ENERGIEWENDE 2030: NEUE ZIELE, NEUE HERAUSFORDERUNGEN - MCKINSEY
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ENERGIEMARKT – POLITIK Energiewende 2030: Neue Ziele, neue Herausforderungen Thomas Vahlenkamp, Ingmar Ritzenhofen, Fridolin Pflugmann und Fabian Stockhausen Die Bilanz nach fast zehn Jahren Energiewende in Deutschland gibt der Politik wenig Anlass, sich auf den bisherigen Erfolgen auszuruhen. Im Gegenteil: Um die nächsten Meilensteine bis 2030 zu erreichen, müssen der Ausbau der erneuerbaren Ener- gien wieder forciert, die Kostenspirale gebremst und drohende Probleme bei der Versorgungssicherheit abgewendet werden. Grund genug, einen Blick auf die größten Herausforderungen im kommenden Jahrzehnt zu werfen – und den Energiewende- Index an den neuen Zielen auszurichten. Der Rückblick auf die deutsche Energiepoli- tik des letzten Jahrzehnts ist wenig zufrie- denstellend. Viele Ziele, die von der Politik gesteckt wurden, sind verfehlt worden. Von Deutschland als Vorreiter der Energiewende ist in diesen Tagen – auch international – kaum mehr die Rede. Die Probleme ziehen sich durch alle drei Dimensionen des energiewirtschaftlichen Dreiecks: Im Bereich Umwelt-und Klimapo- litik ist es Deutschland immer noch nicht gelungen, die CO2-Emissionen hinreichend zu senken – trotz der jüngsten Reduktions- erfolge. Zudem sind wichtige Treiber der CO2-Bilanz wie der Ausbau der Windenergie komplett ins Stocken geraten. Im Bereich Versorgungssicherheit bewegt sich Deutsch- land zwar noch immer auf hohem Niveau, allerdings mehren sich die Anzeichen für Der Netzausbau zählt zu den Mammutherausforderungen der Energiewende, die keinen Auf- schub dulden und auf welche die Politik eine Antwort finden muss Bild: Adobe Stock Risiken künftiger Engpässe, wie die Verzö- gerungen beim Ausbau der Transportnetze zeigen. Im Bereich Wirtschaftlichkeit er- zeuge bis 2020 schon lange seine Gültig- 2026 erfolgt die Auktionierung der Zertifi- reicht Deutschland seine Ziele nach wie vor keit verloren hatte. Nun sollen bis 2030 kate basierend auf einer festgelegten maxi- nicht: Deutsche Verbraucher zahlen weiter- mindestens sieben, im Idealfall zehn malen Emissionsmenge. hin erheblich mehr für ihren Strom als ihre Millionen Elektrofahrzeuge auf deutschen europäischen Nachbarn. Straßen unterwegs sein. Vergleichbar Die Herausforderungen konkrete Ziele – abgesehen vom Anteil der durch das Klimapaket Neue Weichenstellungen Erneuerbaren – gibt es für den Wärme- in der Klimapolitik sektor allerdings nicht. Im Bereich Wirt- Aus den Weichenstellungen der Bundes- schaftlichkeit will die Politik vor allem regierung ergeben sich neue Herausforde- Mit dem im Dezember 2019 verabschiede- die Verbraucher entlasten: durch Steuer- rungen in allen drei Dimensionen des ener- ten Klimapaket wurden nun die klima- und vergünstigungen bei der Nutzung von giewirtschaftlichen Dreiecks: energiepolitischen Weichen für das kom- Schienenfernverkehr, durch Reduzierung mende Jahrzehnt gestellt. Als oberstes Ziel der EEG-Umlage und (ab 2021) durch eine ■ Umwelt- und Klimaschutz: Ein hoher gibt die Bundesregierung aus, die Treib- Erhöhung der Pendlerpauschale. CO2-Preis im Energiesektor und gute Wit- hausgasemissionen bis 2030 um 55 % terungsbedingungen für Erneuerbare ha- gegenüber 1990 zu reduzieren. Insgesamt enthält das Klimapaket mehr ben die Treibhausgasemissionen 2019 um als 50 Einzelmaßnahmen. Herzstück ist mehr als 50 Mio. t sinken lassen. Dennoch Für den Verkehrssektor werden endlich die Einführung einer CO2-Bepreisung im ist zweifelhaft, dass die verbleibende Lücke klare Ziele für die Elektrifizierung Verkehrs- und Wärmesektor. Ab 2021 wer- von ca. 61 Mio. t zum Zielwert 2020 noch genannt, nachdem das vormals kommuni- den CO2-Zertifikate zu einem Festpreis aus- in diesem Jahr geschlossen werden kann. zierte Ziel von einer Million Elektrofahr- gegeben, der jährlich angehoben wird. Ab Agora Energiewende warnt, dass die Emissi- 56 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 70. Jg. (2020) Heft 3
ENERGIEMARKT – POLITIK onen bis 2022 durch erhöhtes Verkehrsauf- Nachbarländern zusätzliche Kapazität vorhan- Drei neue Indikatoren für kommen sogar wieder steigen könnten. Um den ist und ausreichend Interkonnektorkapa- Umwelt- und Klimaschutz das CO2-Reduktionsziel von -55 % bis 2030 zität zur Verfügung steht. Da einige Nachbar- dennoch zu erreichen, müssen die bisheri- länder ebenfalls Kraftwerkskapazitäten still- Der neue Indikator EE-Anteil am Bruttoend- gen Erfolge aus dem Stromsektor auf Ver- legen, wie z.B. Belgien infolge des Ausstiegs energieverbrauch ermittelt, wie stark erneu- kehr und Wärme übertragen werden. Vor aus der Kernenergie oder Italien im Rahmen erbare Energien über alle Sektoren hinweg allem bei der Elektromobilität und Moder- des Kohleausstiegs, ist dies zweifelhaft. – nicht nur im Stromsektor – zur Energie- nisierung der Wärmeversorgung braucht wende beitragen. Damit ist der Indikator zu- es sichtbare Fortschritte. Gelingen soll dies ■ Wirtschaftlichkeit: Der Haushaltsstrom- gleich ein wichtiger Gradmesser der Sektor- durch die bereits erwähnte CO2-Bepreisung preis wird absehbar auch im neuen Jahrzehnt kopplung. Der Bruttoendenergieverbrauch ab 2021. Der Einstiegspreis liegt mit 25 € weiter steigen. Bereits für 2020 haben laut erfasst sämtliche Energielieferungen an pro t CO2 deutlich über dem ursprünglich Vergleichs- und Vermittlungsportal Verivox die Sektoren Industrie, Verkehr, Haushal- im Klimapaket der Bundesregierung vor- 506 der 820 örtlichen Stromversorger Preiser- te und Gewerbe sowie Handel und Dienst- geschlagenen Preis von 10 €. Bis zum Jahr höhungen von durchschnittlich 6 % angekün- leistungen. Dies schließt die Erzeugung von 2025 wird er schrittweise auf bis zu 55 € digt. Mit der Einführung der CO2-Bepreisung Wärme und Strom der Energiewirtschaft für ansteigen. Nach dieser Einführungsphase im Wärme- und Verkehrssektor dürften ab den Eigenverbrauch ein, sowie auch etwaige soll eine definierte Menge an Zertifikaten 2021 auch die Kosten für andere Energieträ- Leitungs- und Transportverluste durch Ver- auktioniert werden. Es steht zu erwarten, ger wie Heizöl, Erdgas und Benzin steigen. teilung und Übertragung. Als Ziel für 2030 dass diese Preisgestaltung bis 2025 alleine hat die Bundesregierung einen EE-Anteil von nicht ausreichen wird, um die CO2-Redukti- Was sich beim Energie- 30 % vorgegeben. Der neue Indikator ist eine onsziele zu erreichen. Hinzu kommt, dass wende-Index ändert sinnvolle Ergänzung zu dem bereits existie- sich der neue CO2-Preis auf verschiedene renden Indikator Primärenergieverbrauch, Industriezweige unterschiedlich auswirken Um das Erreichen der neu formulierten Ziele der vorrangig ermittelt, ob die Effizienzmaß- wird: Während einerseits die Wettbewerbs- bis 2030 zu verfolgen, wurden fünf der nahmen zur Reduktion des Verbrauchs grei- fähigkeit der energieintensiven Industrie bislang untersuchten 15 Indikatoren des fen, während der neue Indikator EE-Anteil leiden könnte, dürfte der Preis andererseits Energiewende-Index ausgetauscht – drei im am Bruttoendenergieverbrauch zusätzlich die nicht hoch genug sein, um ausreichend An- Bereich Umwelt- und Klimaschutz sowie je Durchdringung mit erneuerbaren Energien reize für umfassende Investitionen in neue, einer in den Bereichen Wirtschaftlichkeit erfasst. umweltfreundliche Energieinfrastruktur zu und Versorgungssicherheit. Außerdem wur- setzen (z.B. in erneuerbare Wasserstoffer- den in einigen Indikatoren Berechnungs- Mit dem Indikator Sektorkopplung Verkehr zeugung). Zudem hängt das Erreichen der grundlagen angepasst. wird erstmals der Fortschritt bei der Elektri- Klimaziele in hohem Maße weiter vom Aus- fizierung im Verkehrssektor gemessen; als bau der erneuerbaren Energien ab. Jedoch Die grundsätzliche Betrachtung der drei Messgröße dienen die im Klimakonzept vor- ging vor allem der Windenergieausbau Dimensionen des energiewirtschaftlichen gegebenen Ziele von mindestens sieben Mil- zuletzt massiv zurück, anstatt sich zu be- Dreiecks, in denen der Erfolg der Ener- lionen Elektrofahrzeugen bis 2030. Grund- schleunigen: Laut IWR sind 2019 nur 286 giewende gemessen wird, bleibt erhalten: lage für die Messung der Zielerreichung ist Windenergieanlagen mit einer Kapazität Umwelt- und Klimaschutz, Versorgungs- der jeweils aktuelle Bestand an Elektrofahr- von 958 MW zugebaut worden – damit liegt sicherheit, Wirtschaftlichkeit. Für jeden der zeugen, Plug-in-Hybriden und Fahrzeugen der Zubau 82 % unter dem Niveau des Rekord- 15 Indikatoren werden Zielwerte für 2030 mit Brennstoffzellantrieb in Deutschland. jahrs 2017. abgeleitet. Diese basieren auf den Zielen der Bundesregierung – sofern explizit formu- Der neue Indikator Sektorkopplung Wärme ■ Versorgungssicherheit: Die angekündigte liert. Einige Bereiche sind jedoch nicht mit gibt Aufschluss über die Durchdringung des Abschaltung von Kohle- und Kernkraftwerken konkreten politischen Zielen hinterlegt, wie Wärmesektors mit erneuerbaren Energien. stellt das Energiesystem vor große Heraus- z.B. die Gewährleistung der Versorgungs- Basierend auf dem Zielpfad der Bundes- forderungen. Insbesondere die Verfügbarkeit sicherheit und die Vermeidung von Strom- regierung für den Anteil erneuerbarer Ener- gesicherter Kapazität im In- und Ausland ge- ausfällen. Hier gelten historisch abgeleitete gien im Wärmesektor liegt der zu erreichen- winnt dadurch an Bedeutung. Bis 2030, so hat Zielwerte – etwa der Status quo zu Beginn de Zielwert des Indikators bei 27 % bis 2030. McKinsey in Simulationen des Strommarkts der Energiewende, um mögliche Verschlech- errechnet, wird bis zu 17 GW zusätzliche terungen zu messen. Um den Fortschritt Je ein neuer Indikator für Wirtschaft- Kraftwerkskapazität benötigt, um Nachfrage- eines Indikators auch ohne definierten Ziel- lichkeit und Versorgungssicherheit spitzen mit gesicherter Erzeugung hierzu- pfad bewerten zu können, werden zwischen lande abdecken zu können. Ohne Neubauten Start- und Zielwert linear ansteigende Mit der Einführung eines übergreifenden wird Deutschland darauf angewiesen sein, „Etappenziele“ gesetzt. Vorhandene Ziel- CO2-Preises rücken erstmals die Kosten seine Energievesorgung durch ausländische werte für 2020 werden als Zwischenschritt aller Energieträger in den Blickpunkt. Mit Erzeugungskapazität zu sichern. Inwiefern für die Interpolation der jährlichen Etappen- dem neuen Indikator Gesamtenergiekosten dies möglich ist, hängt davon ab, ob in den ziele herangezogen. Haushalte wird dem Rechnung getragen und ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 70. Jg. (2020) Heft 3 57
ENERGIEMARKT – POLITIK nicht nur die Preisentwicklung von Strom, gen kann. Negative Werte führen zu einer speisung berücksichtigt, jedoch nicht deren sondern auch von Gas, Heizöl, Kraft- und Zielerreichung unter 100 % und bedeu- exakte zeitliche Korrelation. Aufgrund der anderen Brennstoffen erfasst. Dabei wird ten, dass die Nachbarländer ihrerseits auf Nutzung von Ist-Daten erlaubt dieses Vorge- gemessen, ob der Anteil der Energiekosten Importe angewiesen sind und in Zeiten von hen jedoch einen klaren Blick auf den Status am Gesamtwarenkorb eines Haushalts wäh- Knappheit die deutsche Stromversorgung quo und setzt nicht auf annahmegestützten rend der Energiewende gestiegen ist. Zwar nicht zuverlässig stabilisieren könnten. Prognosen auf, wie z.B. die vermehrt ver- ist dadurch der Effekt sinkender Energie- Die Zielerreichung fällt auf 0 %, wenn die wendete wahrscheinlichkeitsbasierte Kenn- preise für Öl, Gas und Kohle enthalten, die „Import-Reservemarge“ bei -25 % liegt; ana- zahl Loss of Load Expectation (LOLE). im Wesentlichen nicht von der Energie- log wird bei +25 % eine Zielerreichung von wende in Deutschland abhängig sind, aber 200 % erreicht – dies entspräche in etwa der Anpassung und Fortführung dennoch entspricht diese Sichtweise dem vollständigen Ausschöpfung der aktuellen von zehn Indikatoren angestrebten Gesamtblick auf die Energie- Interkonnektorkapazität. kosten. Das Ziel entspricht dem Ausgangs- Der Status von zehn Indikatoren des bisheri- wert zu Beginn der Energiewende in 2009, Der Import-Indikator ist immer in Kombin- gen Energiewende-Index wird auch künftig also keine Verteuerung der realen Gesamt- ation mit dem Indikator Gesicherte Reserve- weiter betrachtet, vier davon mit angepass- energiekosten. marge in Deutschland zu betrachten. Gemein- ten Zielen, um die neuen politischen Vorga- sam zeigen sie, ob in Deutschland ausrei- ben für 2030 und Methodikänderungen zu Der Indikator Verfügbare Kapazität für chend gesicherte Kapazität zur Verfügung reflektieren: Import aus Nachbarländern misst erstmals steht, um Lastspitzen abzudecken. Z.B. die gesicherte Kapazität in Deutschlands könnte eine geringe Zielerfüllung von 70 % Das Ziel für den Indikator EE-Anteil am angrenzenden Märkten, die zur Sicherung bei der Gesicherten Reservemarge durch eine Bruttostromverbrauch wird auf 65 % angeho- der hiesigen Versorgung im Bedarfsfall zur Übererfüllung von 130 % in der Verfügbaren ben. Für den Indikator CO2e-Ausstoß lautet Verfügung stünde. Damit wird der wachsen- Kapazität für Import aus Nachbarländern voll- das neue Reduktionsziel -55 % (gegenüber den Bedeutung des europäischen Verbunds ständig ausgeglichen werden, um in Summe 1990). Der Primärenergieverbrauch soll bis für das zentrale Thema Versorgungssicher- wieder auf 100 % Zielerreichung zu kommen. 2050 um 50 % gegenüber 2008 gesenkt heit Rechnung getragen. Die Kennzahl werden, während bis 2020 eine Reduktion folgt einer ähnlichen Methodik wie für die Hiermit wird naturgemäß eine Extrem- um 20 % vorgegeben wurde. Bei linearer Berechnung der Reservemarge durch die situation betrachtet, da ein gleichzeitiges Interpolation vom 2020-Zwischenziel ist bis deutschen Übertragungsnetzbetreiber: Um Auftreten von Spitzenlast und Dunkelflau- 2030 eine Senkung des Verbrauchs um 30 % importfähige Kapazitäten zu ermitteln, wird te unterstellt und somit entsprechend der gegenüber 2008 erforderlich. Auf Grund der die gesicherte vorhandene Kapazität in den Berechnungslogik der Netzbetreiber nur veränderten Berechnungslogik der Reser- Nachbarländern (Niederlande, Belgien, gesicherte und nur zu einem geringen Teil vemarge wurde das Ziel für den Indikator Frankreich, Schweiz, Österreich, Tschechien, erneuerbare Kapazität eingerechnet wird. Gesicherte Reservemarge angepasst. Zukünf- Polen, Dänemark, Norwegen) mit der Spitzen- Somit wird zwar die Wahrscheinlichkeit tig gilt das Ziel zu 100 % erreicht, wenn die last dort verglichen. Die verbleibende von Kraftwerksverfügbarkeiten und EE-Ein- gesicherte installierte Kapazität in Deutsch- Kraftwerkskapazität stünde Deutschland dann in einer Engpasssituation maximal zur Verfügung – vorausgesetzt, die vorhan- dene Interkonnektorkapazität reicht aus. Diese kumulierte Berechnung unterstellt allerdings, dass keine Netzengpässe zwi- schen Deutschlands Nachbarländern exis- tieren. Z.B. könnte verfügbare Kapazität in Frankreich auch über die Schweiz nach Deutschland importiert werden, insofern die Kapazität des deutsch-französischen Interkonnektors bereits ausgeschöpft ist. Die tatsächlich verfügbare Engpasskapazi- tät wird dann ins Verhältnis zur deutschen Spitzenlast gesetzt und kann als „Import- Reservemarge“ interpretiert werden. Ein positiver Wert gilt als 100 %-Zielerreichung und bedeutet, dass ausländische Kapazität in einer Engpasssituation zur Stabilisierung Abb. 1 Umwelt- und Klimaschutz, Wertung H1 2019 und H2 2019 der deutschen Stromversorgung beitra- 58 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 70. Jg. (2020) Heft 3
ENERGIEMARKT – POLITIK land der Spitzenlast entspricht. Hierbei Energiewende-Index Der EE-Anteil am Bruttoendenergieverbrauch wird davon ausgegangen, dass erneuerbare 2030: die Ergebnisse liegt bei 16,5 % und damit in greifbarer Nähe Energien aufgrund von wetterbedingten zum 2020-Ziel von 18 %. Damit ergibt sich Schwankungen bei der Erzeugung nur zu Auf den ersten Blick liefert der aktuali- ein Zielerreichungsgrad von 95 % (Abb. 1). einem geringem Teil zur gesicherten Kapazi- sierte Energiewende-Index ein passables Allerdings stammt der letzte verfügbare tät beitragen können. Somit wird Windkraft Ergebnis, was das Erreichen der ener- Datenstand aus dem Jahr 2018 – jüngere nur mit 3 % der installierten Leistung einge- giepolitischen Ziele angeht: Von den 15 Entwicklungen bleiben noch abzuwarten. rechnet und Solaranlagen werden gar nicht untersuchten Indikatoren sind fünf als Bis 2030 allerdings müsste der EE-Anteil berücksichtigt – also ein Abschlag von 100 % unrealistisch in ihrer Zielerreichung doppelt so schnell ansteigen, um auch das zugrunde gelegt. einzustufen und neun als realistisch. neu gesteckte Ziel von 30 % zu erreichen. Der Indikator CO2e-Ausstoß hat sich erst- Der Ausbau von Solar- und Windkraft allein Für die verbliebenen sechs Indikatoren mals in die Kategorie „leichter Anpas- wird dafür nicht mehr ausreichen – hier- (Ausfall Stromversorgung, Kosten Netz- sungsbedarf“ verbessert. Grund zum zu muss vor allem die Elektrifizierung im eingriffe, Haushaltsstrompreis, Industrie- Jubel besteht allerdings nicht. Denn die Transport- und Wärmesektor vorankom- strompreis, Arbeitsplätze in erneuerbaren genaue Analyse zeigt: Vier der aktuell men. Doch genau dabei tut sich Deutschland Energien, Ausbau Transportnetze) blei- noch als realistisch eingestuften Indika- bisher schwer. ben Berechnungslogik und Zielsetzung toren stehen auf der Kippe. Sie spiegeln unverändert. Das bedeutet, dass für jene zwar letzte aktuelle Fortschritte bei der Mit 14,4 % EE-Anteil am Wärmeverbrauch Indikatoren, die nicht mit konkreten poli- Energiewende wider. Doch ist bereits jetzt hat der Indikator Sektorkopplung: Wärme tischen Zielen hinterlegt sind, weiterhin absehbar, dass sich dieses Ergebnis kurz- bereits 2018 das 2020-Ziel von 14 % über- 2008 bzw. 2009 als Referenzjahr her- fristig wieder ändern könnte, wenn keine schritten; allerdings war für 2020 lediglich angezogen wird (beispielsweise bei der weiteren Anstrengungen unternommen eine minimale Steigerung um 1,6 % gegen- Abweichung des Haushaltsstrompreises werden. über 2010 vorgegeben. Tatsächlich tritt vom europäischen Durchschnitt). Der Deutschland bei der Dekarbonisierung des Grund: Dies waren die letzten Jahre vor Vier Indikatoren „auf der Kippe“ Wärmesektors in den letzten zehn Jahren der Ankündigung der Bundesregierung, auf der Stelle. Um das neue 2030-Ziel von das deutschen Energiesystem umzubau- Die folgenden vier Indikatoren werden 27 % zu erreichen, müsste der EE-Anteil im en und dem wenig später verkündeten zwar aktuell als realistisch eingestuft, Wärmesektor jetzt achtmal schneller anstei- Ausstieg aus der Kernkraft nach der allerdings stehen diese „auf der Kippe“ zu gen als im vergangenen Jahrzehnt. Ob die Katastrophe von Fukushima. Mit der einer Verschlechterung. Durch deutlich geplanten Maßnahmen ausreichen, um diese Fortschreibung dieser Indikatoren wahrt verschärfte Ziele sowie strukturelle Ver- Beschleunigung zu erreichen, ist aus aktu- der Index seine Konsistenz und stellt änderungen im deutschen Strommarkt ist eller Sicht zweifelhaft. die Vergleichbarkeit von Informationen bereits heute absehbar, dass diese Indika- über die gesamte Zeitspanne der Energie- toren aller Voraussicht nach kurz- bis mit- 2018 gab es 291.000 Arbeitsplätze in erneuer- wende hinweg sicher. telfristig vom Zielpfad abkommen werden: baren Energien in Deutschland – knapp 48.000 weniger gegenüber den zuletzt ver- öffentlichten Zahlen von 2016 (Abb. 2). Zwar bleibt der Indikator mit 90 % Zielerreichung noch immer in der Kategorie realistisch. Allerdings ist bereits absehbar, dass die Zahl der Arbeitsplätze in der Windindustrie für 2019 infolge des starken Rückgangs an Bauprojekten niedriger ausfallen wird. Die Gesicherte Reservemarge verharrt bei 4,7 %, da die Übertragungsnetzbetreiber seit 2018 keine neuen Zahlen veröffentlicht haben. Damit beträgt die Zielerfüllung des Indikators 119 % und wird als realistisch eingestuft (Abb. 3). Allerdings ist davon auszugehen, dass durch den Ausstieg aus der Kernenergie bis Ende 2022 sowie den geplanten Kohleausstieg weitere gesicherte Kapazität sukzessive wegfällt. Dies wird die Abb. 2 Wirtschaftlichkeit, Wertung H1 2019 und H2 2019 Reservemarge ohne weitere Zubauten deut- lich verschlechtern, wie im zuletzt veröf- ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 70. Jg. (2020) Heft 3 59
ENERGIEMARKT – POLITIK Nachbarländern aktuell Überkapazitäten zur Verfügung stehen: Die dort verfügbare gesicherte Kraftwerkskapazität übersteigt die kumulierte Spitzenlast deutlich um 19,2 GW, und die Interkonnektorleistung nach Deutschland beträgt rund 20,8 GW. Dies führt zu einer Zielerreichung von 194 %. Langfristig aber könnten sich auch bei diesem Indikator Verschiebungen ergeben angesichts der geplanten Stilllegung von Kohlekraftwerken beispielsweise in den Niederlanden. Der Indikator Industriestrompreis verbes- sert seine Zielerreichung auf 186 %. Grund ist eine Verringerung der Strompreis-Ab- weichung vom europäischen Durchschnitt auf nur noch 1 % im ersten Halbjahr 2019. Abb. 3 Versorgungssicherheit, Wertung H1 2019 und H2 2019 Der neu eingeführte Indikator Gesamt- energiekosten Haushalte zeigt für 2018 fentlichten Energiewende-Index vom Herbst Einschätzung nicht so massiv, dass der einen Energiekostenanteil von 10,2 % am 2019 bereits beschrieben. Indikator in seiner Zielerreichung in abseh- Gesamtwarenkorb der Verbraucher. Damit barer Zeit unrealistisch wird. liegt er nur um 0,1 % höher als im Jahr Fünf Indikatoren mit stabil 2009. Deshalb wird der Indikator in seiner realistischer Zielerreichung Laut Monitoringbericht der Bundesnetzagen- Zielerreichung mit 99 % als realistisch tur sank der Ausfall in der Stromversorgung eingestuft. Grund für das gute Abschnei- Dank eines wind- und sonnenreichen in Deutschland leicht von 15,1 Minuten im den ist allerdings, dass die starken Jahres stieg der EE-Anteil am Bruttostrom- Jahr 2017 auf 13,9 Minuten in 2018 und be- Strompreisanstiege in Deutschland durch verbrauch von 38 % in 2018 auf 43 % in legt damit einmal mehr die bisherige außer- rückläufige Preisentwicklungen auf den 2019. Der Indikator wird mit einer Zieler- ordentliche Verlässlichkeit der deutschen internationalen Öl- und Gasmärkten bis- reichung von 158 % weiterhin deutlich Stromversorgung. Die Zielerreichung des lang fast vollständig ausgeglichen wur- übererfüllt. Allerdings lässt der Rückgang Indikators liegt bei 108 %. den. Lag der Ölpreis noch 2012 zwischen- beim Zubau von Erneuerbaren, insbe- zeitlich bei 128 US$/Barrel, notiert er sondere Windenergie an Land, hier eine Der neue Indikator Verfügbare Kapazität aktuell bei lediglich rund 60 US$/Barrel. Verschlechterung in den kommenden für Import aus Nachbarländern wird als Politische oder ökonomische Krisen könn- Jahren erwarten – jedoch nach aktueller realistisch eingestuft, da in Deutschlands ten dies indessen rasch ändern und den Indikator deutlich verschlechtern. Ein Indikator mit leichtem Anpassungsbedarf Der CO2e-Ausstoß verbessert sich durch die Reduktionserfolge im vergangenen Jahr von „unrealistisch“ auf „leichter Anpassungsbedarf“ mit einem Zielerrei- chungsgrad von 81 %. Laut ersten Schät- zungen von Agora Energiewende betru- gen die CO2e-Emissionen in Deutschland 2019 rund 811 Mt, was eine spürbare Ver- ringerung um 55 Mt innerhalb von nur einem Jahr bedeutet. Dazu beigetragen hat vor allem die erneuerbare Erzeugung bei gleichzeitiger Reduktion der Kohleverstro- Abb. 4 Netzausbaupfad für Transportnetze laut BNetzA mung. Ob die Emissionen weiter zurück- gehen, hängt neben der Entwicklung der 60 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 70. Jg. (2020) Heft 3
ENERGIEMARKT – POLITIK Erneuerbaren und der Energienachfrage Trotz leichter Senkung des Primärenergie- rungen herbeizuführen, wird knapp. Denn vor allem vom Preis für CO2 ab. Und ob der verbrauchs um 148 PJ auf zuletzt 12.815 trotz der Erfolge des Jahres 2019 bleiben künftige Rückgang stark genug ausfällt, PJ ist das 2020-Ziel von 11.504 PJ noch viele offene Baustellen – vom Ausbau der um die verbliebene Einsparungslücke von in weiter Ferne. Mit einer Zielerreichung Windkraftanlagen bis zur längst über- 61 Mt CO2e in 2020 zu schließen, erscheint von 59 % verbleibt der Indikator daher im fälligen Erweiterung der Transportnetze fraglich. unrealistischen Bereich. Im vergangenen und zur Elektrifizierung des Verkehrs. Jahrzehnt ist der Primärenergieverbrauch Mammutherausforderungen allesamt, die Zielerreichung für fünf um etwa 155 PJ pro Jahr gesunken. Diese keinen Aufschub dulden und auf welche Indikatoren unrealistisch Reduktion müsste sich jetzt auf jährlich die Politik weitere Antworten fi nden 250 PJ – also um mehr als 60 % – erhöhen, muss. Die Bewertung des Indikators Ausbau um die Zielmarke von 2030 zu erreichen. Transportnetze fällt auch weiterhin mit einem Zielerreichungsgrad von 36 % Der neue Indikator Sektorkopplung: Verkehr, Dr. T. Vahlenkamp, Senior Partner, McKin- unrealistisch aus. Wegen der großen der die Anzahl zugelassener Elektrofahr- sey & Company, Düsseldorf; Dr. I. Ritzen- Verzögerungen hat die Bundesnetzagen- zeuge misst, erreicht bei mindestens sie- hofen, Partner, McKinsey & Company, Köln; tur die Fertigstellungstermine für viele ben Millionen geforderten Fahrzeugen bis F. Pflugmann, Fellow Senior Associate, Projekte inzwischen nach hinten gescho- 2030 derzeit nur einen Zielerreichungs- McKinsey & Company, Frankfurt; F. Stock- ben. Ging die Planung von 2016 noch von grad von 14 %. Im zweiten Halbjahr 2019 hausen, Research Analyst, McKinsey & 7.274 km bis Ende 2024 aus, wurde das ist der E-Fahrzeugbestand von 169.789 Company, Düsseldorf Ausbauziel inzwischen (Stand 2019) auf lediglich um etwa 43.000 auf 212.574 thomas_vahlenkamp@mckinsey.com 4.578 km heruntergeschraubt (Abb. 4). gestiegen. Bei linearer Interpolation zum Mit diesem Schritt bestätigt sich, was der 2030-Ziel, hätte er sich allerdings um fast Energiewende-Index seit Jahren anzeigt: 300.000 auf 466.755 erhöhen müssen. Die Ausbauziele bei den Transportnetzen 2020 wird für die weitere Entwicklung am Feedback erwünscht sind im aktuellen Tempo nicht realistisch Elektromobilitätsmarkt ein wichtiges Jahr, zu erreichen. Erst ab 2025 nähern sich da viele Hersteller neue Fahrzeugmodelle Der Energiewende-Index bietet alle sechs die Fertigstellungstermine wieder an für das Massengeschäft auf den Markt Monate einen Überblick über den Status der die ursprünglichen Ziele an. Allerdings bringen – dies könnte ein möglicher Kata- Energiewende in Deutschland. Reaktionen erfordert dies erhebliche Anstrengun- lysator für das lang erhoff te Wachstum und Rückmeldungen seitens der Leser sind gen: Allein für das Jahr 2025 sind mehr sein und den Indikator wieder näher an ausdrücklich erwünscht und werden bei der als 2.200 km geplant – eine Mammutauf- den Zielpfad führen. Aktualisierung des Index berücksichtigt, gabe. sofern es sich um öffentlich zugängliche Die Kosten für Netzeingriffe stiegen erneut Daten und Fakten handelt. Auf der Website Die Entwicklung beim Netzausbau ist ein von 9,1 € pro MWh Stromproduktion aus von McKinsey besteht die Möglichkeit, den ernstes Warnsignal für den Fortschritt Photovoltaik und Windkraft in 2018 auf Autoren Feedback zum Thema Energiewende der gesamten Energiewende, denn ohne 10,8 im ersten Halbjahr 2019. Der Indika- zu geben: ausreichende Netzinfrastruktur kann der tor verbleibt damit in der Kategorie unrea- www.mckinsey.de/energiewendeindex erneuerbare Strom nicht beim Endver- listisch mit einem Zielerreichungsgrad braucher ankommen. Auch um die neuen, von 31 %. späteren Fertigstellungstermine halten zu können, muss der Netzausbau forciert Der durchschnittliche deutsche Haushalts- und der Genehmigungsstau zügig aufge- strompreis ist weiterhin der höchste in löst werden: Seit Ende 2016 sind pro Jahr der gesamten EU. Die Abweichung vom gerade einmal 164 km hinzugekommen; EU-Durchschnitt stieg von 45 % im ersten benötigt wird jedoch auch bei der neuen Halbjahr 2019 noch einmal leicht auf 46 % Terminierung ein Ausbau von jährlich im zweiten Halbjahr. Mit einer Zieler- 990 km bis Ende 2025 – das Sechsfache reichung von nur 19 % wird der Indikator der bisherigen Ausbaurate, was aktuell daher als dauerhaft unrealistisch einge- unrealistisch erscheint. Zukünftig stellt stuft. sich auch die Frage, ob der bisher geplante > PRINT Ausbau der Transportnetze ausreicht, um Fazit: Mammutheraus- > ONLINE den Zubau an erneuerbaren Energien zu forderungen > DIGITAL integrieren oder ob mit dem auf 65 % hoch- geschraubten Ziel für den EE-Anteil am Die Uhr zur Umsetzung der Energie- Weitere Informationen unter: Bruttostromverbrauch die Ziele für den wende 2030 läuft. Es gibt viel zu tun. Und Netzausbau angehoben werden müssten. die Zeit, um die erforderlichen Verände- www.et-magazin.de ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 70. Jg. (2020) Heft 3 61
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