Das Ende der Ostpolitik - Wie ein Strategiewandel deutscher Russlandpolitik aussehen könnte - DGAP Policy Brief
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Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik Nr. 19 September 2020 POLICY BRIEF Das Ende der Ostpolitik Wie ein Strategiewandel deutscher Russlandpolitik aussehen könnte Mit dem Giftgasanschlag auf Alexej Nawalny und der Unterstützung des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko durch den Kreml nach massiven Wahlfälschungen, wurde ein neuer Tief- stand in den Beziehungen zwischen der EU und Russland erreicht. Dr. Stefan Meister Eine neue Russlandpolitik braucht einen Paradigmenwechsel, um ist Associate Fellow am Robert Bosch Zentrum der DGAP und durch Anreize und Druckmittel Berlins Verhandlungsposition gegen- leitet aktuell das Südkaukasus- über Moskau zu verbessern. Nord Stream 2 sollte auf den Prüfstand büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tbilisi. gestellt und bei fehlender Kooperationsbereitschaft der russischen Seite gestoppt werden. – Die Modernisierungspartnerschaft mit Russland ist gescheitert, Deutschland und Russland haben sich von Partnern zu Gegnern bei zentralen internationalen Fragen wie der europäischen Sicher- heitsordnung oder den Umgang mit militärischen Konflikten in Syrien und Libyen entwickelt. – Selektive Kooperation mit Russland funktioniert nur, wenn Deutschland ein relevanter Akteur in den Bereichen gemeinsamer Interessen ist. – Eine Verbesserung der Verhandlungsposition gegenüber Moskau kann nur über Anreize und Druck erfolgen, die die russische Regie- rung dazu bewegen, Kompromisse einzugehen. – Die russische Führung muss verstehen, dass ihre destruktiven Aktivitäten mit Kosten verbunden sind.
2 Nr. 19 | September 2020 Das Ende der Ostpolitik: Wie ein Strategiewandel deutscher Russlandpolitik aussehen könnte POLICY BRIEF DAS DILEMMA DEUTSCHER (Ukraine, Belarus) eine wichtige Rolle spielt, aber RUSSLANDPOLITIK kein Interesse an einer Kooperation mit Deutschland und der EU hat? Der Giftgasanschlag auf den russischen Oppositions- politiker Alexej Nawalny und die Unterstützung von Die Dringlichkeit dieser Frage muss vor dem Hinter- Alexander Lukaschenko nach massiven Fälschungen grund einer sich verändernden US-Außenpolitik ge- der Präsidentschaftswahl in Belarus durch den Kreml sehen werden, wo Sicherheitsgarantien für Europa verdeutlichen die Dringlichkeit, innerhalb der EU ei- in Frage gestellt werden, ein widersprüchlicher Um- nen anderen Umgang mit Russland zu finden. Nach gang mit Russland ohne Abstimmung mit den eu- den bestätigten Erkenntnissen deutscher Sicher- ropäischen Partnern gesucht wird und Washington heitsbehörden, dass ein russischer Geheimdienst keine Stabilität im Nahen Osten mehr garantiert. Mit hinter der Hackerattacke auf den Bundestag 2015 Blick auf die Situation in den Ländern der Östlichen steckt1 und dem wahrscheinlichen Auftragsmord an Partnerschaft und der sich verschlechternden Situa- einem Georgier in Berlin im August 2019 durch die tion auf dem Balkan ziehen die USA und die EU nicht russische Regierung2, haben die deutsch-russischen an einem Strang. In all diese Fragen ist Russland als Beziehungen erneut einen Tiefstand erreicht. Hinzu destruktiver Akteur involviert. Global eskaliert der kommen wachsende Repressionen gegen Oppositio- Konflikt zwischen China und den USA. Gleichzeitig nelle, Medienvertreter, Künstler und Vertreter der erfolgte eine Annäherung von Russland und China Zivilgesellschaft in Russland im Rahmen eines Re- nach der Verschlechterung der Beziehungen Mos- ferendums, das Präsident Wladimir Putin nach 2024 kaus mit NATO und EU durch den Ukraine-Konflikt. zwei weitere Amtszeiten ermöglicht. Für Deutschland finden die aktuellen Ereignisse im SELEKTIVES ENGAGEMENT MIT Kontext seiner EU-Ratspräsidentschaft in der zwei- RUSSLAND OHNE GEMEINSAME ten Jahreshälfte 2020 in einer der schwierigsten Pha- BASIS sen seit dem Bestehen der EU statt. Hinzu kommt, dass im Herbst 2021 Bundestagswahlen abgehalten Nachdem die Neue Europäische Ostpolitik von Au- werden. Im Wahlkampf werden Russland und die ßenminister Heiko Maas konzeptionell so schwach russische Einflussnahme Thema sein.3 Die Bundesre- entwickelt war, dass für die Hauptadressaten in Ost- gierung hatte sich bis Jahresende darauf vorbereitet, mitteleuropa bis heute ihre Zielsetzung unklar ist, sich in erster Linie mit dem Management der öko- vermeidet die Bundesregierung diesen Begriff im of- nomischen Folgen der Covid-19-Pandemie und dem fiziellen Sprachgebrauch.5 Deshalb ist der Ansatz ei- Abschluss des neuen EU-Haushalts zu beschäftigen. nes selektiven Engagements in Bereichen gemein- Außenpolitisch stehen zentrale Themen für die EU samer Interessen wie Syrien, Libyen, Iran oder Nord wie die Zukunft der Beziehungen zu Großbritannien, Stream 2 aktuell der Kern deutscher Russlandpo- den USA und China im Vordergrund.4 Dabei schien litik. Diese Formel wurde 2016 im Rahmen der fünf ein Thema in den Hintergrund zu geraten, das eben- Grundprinzipien der EU im Umgang mit Russland so dringlich ist und die Bundesregierung vor ein Di- als Reaktion auf den Russland-Ukraine-Konflikt ein- lemma stellt: Wie sollen die zukünftigen Beziehun- geführt.6 Dabei erkennt das EU-Dokument an, dass gen zu Russland gestaltet werden, das bei wichtigen Russland ein wichtiger Akteur im Nahen Osten ist internationalen Konflikten (Syrien, Libyen, Iran) so- und eine konstruktive Rolle beim Atomabkommen wie Entwicklungen in der östlichen Nachbarschaft mit dem Iran spielt. Gleichzeitig beschreibt es das 1 Haftbefehl gegen Hacker, . (abgerufen am 05.05.2020). 2 Bellincat, Suspected Accomplice in Berlin Tiergarten Murder Identified as FSB/Vympel Officer, 29.08.2020, . (abgerufen am 28.08.2020). 3 Der außsenpolitische Sprecher der Sprecher Fraktion Partei dDie Linke, Gregor Gysi, spekuliert, dass ein Gegner der Ostseepipeline Nord Stream 2 den Giftgasanschlag verüuebt hat, lehnt Sanktionen ab und positioniert sich damit auch mit Blick auf die Bundestagswahl 2021 klar gegen die Kritiker des Kreml. Gysi kritisiert Drohungen mit Sanktionen gegen Russland, MDR.de, 04.09.2020, (abgerufen am 04. 09. 2020). 4 Auf ihrer außenpolitischen Grundsatzrede im Vorfeld der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Ende Mai 2020 erwähnt Bundeskanzlerin Angela Merkel Russland erst als viertes relevantes außenpolitisches Thema: Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der Veranstaltung „Außen- und Sicherheitspolitik in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft“, Konrad Adenauer Stiftung, 27.05.2020, (abgerufen am 27.05.2020) (abgerufen am 5.09.2020). 5 Auswärtiges Amt, Begrüßungsrede von Außenminister Heiko Mass anlässßlich des Berliner Forums Außenpolitik, 27.11.2018, (abgerufen am 5.09.2020). 6 Alle folgenden Angaben sind zitiert nach: European Parliament, The EU’s Russia policy, Five guiding principles, February 2018,
Nr. 19 | September 2020 3 POLICY BRIEF Das Ende der Ostpolitik: Wie ein Strategiewandel deutscher Russlandpolitik aussehen könnte gemeinsame Interesse im Kampf gegen den inter- demokratischen Übergang zu setzen. Weiterhin un- nationalen Terrorismus in Syrien, wobei das EU-In- terstützt Russland mit eigenen Söldnern und Waffen teresse an einer Demokratisierung Syriens von der in Libyen Ex-General Chalifa Haftar im Kampf gegen russischen Führung nicht geteilt wird. Gleichzeitig die international anerkannte Regierung. Deutsch- schützt die russische Regierung Syriens Machthaber land dagegen hat versucht, am Verhandlungstisch Baschar al-Assad, der aus Sicht der EU und der Ver- alle Kriegsparteien zu einem dauerhaften Waffen- einten Nationen Kriegsverbrechen in seinem eigenen stillstand zu bewegen und den Zufluss von Waffen Land begangen hat und Moskau sieht sich selbst dem und ausländischen Kämpfern zu unterbinden. Je- Vorwurf von Kriegsverbrechen ausgesetzt.7 doch ist Berlin weder bereit noch fähig, diese Forde- rungen militärisch durchzusetzen und ist damit aus Investitionen in die gesellschaftlichen Beziehungen russischer Sicht kein entscheidender Akteur in die- und Zivilgesellschaft sind die konkretesten Vorschlä- ge für die Ausgestaltung der Beziehungen laut dem EU-Grundsatzpapier. Jedoch sind genau das die Ak- teure, bei denen die russische Führung versucht, ih- nen jegliche internationalen Kontakte und die Finan- Nord Stream 2 sollte auf zierung abzuschneiden, um externen Einfluss auf Entwicklungen innerhalb Russlands zu unterbinden. den Prüfstand gestellt Bundeskanzlerin Angela Merkel versucht nach der oder gestoppt werden. Verschlechterung der Beziehungen im Kontext des Russland-Ukraine-Konfliktes, seit Herbst 2019 eine pragmatischere Politik im Umgang mit Russland zu verfolgen. Mit diesem Ansatz reagierte die Bundesre- sem Konflikt. Gleichzeitig sind Moskau und Berlin zu gierung auf den militärischen Sieg Assads in Syrien, schwach, um sich US-Präsident Trump entgegenzu- die Eskalation der Situation in Libyen sowie das sys- stellen und das iranische Atomabkommen noch zu tematische Vorgehen von US-Präsident Trump gegen retten. Somit schrumpfen die Themen für eine selek- das Atomabkommen mit dem Iran und die schritt- tive Kooperation mit Russland aktuell auf Absichts- weise Sanktionierung von Nord Stream 2 durch Wa- erklärungen zusammen. Damit werden eher die Ge- shington. Dabei sollen schwierige Themen wie die gensätze als die Gemeinsamkeiten deutlich. Situation im Donbas, Desinformation oder Hackerat- tacken nicht in den Fokus gerückt, sondern mit dem Trotzdem hat die Bundesregierung die Pipeline Nord russischen Präsidenten in erster Linie über Nord Stream 2 noch nach der Annexion der Krim und bis Stream 2, Iran, Syrien und Libyen gesprochen wer- heute unterstützt, sowohl aus einer innenpolitischen den. So betonte die Bundeskanzlerin bei einem Tref- Logik, wirtschaftlichen Erwägungen, als auch als fen mit Putin im Januar 2020 eher die Gemeinsam- möglichen Kooperationsansatz eines selektiven En- keiten als die Unterschiede.8 gagements mit Russland.9 Lange wurde in Berlin ig- noriert, dass dieses Projekt aus Kreml-Perspekti- Aber auch bei den genannten Themen von gemeinsa- ve in erster Linie dazu dient, Russlands Einfluss auf men Interesse stecken die Probleme im Detail: Mos- Deutschland und andere EU-Staaten zu stärken, kau sieht sich als Gewinner im Konflikt um Syrien die EU zu spalten, dem System Putin Selbstberei- und erwartet, dass Deutschland und die EU den syri- cherungsoptionen zu erschließen sowie die Ukrai- schen Präsidenten Assad beim Wiederauf bau finan- ne ökonomisch zu schwächen. Auch wenn die Art ziell unterstützen. Damit soll eine weitere Flücht- und Weise wie die US-Politik die Pipeline extrater- lingswelle verhindert werden. Das widerspricht dem ritorial sanktioniert, eine souveräne Wirtschafts- Ansatz der Bundesregierung, Assad nicht als legiti- politik Deutschlands und der EU untergräbt und men Herrscher Syriens zu akzeptieren und Kondi- damit inakzeptabel ist10, ist der Schaden des Projek- tionen für einen Wiederauf bau mit Blick auf einen tes nicht nur innerhalb der EU sondern auch für die 7 UN News, Those responsible for war crimes in Syria ‘will be held accountable for what they have done,’ says UN rights chief, 2.03.2018, (abgerufen am 5.09.2020). 8 Deutsche Welle, Merkel und Putin suchen gemeinsame Linie, 11.01.2020, (abgerufen am 5.09.2020) . 9 Stefan Meister, Die Sackgasse der deutschen Ostpolitik: Wie die Bundesregierung ihre eigene Russland- und Ukrainepolitik torpediert, DGAP, Berlin 2019, https://dgap.org/de/forschung/publikationen/die-sackgasse-der-deutschen-ostpolitik (abgerufen am 5.09.2020). 10 Sascha Lohmann, Kirsten Westphal, Unilaterale US-Sanktionen gegen Petrostaaten. Die Geopolitisierung des internationalen ÖOelmarktes, SWP-Studie
4 Nr. 19 | September 2020 Das Ende der Ostpolitik: Wie ein Strategiewandel deutscher Russlandpolitik aussehen könnte POLICY BRIEF transatlantischen Beziehungen unterschätzt wor- europäischen Hauptstädten zu Irritationen, inklusi- den. Zwar kann der Ansatz eines selektiven Engage- ve in Berlin. Für den französischen Präsidenten ist ments gleichzeitig die Pflege von Wirtschafts- und Russland nicht nur ein Partner im Bereich europäi- Energiebeziehungen als auch Sanktionen umfas- scher Sicherheit, sondern auch bei der technologi- sen. Jedoch hat sich gezeigt, dass die russische Füh- schen Souveränität in Schlüsselbereichen wie Raum- rung zu keinen Kompromissen in Bezug auf die Uk- fahrt und Cybersicherheit vor allem gegenüber China raine oder anderen internationalen Fragen bereit ist, und den USA. trotz der Unterstützung von Nord Stream 2 durch die Bundesregierung. Nach einem ersten Treffen zwischen Marcron und Putin im August 2019 vor dem G7-Gipfel wurden nach einem Jahr 13 bilaterale Arbeitsgruppen initi- MACRONS „NEUE“ iert, die sich mit Themen wie Cyber, Raumfahrt, in- RUSSLANDPOLITIK ternationalen Konflikten sowie Rüstungskontrolle beschäftigen sollen. Dieses Modell ist auch aus den Auf europäischer Ebene existiert die Initiative des deutsch-russischen Beziehungen bekannt. Allerdings französischen Präsidenten Emmanuel Macron, mit führt auch diese Politik in eine Sackgasse, da Paris Russland einen Neustart in den Beziehungen auf Ba- eine starke Verhandlungsposition gegenüber Moskau sis pragmatischer Politik und gemeinsamer Interes- fehlt. Für die russische Führung ist die Spaltung der sen zu versuchen. Macron verfolgt das Ziel, die Iso- EU und vor allem der transatlantischen Beziehungen lation und Entfremdung mit Russland zu beenden.11 durch die Initiative attraktiv. Wenn Macron in sei- Aus Sicht des französischen Präsidenten wird es oh- ner Rede vor Botschaftern das russische Argument ne Russland keine Sicherheit in Europa geben, eben- hervorhebt, dass die Europäer vor allem „trojanische falls ein Mantra deutscher Außenpolitik. Hintergrund Pferde des Westens“ sind und eigene europäische für diesen Ansatz ist für Macron die Annäherung von Ansätze gegenüber Russland fehlen, dann stärkt er Russland und China, der Rückzug der USA aus Eu- eher Narrative russischer Propaganda als eine neue ropa und die Notwendigkeit, eine neue europäische EU-Politik gegenüber Russland.12 Solange Deutsch- land und Frankreich keine koordinierte Russlandpo- litik verfolgen, wird es Moskau immer möglich sein, beide gegeneinander auszuspielen. Aus Sicht von Macron VOM MODERNISIERUNGSPARTNER wird es ohne Russland ZUM GEGNER keine Sicherheit in Nachdem Deutschland die EU-Sanktionen gegen Russland nach der Annexion der Krim und dem Krieg Europa geben. in Teilen des Donbas 2014 maßgeblich mit durch- gesetzt hat, haben sich die Beziehungen zwischen beiden Staaten schrittweise verschlechtert. Da- bei hat die Entfremdung bereits mit der Wieder- wahl Putins zum Präsidenten 2012 begonnen, als Sicherheitsordnung auszuhandeln, die auch russi- deutlich wurde, dass eine politische, gesellschaftli- sche Interessen stärker berücksichtigt. Die Annäh- che und wirtschaftliche Modernisierung Russlands rung mit Russland auf Basis gemeinsamer Interessen nicht mehr das Ziel der russischen Führung ist, son- und unter Ausklammerung der Sicherheitsbedürf- dern der Machterhalt der führenden Eliten. Die EU nisse der Staaten der gemeinsamen Nachbarschaft und Deutschland gelten seitdem weder als Moderni- klingt nach traditionellen deutschen Ansätzen, u.a. sierungspartner noch als Modernisierungsmodell für auch mit Blick auf Nord Stream 2. Gleichzeitig ist die russische Politik, sondern als Gegner. Eine Mo- diese Strategie weder mit Deutschland noch an- dernisierungspartnerschaft mit Russland in der Tra- deren EU-Staaten abgestimmt und führt in vielen dition der Neuen Ostpolitik der 1970er Jahre war der 28, Dezember 2019, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2019S28_lom_wep.pdf (abgerufen am 5.09.2020). 11 Ambassadors conference -- Speech by M. Emmanuel Macron, President of the Republic, 27.08.2019, (abgerufen am 5.09.2020). 12 Vgl. FN 11.
Nr. 19 | September 2020 5 POLICY BRIEF Das Ende der Ostpolitik: Wie ein Strategiewandel deutscher Russlandpolitik aussehen könnte entscheidende außenpolitische Ansatz bis 2012.13 stützung von disruptiven Netzwerken und Hacker- Diese Politik des Wandels durch Annäherung ist je- attacken auf Regierungseinrichtungen, die zu einem doch gescheitert. fundamentalen Vertrauensverlust geführt haben. Der mit der Wiederwahl Putins zum Präsidenten 2012 Moskau scheint weder die EU noch Deutschland in einsetzende Paradigmenwechsel in der russischen außen- und sicherheitspolitischen Fragen ernst zu Außenpolitik muss im Kontext russischer Innenpo- nehmen, da diese in Konflikten wie in Syrien, dem litik gesehen werden. Das System Putin geriet in ei- Iran oder Libyen keine entscheidende Rolle spielen. ne Legitimationskrise infolge fallender Rohstoffprei- Selektives Engagement setzt auch voraus, dass man se im Rahmen der globalen Finanzkrise 2008/2009 selbst ein entscheidender Akteur in den Bereichen und es konnte seinen Gesellschafsvertrag, verbun- ist, wo Kooperation stattfinden soll. Noch gravieren- den mit dem wirtschaftlichen Aufstieg eines großen der ist, dass in Moskau keiner mit ernstzunehmen- Teils der Bevölkerung, nicht mehr einhalten. Darauf den Gegenreaktionen aus Berlin wegen des Mordes folgten 2011/2012 Massendemonstrationen in großen im Berliner Tiergarten und auf den Hackerangriff russischen Städten, auf denen ein politischer Wan- auf den Bundestag rechnet, was den Handlungs- del gefordert wurde. Die Forderungen nach politi- scher Beteiligung wie in Russland 2011/2012 und ak- tuell in Belarus führen zu Angst in der Elite vor dem eigenen Volk. In Russland folgten daraufhin systema- tische Repressionen gegen Oppositionelle, NGOs, ei- Die Politik des Wandels ne weitere Einschränkung der Medienfreiheit sowie eine wachsende Kontrolle des Internets. Dabei sollte durch Annäherung ist der Zynismus des Regimes nicht unterschätzt wer- den, ohne jegliche Skrupel politische Gegner oder gescheitert. Kritiker im In- und Ausland auszuschalten. Der Konflikt mit dem Westen und die Infragestellung der nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ausge- druck für den Kreml minimiert. Die russische Füh- handelten europäischen Sicherheitsordnung durch rung scheint die Situation realistisch einzuschätzen. Moskau dienten der Legitimierung nach innen und Außer der Ausweisung einiger Diplomaten und eini- haben Deutschland und Russland zu Gegnern ge- gen kritischen Statements ist bisher wenig passiert. macht. Beide verfolgen gegensätzliche Ziele mit Blick Umso wichtiger ist es, dass auf die harte Reaktion auf die internationale Ordnung (Multilateralismus der Bundesregierung und von Kanzlerin Merkel auf versus Multipolarismus) und Systemfragen (Rechts- die Vergiftung von Nawalny auch politische Reaktio- staatlichkeit versus Recht des Stärkeren). Moskau nen folgen, die in Moskau spürbar sind.14 Das können definiert Deutschland nicht mehr als Partner, son- weitere Wirtschaftssanktionen sein, die Sanktionie- dern als ein Schlüsselstaat, der die EU zusammen- rung wichtiger Personen aus dem Sicherheitsappa- hält und deshalb u.a. durch die Unterstützung von rat und der russischen Führung sowie ein Moratori- antidemokratischen Kräften und Desinformation im um für die Fertigstellung von Nord Stream 2. Land geschwächt werden soll. Gleichzeitig ist das heutige Russland nicht wie die Sowjetunion eine Sta- Die Analyse des Systems Putin sollte die Basis für ei- tus-quo-, sondern eine revisionistische Macht, die ne neue Russlandpolitik sein und nicht der Wunsch ihren Machtanspruch in den postsowjetischen Län- nach friedlicher Koexistenz.15 Das System Putin funk- dern mit Militärinterventionen durchsetzt und ihr tioniert nicht nur in Russland und vielen postsowjeti- System von informellen Strukturen, Korruption und schen Ländern, sondern ist auch in Deutschland und Bestechung weltweit erfolgreich exportiert. Hin- vielen anderen EU-Mitgliedstaaten aktiv. Es hat sich zu kommen russische Desinformationskampanien globalisiert und in unsere Wirtschaftssysteme integ- in Deutschland und anderen EU-Staaten, die Unter- riert. Es ist dabei erfolgreich, weltweit politische Ak- 13 Für eine deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft, Rede des Außenministers Frank-Walter Steinmeier am Institut für internationale Beziehungen der Ural Universität in Jekaterinburg, 13.05.2008, (abgerufen am 5.09.2020). 14 Angela Merkel über den versuchten Giftmord an Nawalny, DW, 02.09.2020, (abgerufen am 02.09.2020). 15 Andrey Kortunov, From „selective engagement“ to „enlightend realism“, Modern Diplomacy, 22.02.2020, ./(abgerufen am 5.09.2020).
6 Nr. 19 | September 2020 Das Ende der Ostpolitik: Wie ein Strategiewandel deutscher Russlandpolitik aussehen könnte POLICY BRIEF teure, Medien und Unternehmen für sich zu instru- onsangebote nicht zur Konflikt- oder Problemlö- mentalisieren. Es kennt keine Ideologie und ist mit sung, sondern um damit die eigene Verhandlungs- Blick auf eine multipolare Ordnung auf Machterhalt, position zu stärken. Mit einem Bruttoinlandsprodukt Eigennutz, selektive Allianzen und der Verknüpfung von Spanien im Konzert der Großmächte mitzuspie- verschiedener Politikbereiche bestens vorbereitet. len, bedarf einer hohen Risikobereitschaft sowie der Dabei bleiben die zentralen Ziele des Regimes gleich: Schwächung des Gegners, umso stärker zu erschei- Machterhalt und Selbstbereicherung auf Kosten des nen, als Russland tatsächlich ist. Auch deshalb die- russischen Staates und seiner Bevölkerung. nen die Konflikte in Syrien und Libyen vor allem als Verhandlungsmasse, um Russland auf der internati- onalen Bühne im Spiel zu halten. Russland fehlt die ANREIZE UND DRUCKMITTEL ökonomische Kraft, um diese Länder tatsächlich zu ALS KERN EINER NEUEN befrieden. Es ist eher ein Störfaktor als verantwor- RUSSLANDPOLITIK tungsvoller internationaler Akteur. Deutschland und die EU haben eine schwache Ver- Kooperation für eine bessere Atmosphäre oder um handlungsposition gegenüber Moskau, da sie es ver- der Kooperation willen führt ins Leere. Abkommen säumt haben, glaubwürdige Druck- und Sanktions- mit einer Regierung, die keine Rechtsstaatlichkeit mechanismen aufzubauen. Zwar wurde im Kontext kennt, haben eine kurze Halbwertszeit, auch wenn des Konfliktes um die Ukraine ein EU-Sanktions- Verhandlungen und Kontakte zur Führung in Moskau regime entwickelt und unter deutscher Führung notwendig und wichtig sind. Eine deutsche Russ- regelmäßig verlängert, jedoch ist dieses zu unfle- land- und Osteuropapolitik sollte in der EU einge- xibel und zu schwach, um echten Druck auf die bettet sein, ohne durch die divergierenden Inter- russische Regierung aufzubauen. Das gilt insbe- essen zwischen den Mitgliedstaaten blockiert zu sondere für ein System Putin, das in cost-benefit- werden. Hier bedarf es einer engen strategischen Kalkulationen und win-lose-Situationen denkt. Abstimmung mit Frankreich und insbesondere den Wegen dieser Sanktionen wird Moskau nicht bereit interessierten Mitgliedstaaten in Ostmitteleuropa. sein, Kompromisse mit Blick auf die Umsetzung der Sie muss langfristig auf einen politischen und gesell- Minsker Abkommen zum Donbas einzugehen. Wenn schaftlichen Wandel in Russland setzen, da nur die- führende deutsche Politiker an die deutsche Ostpoli- ser Frieden und Stabilität garantiert. tik wie bei der Nord Stream 2 Pipeline im Sinne eines politischen Wandels durch wirtschaftliche Koope- ration anknüpfen wollen, ist dies eine Fehlannahme und hat bisher keine Kompromissbereitschaft auf 1. Die Abhängigkeit von russischen Rohstofflie- ferungen sollte sinken, um Einflussnahme zu minimieren. Gleichzeitig sollte das russische Inter- russischer Seite gebracht.16 esse an Öl- und Gasexporten in die EU dazu genutzt werden, um die Regierung in Moskau bei anderen Deshalb muss für die russische Führung deutlich Themen (Ukraine, Syrien, Libyen, Desinformation) werden, dass ihre destruktiven und antidemokra- unter Druck zu setzen. Nord Stream 2 könnte ein tischen Aktivitäten im In- und Ausland, die postso- Instrument im Umgang mit der russischen Führung wjetische Nachbarschaft eingeschlossen, mit Kos- werden, um durch eine Sanktionierung oder ein ten verbunden sind und dass Deutschland und die Moratorium für dessen Bau Druck aufzubauen. EU es ernst meinen mit ihren Werten und Prinzipi- Dadurch können Kompromisse bei anderen Themen en von guter Regierungsführung, Konfliktlösung und erzielt werden. Gleichzeitig sollte sich Berlin immer Rechtsstaatlichkeit in der südlichen und östlichen bewusst sein, dass diese Pipeline die Einflussmög- Nachbarschaft. Eine Verbesserung der Verhand- lichkeiten des Kreml auf Europa stärkt und durch die lungsposition kann nur über Anreize und Druck- Beteiligung von Firmen regierungstreuer Oligarchen mittel (Leverage) erfolgen, die Moskau dazu bewe- am Bau das System Putin stabilisiert wird. gen, Kompromisse einzugehen. Nur dann, wenn für die Führung in Moskau die Kosten ihrer Handlun- gen höher sind als ihr Nutzen und wenn echte Sank- tionen für Mitglieder der Elite beschlossen werden, 2. Zentral ist das Vorgehen gegen Korruption und Geldwäsche als Kern eines Loyalitätssystems Putins. Solange russische Eliten sich an Staatseigen- wird sich der Kreml bewegen. Solange dies nicht der tum und über Korruption selbst bereichern können, Fall ist, nutzt die russische Führung die Kooperati- werden sie Putin unterstützen. Große Teile der rus- 16 Rolf Mützenich, Liebesgrüße aus Moskau, 15.10.2016, (abgerufen am 5.09.2020).
Nr. 19 | September 2020 7 POLICY BRIEF Das Ende der Ostpolitik: Wie ein Strategiewandel deutscher Russlandpolitik aussehen könnte sischen Eliten haben erfolgreich Gelder aus Korrup- ter deutscher Beteiligung tatsächlich den Druck auf tion weltweit exportiert, u.a. in europäischen und US- Moskau erhöhen, um den Krieg gegen die Ukraine zu Banken gewaschen und in die Realwirtschaft bzw. den beenden und Teile der Minsker Abkommen umzuset- Immobilienmarkt investiert.17 London ist hierfür ein zen. Hierzu bedarf es wachsender Investitionen auch zentraler Knotenpunkt, aber auch große deutsche Deutschlands in die Einsatz- und Verteidigungsfä- Städte gelten als Investitionsziele. Russlands staat- higkeiten der Bundeswehr im Rahmen von NATO liche Strukturen, Geheimdienste und Staatsunter- und PESCO. Sollten sich die USA weiter aus Euro- nehmen sowie Oligarchen interagieren hierbei mit- pa zurückziehen, müssen die Europäer selbst diese einander. Um diese Aktivitäten aufzudecken und zu Lücke schließen. unterbinden, bedarf es gut ausgerüsteter Schwer- punktstaatsanwaltschaften sowie eine EU-weite und internationale Kooperation. Es müssen Konten einge- 4. Engagement mit der russischen Gesellschaft ist zentral für einen Wandel in Russland. Wan- del wird nicht von außen, sondern nur von innen kommen. Deshalb ist es notwendig, besser finan- zierte Projekte für den Austausch und die Unter- stützung der russischen Zivilgesellschaft zu entwi- Engagement mit der ckeln, die langfristig wirken und nicht nur kurzfristig auf Krisen reagieren. Es gibt Modelle, wie auch un- russischen Gesellschaft ter wachsenden Repressionen Unterstützung erfol- gen kann. Visaerleichterungen für russische Bürger, ist zentral für einen die nach Europa reisen möchten, können eine Euro- päisierung der russischen Gesellschaft fördern und Wandel in Russland. russische Propaganda unterlaufen. Deutschland und andere EU-Mitgliedstaaten haben eigene Institutio- nen und Programme für solch eine Politik, die besser koordiniert und strategischer mit der Russlandpoli- tik abgestimmt werden sollten. froren, Unternehmen und Immobilien konfisziert und die Einreise für betroffene Personen aus der Elite in die EU unterbunden werden. Weiterhin sollten EU- weit und wenn möglich darüber hinaus Sanktionslis- 5. Es ist notwendig, mit russischen Journalisten, Künstlern, Wissenschaftlern und Intellektuellen zu kooperieren, die aufgrund der aktuellen Repres- ten beschlossen werden, auf denen Personen stehen, sionen das Land in Richtung Europa verlassen ha- die an Desinformation, Hackerattacken aber auch ben. Diese Gruppe, die oft kaum wahrgenommen in nachweislich an Menschenrechtsverletzungen und Europa lebt, hat ein enormes Potential. Sie kann da- Korruptionsnetzwerken beteiligt waren oder sind. zu beitragen, dass besser verstanden wird, wie Russ- land funktioniert, welche gesellschaftlichen Trends 3. Ohne militärischen Druck wird es nicht mög- lich sein, Konflikte, in die Russland involviert ist, auf Augenhöhe zu verhandeln. Die Logik der Ins- es gibt und so den russischen innenpolitischen Dis- kurs, u.a. über soziale Medien, beeinflussen. Die- se Gruppe sollte an Think Tanks, NGOs oder Medien trumentalisierung von Konflikten durch Russland angebunden, institutionell besser integriert und fle- kann nur durch eine Erhöhung der militärischen xibel finanziert werden. Kosten durchbrochen werden. Konkret heißt das, wenn Deutschland ein Waffenstillstandsabkommen in Libyen durchsetzen möchte, muss es auch im EU- oder NATO-Rahmen bereit sein, dieses militärisch 6. Wichtig für die Beeinflussung der russischen Politik sind Reformerfolge in anderen post- sowjetischen Staaten, in denen der Kreml eine zu schützen. Das Gleiche gilt für Syrien: Nur durch Demokratisierung verhindern möchte. Aktuell zeigt die Bereitschaft, Schutzzonen für Zivilsten zu schüt- sich in Belarus, dass die russische Führung lieber zen, können Deutschland und die EU-Partner bei den geschwächten Alexander Lukaschenko als Prä- der Nachkriegsordnung in Syrien als entscheiden- sident halten will, als einen Wandel von unten zu un- de Akteure auftreten. Ebenso könnte in der Ukrai- terstützen. Hier bedarf es von deutscher und EU- ne ein Abkommen für eine robuste EU-Mission un- Seite langfristiger Programme, die den Ländern der 17 Die vom Oppositionspolitiker Alexej Nawalny initierte Stiftung für den Kampf gegen Korruption hat mehrere hochrangige Fälle von Korruption und Selbstbereicherung in Russland bis hin zu Immobilienbesitz und Geldwäsche weltweit aufgedeckt: Fond bor’by s korupciej (Stiftung für den Kampf gegen Korruption), Rassledovanie (Untersuchungen), / (abgerufen am 5.09.2020).
8 Nr. 19 | September 2020 Das Ende der Ostpolitik: Wie ein Strategiewandel deutscher Russlandpolitik aussehen könnte POLICY BRIEF Östlichen Partnerschaft eine realistische Integrati- onsperspektive in die EU geben, die unterhalb der Vollmitgliedschaft sein kann, und u.a. eine Integra- tion in den Binnenmarkt bzw. Formen unterschied- licher Geschwindigkeiten und Tiefen der Integration mit der EU bedeuten könnte. Die Debatte über ei- ne vollständige oder gar keine Integration ist nicht zielführend und zu unflexibel für eine Partnerschaft mit den östlichen Nachbarn. Gleichzeitig sollten Ver- stöße gegen Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und gute Regierungsführung innerhalb der EU und im Rahmen von Nachbarschaftsprogrammen glaub- würdig sanktioniert werden. Es bedarf mehr Druck auf die russische Politik und die autoritären Füh- rungen in der östlichen Nachbarschaft durch Sank- tionen. Hierfür sollte in der EU ein Instrumenten- kasten für wirksame Sanktionen von Unternehmen, Banken und Personen entworfen werden. Der Kreml fürchtet nichts mehr als erfolgreiche Reformen und eine demokratische Transformation in seiner direk- ten Nachbarschaft. Ein Paradigmenwechsel mit Blick auf Anreize und Sanktionen heißt, kooperatives Engagement um der Kooperation willen und in der reinen Annah- me gemeinsamer Interessen aufzugeben. Deutsche Politik sollte auch in der Lage sein, in tit-for-tat-Zu- sammenhängen zu agieren, indem sie analysiert, wo es ein tatsächliches Interesse der russischen Seite gibt, verbunden mit Kooperationsangeboten für Zu- geständnisse. Die deutsche Bundesregierung soll- te nicht den Bau einer Pipeline mit Russland in der Annahme unterstützen, dass sich die Beziehungen damit schon bessern werden, sondern den Bau die- ser Pipeline an klare Konditionen auch in anderen Politikbereichen binden. Die Verknüpfung verschie- dener Politiken stellt Deutschland und die EU vor enorme intellektuelle und politische Herausforde- rungen. Das ist jedoch genau das Spiel, das die russi- sche Regierung so erfolgreich macht, das sie versteht und beeinflussen kann. Dieser Artikel entspricht ausschließlich der Positi- on des Autors und nicht einer der oben genannten Institutionen.
Nr. 19 | September 2020 9 POLICY BRIEF Das Ende der Ostpolitik: Wie ein Strategiewandel deutscher Russlandpolitik aussehen könnte Vakatseite
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