Die vergessene Geschichte des Islam in Bayern - Bayerische ...
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TH EMA ISL AM I N BAYER N Hintergrund Die vergessene Geschichte des Islam in Bayern Islam in Bayern – das ist kein neues Thema. Seit mehr als 100 Jahren gehört muslimisches Leben zum Freistaat, von den arabischen Studenten während des Nationalsozialismus über die so- genannten Gastarbeiter der Wirtschaftswunder- jahre bis zur Zuwanderung der jüngsten Zeit. Vo n Ge rdi e n Jo n ke r, Ni na Nowa r u n d St e ph a n i e Mü ssig 193 8 MAC HTE D E R Franzose Bernard Vernier eine Forschungsreise durch Deutschland, um zu untersuchen, wie das deutsche Regime die zahlreichen muslimischen Intellektuellen, die damals an deutschen Universitäten studierten, in seine Kriegsinteressen einbettete. Vernier besuchte zunächst Hamburg, Berlin, Bonn, Leipzig, Erlangen, München und Innsbruck, da dort zahlreiche Dissertationen zum Abschluss kamen. An den Technischen Universitäten war die Zahl der Muslime noch höher. Vernier nennt Berlin, Braunschweig, Breslau, Danzig, Darm- stadt, Hannover, München und Stuttgart als deren wichtigste Stätten. Vor Ort stellte der Wissenschaftler fest, dass die Studenten gut gelitten waren und Raum für eigene Infrastrukturen bekamen: die Islamische Gemeinde und die Deutsch-Moslemische Ge- sellschaft in Berlin, der Islamische Kulturbund in Wien sowie der Islamische Studentenbund in München. Mehr noch: Die Deutschen selbst schienen den Islam als eine anschlussfähige Religion zu betrachten, der man auch als Na- tionalsozialist bedenkenlos beitreten konnte. Dezember 1938 zählte Vernier nicht weniger als 2.000 Übertritte. Frühe Nachkriegsjahre ABB.: BUNDESARCHIV 146-1977-136-03A Nach dem Krieg vertieften die Franzosen ihr Wissen um das Verhältnis zwischen Nazi- Deutschland und seinen Muslimen weiter. Auf deutscher Seite hingegen tendierte das Interesse an Muslimen in Deutschland – zumal Rechts: Bosnische Freiwillige der solchen, die sich für das Nazi-Regime engagiert Waffen-SS beim Gebet (1943). hatten – gegen null. Erst als 20 Jahre später so- 18 Akademie Aktuell 02-2018
TH EMA ISL AM I N BAYER N genannte „Gastarbeiter“ unter Vertrag genom- Muslime in Deutschland Anschluss an deren men wurden, entstand Interesse am „Islam in Vorkriegsgeschichte. Idris, ein Usbeke, war Deutschland“, ein Thema, das als völlig neu bereits während des Ersten Weltkrieges nach wahrgenommen wurde. Berlin gekommen, wo er im Weinberglager bei Berlin als Imam wirkte. Nach 1918 enga- In Bayern hatte die Verstrickung zwischen gierte er sich unermüdlich für die Errichtung Nazi-Deutschland und den Muslimen noch islamischer Infrastrukturen in Deutschland. ein Nachspiel. Im Lager Mittenwald bei Mün- 1933 wurde er vom Auswärtigen Amt in den chen, im Nürnberger Umland, in Erlangen Dienst übernommen und nach Kriegsanfang und Pforzheim fanden sich 1945 Tausende für den Aufbau muslimischer Verbände in tatarische und usbekische Soldaten zusam- der SS eingesetzt. 1944 bildete er in Dresden men, die von Wehrmacht und SS angeheuert Imame für die Armee aus. Ende März 1945, und an vorderster Front eingesetzt worden nachdem auch Dresden bombardiert worden waren. Gegen Kriegsende hatte ihre Zahl war, schrieb er noch eine Einschätzung für eine Million überschritten. Nach der Kapitu- das Amt zwecks Errichtung eines Muftiats in lation marschierten sie in der Hoffnung auf Deutschland. Aufnahme nach Deutschland zurück. Es kam anders: Die meisten Soldaten wurden den Ein paar Monate später tauchte Idris in Mitten- Sowjets übergeben, die kurzen Prozess mit wald auf, wo er sich zusammen mit Abdurrah- ihnen machten. Nur einige Tausende konn- man Aftorchanow und Edige Mustafa Kirimal ten dem Massaker entgehen und landeten des Schicksals der Muslime annahm und die irgendwann in Bayern. ersten islamischen Infrastrukturen der Nach- Said Ramadan (Mitte) beim kriegszeit errichtete. Von hier führt eine direkte Empfang für den Staatspräsi- In der Person des Alimcan Idris, der von 1945 Spur nach München zur ersten Moschee denten Pakistans, Muhammed bis 1951 Imam in Mittenwald war, findet die Bayerns, die mit islamischen Bauelementen Ayub Khan (links), 1961 in nun beginnende Nachkriegsgeschichte der errichtet wurde. München. ABB.: BUNDESARCHIV B 145, F009529-0018; EZIRE / H. SCHREYER 20 Akademie Aktuell 02-2018
ISL AM I N BAYER N TH E MA Das Islamische Zentrum Die erste Moschee Bayerns arabischen Studenten kaperten die Moschee- München eröffnete 1973 seine bau-Kommission und alle damit verbundenen, Moschee in Freimann – es war Im März 1958 gründeten 71 ehemalige muslimi- finanziellen Ressourcen und konnten nach die erste Moschee in Bayern. sche Wehrmachtsangehörige in München die mehrjähriger Bauzeit im Jahr 1973 tatsächlich Geistliche Verwaltung der Muslimflüchtlinge in die Freimanner Moschee eröffnen. der Bundesrepublik e.V. Nureddin Namangani wurde als deren Vorsitzender benannt. Sein Ziel Diese wurde bis 2002 Hauptsitz der aus der war es fortan, die von Idris etablierten Organi- Moscheebau-Kommission hervorgegangenen sationen zu verdrängen und von München aus Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V. eine bayernweite religiöse Infrastruktur aufzu- (IGD), deren Projekte die Glaubenspraxis und bauen. Er begann deshalb, die Unterstützung Identitätsbildung von Muslimen bis heute Said Ramadans (er war Sekretär und Schwie- prägen. Von Bayern ausgehend, entwickelte gersohn des Gründers der Muslimbruderschaft sie ein deutschlandweites Netzwerk von 15 in Ägypten) und einiger arabischer Studenten nachgeordneten Islamischen Zentren und über aus seinem Umfeld für die Moscheebauplä- 50 Moscheevereinen. Die IGD steht heute unter ne in München zu gewinnen. Beide Gruppen Beobachtung des Verfassungsschutzes. akquirierten Gelder und verzeichneten am 23. August 1960 ihren ersten gemeinsamen Erfolg: Die „Geistliche Verwaltung“ bestand ebenfalls Die Moscheebau-Kommission e.V. wurde ge- noch ein halbes Jahrhundert fort und bildete gründet. Theologische und politische Konflikte ein eigenes Netzwerk aus. Namangani blieb überschatteten jedoch die Zusammenarbeit Imam mit Hauptsitz in München, bis er später und führten nur ein Jahr später, im Winter 1961, in die Türkei auswanderte. Die Zweigstelle in zum Rücktritt Namanganis und dem geschlos- Nürnberg besetzte Imam Dz̆emal Ibrahimović. senen Austritt der Muslimflüchtlinge. Die Gemeinsam boten sie religiöse Dienstleistun- gen wie Trauungen und Bestattungen an und organisierten einen islamischen Fernunterricht. Islamischer Religionsunterricht für Kinder wurde 02-2018 Akademie Aktuell 21
TH EMA ISL AM I N BAYER N ABB.: K. LÖFFELBEIN / LAIF Muslimisches Alltagsleben in Deutschland: Familien beim in Filialgemeinden in Augsburg, Bamberg, 1980er Jahren erschienen darin regelmäßig Grillen im Park. Dieburg, Erlangen, Forchheim, Neu-Ulm, Nürn- Nachrufe auf ehemalige muslimische Kombat- berg, Osnabrück, Schwabach und Waldkraiburg tanten, die an die verschüttete Kriegsgeschichte angeboten. Den Zusammenhalt der Gemeinden erinnerten. in Bayern stärkte die gemeinsame Zeitschrift „al-Muhadschirun“ (Die Flüchtlinge). In den Migrationshintergrund Seit den 1960er Jahren trug eine weitere Literatur Entwicklung dazu bei, dass die Anfänge des muslimischen Lebens in Bayern in Vergessenheit gerieten: die Anwerbung von Arbeitskräften aus B. Vernier, La politique islamique de l’Allemagne, Paris 1939. Ländern mit muslimischer Bevölkerung, etwa Muslimisches Leben in Deutschland, GESIS Datenarchiv, aus der Türkei, dem Gebiet des ehemaligen ZA5244, Köln 2008. Jugoslawien und Nordafrika. Sie prägten das Bild der Muslime in Bayern bis in die 2010er Jahre S. Haug, S. Müssig, A. Stichs, Muslimisches Leben in hinein. Doch auch zu dieser neuen Generation Deutschland, Forschungsbericht Band 6, Nürnberg 2009. von Muslimen in Bayern gibt es nur vereinzelt S. Meining, Eine Moschee in Deutschland. Nazis, Geheim- Informationen. Systematische Kenntnisse über dienste und der Aufstieg des politischen Islam im Westen, ihre Anzahl, ihre Herkunftsländer, ihre Zuwande- München 2011. rungsmotive oder ihre soziale Herkunft fehlen. N. Nowar, Ramadans Erben. Die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD), Hamburg 2012. Eine der wenigen Datenquellen, die Informa- tionen zu Muslimen in Bayern enthält, ist die G. Jonker, The Ahmadiyya Quest for Religious Progress. Mis- Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ sionizing Europe 1900–1965, Leiden 2016. (MLD) aus dem Jahr 2008. Der MLD-Datensatz A. Stichs, Wie viele Muslime leben in Deutschland? Eine Hoch- rechnung über die Anzahl der Muslime in Deutschland zum Stand 31. Dezember 2015, Working Paper 71, Nürnberg 2016. 22 Akademie Aktuell 02-2018
ISL AM I N BAYER N TH E MA umfasst 6.004 Befragte. Davon wohnten 818 Menschen zum Befragungszeitpunkt im Jahr 2008 in Bayern, von denen sich 292 Menschen Türkei in der Umfrage selbst als Muslime bezeichne- Südosteuropa ten. Auf ihren Angaben fußen die folgenden Beschreibungen und Analysen. Naher Osten Nordafrika Es lässt sich errechnen, dass 13 Prozent von insgesamt rund 4,5 Millionen Muslimen Südostasien in Deutschland 2008 in Bayern lebten. Das sonstiges Afrika bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt gut jeder neunte Muslim in Deutschland in Bayern Iran wohnhaft war. Gut 71 Prozent gaben an, selbst Zentralasien / GUS nach Deutschland zugewandert zu sein (Tab. 0 20 40 60 80 100 unten). Rund 29 Prozent sind Nachkommen von Migranten. 0,5 Prozent der befragten Muslime in Bayern haben keinen Migrationshintergrund. Rund zwei Drittel der in Bayern lebenden Herkunftsregionen der Muslime Muslime hatten 2008 laut der Befragung ihre Muslimisches Leben in Bayern in Bayern (in Prozent, Stand 2008). familiären Wurzeln in der Türkei (Diagramm rechts), gefolgt von Muslimen aus Südost- Seit mehr als 100 Jahren gehört muslimisches europa mit rund 12 Prozent und dem Nahen Leben zu Bayern. Indische und arabische Stu- Osten mit 7 Prozent. denten belebten in der Zwischenkriegszeit die Universitäten. Tataren und Usbeken suchten Prozent (%) ab 1945 in Bayern Schutz. In der Nachkriegszeit kehrten die Studenten zurück. Wenig später Erste Generation 70,6 übernahmen Gastarbeiter die schlecht bezahl- Folgegeneration 28,9 te Schwerstarbeit und bildeten ein wichtiges Element für das Gelingen des „Wirtschafts- ohne Migrationshintergrund 0,5 wunders“. Sie alle fanden sich in eigenen Migrationshintergrund der Muslime in Bayern. kulturellen, politischen und religiösen Vereinen zusammen, um ein Stück Heimat in der Fremde Jüngste Entwicklungen zu schaffen. DIE AUTORINNEN Mit der hohen Anzahl von Menschen, die vor Muslimisches Leben in Bayern war schon Dr. Gerdien Jonker, Ph. D. ist wis- allem in den Jahren 2015 und 2016 aus huma- immer vielfältig, nicht nur hinsichtlich der senschaftliche Mitarbeiterin am nitären Gründen wie Flucht vor Krieg, Hunger, religiösen Praktiken und Glaubensrichtungen. Erlanger Zentrum für Islam und Krankheit sowie politischer, religiöser und Die Zuwanderung von Geflüchteten und Recht in Europa (EZIRE). Sie forscht ideologischer Verfolgung nach Deutschland Asylsuchenden in jüngster Zeit hat noch ein- insbesondere zur Geschichte von kamen, haben sich die Herkunftsländer der mal klargemacht, dass und wie sich diese Be- Muslimen im Europa der Zwischen- muslimischen Zugewanderten stark verändert. völkerungsgruppe in ihrer Zusammensetzung kriegszeit. Nach Berechnungen von Anja Stichs bleibt die verändern kann. Damit erweitern sich auch Türkei zwar Herkunftsland Nummer 1, doch sank die Facetten muslimischer Präsenz in Bayern. Nina Nowar M. A. ist wissenschaft- der Anteil der Türkeistämmigen in der muslimi- Die Rückschau in diesem Text trägt dazu bei, liche Mitarbeiterin und Projekt- QUELLE: MLD 2008, EIGENE BERECHNUNG, N=290, DATEN IN PROZENT GEWICHTET schen Bevölkerung in Deutschland von 68 Pro- die vergessenen Ursprünge und Zusammen- koordinatorin am EZIRE. Sie arbeitet zent im Jahr 2011 auf 51 Prozent Ende 2015. Die hänge besser zu verstehen. n an ihrer Dissertation über „Lokale zweithäufigste Herkunftsregion der Muslime in Normativitäten im Wandel. Die Aus- Deutschland ist heute der Nahe Osten: Rund handlung von Identität und Moral 17 Prozent stammen von dort. im öffentlichen Raum von Tunis“. Aktuelle Daten für Bayern sind derzeit nicht Stephanie Müssig M. A. ist wissen- verfügbar. Doch ist anzunehmen, dass ver- schaftliche Mitarbeiterin und gleichbare Veränderungen auch in der musli- stellvertretende Geschäftsführerin mischen Bevölkerung Bayerns zu beobachten des EZIRE. Ihre Forschungsschwer- sind. Sie werden die demografische und sozial- punkte sind unter anderem die strukturelle Zusammensetzung und Entwick- politische Einstellungs- und Verhal- lung und damit die neueste Generation der tensforschung sowie Forschungen Muslime in Bayern in den kommenden Jahren zur Integration von Personen mit prägen. Migrationshintergrund. 02-2018 Akademie Aktuell 23
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