COVID-19: BREMSER ODER BESCHLEUNIGER DER ENERGIEWENDE? - MCKINSEY ...
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ENERGIEMARKT – POLITIK COVID-19: Bremser oder Beschleuniger der Energiewende? Thomas Vahlenkamp, Ingmar Ritzenhofen, Hauke Engel, Fridolin Pflugmann und Fabian Stockhausen Die Lockdowns zur Eindämmung von COVID-19 haben dem Klima weltweit eine Atempause verschafft – allerdings nur kurz. Gleichzeitig wird die deutsche Energiewende im Zuge der Pandemiebekämpfung teilweise ausgebremst. „Grüne“ Stimuli im Konjunkturpaket der Bundesregierung sollen jetzt neue Impulse setzen – doch reichen diese Maßnahmen aus? Die aktuelle Entwicklung zeigt, welchen Beitrag die Sektoren noch leisten müssen, um die Klimaziele 2030 zu erreichen – und wo die Politik weiterhin gefordert ist. Die COVID-19-Pandemie hat massive Auswir- kungen auf Gesundheit, Gesellschaft und Wirt- schaft, die bis heute nicht vollständig abzuschät- zen sind. Zu den wenigen positiven Effekten zählt allerdings die Auswirkung auf das Klima während der Lockdown-Phase im Frühjahr die- ses Jahres: Zwischen Mitte März und Ende April lagen die täglichen Emissionen in Deutschland nach ersten Schätzungen zeitweilig bis zu 26 % unter den Vorjahreswerten; 15 bis 20 Mt CO2 wurden dabei eingespart. Auch der Energiever- brauch sank spürbar: In der zweiten Aprilwo- che beispielsweise wurde in Deutschland 14 % weniger Strom verbraucht als im Vergleichszeit- raum der vorherigen drei Jahre. Was zunächst beeindruckend klingt, ist jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein des Klima- wandels. Tatsächlich entspricht das im Lock- down eingesparte Treibhausgas gerade einmal Die geringeren Emissionen durch Corona haben die Lage kurzfristig entspannt – für nachhaltige Klimaeffekte aber sind weitere Anstrengungen nötig Bild: Adobe Stock den Emissionen von 7 bis 10 Tagen in Vor- Corona-Zeiten. Die Pandemie hat dem Klima nicht mehr als eine kurze Atempause verschafft das Investitionsklima für nachhaltige Techno- (Corona-unabhängige) Streit um die Mindest- – und dies auch noch zum volkswirtschaft- logien hatte sich durch die Entwicklung auf abstände von Windkraftanlagen zu Wohnge- lichen Preis einer tiefgreifenden Rezession. den Energiemärkten bereits zu Jahresbeginn bieten den Onshore-Ausbau. eingetrübt. Die Corona-Krise verstärkt diese ■ Ölpreis unter Druck: Turbulenzen an den Ob und wie sich die COVID-19-Pandemie struk- negativen Trends nun zusätzlich: Ölmärkten gab es schon vor COVID-19, u.a. turell auf die Energiewende auswirkt, lässt sich ausgelöst durch den Preiskampf zwischen noch nicht abschließend bewerten. Klar ist aber, ■ Windkraftausbau weiter gebremst: Im ers- Saudi-Arabien und Russland Mitte Februar. dass sich die bisherigen Versäumnisse beim ten Halbjahr 2020 wurden Windkraftanlagen Innerhalb eines Monats rutschte der Ölpreis Klimaschutz durch die Krise nicht aufgelöst an Land und auf See (On-/Offshore) mit einer von 58 auf 28 US$/Barrel. Heute ist es die haben. Vielmehr zeigt der aktuelle Energiewen- Leistung von 811 MW errichtet. Das sind zwar nachlassende Wirtschaftsleistung infolge der de-Index (siehe Seite 48 f.), dass entlang des 50 % mehr als der historisch schwache Zubau Corona-Krise, die den Ölpreis weiter unter energiewirtschaftlichen Dreiecks – Umwelt- und im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres, Druck setzt: Aktuell liegt der tägliche weltweite Klimaschutz, Wirtschaftlichkeit, Versorgungs- aber nur die Hälfte des Zubaus im ersten Halb- Ölverbrauch im Schnitt bei 83,8 Mio. Barrel sicherheit – noch viel Arbeit wartet. jahr 2018. Bis zu 15 % aller EE-Projekte in pro Tag – 2019 waren es noch 100,4 Mio. Europa könnten durch die Corona-Pandemie ■ Stromgroßhandelspreise gesunken: Ab COVID-19 als Bremsverstärker verzögert oder annulliert werden, schätzt die Mitte März brachen auch die Börsenstrom- der Energiewende Energieforschungsgruppe Wood Mackenzie. preise um bis zu 23 % ein – teilweise als Folge Auf globaler Ebene rechnen die Experten mit der Stilllegungen von Gewerbe- und Industrie- Schon vor Ausbruch der Pandemie war die einem Rückgang des Windkraftausbaus um betrieben und des damit einhergehenden Energiewende ins Stocken geraten, etwa beim bis zu 5 GW (rund 10 % gegenüber dem Vor- geringeren Stromverbrauchs im Zuge der Ausbau der erneuerbaren Energien (EE). Auch jahr). In Deutschland erschwert zusätzlich der Lockdowns. Zum Preisverfall beigetragen hat 44 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 70. Jg. (2020) Heft 9
ENERGIEMARKT – POLITIK allerdings auch die Entwicklung an den inter- sozialen Lebens, bei dem allein der Luft- Wochen nach dem schrittweisen Hochfahren nationalen Energiemärkten. Ende März lagen verkehr um 85 % und der Lkw-Verkehr um der Wirtschaft kehrte die Kohleverstromung die Gas- und CO2-Preise ein Viertel bzw. ein 12 % heruntergefahren wurden. Eine Ver- auf ihr Vorkrisenniveau zurück. Und Chinas Drittel unter denen zu Jahresbeginn. Aktuell stetigung dieses Zustands wäre zwar gut für Luft hatte laut einer Analyse des Centre for steht der Stromgroßhandelspreis wieder bei das Klima, aber verheerend für die deutsche Research on Energy and Clean Air (CREA) rund 40 €/MWh und damit nur geringfügig Wirtschaft und ginge mit massiven Einbu- bereits Anfang Mai wieder die gleiche Schad- unter dem zu Beginn der Pandemie. ßen der Lebensqualität einher. stoffbelastung an Feinstaub und Schwefel- ■ Modell 2: Realistischer ist, dass im Zuge dioxid wie vor Ausbruch der Pandemie. Gerade die Entwicklung an den Energie- von zunehmenden Lockerungen und wirt- märkten wirkt sich negativ auf die Ener- schaftlicher Erholung die CO2-Einsparungen „Grüne“ Stimuli im Konjunk- giewende aus, denn niedrige Börsenpreise auf das gesamte Jahr gerechnet deutlich turpaket – die Lösung für machen die Nutzung konventioneller Ener- niedriger ausfallen. Laut einer aktuellen Deutschlands Klimaprobleme? gien attraktiv und bremsen den Ausbau Klimastudie unter Mitwirkung des Mercator von Erneuerbaren gleich zweifach: Wäh- Research Institute Berlin bewegen sich die Eine rasche Erholung der Konjunktur ist auch rend niedrige Rohstoff- und CO2-Preise EU-weiten Einsparungen in diesem Jahr je in Deutschland Grundvoraussetzung für die die Investitionsanreize für Unternehmen nach Entwicklungsszenario zwischen 5,1 % Überwindung der ökonomischen Folgen der schmälern, mindern niedrige Strompreise und 8,5 %. In Deutschland entspricht dies Pandemie. Um diesen Prozess zu unterstüt- die Rentabilität von Wind- und Solarparks einer Reduktion zwischen 41 und 68 Mt. zen, hat die Bundesregierung ein umfang- – und halten Projektentwickler vom Ab- Ausgehend von diesem Niveau (und unter reiches Konjunkturprogramm in Höhe von schluss neuer Stromabnahmeverträge ab. der Annahme, dass die Einsparungen von 130 Mrd. € aufgelegt. Damit der Klimaschutz Der Effekt hat sich bereits eingestellt: Im Dauer sind) müsste der CO2-Ausstoß dann beim Wirtschaftsaufschwung nicht auf der März lag das Volumen neuer europäischer nochmals um insgesamt 174 bis 202 Mt Strecke bleibt, enthält das Paket auch einige Stromabnahmeverträge um 85 % niedriger sinken (17 bis 20 Mt pro Jahr), um das „grüne“ Stimuli sowie Maßnahmen zur Inno- als noch im Januar. Klimaziel 2030 zu erfüllen. Es bräuchte vationsförderung, etwa in den Bereichen demzufolge noch (je nach Größe) zwei bis E-Mobilität und Wasserstofftechnologien. Da- COVID-19 als Katalysator: fünf mit Corona vergleichbare Schocks, mit soll das Konjunkturprogramm zugleich Wie nachhaltig wirkt der um diese CO2-Einsparungen zu realisieren, auch die Energiewende weiter vorantreiben. „Corona-Effekt“? wenn keine weiteren Maßnahmen zur Emis- sionssenkung ergriffen werden. Zahlreiche Studien belegen, dass staatliche Der Klimaschutz aber kann sich keine Pause ■ Modell 3: Sollte sich die Konjunktur Konjunkturhilfen so ausgestaltet werden kön- leisten. Die jetzt angebrochene Dekade wird schnell erholen, könnte sich der „Corona- nen, dass sie nicht nur der Volkswirtschaft, darüber entscheiden, ob das Pariser Klimaziel Effekt“ sogar komplett verlieren. Der Blick sondern auch dem Klimaschutz zu Gute einer maximalen durchschnittlichen Erwär- nach China legt dies nahe: Schon sieben kommen. Beispiel Beschäftigungsförderung: mung von 1,5°C eingehalten werden kann. Der Zielpfad für Deutschland sieht vor, die CO2-Emissionen bis 2030 um 55 % gegenüber dem Basisjahr 1990 zu reduzieren. Stand heute bedeutet dies, dass weitere 30 % CO2 eingespart werden müssten – von zuletzt 804,6 Mt in 2019 auf 562 Mt in zehn Jahren. Wie kann das gelingen und was tragen die Corona-bedingten Klimaeffekte dazu bei? Drei mögliche Modelle: ■ Modell 1: Auf dem Höhepunkt des Lock- down Anfang April ging der tägliche CO2- Ausstoß in Deutschland nach ersten Schät- zungen um rund 26 % zurück. Würden die Emissionen auf diesem Niveau bleiben, wären die Klimaziele bis 2030 nahezu erreicht. Doch dass es dazu kommt, ist unrealistisch – und wäre mit einem hohen volkswirtschaft- lichen Schaden verbunden: Immerhin wurde die drastische CO2-Absenkung im Frühjahr nur möglich durch eine ebenso drastische Abb. 1 Umwelt- und Klimaschutz, Wertung H2 2019 und H1 2020 Einschränkung des wirtschaftlichen und ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 70. Jg. (2020) Heft 9 45
ENERGIEMARKT – POLITIK Eine 2017 im Fachjournal Economic Model- für Solaranlagen, der die Förderung bislang der dafür erforderlichen Off- und Onshore- ling veröffentlichte Studie hat ergeben, dass auf eine Gesamtkapazität von 52 GW be- Windanlagen. Bis spätestens 2040 soll die die Investition von 1 Mio. € in konventionelle schränkte. Diese Zielmarke wäre vermutlich Kapazität um weitere 5 GW erhöht werden. Energieträger etwa drei neue Arbeitsplätze schon in diesem Jahr erreicht worden und Aufgrund des langfristigen Horizonts wird es schafft, während durch Investition derselben hätte damit den weiteren PV-Ausbau ausge- allerdings noch Jahre brauchen, bis sich die Summe in erneuerbare Technologien nahezu bremst. Förderungen im Energiewende-Index nieder- dreimal so viele Arbeitsplätze entstehen. Ein ■ Elektrifizierung des Verkehrs- und Wärme- schlagen. Gleichwohl sind Investitionen in Grund hierfür könnte sein, dass Stromerzeu- sektors: In den Bereichen E-Mobilität und diese Schlüsseltechnologie notwendig, um gung aus erneuerbaren Energien tendenziell Gebäudeförderung werden die bisherigen Im- eine umfassende Sektorkopplung herbei- arbeitsintensiver ist als konventionelle, da pulse nochmals verstärkt. Die Kaufprämie für zuführen. Doch angesichts der ehrgeizigen ein größerer Teil der Ausgaben auf Installa- E-Autos wurde von 3.000 auf 6.000 € und das Wasserstoffpläne in anderen Ländern (etwa tion und Wartung entfällt, während die Kos- Gebäudesanierungsprogramm um eine weite- in Saudi-Arabien im Zusammenhang mit tenstruktur der konventionellen Erzeugung re Milliarde auf 2,5 Mrd. € aufgestockt. Vor der neuen Megastadt Neom oder das Pilbara- durch die häufig weniger arbeitsintensive allem der E-Mobilität verleiht die Förderung Projekt in Australien) stellt sich die Frage, (und oft im Ausland ausgeführte) Rohstoff- zusätzlichen Schwung: Bereits in den ersten ob die deutschen Ziele ambitioniert genug förderung geprägt ist. drei Monaten dieses Jahres ist die Nachfrage ausfallen. trotz Corona-Krise deutlich gestiegen: Von Die „grünen“ Stimuli im Konjunkturpaket der Januar bis März wurden 44.712 E-Autos ver- Was die Sektoren zum Klima- Bundesregierung dienen unmittelbar dem kauft, 228 % mehr als im Vorjahreszeitraum. ziel beitragen müssen – und Umwelt- und Klimaschutz. Das Spektrum der Auch für den Ausbau grüner Verkehrsinfra- wie weit das Konjunkturpaket konkreten Fördermaßnahmen reicht vom struktur hält das Paket Fördermittel bereit: dabei hilft Solar- und Windkraftausbau über die Elektri- Der Bau weiterer Ladesäulen soll mit 2,5 Mrd. fizierung des Verkehrs- und Wärmesektors € und die Airline-Flottenmodernisierung mit Die im Konjunkturpaket gesetzten „grünen“ bis zur Förderung klimafreundlicher Wasser- 1 Mrd. € unterstützt werden. Stimuli sind richtig und wichtig für den stofftechnologien: ■ Förderung von Wasserstofftechnolo- Klimaschutz. Doch sie reichen nicht aus, gien: Das größte Förderpaket im Bereich um in allen Sektoren die notwendigen Im- ■ Windkraft- und Solarausbau: Zwei Maß- Klimaschutz entfällt mit 7 Mrd. € auf die pulse zur Beschleunigung der Dekarboni- nahmen waren bereits vor Ausbruch der Entwicklung moderner Wasserstofftechnolo- sierung zu setzen. Damit Deutschland sei- COVID-19-Pandemie in Planung und werden gien im Rahmen einer von der Bundesregie- ne Klimaziele planmäßig erreicht, müssen nun umgesetzt: Um den EE-Ausbau neu zu rung vorangetriebenen nationalen Wasser- vielmehr alle Sektoren ihren Beitrag zur beleben, wird zum einen das 2030er-Ziel für stoffstrategie. Bis 2030 sollen industrielle Emissionseinsparung leisten. Bislang hat Offshore-Windkraft von 15 auf 20 GW erwei- Produktionsanlagen von bis zu 5 GW für sog. hauptsächlich die Energiewirtschaft durch tert. Zum anderen entfällt der Förderdeckel grünen Wasserstoff entstehen, einschließlich den Ausbau der Erneuerbaren ihren Anteil beigesteuert; für die Sektoren Verkehr, Wärme/Gebäude und Industrie hingegen gibt es noch einiges zu tun: ■ Energiewirtschaft: Bis 2030 muss die Energiebranche jährlich 6,6 Mt CO2 ein- sparen (2,6 % p.a. gegenüber 2019), um das Sektorziel zu erfüllen. Betrachtet man die Entwicklung seit 2010, haben die Unternehmen diese Reduktionsrate längst erreicht: Die CO2-Einsparungen betrugen 12,8 Mt pro Jahr und damit fast das Dop- pelte der erforderlichen Reduktionsrate bis 2030. Allein der geplante Kohleausstieg wird einen erheblichen Beitrag zur Emis- sionsreduktion bis 2030 leisten. Zusätzlich machen die im Konjunkturpaket beschlos- senen Änderungen den Weg jetzt frei für den weiteren Ausbau der Solar- und Off- shore-Windkraft. Für die aktuell wichtigste erneuerbare Erzeugungsart allerdings – Windkraft auf dem Land – braucht es noch Abb. 2 Wirtschaftlichkeit, Wertung H2 2019 und H1 2020 weitere Maßnahmen, um das 2030er-Ziel zu erreichen. 46 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 70. Jg. (2020) Heft 9
ENERGIEMARKT – POLITIK ■ Verkehr: Pro Jahr muss der Verkehrs- 2,2 % p.a. gegenüber 2019. Die tatsächlich lagen sehr viel stärker forciert werden. Not- sektor fast genauso viel Kohlendioxid ein- erforderlichen Anstrengungen liegen sogar wendig wären zusätzliche 3 bis 4 GW pro sparen wie die Energiewirtschaft, nämlich noch höher, wenn man berücksichtigt, Jahr – das Dreifache des Zubaus von 2019. 6,1 Mt (3,7 % p.a. gegenüber 2019). Bisher dass zukünftiges Wirtschaftswachstum die Im Wärmesektor wiederum fehlt es an kommt die Verkehrswende allerdings kaum Emissionen weiter erhöht. Von der Errei- einem klaren Konzept, wie ein weitgehend voran, im Gegenteil: Im vergangenen Jahr- chung dieser Ziele ist der Sektor noch weit klimaneutraler Gebäudebestand zu errei- zehnt sind die CO2-Emissionen sogar um entfernt: Die Emissionen sanken lediglich chen ist, z.B. über eine deutliche Anhebung 6,8 % auf 165 Mt gestiegen. Hier kann das um 0,6 Mt von 188,2 Mt in 2010 auf zuletzt der Effizienzstandards. Konjunkturpaket gegensteuern und sowohl 187,6 Mt. Abgesehen von der erwähnten die Etablierung von Elektrofahrzeugen als Förderung der Wasserstofftechnologien Um die Energiewende in der Dimension Um- auch die Schaffung von Ladeinfrastruktur setzt das Konjunkturpaket bislang nicht welt- und Klimaschutz insgesamt wieder auf vorantreiben. ausreichend Anreize für mehr Klimaschutz Kurs zu bringen, braucht es nicht nur einmalige ■ Wärme/Gebäude: Verglichen mit dem im Industriesektor. Finanzspritzen aus dem Konjunkturpaket, son- Verkehr liegt im Wärmesektor das jährliche dern grundlegende Weichenstellungen für lang- Einsparziel bis 2030 um einiges niedriger, Wo die Politik noch nachbessern fristige Investitionen. Dazu zählt insbesondere nämlich bei 4,4 Mt CO2, prozentual gese- muss die schnelle Umsetzung des vom Bundeswirt- hen aber ebenso hoch (3,7 % p.a. gegenüber schaftsministerium aufgestellten 18-Punkte- 2019). Die Emissionseinsparungen bei Ge- Die Lücken zwischen Soll und Ist zeigen: Plans, der u.a. die Genehmigungsverfahren für bäuden betrugen im vergangenen Jahrzehnt Es sind noch viele Schritte zu gehen, Windenergie an Land beschleunigt. allerdings nur 2,9 Mt CO2 pro Jahr. Hier gibt wenn Deutschland seine Klimaziele 2030 es noch viel aufzuholen. Denn trotz aller wirklich erreichen will – in den Sektoren ■ Wirtschaftlichkeit: Die Stromkosten für staatlichen Fördermaßnahmen ist der große selbst, aber auch seitens der Politik. Nach- Privathaushalte und Industrie bleiben auf Wurf in Sachen klimagerechte Gebäudesa- besserungsbedarf besteht in allen drei absehbare Zeit hoch. Zwar ist im Konjunk- nierung bislang ausgeblieben. So stagniert Dimensionen des energiewirtschaftlichen turpaket eine Deckelung der EEG-Umlage die Sanierungsrate laut Deutscher Energie- Dreiecks: vorgesehen, allerdings auf immer noch Agentur bei rund 1 % pro Jahr, obwohl zum beträcht-liche 6,5 ct/kWh in 2021 und 6 ct/ Erreichen der Klimaziele mindestens 1,5 % ■ Umwelt- und Klimaschutz: Der gegen- kWh im Jahr darauf – dies entspricht einer notwendig wären. Gerade im Wärmesektor wärtige Ausbaupfad von Solar- und Offshore- Entlastung von gerade einmal 0,8 % bzw. hat Deutschland in der letzten Dekade wert- Windkraft kann laut Agora-Studie die Öko- 2,4 % gegenüber dem durchschnittlichen volle Zeit verloren. stromlücke nur zum Teil schließen. Um bis Haushaltsstrompreis für 2020. Auch die ■ Industrie: Um 4,1 Mt pro Jahr müssen 2030 den geplante Erneuerbaren-Anteil von sonstigen Abgaben für Strom bleiben unver- die CO2-Emissionen in der Industrie sinken. 65 % an der Stromerzeugung zu realisieren, hältnismäßig hoch: Nach Berechnungen von Dies entspricht einer Reduktionsrate von muss der Zubau von Onshore-Windkraftan- Agora Energiewende betrugen sie 2018 fast das Neunfache der Abgaben auf Erdgas und nahezu das Dreifache gegenüber denen von Benzin. Kaum zu glauben, aber bei Betrach- tung der Preise pro Energieeinheit ist Benzin nur halb so teuer wie Strom und deutlich weniger belastet durch Steuern, Abgaben und Umlagen. ■ Versorgungssicherheit: Beim dringend benötigten Ausbau der Transportnetze gerät Deutschland mehr denn je ins Hintertreffen. Von den ursprünglich bis 2020 geplanten 3.321 km ist erst ein gutes Drittel fertigge- stellt. Damit der Netzausbau wieder Fahrt aufnimmt, müssen die Genehmigungsver- fahren beschleunigt und mehr Rechtssi- cherheit beim Ausbau für die Netzbetreiber geschaffen werden. Partikularinteressen, etwa die aktuellen Widerstände gegen den Bau neuer Trassen, gilt es dabei zügig zu adressieren. Auch die Kraftwerkskapazität für die Stromversorgung ist bislang nicht Abb. 3 Versorgungssicherheit, Wertung H2 2019 und H1 2020 langfristig gesichert. Hier warten auf die Politik noch massive Herausforderungen. ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 70. Jg. (2020) Heft 9 47
ENERGIEMARKT – POLITIK Der Klimawandel wartet nicht – Handeln tut not Innerhalb der Kategorien verzeichnen einer bisherigen Zielerreichung von 108 % gleich viele Indikatoren positive wie bzw. 186 % verbleiben daher beide in der COVID-19 hat binnen weniger Wochen die negative Trends: Verbessert haben sich Kategorie „realistisch“. Welt von Grund auf verändert. Vieles, das der EE-Anteil am Bruttostromverbrauch, vor der Krise als undenkbar galt, wurde auf die Sektorkopplung im Bereich Verkehr, Drei Indikatoren auf der Kippe einmal Realität. Auch große Teile des Wirt- die verfügbare Kapazität aus Nachbar- schaftssystems, vom Geschäftsmodell bis ländern und die Kosten für Netzeingriffe. Der EE-Anteil am Bruttoendenergiever- zur Lieferkette, werden im Zuge von Corona Schlechtere Werte verbuchen hingegen brauch lag bei 17,1 % und hat damit sein neu gestaltet. In dieser Dynamik steckt eine die Sektorkopplung im Bereich Wärme, aktuelles Ziel von 17,4 % nahezu erfüllt. gewaltige Chance – auch für die Energie- der Haushaltsstrompreis, die gesicherte Doch ohne umfassende Elektrifizierung wende. Reservemarge und einmal mehr der des Verkehrs- und Wärmesektors wird der Ausbau der Transportnetze. Die Negativ- Zielerreichungsgrad in den nächsten Jah- Jetzt ist der Zeitpunkt, um „nachhaltige” trends zeigen, dass die Energiewende ren erheblich sinken, denn der EE-Anteil Impulse für die Dekarbonisierung unseres trotz kurzfristiger positiver Effekte wei- müsste doppelt so schnell ansteigen, um Landes zu setzen und den Umbau des Ener- terhin stockt – unabhängig von Corona. die geforderten 30 % bis 2030 zu erreichen. giesystems voranzutreiben. Denn der Klima- wandel wartet nicht: Die entscheidenden Fünf Indikatoren mit stabil Zwar hat der Indikator Sektorkopplung: Schritte zur Energiewende müssen in diesem realistischer Zielerreichung Wärme bereits 2018 das 2020-Ziel von 14 % Jahrzehnt gegangen werden, wenn Deutsch- EE-Anteil am Wärmeverbrauch überschrit- land die Klimaziele erreichen will. Der EE-Anteil am Bruttostromverbrauch lag ten. Aktuell liegt die Zielerreichung bei im ersten Halbjahr 2020 nach Schätzun- 146 %. Um allerdings auch die neue Marke gen des Branchenverbands BDEW bei fast von 27 % bis 2030 zu erreichen, müsste der Energiewende-Index 50 % und damit deutlich über dem Zielwert EE-Anteil ab jetzt achtmal schneller anstei- Deutschland: die Indikatoren von 34 % (Abb. 1). Der Indikator kommt gen als im vergangenen Jahrzehnt. im Überblick damit auf eine Zielerreichung von 191 % – aber wohl nur vorübergehend. Denn haupt- Die gesicherte Reservemarge hat sich nahe- Steigender Anteil der Erneuerbaren, ursächlich waren die günstigen Witterungs- zu halbiert – von 4,7 % in 2018 auf nunmehr sinkender CO2-Ausstoß: Auf den ersten verhältnisse und der geringere Strom- 2,3 %. Noch liegt der Indikator in seiner Blick fällt die aktuelle Energiewende- verbrauch infolge der Corona-Beschrän- Zielerreichung bei 109 %, doch mit dem bilanz recht positiv aus. Doch bei genauer kungen. Ausstieg aus der Kern- und Kohleenergie Betrachtung besteht in vielen Bereichen könnte die lange Zeit stabile Reservemarge weiterhin deutlicher Handlungsbedarf. Die Gesamtenergiekosten Haushalte ihre Zielmarke mittelfristig verfehlen. hatten 2019 einen Anteil von 10,2 % am Die 15 Indikatoren im Energiewende- Gesamtwarenkorb der Verbraucher – Zwei Indikatoren mit Anpassungsbedarf Index bilden die oben „beschriebenen” nur 0,1 % mehr als im Jahr 2009. Dieser Effekte der COVID-19-Pandemie bis- stabile Wert bringt den Indikator auf Der CO2e-Ausstoß verbleibt mit einem Ziel- lang nur in Einzelfällen ab, da die eine Zielerreichung von 99 % (Abb. 2). erreichungsgrad von 83 % nach dem Daten- zugrunde liegenden Daten größten- stand von 2019 in der Kategorie „leichter teils noch vor dem Lockdown erhoben Der Indikator Verfügbare Kapazität für Anpassungsbedarf“. Zwar wird der Indika- worden sind. Die Datenerhebung zur Import aus Nachbarländern kann mit tor dank der deutlich geringeren Emissio- Energiewende erfolgt zumeist in einem einer Zielerreichung von 203 % als stabil nen während der Corona-Lockdowns sein sechsmonatigen oder jährlichen Turnus. realistisch betrachtet werden (Abb. 3). Ziel in diesem Jahr voraussichtlich fast voll- Somit ergibt sich ein Bild, das sich Aktuell stehen in Deutschlands Nachbar- ständig erfüllen, doch der Effekt wird nicht von der letzten Veröffentlichung im ländern 21,4 GW für Stromimporte zur von Dauer sein. Die weitere Einsparung von März zunächst nicht wesentlich unter- Verfügung. Mittelfristig könnte der Indi- CO2 bleibt deshalb eine der wichtigsten Auf- scheidet – nahezu alle Indikatoren ver- kator weiter an Relevanz gewinnen, denn gaben der Energiewende. bleiben in ihrer Kategorie: Fünf sind der geplante Ausstieg aus Kernenergie in ihrer Zielerreichung „stabil realis- und Kohleverstromung lässt die Reserve- Die Arbeitsplätze in erneuerbaren Energien tisch“, fünf weitere in der Kategorie marge hierzulande spürbar schrumpfen in Deutschland wurden aufgrund neu ver- „unrealistisch“. Drei momentan noch und macht Stromimporte bei einem Ver- fügbarer Daten für das Jahr 2018 rückwir- als realistisch eingestufte Indikatoren sorgungsengpass womöglich notwendig. kend nach unten korrigiert. Damit rutscht stehen mittelfristig auf der Kippe, für der Indikator erstmals in die Kategorie An- zwei weitere (darunter erstmals auch Für die Indikatoren Ausfall Stromver- passungsbedarf ab. Mit den jetzt gezählten für die Arbeitsplätze in erneuerbaren sorgung und Industriestrompreis liegen 263.700 Arbeitsplätzen wird der ursprüng- Energien) besteht Anpassungsbedarf. keine belastbaren neuen Daten vor. Mit liche Zielwert aus dem Jahr 2009 um fast 48 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 70. Jg. (2020) Heft 9
ENERGIEMARKT – POLITIK Dr. T. Vahlenkamp, Senior Partner, McKin- 60.000 unterschritten, die Zielerreichung Die Kosten für Netzeingriffe fielen 2019 sey & Company, Düsseldorf; Dr. I. Ritzen- liegt bei 82 % – Tendenz fallend. Denn der deutlich von 10,8 € pro MWh aus Er- hofen, Partner, McKinsey & Company, Köln; geplante Stellenabbau bei Windturbinen- neuerbaren auf 6,4 €. Dennoch ist das Dr. H. Engel, Partner, McKinsey & Company, herstellern wie Enercon lässt eine weitere angestrebte Ziel von 1 € pro MWh erst Frankfurt, F. Pflugmann, Senior Associate, Verschlechterung des Indikators erwarten. zu 61 % erreicht. McKinsey & Company, Frankfurt; F. Stock- hausen, Analyst, McKinsey & Company, Zielerreichung für fünf Indikatoren Der Indikator Ausbau Transportnetze Düsseldorf unrealistisch wird mit nur noch 35 % Zielerreichung thomas_vahlenkamp@mckinsey.com immer unrealistischer. 3.321 km hät- Der Primärenergieverbrauch überschrei- ten bis Mitte 2020 fertiggestellt sein Feedback erwünscht tet mit aktuell 12.832 PJ klar den Ziel- müssen, um auf dem Zielpfad zu blei- Der Energiewende-Index bietet alle sechs wert von 11.744 PJ und bleibt mit 59 % ben – realisiert wurden gerade einmal Monate einen Überblick über den Status der Zielerreichung weiterhin unrealistisch. 1.340 km. Energiewende in Deutschland. Reaktionen und Rückmeldungen seitens der Leser sind aus- Der Indikator Sektorkopplung: Verkehr Ebenfalls unrealistisch bleibt das Ziel drücklich erwünscht und werden bei der Aktu- erreicht im ersten Halbjahr 2020 sein für den deutschen Haushaltsstrompreis. alisierung des Index berücksichtigt, sofern es Ziel nur zu 19 %. Zwar stieg der Bestand Mittlerweile liegt er fast 56 % über dem sich um öffentlich zugängliche Daten und Fak- an Elektrofahrzeugen gegenüber der europäischen Durchschnitt – fast 10 ten handelt. Auf der Website von McKinsey be- letzten Index-Erhebung um gut 70.000 Prozentpunkte höher als bei der letzten steht die Möglichkeit, den Autoren Feedback auf jetzt 283.504. Doch von den aktuell Erhebung. Der Indikator fällt damit in zum Thema Energiewende zu geben: geforderten 763.720 ist Deutschland fast seiner Zielerreichung auf 0 %. www.mckinsey.de/energiewendeindex eine halbe Million E-Autos entfernt. Werb.-Nr. 200369 Mit Technikwissen Energie sicher nutzen: Entdecken Sie die zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten von Flüssiggas! Das Werk stellt Flüssiggas vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen, wie der Energiewende 2020 und der Debatte um die Luftreinhaltung, in allen Einsatzbereichen vor. Wichtige rechtliche und 478 Seiten politische Rahmenbedingungen werden ebenso beleuchtet wie bestehende Hindernisse beim 59,– € (Buch/E-Book) Einsatz des Gases. 82,60 € (Kombi) Preisänderungen und Irrtümer vorbehalten. Sowohl das E-Book als auch das Kombiangebot (Buch + E-Book) sind ausschließlich auf www.vde-verlag.de erhältlich. ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 70. Jg. (2020) Heft 9 00 Bestellen Sie jetzt: (030) 34 80 01-222 oder www.vde-verlag.de
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