BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG - Nr. 21-2 vom 17. Februar 2023

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BULLETIN
                               DER
                         BUNDESREGIERUNG
                           Nr. 21-2 vom 17. Februar 2023

Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz

zur Münchner Sicherheitskonferenz
am 17. Februar 2023 in München:

Sehr geehrter Herr Botschafter Heusgen,
meine Damen und Herren,

ich denke, ich spreche uns allen aus dem Herzen, wenn ich nach dieser Rede von
Präsident Selensky zunächst in Richtung Kiew antworte: Lieber Wolodymyr, wir hätten
dich heute sehr gern in unserer Mitte gehabt, denn die Ukraine gehört hierher, an un­
sere Seite, in ein freies, vereintes Europa. Aber wir verstehen, wo dein Platz ist – in
diesem Tagen sein muss –: in Kiew, im unermüdlichen Einsatz für dein Land. Dafür
wünschen wir dir von hier aus München weiter viel Kraft und Zuversicht!

Ich darf die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten hier sehr herzlich willkommen hei­
ßen. Herzlichen Dank, dass Sie heute bei uns sind – wieder einmal, kann ich hinzufü­
gen! Es ist für uns eine Ehre, dass Sie hier sind, und zwar gemeinsam mit so vielen
Kollegen aus dem amerikanischen Senat, dem Repräsentantenhaus und der amerika­
nischen Regierung. Ihnen allen ein herzliches Willkommen hier in München!

Ihnen, lieber Herr Ischinger, war es immer ein Anliegen, dass hier in München nicht
nur Reden gehalten werden, sondern dass miteinander geredet wird. Und ich weiß,
auch Ihnen, lieber Herr Heusgen, ist das sehr wichtig. Deshalb will ich mich auf einige
Thesen beschränken, sozusagen als Kick-off für unsere Diskussion.
Bulletin Nr. 21-2 vom 17. Februar 2023 / BK – zur Münchner Sicherheitskonferenz, München

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Erstens: Putins Revisionismus wird nicht siegen. Im Gegenteil: Die Ukraine ist geeinter
denn je. Die Europäische Union steht geschlossen zusammen – und hinter einer zu­
künftigen EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Die Nato wächst um zwei neue Mitglieder.

Zugleich haben tausende junge Russen Putins Krieg mit ihrem Leben bezahlen müs­
sen. Viele weitere haben dem Land den Rücken gekehrt.

Unter großen Opfern und mit absolut beeindruckender Entschlossenheit verteidigen
die Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Freiheit. Und wir unterstützen sie dabei, so um­
fangreich und so lange wie nötig.

Allein Deutschlands Hilfe für die Ukraine belief sich im vergangenen Jahr auf über 12
Milliarden Euro. Wir haben mehr als eine Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen
mit vollem Zugang zu unserem Arbeitsmarkt, unseren Schulen, unseren Universitäten.
Wir liefern hochmoderne Waffen, Munition und andere militärische Güter, mehr als
jedes andere Land in Kontinentaleuropa. Das entspricht nicht nur den – wohlgemerkt:
berechtigten – Erwartungen unserer Partner und Verbündeten. Wir übernehmen damit
auch die Verantwortung, die ein Land von der Größe, Lage und Wirtschaftskraft
Deutschlands in Zeiten wie diesen zu schultern hat.

Dabei haben wir mit jahrzehntelangen Grundsätzen bundesrepublikanischer Politik ge­
brochen, zum Beispiel damit, keine Waffen in ein solches Gebiet zu liefern. Ich ver­
stehe, wenn einige bei uns in Deutschland Sorgen haben und unsere Entscheidungen
hinterfragen. Ihnen möchte ich sagen: Nicht unsere Waffenlieferungen sind es, die den
Krieg verlängern. Das Gegenteil ist richtig – und das ist meine zweite These: Je früher
Präsident Putin einsieht, dass er sein imperialistisches Ziel nicht erreicht, desto größer
ist die Chance auf ein baldiges Kriegsende, auf Rückzug russischer Eroberungstrup­
pen.

Das ist auch das Ziel der Ukraine – so hat es Präsident Selensky bei unseren Treffen
vergangene Woche in Paris und in Brüssel bekräftigt, und eben ja auch noch einmal.
Dieses Ziel verfolgen wir in großer europäischer, transatlantischer und internationaler
Einigkeit.
Bulletin Nr. 21-2 vom 17. Februar 2023 / BK – zur Münchner Sicherheitskonferenz, München

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Dazu zählt übrigens, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die
Russen in der Ukraine begehen, zu dokumentieren und zu ahnden. Gut, dass die Mu­
nich Security Conference dieses Thema aufgreift, denn ohne Gerechtigkeit gibt es kei­
nen dauerhaften Frieden.

Zugleich tragen wir Sorge dafür, dass es nicht zu einem Krieg zwischen der Nato und
Russland kommt. Daher lautet meine dritte Botschaft: Die Balance zwischen bestmög­
licher Unterstützung der Ukraine und der Vermeidung einer ungewollten Eskalation
werden wir auch weiterhin halten. Und ich bin froh und dankbar, dass Präsident Biden
und viele andere Verbündete das genauso sehen wie ich. Denn der Kurs, den wir ge­
meinsam eingeschlagen haben, verläuft durch unkartiertes Gelände. Zum ersten Mal
in unserer Geschichte führt eine Nuklearmacht hier auf europäischem Boden einen
imperialistischen Angriffskrieg. Für das, was in dieser Lage zu tun ist, gibt es keine
Blaupause.

Ich meine: Wir tun gut daran, alle Konsequenzen unseres Handels sorgfältig abzuwä­
gen und alle wichtigen Schritte eng abzustimmen unter Bündnispartnern. Denn es geht
um einen Krieg in unserer Nähe, in Europa – einen gefährlichen Krieg. Und bei allem
Handlungsdruck, den es ohne Zweifel gibt: In dieser entscheidenden Frage gilt: Sorg­
falt vor Schnellschuss, Zusammenhalt vor Solovorstellung. Und es gilt, unsere Unter­
stützung von Anfang an so anzulegen, dass wir sie lange durchhalten. Das war bislang
unser Maßstab bei der Lieferung neuer Waffensysteme: bei den Haubitzen und Mehr­
fachraketenwerfern, bei den Flugabwehrwaffen, den Schützenpanzern, Patriot-Batte­
rien und zuletzt auch bei den westlichen Kampfpanzern. Und so halten wir es auch in
Zukunft.

Dazu gehört, dass alle, die solche Kampfpanzer liefern können, dies nun auch wirklich
tun. Dafür werben Verteidigungsminister Pistorius, Außenministerin Baerbock und ich
– auch hier in München – intensiv. Was Deutschland beitragen kann, um unseren Part­
nern diese Entscheidung zu erleichtern, das werden wir tun, etwa indem wir ukraini­
sche Soldaten hier in Deutschland ausbilden oder bei Nachschub und Logistik unter­
stützen.
Bulletin Nr. 21-2 vom 17. Februar 2023 / BK – zur Münchner Sicherheitskonferenz, München

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Übrigens: Für mich ist das ein Beispiel für die Art von Leadership, die jede und jeder
von Deutschland erwarten kann und die ich unseren Freunden und Partnern ausdrück­
lich anbiete.

Und damit bin ich bei Botschaft Nummer vier: Deutschland bekennt sich zu seiner Ver­
antwortung für die Sicherheit Europas und des Nato-Bündnisgebietes, ohne Wenn und
Aber.

Von diesem Podium aus war in den vergangenen Jahren oft davon die Rede, dass
Deutschland seiner sicherheitspolitischen Verantwortung gerecht werden muss. Ich
teile diesen Anspruch nicht nur, wir lösen ihn ein: mit einer zusätzlichen Brigade zum
Schutz Litauens, durch die Unterstützung Polens und der Slowakei bei der Flugabwehr
und durch Air Policing, durch den Schutz kritischer Infrastruktur in Nord- und Ostsee
und, indem wir die Nato-Speerspitze führen und dafür 17.000 Soldatinnen und Solda­
ten in Bereitschaft halten.

Um das und künftig noch mehr leisten zu können, machen wir Schluss mit der Ver­
nachlässigung der Bundeswehr. Mit dem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden
Euro für die Bundeswehr haben wir das Fundament dafür gelegt. Wir haben dafür un­
ser Grundgesetz geändert, mit Unterstützung auch der größten Oppositionspartei im
Land. Diese Mittel erlauben uns einen dauerhaften Spurwechsel beim Aufbau der Fä­
higkeiten unserer Bundeswehr. Natürlich steigen mit neuen Kampfflugzeugen, Hub­
schraubern, Schiffen und Panzern auch die Kosten für Munition und Ausstattung, für
Unterhalt, Übungen, Ausbildung und Personal. Deshalb will ich hier die Aussage be­
kräftigen, die ich drei Tage nach Kriegsbeginn im Bundestag gemacht habe: Deutsch­
land wird seine Verteidigungsausgaben dauerhaft auf zwei Prozent des Bruttoinlands­
produkts anheben.

Um diese Mittel sinnvoll und nachhaltig zu investieren, brauchen wir eine leistungs-
und wettbewerbsfähige Rüstungsindustrie in Deutschland und in ganz Europa.

Deshalb lautet meine fünfte These: In der Rüstungspolitik muss die Europäische Union
strategisch an einem Strang ziehen.
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Gemeinsam mit Frankreich und Spanien entwickeln wir das künftige Future Combat
Air System, mit Frankreich zudem das Main Ground Combat System. Auch bei der
gemeinsamen Entwicklung europäischer Fähigkeiten kommen wir voran. Dafür steht
die von Deutschland initiierte European Sky Shield Initiative zur Stärkung Europas
Luftverteidigung im Rahmen der Nato. Das sind Schritte hin zu einem Europa der Ver­
teidigung und Rüstung, wie ich es letztes Jahr an der Prager Karlsuniversität skizziert
habe.

Das sind zugleich Schritte hin zu einem geopolitisch handlungsfähigeren Europa, zu
einem Europa, das auch ein stärkerer transatlantischer Verbündeter ist. Dazu gehört,
dass wir mehr tun, um Konflikte in unserer Nachbarschaft zu lösen. Darum geht es bei
dem europäischen Vorschlag für einen Grundlagenvertrag zwischen Serbien und Ko­
sovo, den Präsident Macron und ich initiiert haben. Ich hoffe, dass Belgrad und Pristina
diese historische Chance wahrnehmen, im Interesse der Stabilität des Westlichen Bal­
kans und ganz Europas.

Weitere Schritte müssen für ein geopolitisches Europa hinzukommen. Denn in unserer
digitalen, technologisierten, globalisierten Welt lässt sich Sicherheit nicht allein mit mi­
litärischer Stärke erreichen.

Darum lautet meine sechste These: Für uns Europäerinnen und Europäer und, wie ich
meine, letztlich für alle demokratischen, offenen Gesellschaften wie unsere geht es
darum, dass wir insgesamt resilienter werden.

Das gelingt nicht durch Deglobalisierung, nicht, indem wir der Welt den Rücken zukeh­
ren. Dies wäre ein Verrat an unseren eigenen Werten und auch wirtschaftlich ein Kurz­
schluss. Sondern das gelingt, indem wir einseitige, riskante Abhängigkeiten beenden
und unsere politischen und wirtschaftlichen Beziehungen breiter und robuster aufstel­
len. Wir Deutschen wissen, wovon wir reden. Schließlich haben wir uns in Deutschland
in den vergangenen zwölf Monaten von russischer Energie unabhängig gemacht. Das
war ein Kraftakt.
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Auch in anderen Bereichen werden wir solche kritischen Abhängigkeiten reduzieren,
etwa was strategisch wichtige Rohstoffe oder Zukunftstechnologien angeht. Auch die­
ses Ziel gehört für mich übrigens in unsere Nationale Sicherheitsstrategie. Schon jetzt
stärken wir eigene Produktionskapazitäten, zum Beispiel bei Halbleitern. Schon jetzt
diversifizieren wir unsere Lieferketten und erschließen uns neue Lieferanten und
Märkte im asiatisch-pazifischen Raum, in Afrika, in Mittel- und Südamerika.

Zugleich geht es immer auch darum, diesen Regionen größere politische Mitsprache
zu ermöglichen, ja diese Mitsprache auch einzufordern. Denn es liegt auch in ihrem
Interesse, dass grundlegende Prinzipien unserer Friedensordnung und der Charta der
Vereinten Nationen nicht unter die Räder kommen. Auch deswegen bin ich übrigens
im vergangenen Herbst nach Peking gereist. Bei der Verteidigung bestimmter Grund­
prinzipien der internationalen Ordnung sind alle gefordert, auch China. Ich bin froh,
dass Präsident Xi bei dieser Gelegenheit klargestellt hat, dass er sich klar gegen jede
Drohung mit Atomwaffen oder gar deren Einsatz im Krieg Russlands gegen die Ukra­
ine stellt.

Zugleich mache ich mir keine Illusionen darüber, was wir allein durch Dialog bewegen
können, auch bei unseren demokratischen Partnern in Asien, Afrika und Lateiname­
rika. „Europe has to get out of the mindset that Europe’s problems are the world’s
problems, but the world’s problems are not Europe’s problems”, so wird der indische
Außenminister im diesjährigen Munich Security Report zitiert. An dem Satz ist etwas
dran. Zwar wäre es nicht allein Europas Problem, wenn sich das Recht des Stärkeren
in den internationalen Beziehungen durchsetzte. Aber um als Europäer oder als Nord­
amerikanerin in Jakarta, New Delhi, Pretoria, Santiago de Chile, Brasilia oder Singapur
glaubwürdig zu sein und etwas zu erreichen, reicht es eben nicht, gemeinsame Werte
zu beschwören. Dafür braucht es eine ehrliche Beschäftigung mit den Anliegen dieser
Länder als Grundvoraussetzung für gemeinsames Handeln.

Deshalb war es mir so wichtig, beim G7-Treffen letzten Juni Vertreter Asiens, Afrikas
und Lateinamerikas nicht nur mit am Verhandlungstisch zu haben, sondern auch ge­
meinsam Lösungen für die Herausforderungen zu erarbeiten, die in diesen Regionen
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im Fokus stehen: wachsende Armut und Hunger, auch als Konsequenz aus Russlands
Krieg, aber eben auch die Folgen von Klimawandel und Coronapandemie.

Damit bin ich bei meiner siebten und letzten These: Wenn die multipolare Welt des 21.
Jahrhunderts eine Ordnung sein soll, die auf Recht basiert und die Unrecht ahndet,
dann brauchen wir neue Formen internationaler Solidarität und Mitsprache.

Das hat auch die MSC erkannt, lieber Herr Heusgen, indem sie den Austausch mit
allen Ländern sucht, die unser Interesse an einer Welt teilen, in der Macht an Regeln
gebunden ist, die nicht revisionistisch ist. Dafür werbe auch ich; daran arbeite auch
ich. Ich bin froh, viele von Ihnen dabei an meiner Seite zu wissen, und freue mich jetzt
auf unsere Diskussion.

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