Da fühlt man sich als Underdog" - FAZ v. 23.11.2020 - Deutscher Sportakrobatik ...

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Da fühlt man sich als Underdog" - FAZ v. 23.11.2020 - Deutscher Sportakrobatik ...
FAZ v. 23.11.2020

      Da fühlt man sich als Underdog“
      Höchste Auszeichnung, geringste Anerkennung: Athleten
 nichtolympischer Verbände will der Staat stärker fördern, wird aber
         vom Deutschen Olympischen Sportbund gebremst.
                            Von Michael Reinsch, Berlin

Trainingslager und Trikots selbst finanziert: Beim Kanupolo gibt’s kein Geld für
Gold. Imago

Ein Jahr ist es her, da gewannen die Underdogs des deutschen Sports eine Art
Jackpot. Der Haushaltsausschuss des Bundestages bewilligte im November 2019
dem nichtolympischen Sport zehn Millionen Euro zusätzlich – keine Kleinigkeit
bei einer Förderung von bisher 3,9 Millionen Euro im Jahr. Das sah nach der
lange ersehnten, greifbaren Anerkennung aus für Billard und Boccia,
Speedskating und Eisstockschießen, Kegeln und Kickboxen, Ju-Jutsu oder
Tanzen, um nur einige der 26 Sportarten zu nennen, deren Verbände in der
Interessengemeinschaft der Nichtolympischen Verbände (IG NOV)
zusammengeschlossen sind. Bis dahin war der Aufschwung der Förderung, wie sie
die olympischen Sportarten in Deutschland in Abhängigkeit von der
Spitzensportreform erleben, an ihnen vorbeigezogen.
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Anschub aus Berlin: Die Politik stärkt die Position von nicht-olympischen Sportarten
wie Speedskating mit einer saftigen Mittel-Erhöhung aus freien Stücken. picture
alliance

Inzwischen herrscht Ernüchterung. Kein Cent ist von den zehn Millionen Euro
bisher beim nichtolympischen Sport angekommen. Der Zuwendungsgeber, das
Bundesinnenministerium (BMI), und die Verbände waren von dem Geldsegen
überrascht worden, auf den sich die große Koalition, Eckhardt Rehberg von der
CDU und der inzwischen zurückgetretene Johannes Kahrs von der SPD, seinerzeit
geeinigt hatten. Was passierte, beschreibt ein Sprecher des BMI: „Die erfreuliche
Einrichtung des mit 13,9 Millionen Euro ausgestatteten neuen Haushaltstitels
(. . .) war für alle beteiligten Akteure in seinem Umfang so nicht zu erwarten
gewesen. So lagen dem BMI insbesondere keine sportfachlichen Konzeptionen
des organisierten Sports vor, um die deutlich ausgeweiteten und für verschiedene
Zwecke vorgesehenen Mittel (. . .) umsetzen zu können.“ Das Ministerium habe
sich bei den Akteuren des Sports aktiv dafür eingesetzt, die notwendigen
Grundlagen für eine rechtssichere und nachhaltige Förderung zu erarbeiten. Auf
Basis „erster Ergänzungen des bestehenden Förderkonzepts“ – das Ministerium
bestand auf einige Überarbeitungen – sei nun absehbar, dass
Zuwendungsbescheide ergehen und die Verbände das Geld abrufen können. Die
stehen damit vor der Herausforderung, die Millionen in den letzten vier Wochen
des Jahres auszugeben.

„Dies war kein prioritäres Projekt des Deutschen Olympischen Sportbundes“, sagt
Martin Gerster. Der Bundestagsabgeordnete der SPD aus Biberach war neun
Jahre lange Präsident des Deutschen Sportakrobatik Bundes
mit 15 000 Mitgliedern in mehr als hundert Vereinen. Er dürfte als Mitglied des
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Haushaltsausschusses mit für den Aufschwung der Förderung gesorgt haben. Seit
Jahren gebe es eine überdeutliche Vormachtstellung der olympischen Sportarten
und Verbände (im Deutschen Olympischen Sportbund/DOSB/d. Red.), sagt
Gerster: „Die nichtolympischen werden stiefmütterlich behandelt.“ Ihr auf knapp
14 Millionen Euro gestiegenes Budget macht lediglich knapp fünf Prozent der
Spitzensportförderung des Bundes von 293 Millionen pro Jahr aus.

Diese Summe werden die nichtolympischen Verbände in diesem Jahr nicht
ausschöpfen können. Selbst wenn es ihnen gelungen wäre, die eigenständige
Geschäftsstelle einzurichten, für welche die Parlamentarier 800 000 Euro
bereitstellten, hätte der Ausfall von Wettbewerben und Trainingslagern dazu
geführt, dass ihre Sportlerinnen und Sportler einen Teil des Geldes gar nicht
brauchen. Mindestens vier Millionen Euro Fördersumme werden nach internen
Schätzungen an den Staat zurückfallen. Ob es gelingt, sie ins nächste
Haushaltsjahr zu übertragen, steht in den Sternen.

Oliver Stegemann, Gersters Nachfolger als Präsident der Sportakrobaten, ist
dennoch die Gelassenheit in Person. Er vertritt die Interessengemeinschaft der
nichtolympischen Verbände und beklagte als Gast des Sportausschusses des
Bundestages vor wenigen Wochen „die erhebliche Benachteiligung und die
Dysfunktionalität in der Förderung der nichtolympischen Verbände“. Dies führe
zu Drop-out bei den Athleten und zum Verlust von qualifiziertem Personal. Da
aber die nicht-olympischen Sportarten mit ihren World Games das Reservoir
Olympias seien – für die Sommerspiele in Tokio sind temporär Baseball und
Karate, Klettern, Skateboard und Surfen aufgestiegen –, treffe die
Vernachlässigung den gesamten Sport.

„German Open“ in Hanau: Auch Ju-Jutsu ist keine olympische Disziplin. Imago
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Die komplexen Probleme von Sportlern nichtolympischer Sportarten werden am
Beispiel von Elena Gilles deutlich. Sie hat mit der Nationalmannschaft im
Kanupolo zweimal die World Games gewonnen. Ihr Verband ist olympisch, ihre
Disziplin nichtolympisch, als World-Games-Sportart aber immerhin
förderungsfähig im Gegensatz zu etwa Kanu Freestyle und Stand-up-Paddling, die
ebenfalls im Deutschen Kanu-Verband organisiert sind. Vom Olympiastützpunkt
ihrer Heimatstadt Hamburg mitsamt dessen Laufbahnberatung, nur einer von
vielen Serviceleistungen, ist die Sportlerin ausgeschlossen. Bundesstützpunkte
gibt es für ihre Disziplin wie für alle Sportarten jenseits des Olympiaprogramms
nicht. Der Zugang zu den Instituten für Materialforschung und -entwicklung
(FES) und Leistungdiagnostik (IAT) bleibt ihr verwehrt. Die Sportfördergruppen
von Zoll und Bundespolizei sind ihr und den anderen nichtolympischen Athleten
ebenso verschlossen wie die staatlich geförderten Eliteschulen des Sports. Auch
Athletenförderung und die neu eingeführte Altersversorgung für Topathleten
ohne staatliche Förderstelle gibt es für jemanden wie sie nicht.

Für ihre Erfolge bei den World Games von Cali 2013 und Breslau 2017 ehrte der
Bundespräsident Elena Gilles und ihre Mannschaftskameradinnen wie auch
Olympiasiegerinnen mit dem Silbernen Lorbeerblatt, der höchsten Auszeichnung
der Bundesrepublik für Athleten. Sie hatten, anders als die
Olympiateilnehmerinnen, alle Trainingslager und Vorbereitungswettkämpfe mit
eigenem Geld finanzieren müssen. Immerhin gab es Nationaltrikots und
Mannschaftskleidung vom Verband; aber nicht für die Auftritte bei Welt- und
Europameisterschaften. Wenn es um die wichtigsten Wettkämpfe geht, muss
Elena Gilles auch die Trikots kaufen: „Das ist ein blödes Signal“, sagt sie, „da fühlt
man sich als Underdog.“

Gilles fordert eine Abgrenzung für die Förderwürdigkeit einer Sportart. „Aber
olympisch oder nichtolympisch ist nicht das richtige Kriterium.“ Immerhin
beschäftigt der Kanu-Verband seit diesem Jahr eine Bundestrainerin für
Kanupolo. Die Verbesserung ihrer Trainingsbedingungen empfindet Elena Gilles
dadurch als „krass“. Was wird erst möglich sein, wenn das frische Geld eintrifft?

Der Mangel an Professionalität, das Fehlen von Konzepten und Unterstützung ist
das Manko der nichtolympischen Sportwelt. Das klingt beim DOSB an, als auch er
auf Anfrage mitteilt, dass der Aufwuchs der Fördermittel für alle Beteiligten recht
kurzfristig erfolgt sei: „Die sportfachlichen, strukturellen und
zuwendungsrechtlichen Fördergrundlagen waren daher noch nicht in der
unabdingbar notwendigen Professionalität gegeben. Deshalb mussten in diesem
Jahr zunächst Konzeptergänzungen vorgenommen werden und die so wichtigen
Zuwendungsvoraussetzungen in zahlreichen Sitzungen erarbeitet werden“, heißt
es in einer Antwort des DOSB: „Der gesamte Prozess gestaltete sich
situationsbedingt auch aufgrund der Corona-Pandemie schwieriger als
ursprünglich angenommen.“
Wie im Zirkus: Die Sportakrobatik-EM lief 2017 in Polen.Imago

Die Anträge der gut zwanzig Verbände mit WorldGames-Status auf
Bundesförderung in Höhe von jeweils gut einer halben Million Euro muss der
DOSB mit einem sportfachlichen Votum versehen. Zudem erwartet das BMI vom
Dachverband etatreife Fördervorschläge, die mit einem schlüssigen Konzept
untermauert sind. Das ist dem Verband in diesem Jahr mehrmals misslungen,
nicht allein deshalb, weil er seine Mitarbeiter 2020 wegen der Pandemie zweimal
in Kurzarbeit schickte. Das kommt in Berlin nicht gut an: Da macht das
Parlament endlich deutlich, dass der Staat die nichtolympischen Verbände
deutlich stärker unterstützen will, doch nicht einmal dieser Paukenschlag bewegt
den Dachverband zu einer tatkräftigen Hilfe für die Empfänger. Der DOSB liefere
keine brauchbaren Konzepte und bremse zugleich die Vertreter der
nichtolympischen Verbände aus, sagt jemand, der mit den Vorgängen vertraut ist.
In den betroffenen Verbänden will man aber nicht über das durch Planungs-,
Kompetenz- und Organisationsmängel verlorene Geld klagen. Der wirkliche
Erfolg sei, einen eigenen Titel im Haushalt bekommen zu haben: „Zentrale
Maßnahmen auf dem Gebiet des nicht-olympischen Sports“, Nummer 68426. Er
wird auch 2021 wieder 13,9 Millionen Euro ausweisen. Für die folgenden drei
Jahre, bis 2024, sind vorerst mindestens je vier Millionen Euro in der Planung.

Sind diese Aufstockung und die großartige Perspektive für die Mauerblümchen
des deutschen Sports nicht ein weiterer Erfolg des Lobbyisten Alfons Hörmann,
des Präsidenten des DOSB? Das wären sie, wenn er darum gekämpft hätte. Da er
dies nicht getan hat, wirkt der Zuschlag, den die Haushälter quasi aus eigenem
Antrieb und ohne jede sportpolitische Initiative vorgenommen haben, wie eine
Backpfeife für den DOSB, der allein auf den olympischen Sport fixiert scheint. So
dürfte das Ausbleiben der Einrichtung der Geschäftsstelle, für die seit einem Jahr
Geld bereitsteht, nicht allein in der Höflichkeit begründet sein, mit der die
Interessengemeinschaft dem Eintreffen der staatlichen Förderung bei den
einzelnen Verbänden Vorrang gewährt. Im März haben diese und der DOSB die
Einrichtung des Büros vereinbart. Seitdem aber ringen ihre Vertreter um die
Frage, ob die Geschäftsstelle in die Hierarchie des DOSB einzuordnen ist. Ob sie
der Vorstandsvorsitzenden Veronika Rücker und dem Leistungssport-Vorstand
Dirk Schimmelpfennig untergeordnet wird. Ob innerhalb des DOSB weitgehende
Selbständigkeit nach dem Vorbild der Deutschen Sportjugend möglich ist. Oder
ob sich die überaus diversen nichtolympischen Verbände nach dem Vorbild von
Athleten Deutschland als gemeinnütziger Verein außerhalb des Dachverbandes
aufstellen. Der Gegenwert von vierzehn Millionen Euro im Haushalt der
Bundesrepublik Deutschland jedenfalls ist hoch, einerlei ob das Geld vollständig
bei den Verbänden ankommt oder nicht. Denn für die „Underdogs“ besteht er vor
allem darin, dass der Titel eine Existenzgarantie ist.
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