Kampf für die Aufklärung.

Auch der Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan, dem am Sonntag in der Paulskirche
der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wird, hat seit der
Besetzung der Krim im Jahre 2014 auf bewundernswerte Weise soziales und kulturel­
les Engagement in der Ostukraine vorgelebt und dies mit Beginn des brutalen russi­
schen Angriffskrieges noch einmal verstärkt, auch unter großen persönlichen Risiken.
Von hier aus sage ich ihm dafür meinen Dank und meinen herzlichen Glückwunsch
zum Friedenspreis!

Ohne Bücher gibt es keine Aufklärung. Die Geschichte der großen europäischen Bib­
liotheken ist untrennbar mit der Geschichte der Aufklärung verknüpft. Gerade vor ei­
nem halben Jahr war ich in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, einer der
bedeutendsten deutschen Bibliotheken, die 450 Jahre alt wurde. Einer ihrer Bibliothe­
kare war der große Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing.
Bulletin Nr. 131-5 v. 18. Okt. 2022 / Bpräs. – zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, Frankfurt a.M.

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Der Philosoph Hans Blumenberg hat einen seiner geistesgeschichtlichen Problemkri­
mis „Die Lesbarkeit der Welt“ genannt. Dieser wunderbare Titel beschreibt auch die
eigentliche Verheißung der Bibliotheken, ja eigentlich jedes guten Buches: dass die
Welt nämlich „lesbar“ ist, dass sie verständlich und erklärbar, dass sie der Vernunft
zugänglich ist. Die Bücher sind nicht bloß eine Metapher für diese „Lesbarkeit der Welt“
– sie sind das unverzichtbare Mittel genau dafür, die Welt, unser Leben, unsere Ge­
sellschaft, kurzum: uns selbst verstehen zu können.

Niemand kann alle Bücher in ihrer jeweiligen Sprache lesen. Darum ist die Arbeit der
Übersetzerinnen und Übersetzer so unersetzlich. Ich freue mich deswegen, dass die
diesjährige Buchmesse auf das Übersetzen, auf seine große Kunst und sein Handwerk
auf eine besondere Weise aufmerksam macht durch das eigens eingerichtete Interna­
tionale Zentrum für Übersetzung. Einen herzlichen Dank an alle Übersetzerinnen und
Übersetzer!

Das mehrdeutige Motto, unter dem diese Aktion steht, kann für den Geist der Buch­
messe insgesamt stehen: „Translate. Transfer. Transform“. Indem wir nämlich über­
setzen, transferieren wir andere Gedanken, andere Lebensweisen, andere Reflektio­
nen in unser eigenes Denken und in unser eigenes Leben. Und so geschieht immer
wieder Veränderung.

Ich wünsche uns und Ihnen allen, dass die Frankfurter Buchmesse 2022 ein Lichtblick
ist in verdunkelter Gegenwart. Und ich freue mich auf den Stapel neuer spanischer
Literatur, der in meinem Wintergarten angewachsen ist, auf das Knistern beim Um­
schlagen der ersten Seiten eines neuen Buches, auf das Eintauchen in die Welt des
antiken Alexandria, das gemeinsame Warten auf Cecilia, auf den Flug mit Aramburus
Mauersegler und auf so vieles mehr.

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