COLDNESS AS METAPHOR - felix-burger.de

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COLDNESS
AS
METAPHOR
Eisbären rekonsturieren in einem spirituellen Ablauf Schnee-
katastrophen der Menschheitsgeschichte: den Sommer ohne
Sonne in Europa 1816, das Everest Unglück 1996 und den Flug-
zeugabsturz 1972 in den Anden, der die Überlebenden zum
Kannibalismus zwang.
Anhand von Modellen und Puppen spielt ein Anführer die Er-
eignisse in einem unterirdischen Schulungsraum seinen An-
hängern vor, der Zweck der Zusammenkunft bleibt verborgen.

16 mm gescannt auf 4K / 5´56 min / 2018 / Co - Regie Lion Bischof
Seite 3 - 16, 23 - 28 Filmstills 16 mm
Seite 17, 18, 20 - 22 Setfotografie
Seite 19 Zeichnung

Eres -Stiftung , München
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Exakt 200 Jahre ist es her, dass Mary Shelley ihren Roman „Frankenstein“ veröffentlichte. Beinahe so be-
rühmt wie das Buch sind die Hintergründe seiner Entstehung: Der Ausbruch des indonesischen Vulkans
Tambora verursachte globale Klimaveränderungen, Missernten und eine große Hungersnot, das Jahr 1816
ging als „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte ein. Mary Shelley beobachtete die Furcht einflößenden
Unwetter am Genfer See, ihr Freund Lord Byron forderte sie zu einem Schreibwettbewerb auf – Thema:
Schauergeschichten.

Ein solcher Wettbewerb ließe sich auch hinter den bizarren Szenen vermuten, die uns Felix Burger in seiner
neuen, eigens für die Ausstellung konzipierten Videoarbeit vor Augen führt: Nebelschwaden durchziehen
das Setting, Blut trieft von amputierten Gliedmaßen, Erfrierungen entstellen Gesichter – je schauriger, desto
besser. Doch halt: Der Arm gehört einer Puppe, das Rot ist Ketchup, die Frostbeulen nur die Spuren einer
Torte im Gesicht. Ist das Ernst oder Groteske, Trash oder Horror? Wer sind diese weiß geschminkten Men-
schen in den seltsamen Eisbärenkostümen, die sich in einem Keller versammelt haben und an den Lippen
eines düster blickenden Mentors hängen? Wie ein antiker Chor umringen sie ihren Meister – eine kostü-
mierte Verschwörungsgemeinde, ein arktischer Ableger des Ku-Klux-Klan oder eine harmlose Theater-AG?
Ganz bewusst hält das Felix Burger in der Schwebe, lässt uns im Unklaren über die handelnden Personen
seines Films, ebenso wie über Ort und Zeit ihrer Begegnung.

Betont offen legt er hingegen die Einfachheit der eingesetzten Tricks und Effekte: die Nebelmaschine, der
große Spiegel, das in Zeitlupe gefilmte Backofenspray, das sich wie Schnee über bunte Blumen legt, das
Spielzeugmodell eines abgestürzten Flugzeugs, der Mount Everest aus Hasendraht und Pappmaschee.
Was der Mentor seinen Jüngern genau sagt, ist nicht zu verstehen, stattdessen fungieren englischsprachige
Schrifttafeln wie Untertitel, formulieren die Quintessenz des Gesagten und Gezeigten. Begleitet wird das
alles von einem atmosphärischen Sound, der das verfremdete, ratternde Geräusch eines Filmprojektors hör-
bar macht. Ein 16-mm-Film liegt dem Video tatsächlich zugrunde, erst im Anschluss wurde das Material
digitalisiert und nachbearbeitet. So verleiht Felix Burger seiner Arbeit den Charakter eines Imagefilms aus
den 1960er- oder 1970er-Jahren, unterstreicht das Handgemachte, beabsichtigt Unprofessionelle, das auch
die dargestellten Szenen kennzeichnet. Damit tritt er als Künstler hinter dem Mann im Eisbärenkostüm
zurück, der die einzelnen Szenen mit der Kamera festhält und einen Film im Film dreht.

Burger evoziert drei konkrete historische Ereignisse, die er durch das Motiv der Kälte verbunden sieht; Kälte
in der ambivalenten Bedeutung des Wortes: Temperatur und emotionale Haltung. Da sind zum einen die
Wetterextreme im Jahr 1816, die Mary Shelley zu ihrem Roman „Frankenstein“ inspirierten, zum anderen
der Flugzeugabsturz einer Rugbymannschaft in den schneebedeckten Anden 1972, der im Kannibalismus
endete und schließlich die Tragödie am Mount Everest 1996, bei der acht Bergsteiger ihr Leben verloren.
Internationale Medienberichterstattung machte diese Unglücke weltberühmt, die Überlebenden wurden zu
Stars, ihre Erlebnisse zu Bestsellern, die auch die Kinokassen klingeln ließen.

Nicht zuletzt deshalb stehen all diese dramatischen Ereignisse heute für weit mehr, als sie es im Kern
tatsächlich waren. Uns fesselt nicht allein die menschliche Tragödie, es geht um mythische Überhöhung,
kommerzialisierten Sensationsalpinismus oder die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit von Kannibalis-
mus. Den Künstler Felix Burger interessiert vor allem der schmale Grat zwischen Katastrophe und Absurdi-
tät, zwischen Realität und Fake. Welche Mechanismen sind am Werk, wenn reale existenzielle Erfahrungen
zu Publikumsattraktionen mutieren? Womöglich entwerfen die Eisbär-Menschen in seinem Film eine Art
„Freizeitpark der Katastrophen“, zu dessen Stationen die Besucher mit der Seilbahn fahren, die am Ende des
Videos auftaucht. Wer in eine Gondel steigt, nimmt Teil am makabren Zirkus, ob hinauf zu eiskalten Höhen
oder hinab ins finstere Tal ist dann nur eine Frage der Richtung.

Anuschka Koos / Eres-Stiftung, München
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