Das französische Rechtssystem

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Das französische Rechtssystem
Juni 2007

                                       Das französische Rechtssystem
      Das System der französischen Institutionen beruht auf der Gewaltentrennung:
gesetzgebende Gewalt des Parlaments (Beschluss der Gesetze), vollziehende Gewalt der
Regierung (Durchführung der Gesetze) und rechtsprechende Gewalt (Anwendung der Gesetze).

      Die Justiz bildet den dritten Pfeiler des Staates und ist von den anderen beiden
Gewalten unabhängig. Sie ist Garant der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit und wacht
über die Anwendung der Gesetze und die Achtung der Rechte eines jeden Einzelnen.

  GRUNDLAGEN       UND   PRINZIPIEN
      Dem von der Revolution von 1789 ererbten französischen Rechtssystem liegt ein
geschriebenes Recht zugrunde, das sich aus einer Reihe von Texten bestehend aus vom
Parlament beschlossenen Gesetzen, der Verfassung der Fünften Republik (vom 4. Oktober
1958), internationalen Übereinkommen und Verträgen, dem gemeinschaftlichen und
europäischen Recht, der Rechtsprechung und dem Gewohnheitsrecht zusammensetzt.

       Das französische Rechtssystem basiert auf folgenden Grundprinzipien:

      •Zugang zum Recht für alle: da der Grundsatz „Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht
      vor Strafe“ gilt, wurde ein Hilfssystem für den Zugang zum Recht geschaffen, damit jeder
      seine Rechte und Pflichten besser kennt und sie geltend machen bzw. erfüllen kann,
      insbesondere mittels der Departementsräte für den Zugang zum Recht (CDAD).
      •Zugang zur Justiz für alle: jede Person hat Anspruch, sich an die Justiz zu wenden, ihr
      Anliegen vorzubringen, ein Urteil zu erwirken und sich unterstützen zu lassen.
      •Unabhängigkeit und Neutralität des Richters.
      •Kontrolle der Anwendung des Rechts durch das Kassationsgericht.
      •Unentgeltlichkeit: die Prozessparteien haben ihre Richter (vom Staat besoldete Beamte)
      nicht zu bezahlen. Allerdings müssen sie das Honorar und die Bezüge der Hilfspersonen der
      Rechtspflege (Rechtsanwälte, Sachverständige usw.) bezahlen, wobei die Personen, die
      aufgrund unzureichender Einkünfte diese Kosten nicht zu bestreiten imstande sind,
      Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen können.

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•Kontinuierlichkeit: Recht wird kontinuierlich und ohne Unterbrechung zwischen
      regelmäßig abgehaltenen Sitzungen gesprochen.
      •Ortsgebundenheit: Die Gerichte haben einen festen Sitz.
      •Öffentlichkeit der Gerichtsentscheidungen: um die Rechtsbürger vor einer Geheimjustiz
      zu schützen, finden die Prozesse öffentlich statt (die Öffentlichkeit der Urteilsverkündung
      ist ein oberster Gebot, bei den Verhandlungen gibt es allerdings Einschränkungen).
      •Begründung der Urteile: der Richter muss die rechtlichen und faktischen Gründe seiner
      Entscheidung erklären.
      •Recht auf einen gerechten Prozess.
      •Möglichkeit der Berufung und zweiinstanzliche Gerichtsbarkeit: die Gerichte sind
      hierarchisch    gegliedert. Die „Gerichte der ersten Instanz“ (Großinstanzgerichte,
      Strafgerichte   usw.) befinden im ersten Rechtszug über eine Sache, während sich die
      Gerichte der     „zweiten Instanz“ (Berufungsgerichte) ein zweites Mal mit einer Sache
      befassen und    das erstinstanzliche Urteil abändern können.

  AUFGABEN     UND    ORGANISATION
       Neben den klassischen Aufgaben wie Anwendung des Zivil- und Strafrechts (siehe
nachfolgend „das Rechtssystem“) obliegen der französischen Justiz noch weitere Aufgaben in
drei wichtigen Bereichen:

      •Strafvollzug und Wiedereingliederung: die französischen Haftanstalten werden von
      der Abteilung „Verwaltung der Justizvollzugsanstalten“ des Justizministeriums betrieben,
      die die in die Verfügungsgewalt der Justiz übergebenen Personen (im geschlossenen und
      offenen Vollzug) zu überwachen und Maßnahmen zu deren Wiedereingliederung zu
      ergreifen hat.
      •Jugendgerichtsbarkeit: Sondergerichte (wie das Jugendgericht) kümmern sich um
      gefährdete Minderjährige und minderjährige Straftäter; unterstützt werden sie hierbei vom
      gerichtlichen Schutz für Minderjährige.
      •Unterstützung der Opfer: das Justizministerium möchte den Opfern in den Verfahren
      einen größeren Platz einräumen und ihre Rechte stärken, insbesondere im Hinblick auf die
      Entschädigung.

       Die   französische     Gerichtsbarkeit     zeichnet   sich  durch      eine   zweifache
pyramidenförmige Struktur aus. Es gibt zwei unterschiedliche Gerichtszweige: die
Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Justizgerichtsbarkeit (auch ordentliche Gerichtsbarkeit
genannt). Jeder dieser beiden Gerichtszweige ist pyramidenförmig aufgebaut: an der Spitze ein
einziges Gericht und an der Basis mehrere Gerichte mit unterschiedlicher Zuständigkeit. Die
Rechtsbürger, die mit einer Gerichtsentscheidung unzufrieden sind, können sie vor der
übergeordneten Instanz anfechten. In jedem Gerichtszweig hat ein einziges letztinstanzliches
Gericht dafür zu sorgen, dass die nachgeordneten Gerichte das Recht einheitlich auslegen.

        Die Verwaltungsgerichte sind für Streitigkeiten zwischen den Nutzern und der
öffentlichen Hand zuständig:

      •Staatsrat: als erst- und letztinstanzliches Gericht ist er sowohl Berater der Regierung als
      auch oberstes Verwaltungsgericht.
      •Gerichte   mit     allgemeiner      Zuständigkeit:        die   Verwaltungsgerichte,    die
      Verwaltungsgerichtshöfe für Berufungsentscheidungen und der Staatsrat (als Gericht).
      •Gerichte mit Sonderzuständigkeit: die Finanzgerichte (Rechnungshof, regionale

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Rechnungshöfe, Disziplinargericht für Haushalts- und Finanzangelegenheiten) sowie andere
       Gremien (wie die Disziplinarabteilungen der Berufsverbände).
Siehe die Website des Justizministeriums:
http://www.justice.gouv.fr/index.php?rubrique=10031&ssrubrique=10034

       Die Justizgerichtsbarkeit ist für Streitigkeiten zwischen Personen zuständig und ahndet
strafbare Handlungen gegen Personen, Güter und die Gesellschaft. Zu unterscheiden ist
zwischen drei Arten:

       •Gerichte erster Instanz:
             - Zivilgerichte: die Amtsgerichte, die Großinstanzgerichte, die Handelsgerichte, die
             Arbeitsgerichte, die paritätischen Gerichte für landwirtschaftliche Miet- und
             Pachtangelegenheiten, die Gerichte für Streitfragen aus der gesetzlichen
             Sozialversicherung;
             - Strafgerichte:
                 . des gemeinen Rechts: die Polizeigerichte,           die   Strafgerichte   bei   den
                 Großinstanzgerichten und die Schwurgerichte
               . besondere Spruchkörper: die Gerichte für Minderjährige und die Gerichte für
               militärische Angelegenheiten, die Gerichte für politische Angelegenheiten und das
               Seegericht für Handelssachen
           - „Gerichte der Nähe“: sie können den Straf- und Zivilgerichten unterstehen;
           eingerichtet wurden sie durch das Gesetz vom 9. September 2002, damit die Justiz
           zugänglicher wird, rascher handeln kann und kleinere Streitigkeiten des täglichen
           Lebens zügiger bearbeitet werden. An diesen Gerichten sind nur Laienrichter tätig.
       •Gerichte der zweiten Instanz: die Berufungsgerichte (Appellationsgerichte).
       •Oberste    Gerichtsbarkeit: das Kassationsgericht hat dafür zu sorgen, dass die
       nachgeordneten Gerichte die einschlägigen Rechtsbestimmungen ordnungsgemäß
       anwenden. Im Gegensatz zu den Gerichten der ersten beiden Instanzen, die Sachurteile
       fällen, befindet es nur über die Form, nicht aber über die Sache selbst.
Siehe die Website des Justizministeriums:
http://www.justice.gouv.fr/index.php?rubrique=10031&ssrubrique=10033

   TRÄGER      DER   RECHTSPFLEGE
      Die Justiz ist ein Monopol des Staates; sie ist ein öffentlicher Dienst. Für die
Organisation der Justiz ist hauptsächlich das Justizministerium zuständig, dem die Legislative
und die Exekutive die Mittel zur Wahrnehmung seiner Aufgaben bereitstellen. Sie bewilligen ihm
Haushaltsmittel und kontrollieren deren Verwendung, insbesondere um zu bewerten, wie die
zunehmende Inanspruchnahme der Justiz durch die Bürger bewältigt wird.

        Das Ministerium, dem der Justizminister vorsteht, hat vier Hauptaufgaben:

       •Bereitstellung und Verwaltung der Mittel für die Justiz;
       •Vorbereitung von Gesetzentwürfen (zu Themen wie Staatsangehörigkeit, Strafrechtspflege
       usw.);
       •Beaufsichtigung der Personen, die auf Beschluss der Justiz unter seine Obhut gestellt
       werden: minderjährige Straftäter oder gefährdete Jugendliche sowie Erwachsene, die in die
       Verfügungsgewalt der Justiz übergeben wurden;
       •Festlegung der Grundzüge der Politik im Bereich der Justiz und Sicherstellung ihrer
       Umsetzung.

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Zahlreiche Akteure beteiligen sich an der Rechtspflege:

      •Akteure des öffentlichen Diensts: Richter, Urkundsbeamten und Gerichtsschreiber, das
      Personal für den gerichtlichen Schutz der Jugendlichen und das Personal des Strafvollzugs;
      •sonstige Träger: Hilfspersonen der Rechtspflege (Rechtsanwälte und Prozessführer),
     gerichtliche Amtspersonen (Gerichtsvollzieher, Notare usw.), gerichtliche Sachverständige,
     Kriminalpolizei und Sozialarbeiter.
      Manche sind Staatsbeamte wie die Richter, andere Freiberufler wie beispielsweise die
Rechtsanwälte.

       Die Bürger beteiligen sich ebenfalls an der Rechtspflege:

      •als „Richter“ wirken sie in bestimmten Gerichten an der Urteilsfindung mit (Schöffen in
      Schwurgerichten, Beisitzer beim Jugendgericht, Laienrichter an den Arbeits- und
      Handelsgerichten);
      •als „Hilfspersonen der Rechtspflege“ unterstützen sie andere Träger (Beauftragte des
      Staatsanwalts, gerichtliche Schlichter usw.);
      •sie sind in den Partnerverbänden der Justiz präsent, die beispielsweise gefährdete
      Minderjährige, jugendliche Straftäter, Verurteilte oder Opfer betreuen.

  DIE MITTEL*
       2007 verfügte das Justizministerium über einen Etat von 6,71 Milliarden Euro, das
entspricht 2,34 % des Staatshaushalts. Der Etat wurde gegenüber 2006 um 5 % und gegenüber
2002 um 38 % aufgestockt, da das Orientierungs- und Planungsgesetz betreffend die Justiz
Nr. 2002-1138 vom 9. September 2002 eine Stärkung der Mittel der Justiz vorsieht.

       2005 arbeiteten 67 064 Bedienstete für die Justiz, die Mehrheit davon im Strafvollzug und
in der Justizgerichtsbarkeit.

   * Quelle: Ministerium der Justiz

 EUROPÄISCHE       UND INTERNATIONALE      ASPEKTE
      •Vorrang des europäischen und internationalen Rechts vor dem französischen
      Recht

       Artikel 55 der französischen Verfassung von 1958 bestimmt Folgendes: „Nach
ordnungsgemäßer Ratifizierung oder Zustimmung erlangen Verträge oder Abkommen mit ihrer
Veröffentlichung höhere Rechtskraft als Gesetze unter dem Vorbehalt, dass das Abkommen
oder der Vertrag von der anderen Vertragspartei ebenfalls angewandt wird“. Durch die
Veröffentlichung eines ratifizierten internationalen Abkommens im Amtsblatt der Französischen
Republik (Journal Officiel) wird es anwendbar, so dass sich jeder vor den Gerichten darauf
berufen kann. Zu unterscheiden ist allerdings zwischen direkt anwendbaren Übereinkommen und
„Programmübereinkommen“, die alleine nicht ausreichen und ins französische Recht umgesetzt
werden müssen. Die internationalen Rechtsnormen haben zwar vor dem nationalen Recht
Vorrang; der Verfassungsrat kann aber befasst werden, damit er prüft, ob ein Abkommen mit
dem französischen Grundgesetz in Einklang steht.

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•Internationale rechtliche und justizielle Zusammenarbeit

      Das     Ministerium     für    auswärtige     Angelegenheiten     finanziert    zahlreiche
Kooperationsprojekte im Bereich von Justiz und Rechtsstaatlichkeit (Verschicken von
Dokumentation, Ausbildung von Richtern usw.). Beide Ministerien fördern die Verbreitung des
kontinentalen Rechts, um die Vielfalt der Rechtstraditionen zu bewahren (das englische
„Common Law“ und das französische „geschriebene Recht“). Der Staatsrat und das
Kassationsgericht führen ebenfalls Kooperationsvorhaben durch. Für die internationalen Aktionen
des Staatsrates ist der Stab „internationale Zusammenarbeit“ der Abteilung „Berichterstattung
und Grundsatzfragen“ zuständig: Empfang zahlreicher Delegationen und Persönlichkeiten,
Organisation von Praktika im Staatsrat für ausländische Juristen und Entsendung von
Delegationen des Staatsrates ins Ausland im Rahmen bilateraler oder multilateraler Programme.
Das Kassationsgericht hat mit mehreren Ländern Partnerschaften begründet und gehört einem
Netz Oberster Gerichtshöfe und internationaler Gerichte an.

       Französische Verbindungsrichter tragen im Ausland in Botschaften oder in
Justizministerien zur Verbesserung der Amtshilfe in Zivil- oder Strafsachen bei und informieren
über die Weiterentwicklungen ausländischer Rechtssysteme. Unter der Federführung der
Botschafter beteiligen sie sich aktiv an diplomatischen Aktionen.

       Im Verbund mit dem Ministerium für auswärtige Angelegenheiten beteiligt sich das
Justizministerium zudem innerhalb der europäischen und internationalen Gremien (Europäische
Kommission, UNO usw.) an der Aushandlung der wichtigsten internationalen Texte im
zivil- und strafrechtlichen Bereich.

      Aktiv vertreten ist Frankreich auch in zahlreichen gemeinschaftlichen und
internationalen Gerichten, beispielsweise im Internationalen Gerichtshof, im Europarat
oder im Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften.

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Nähere Informationen

  WEBSITES

Justizministerium
        http://www.justice.gouv.fr/

  DOSSIERS     IM   INTERNET

Organisation der Justiz in Frankreich / Justizministerium
        http://www.justice.gouv.fr/index.php?rubrique=10031
Justiz: Grundrechte / La Documentation française
       −Die Justiz der Nähe (1945-2002)
       −Die Politik im Bereich des Strafvollzugs (1945-2005)
       −Die Strafrechtspflege (1990-2005)
       −Jugend und Justiz (1945-2005)
       −Richter und Justiz der Nähe (1980-2006)
       −Die Unschuldsvermutung und das Gesetz vom 15. Juni 2000

        http://www.vie-publique.fr/th/politique-publique/justice-droits-
        fondamentaux.html

  ETAT   UND AUSGEWÄHLTE        DATEN

Ausgewählte Daten zur Justiz 2006 / Justizministerium
        http://www.justice.gouv.fr/index.php?rubrique=10054&ssrubrique=10303&ar
        ticle=12257
Der Etat der Justiz im Jahre 2006 / Justizministerium
        http://www.justice.gouv.fr/index.php?rubrique=10054&ssrubrique=10055&ar
        ticle=11874
Statistisches Jahrbuch der Justiz / Justizministerium, 2006
        http://www.justice.gouv.fr/art_pix/1_annuairestat2006.pdf

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BIBLIOGRAPHIE

La justice, réformes et enjeux (Die Justiz, Reformen und zentrale Fragen) / Heft
erstellt unter der Leitung von Philippe Tronquoy. – Reihe „Cahiers français“, La Documentation
française, Nr. 334, September/Oktober 2006.
Réformes de la justice pénale (Reformen der Strafrechtspflege). – Reihe „Regards sur
l'actualité“, La Documentation française, Nr. 300, April 2004.
Institutions judiciaires (Institutionen der Justiz) / Roger Perrot. - Montchrestien, 2002.
Justice et institutions judiciaires (Die Justiz                und   ihre   Institutionen).   -       La
Documentation française, Kollektion „Les notices“, 2001.

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