DAS GESETZ ZUR FORTENTWICKLUNG DER STPO UND ZUR ÄNDERUNG WEITERER VORSCHRIFTEN - EINE KRITISCHE WÜRDIGUNG DER NEUREGELUNGEN - KRIPOZ 6

 
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350   KriPoZ 6 | 2021                                                                                   DOI:10.20375/0000-000E-7FE4-3

                        Das Gesetz zur Fortentwicklung der StPO und zur Änderung
                    weiterer Vorschriften – Eine kritische Würdigung der Neuregelungen

                   von RA Dr. André Bohn, LL.M.*

         Abstract
                                                                               abzustellen, ob […] die Klärung des gegen den Beschul-
         Zum 1.7.2021 sind umfangreiche Änderungen in der
                                                                               digten bestehenden Tatverdachts mittels aller zulässigen
         StPO, aber auch in anderen Gesetzen, wie zum Beispiel
                                                                               Untersuchungshandlungen […] durch die sofortige Offen-
         im BKA-Gesetz und im Gewaltschutzgesetz, in Kraft ge-
                                                                               legung gefährdet ist.4
         treten. Die wichtigsten Neuregelungen werden im Rah-
         men dieses Beitrags vorgestellt und kritisch beleuchtet.
                                                                               § 95a Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. stellt als weitere Vorausset-
         Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Änderungen in der
                                                                               zung auf den Verdacht einer Straftat von auch im Einzel-
         StPO.
                                                                               fall erheblicher Bedeutung ab. Hinsichtlich der Definition
                                                                               des Begriffs der Straftat von erheblicher Bedeutung kann
         Once again, extensive changes to criminal procedure law
                                                                               auf andere Normen der StPO Bezug genommen werden:5
         but also to other laws like the BKA-Gesetz and the Ge-
         waltschutzgesetz were made. The changes entered into
                                                                               Die Anlasstat muss mindestens der mittleren Kriminalität
         force on the 1st July 2021. This gives cause to present the
                                                                               zuzuordnen sein, den Rechtsfrieden erheblich stören und
         major changes and make some critical remarks.
                                                                               geeignet sein, das Gefühl der Rechtssicherheit in der Be-
                                                                               völkerung erheblich zu beeinträchtigen. Dies soll bei Ver-
         I. Einleitung
                                                                               brechen regelmäßig der Fall sein.
         Zum 1.7.2021 ist das Gesetz zur Fortentwicklung der
                                                                               Nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 StPO n.F. wird die zusätzliche
         StPO und zur Änderung weiterer Vorschriften in Kraft ge-
                                                                               Voraussetzung aufgestellt, dass die Erforschung des Sach-
         treten.1 In den insgesamt 25 Artikeln des Gesetzes sind
                                                                               verhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Be-
         zahlreiche Änderungen in unterschiedlichen Gesetzen
                                                                               schuldigten ohne die Zurückstellung der Benachrichti-
         enthalten. Im Rahmen dieses Beitrags sollen die wichtigs-
                                                                               gung wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre.
         ten dieser Neuregelungen vorgestellt und einer kritischen
         Würdigung unterzogen werden. Dabei sollen zunächst die
                                                                               Die Anordnung darf nach § 95a Abs. 2 StPO n.F. nur
         neu eingefügten Vorschriften der StPO dargestellt wer-
                                                                               durch ein Gericht zunächst über einen Zeitraum von sechs
         den. Danach werden weitere Änderungen der StPO vorge-
                                                                               Monaten, danach gegebenenfalls aber jeweils für weitere
         stellt, bevor am Ende des Beitrags Änderungen in anderen
                                                                               drei Monate, wenn die Voraussetzungen vorliegen, erfol-
         Gesetzen, namentlich im BKA-Gesetz und im Gewalt-
                                                                               gen.
         schutzgesetz, erörtert werden. Der Beitrag schließt mit ei-
         ner Gesamtwürdigung der Änderungen.
                                                                               § 95a Abs. 5 StPO n.F. eröffnet – entsprechend § 101
                                                                               Abs. 7 StPO für andere verdeckte Ermittlungsmaßnah-
         II. Änderungen der StPO
                                                                               men – eine nachträgliche Rechtsschutzmöglichkeit.
         1. § 95a StPO n.F.
                                                                               Nach § 95a Abs. 6 StPO n. F. kann der Betroffene zum
                                                                               Schweigen über die Maßnahme gegenüber dem Beschul-
         § 95a StPO n.F. eröffnet nunmehr die Möglichkeit, bei der
                                                                               digten und gegenüber Dritten verpflichtet werden. Dies
         gerichtlichen Anordnung oder Bestätigung der Beschlag-
                                                                               bleibt aber einer eigenen Anordnung vorbehalten und ist
         nahme einer Sache, die sich nicht im Gewahrsam des Be-
                                                                               keine zwingende Folge der Zurückstellung der Benach-
         schuldigten befindet, die Benachrichtigung des Beschul-
                                                                               richtigung des Beschuldigten. Bei einem Verstoß drohen
         digten unter bestimmten Voraussetzungen wegen Gefähr-
                                                                               dem Dritten über § 95a Abs. 7 StPO n.F. i.V.m. § 95
         dung des Untersuchungszwecks zurückzustellen. Eine
                                                                               Abs. 2 und § 70 StPO Haft und/oder die Verhängung eines
         Gefährdung des Untersuchungszwecks liegt analog zu den
                                                                               Ordnungsgeldes. Außerdem kommt im Einzelfall
         Grundsätzen bei verdeckten Ermittlungsmaßnahmen2 vor,
                                                                               eine Strafbarkeit wegen Strafvereitelung nach § 258
         wenn die begründete Erwartung besteht, dass durch die
                                                                               StGB in Betracht. Kettenbeschlagnahmen, um die strikte-
         verdeckte Ermittlungsführung weitere beweiserhebliche
                                                                               ren Voraussetzungen von auf Dauer angelegten Ermitt-
         Erkenntnisse gewonnen werden können.3 Davon ausge-
                                                                               lungsmaßnahmen zu umgehen, sind unzulässig.6
         hend „ist [im Rahmen der Zurückstellung der Benachrich-
         tigung des Beschuldigten bei der Beschlagnahme] darauf

                                                                               4
         *   Der Verfasser ist als Strafverteidiger in Düsseldorf tätig.           BT-Drs. 19/27654, S. 63.
         1                                                                     5
             BGBl. I 2021, S. 2099 ff.                                             BT-Drs. 19/27654, S. 63 f., hier auch zum Folgenden.
                                                                               6
         2
             Vgl. § 101 Abs. 5 S. 1 StPO.                                          BT-Drs. 19/27654, S. 64.
         3
             Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. (2021), § 101
             Rn. 19.
Bohn – Das Gesetz zur Fortentwicklung der StPO                                                                   KriPoZ 6 | 2021                       351

Hintergrund der Neuregelung ist, dass es sich bei der Be-                  Absatz 2 betrifft den Abgleich der erhobenen Kennzei-
schlagnahme um eine offene Ermittlungsmaßnahme han-                        chen mit Kennzeichen von Fahrzeugen, die von dem Be-
delt und der Betroffene daher grundsätzlich nach § 35                      schuldigten genutzt werden oder auf ihn zugelassen sind
Abs. 2 StPO davon zu unterrichten ist. Bisher war eine                     (Nr. 1) oder mit Kennzeichen von Fahrzeugen, die von
Zurückstellung der Bekanntgabe nur bis zum Beginn der                      Dritten genutzt werden, wenn aufgrund bestimmter Tatsa-
Maßnahme zulässig,7 danach musste eine Benachrichti-                       chen anzunehmen ist, dass sie mit dem Beschuldigten in
gung erfolgen.8                                                            Verbindung stehen oder eine solche Verbindung herge-
                                                                           stellt wird, und die Ermittlung des Aufenthaltsorts des Be-
Laut Gesetzesbegründung ist es aus Sicht der Strafverfol-                  schuldigten auf andere Weise erheblich weniger erfolgs-
gungsbehörden häufig bereits in einem frühen Verfah-                       versprechend oder wesentlich erschwert wäre (Nr. 2).
rensstadium sinnvoll, gewisse körperliche und/oder nicht
körperliche Gegenstände zu beschlagnahmen.9 Wenn der                       Treffer sind nach § 163g Abs. 2 S. 2 StPO n.F. unverzüg-
Beschuldigte dann aber sofort informiert werden muss,                      lich manuell zu überprüfen; gibt es keinen Treffer oder
würden gegebenenfalls weitere Ermittlungen unmöglich                       bestätigt sich der Treffer nicht, sind die erhobenen Daten
gemacht, weil der Beschuldigte dann gewarnt sei.                           sofort und spurenlos zu löschen (S. 3).16 Ob eine hundert-
                                                                           prozentig spurenlose Beseitigung überhaupt technisch
2. § 163g n.F. StPO                                                        möglich ist, darf bezweifelt werden.

Vollkommen neu eingefügt wurde zudem die automati-                         Nach § 163g Abs. 3 StPO n.F. ist die Staatsanwaltschaft
sche Kennzeichenerfassung in § 163g StPO n.F. Örtlich                      für die Anordnung zuständig.17 Im Regelfall ist die An-
und zeitlich begrenzt erlaubt § 163g Abs. 1 StPO n.F. nun-                 ordnung schriftlich zu treffen; nur bei Gefahr in Verzug
mehr die heimliche automatische Erhebung von Kennzei-                      kann auch eine mündliche Anordnung ergehen; dann ist
chen von Kraftfahrzeugen, Ort, Datum, Uhrzeit und Fahrt-                   die schriftliche Darlegung innerhalb von drei Tagen nach-
richtung im öffentlichen Verkehrsraum10 durch den Ein-                     zuholen (§ 163g Abs. 3 S. 4 StPO n.F.). In der schriftli-
satz technischer Mittel. Voraussetzung sind tatsächliche                   chen Anordnung müssen die Voraussetzungen, die abzu-
Anhaltspunkte dafür, dass eine Straftat von erheblicher                    gleichenden Kennzeichen und die örtlichen und zeitlichen
Bedeutung begangen worden und die Annahme gerecht-                         Begrenzungen genau bezeichnet werden.
fertigt ist, dass die Maßnahme zur Ermittlung der Identität
oder des Aufenthaltsorts des Beschuldigten führen kann.                    § 163g StPO n.F. sieht – auch bei einem Treffer – keine
Hinsichtlich des Begriffs der Straftat von erheblicher Be-                 Benachrichtigung der Betroffenen vor. Dies ist aber nach
deutung kann auf die obigen Ausführungen verwiesen                         dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur prä-
werden. Ein flächendeckender Einsatz ist unzulässig11                      ventiven automatisierten Kennzeichenüberwachung auch
und wäre auch nicht (mehr) verfassungsgemäß.12 Außer-                      nicht notwendig.18 Vielmehr sei es ausreichend, wenn der
dem dürfen nur die genannten Daten abgeglichen wer-                        Betroffene im Rahmen von Folgemaßnahmen gegen ihn
den.13 Ist auf dem Bild zum Beispiel erkennbar, wie viele                  Kenntnis erlange und die Rechtmäßigkeit dann fachge-
Personen sich in einem Wagen befinden und gegebenen-                       richtlich überprüfen lassen könne.
falls sogar, wer sich in dem Wagen aufhält, so ist ein ent-
sprechender Abgleich unzulässig. Problematisch ist in                      Es steht nicht zu erwarten, dass das BVerfG dies im re-
dieser Hinsicht wie bei vielen anderen Restriktionen in Er-                pressiven Bereich anders sehen wird. Dies erscheint je-
mächtigungsgrundlagen, dass in Deutschland nicht jeder                     doch bedenklich. Grundsätzlich ist es denkbar, dass die
Verstoß automatisch zur Unverwertbarkeit der entspre-                      automatisierte Kennzeichenerfassung einen Treffer
chenden Erkenntnisse führt. Ausgehend von der Abwä-                        ergibt, die Beweislage aber keine Folgemaßnahmen recht-
gungslehre des BGH14 wird es auch hier bei einem Ver-                      fertigt. Dann bleibt dieser Treffer in den Grenzen des
stoß auf den Einzelfall ankommen, insbesondere darauf,                     § 101 Abs. 8 StPO19 gespeichert; der Eingriff in das Recht
worauf sich der Tatverdacht bezieht.15                                     auf informationelle Selbstbestimmung dauert also an,
                                                                           ohne dass der Betroffene davon Kenntnis erlangt. Zudem

7                                                                          15
     Hauschild, in: MüKo-StPO, Bd. 1, 1. Aufl. (2014), § 98 Rn. 21.             Nach Burhoff, StraFO 2021, 398 ff., zitiert nach:
8
     Dies war zwar umstritten, der BGH auf dessen Ansicht es in der Pra-        https://burhoff.de/veroeff/aufsatz/2021/StraFo_2021_398.htm#_ftn
     xis maßgeblich ankommt, hat diese Sichtwiese aber in BGH, NStZ             ref87 (zuletzt abgerufen am 7.11.2021), unter VIII. 6., kann auf die
     2015, 704 (705), bestätigt, auch wenn er kein Beweisverwertungs-           Beweisverwertungsverbote der §§ 98a und 100f StPO abgestellt
     verbot wegen dieses Verstoßes annahm.                                      werden, da die Maßnahmen vergleichbar seien.
9                                                                          16
     BT-Drs. 19/27654, S. 61, hier auch zum Folgenden.                          Sogenanntes hit/no hit-Verfahren, siehe: BT-Drs. 19/27654, S. 88.
10                                                                         17
     BT-Drs. 19/27654, S. 87.                                                   Die Neue Richtervereinigung fordert in ihrer Stellungnahme, S. 5,
11
     BT-Drs. 19/27654, S. 87.                                                   abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungs-
12
     Vgl.: BVerfGE 150, 244 ff. Rn. 93. Nach der Stellungnahme der              verfahren/Stellungnahmen/2020/Downloads/111520_Stellungnah
     Neuen Richtervereinigung, S. 5, abrufbar unter: https://www.               me_NRV_RefE_Fortentwicklung_StPO.pdf;jsessionid=556C2F8
     bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/                  93996F423B1CB9560D2B97.1_cid297?__blob=publicationFile&
     2020/Downloads/111520_Stellungnahme_NRV_RefE_Fortent-                      v=3 (zuletzt abgerufen am 7.11.2021), jedoch einen Richtervorbe-
     wicklung_StPO.pdf;jsessionid=556C2F892389796F423B1CB9560                   halt, weil regelmäßig eine Vielzahl von Unverdächtigen erfasst wür-
     D2B97.1_cid297?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen               den.
                                                                           18
     am 7.11.2021), öffnet der Gesetzeswortlaut einer verfassungswidri-         BVerfGE 150, 244 ff. Rn. 154, hier auch zum Folgenden.
                                                                           19
     gen örtlichen Ausweitung der automatisierten Kennzeichenerfas-             Wenn die durch die Maßnahme erlangten personenbezogenen Daten
     sung aber Tür und Tor.                                                     zur Strafverfolgung und für eine etwaige gerichtliche Überprüfung
13
     BT-Drs. 19/27654, S. 87, hier auch zum Folgenden.                          der Maßnahme nicht mehr erforderlich sind, sind sie unverzüglich
14
     Umfassend dazu: Neuber, NStZ 2019, 113 ff.                                 zu löschen.
352   KriPoZ 6 | 2021

         könnten etwaige Folgemaßnahmen wiederum verdeckter                          gleichgestellt. Dies entspricht den Vorgaben des Art. 2
         Natur sein, sodass sich die Benachrichtigung des Betroffe-                  Nr. 1 b) der Opferschutzrichtlinie.24
         nen zeitlich weiter nach hinten verschiebt.
                                                                                     Die entsprechenden Regelungen in der StPO, die sich auf
         Der Gesetzgeber schließt mit § 163g StPO n.F. eine Lücke                    den Verletzten beziehen, wurden ebenfalls angepasst.
         im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten, in denen die au-                    Bisher wurde der Verletztenbegriff in unterschiedlichen
         tomatische Kennzeichenerfassung bereits seit Längerem                       Regelungen auch unterschiedlich ausgelegt.25 Nach der
         angewendet wird, so zum Beispiel zur Durchsetzung der                       Gesetzesbegründung soll der Begriff „Verletzter“ auch
         Mautpflicht oder zur Durchsetzung von „Dieselfahrverbo-                     den Begriff des Opfers erfassen, wie er in Art. 2 Nr. 1 a) i)
         ten“.20 Der Gesetzgeber hat erkannt, dass die bestehende                    der Opferschutzrichtlinie genannt ist.26 Nach der Rege-
         Regelung des § 100h Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO, der es unter                    lung in der Richtlinie umfasst der Begriff des Opfers eine
         bestimmten Voraussetzungen erlaubt, ohne Wissen des                         natürliche Person, die eine körperliche, geistige oder see-
         Betroffenen auch außerhalb von Wohnungen Bildaufnah-                        lische Schädigung oder einen wirtschaftlichen Verlust,
         men herzustellen, keine taugliche Ermächtigungsgrund-                       der direkte Folge einer Straftat war, erlitten hat. Die Re-
         lage für die automatische Kennzeichenerfassung sein                         gelung in § 373b StPO n.F. geht damit weit über den Be-
         kann, weil § 100h StPO ursprünglich einem anderen                           griff der Richtlinie hinaus, weil jegliche Rechtsgüter aus-
         Zweck diente und dem Bestimmtheitsgebot nicht hinrei-                       reichen, wenn diese beeinträchtigt werden. Der Begriff
         chend Rechnung getragen wird.21 Dies gilt auch in Ver-                      des Verletzten umfasst zudem auch juristische Personen.27
         bindung mit § 98c StPO, der es erlaubt, dass zur Aufklä-                    Damit geht die deutsche Definition auch hier über die
         rung einer Straftat oder zur Ermittlung des Aufenthaltsor-                  Vorgaben der Richtlinie hinaus. Der Begriff des Verletz-
         tes einer Person, nach der für Zwecke eines Strafverfah-                    ten bezieht sich nur auf das Strafprozessrecht, nicht auf
         rens gefahndet wird, personenbezogene Daten aus einem                       das materielle Strafrecht.28 Der Zusatz in der Legaldefini-
         Strafverfahren mit anderen zur Strafverfolgung oder                         tion „ihre Begehung unterstellt oder rechtskräftig festge-
         Strafvollstreckung oder zur Gefahrenabwehr gespeicher-                      stellt“ ist vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung
         ten Daten maschinell abgeglichen werden. Da die automa-                     zu begrüßen, auch wenn das Wort „Verletzter“ bereits den
         tisierte Kennzeichenerfassung in den Schutzbereich des                      Eindruck suggeriert, man wisse bereits, dass die Person
         Rechts auf informationelle Selbstbestimmung eingreift,22                    verletzt worden ist. Dies ist indes nicht immer im Ermitt-
         bedurfte es einer spezifischen gesetzlichen Ermächti-                       lungsverfahren der Fall. So ist die Verletzteneigenschaft
         gungsgrundlage.                                                             bei sichtbaren Körperverletzungen eindeutig feststellbar,
                                                                                     und es geht nur noch darum, wer der Täter war. Wird aber
         Ob diese Regelung ihren Zweck erfüllt, ist jedoch zwei-                     beispielsweise eine Beleidigung zur Anzeige gebracht,
         felhaft.23 Nach den Vorgaben darf das Fahrzeug des mut-                     muss zunächst einmal festgestellt werden, ob es über-
         maßlichen Täters nicht identifiziert werden; das Kennzei-                   haupt zu einer Beleidigung gekommen ist.
         chen muss vielmehr bereits bekannt sein. Wenn zudem
         keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, wohin der mutmaß-                      Die generelle Ausweitung der Verletzteneigenschaft ist
         liche Täter geflohen ist, kann der Ort der Maßnahme nicht                   aber insgesamt nicht unproblematisch. Sie stößt zum Bei-
         sinnvoll eingegrenzt werden. Ob sich trotzdem ein An-                       spiel im Hinblick auf den Täter-Opfer-Ausgleich nach
         wendungsbereich für die Vorschrift ergibt, wird sich in                     § 155a StPO auf Bedenken: Nach § 155a StPO sollen
         Zukunft zeigen. Sollte sich die Regelung wirklich als wir-                  Staatsanwaltschaft und Gericht in jedem Stadium des Ver-
         kungslos erweisen, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit                    fahrens die Möglichkeiten prüfen, einen Ausgleich zwi-
         Bestrebungen geben, die Vorschrift auszuweiten.                             schen Beschuldigtem und Verletztem zu erreichen. Staats-
                                                                                     anwaltschat und Gericht sollen nach Satz 2 der Vorschrift
         3. § 373b StPO n.F.                                                         in geeigneten Fällen darauf hinwirken. Gegen den aus-
                                                                                     drücklichen Willen des Verletzten darf die Eignung nach
         Erstmals hat der Gesetzgeber den Begriff des Verletzten                     § 155a S. 3 StPO aber nicht angenommen werden. Die
         jetzt in § 373b StPO n.F. legal definiert. Danach ist Ver-                  neue Regelung führt also dazu, dass ein Täter-Opfer-Aus-
         letzter, wer durch die Tat, ihre Begehung unterstellt oder                  gleich bereits dann nicht mehr zustande kommen kann,
         rechtskräftig festgestellt, in seinen Rechtsgütern unmittel-                wenn ein naher Angehöriger nicht einverstanden ist. Da-
         bar beeinträchtigt worden ist oder unmittelbar einen Scha-                  mit wird dieser Weg der alternativen Konfliktlösung un-
         den erlitten hat (Abs. 1). In Absatz 2 werden einige Per-                   nötig erschwert.29
         sonen, insbesondere nahe Verwandte, den Verletzten

         20                                                                          25
              Siehe zu den bereits bestehenden Regelungen ausdrücklich: BT-               Siehe die Übersicht bei der Stellungnahme des DAV, S. 8 f., abruf-
              Drs. 19/27654, S. 84.                                                       bar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfah-
         21
              Vgl.: BT-Drs. 19/27654, S. 84, hier auch zum Folgenden.                     ren/Stellungnahmen/2020/Downloads/112520_Stellungnahme_DA
         22
              BVerfGE 150, 244.                                                           V_RefE_Fortentwicklung_StPO.pdf;jsessionid=556C2F89238979
         23
              Zur folgenden Kritik siehe: Stellungnahme Neue Richtervereini-              6F423B1CB9560D2B97.1_cid297?__blob=publicationFile&v=3
              gung, S. 3, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Ge-              (zuletzt abgerufen am 7.11.2021).
                                                                                     26
              setzgebungsverfahren/Stellungnahmen/2020/Downloads/111520_                  BT-Drs. 19/27654, S. 99.
                                                                                     27
              Stellungnahme_NRV_RefE_Fortentwicklung_StPO.pdf;jsessio-                    BT-Drs. 19/27654, S. 99.
                                                                                     28
              nid=556C2F892389796F423B1CB9560D2B97.1_cid297?__blob=                       BT-Drs. 19/27654, S. 100.
                                                                                     29
              publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am 7.11.2021).                       So auch: Stellungnahme des DAV, S. 11 f.
         24
              Die Richtlinie ist abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/LexUri-
              Serv/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2012:315:0057:0073:DE:PDF (zu-
              letzt aufgerufen am 7.11.2021).
Bohn – Das Gesetz zur Fortentwicklung der StPO                                                              KriPoZ 6 | 2021                      353

4. § 463e StPO n.F.                                                     wenn aus den vorhandenen Tatsachen geschlossen werden
                                                                        kann, dass die Postsendungen oder Telegramme von dem
Mit dem neuen § 463e StPO öffnet der Gesetzgeber sich                   Beschuldigten herrühren oder für ihn bestimmt sind und
langsam für Verhandlungen, die über Video geführt wer-                  ihr Inhalt für die Untersuchung Bedeutung hat. Die Be-
den. Im Rahmen der Anhörung des Verurteilten und von                    schlagnahme muss sich gegen einen bestimmten Beschul-
Sachverständigen vor Entscheidungen im Rahmen der                       digten richten, der aber nicht namentlich bekannt sein
Strafvollstreckung kann das Gericht nunmehr anordnen,                   muss.34
dass sich die Betroffenen an einem anderen Ort aufhalten
und audiovisuell zugeschaltet werden. Dies soll aber nach               Die Informationen, die angefragt werden können, sind ab-
§ 463e Abs. 1 S. 2 StPO n.F. nur erfolgen, wenn die Be-                 schließend enumerativ in § 99 Abs. 2 S. 2 Nr. 1-
troffenen sich in einem Dienstraum eines Verteidigers                   6 StPO ausgeführt.35 Über den Inhalt der Sendung darf
oder Rechtsanwalts befinden. Von dieser Möglichkeit soll                nach § 99 Abs. 2 S. 3 StPO nur dann Auskunft verlangt
aber wiederum nach § 463e Abs. 1 S. 3 StPO n.F. kein                    werden, wenn die Personen oder Unternehmen, die ge-
Gebrauch gemacht werden können, wenn der Verurteilte                    schäftsmäßig Postdienstleistungen erbringen oder daran
zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, die Unterbrin-              mitwirken, in rechtmäßiger Weise davon Kenntnis erlangt
gung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder die Un-                  haben. Der Inhalt der Sendung ist also besonders ge-
terbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet                      schützt, was dem Postgeheimnis aus Art. 10 GG Rech-
wurde. Um der audiovisuellen Vernehmung zu mehr Pra-                    nung trägt.36 Hinsichtlich Postsendungen, die nicht der
xisrelevanz zu verhelfen, war die Neuregelung notwendig,                Beschlagnahme unterliegen, wie zum Beispiel Verteidi-
da die Rechtsprechung nach bisherigem Recht davon aus-                  gerpost, darf keine Auskunft verlangt werden.37
ging, dass dem Mündlichkeitsprinzip im Vollstreckungs-
verfahren nur dann Rechnung getragen werde, wenn Rich-                  In § 100 StPO wurden die prozessualen Regelungen zur
ter und Verurteilter zeitgleich im selben Raum anwesend                 Postbeschlagnahme und dem neuen Auskunftsverlangen
waren.30 Zudem war die Videokonferenz nur mit aus-                      angepasst. Für beide Ermittlungsmaßnahmen gilt der
drücklichem Einverständnis des Verurteilten zulässig.                   grundsätzliche Richtervorbehalt des § 100 Abs. 1 StPO.

Mit der neuen Vorschrift werden die Ressourcen der Jus-                 6. § 104 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3 StPO n.F.
tiz geschützt, da weniger Beamte eingesetzt werden müs-
sen, und das Risiko einer möglichen Flucht wird verrin-                 Eine wesentliche Neuerung wurde in § 104 StPO imple-
gert,31 wobei eine Flucht in der Vergangenheit – auch                   mentiert. Durfte früher eine Wohnung zur Nachtzeit nur
ohne die Neuregelung – höchst selten vorkam.                            bei Verfolgung auf frischer Tat, bei Gefahr im Verzug
                                                                        oder zur Wiederergreifung eines entflohenen Gefangenen
5. § 99 Abs. 2 StPO n.F.32                                              durchsucht werden, normiert § 104 Abs. 1 Nr. 3 StPO n.F.
                                                                        nunmehr, dass die Durchsuchung auch zulässig ist, wenn
Im Rahmen der Postbeschlagnahme ist es über die Be-                     bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass wäh-
schlagnahme von Postsendungen hinaus nunmehr nach                       rend der Durchsuchung auf ein elektronisches Speicher-
§ 99 Abs. 2 StPO auch möglich, bei den entsprechenden                   medium zugegriffen werden wird, das als Beweismittel in
Dienstleistern die Herausgabe von Informationen, die im                 Betracht kommt, und ohne die Durchsuchung zur Nacht-
Zusammenhang mit der Versendung stehen, zu verlan-                      zeit die Auswertung des elektronischen Speichermedi-
gen. Hintergrund dürfte die obergerichtliche Rechtspre-                 ums, insbesondere in unverschlüsselter Form, aussichtslos
chung sein, wonach die vorherige Gesetzeslage nicht jeg-                oder wesentlich erschwert wäre. Ein solcher Verdacht
liche Art von Auskunftsersuchen erfasste.33 Vorausset-                  liegt nicht bereits dann vor, wenn bestimmte Delikte nach
zung für die Postbeschlagnahme nach § 99 Abs. 1 StPO                    kriminalistischer Erfahrung häufiger nachts begangen
ist, dass sich die Postsendungen oder Telegramme an den                 werden.38 Es bedarf vielmehr konkreter Anhaltspunkte.
Beschuldigten richten und sie sich im Gewahrsam von
Personen oder Unternehmen befinden, die geschäftsmäßig                  Ausreichend ist nach wie vor ein Anfangsverdacht. 39 Die
Post- oder Telekommunikationsdienste erbringen. Außer-                  Nachtzeit ist nunmehr in § 104 Abs. 3 StPO n.F. dahinge-
dem ist die Beschlagnahme nach § 99 Abs. 1 S. 2 zulässig,               hend legal definiert, dass unabhängig von Sommer oder

30                                                                      35
     Siehe nur: BT-Drs. 19/27654, S. 114 m.N. aus der Rechtsprechung.        Namentlich: Namen und Anschriften von Absendern, Empfängern
31
     BT-Drs. 19/27654, S. 114.                                               und, soweit abweichend, von denjenigen Personen, welche die je-
32
     Ausführlich dazu: Weisser, NZWiSt 2021, 372 ff.                         weilige Postsendung eingeliefert oder entgegengenommen haben
33
     Vgl. BGH, NJW 2017, 680 ff.; siehe auch: Weisser, NZWiSt 2021,          (Nr. 1), Art des in Anspruch genommenen Postdienstes (Nr. 2),
     372 f.                                                                  Maße und Gewicht der jeweiligen Postsendung (Nr. 3), die vom
34
     Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. (2021), § 99          Postdienstleister zugeteilte Sendungsnummer der jeweiligen Post-
     Rn. 6.                                                                  sendung sowie, sofern der Empfänger eine Abholstation mit Selbst-
                                                                             bedienungsschließfächern nutzt, dessen persönliche Postnummer
                                                                             (Nr. 4), Zeit- und Ortsangaben zum jeweiligen Postsendungsverlauf
                                                                             (Nr. 5) sowie Bildaufnahmen von der Postsendung, die zu Zwecken
                                                                             der Erbringung der Postdienstleistung erstellt wurden.
                                                                        36
                                                                             Vgl.: BT-Drs. 19/27654, S. 68.
                                                                        37
                                                                             Weisser, NZWiSt 2021, 372 (375).
                                                                        38
                                                                             BT-Drs. 19/30517, S. 18.
                                                                        39
                                                                              Vgl.: Burhoff, StraFO 2021, 398 ff., zitiert nach:
                                                                             https://burhoff.de/veroeff/aufsatz/2021/StraFo_2021_398.htm#_ft
                                                                             nref87 (zuletzt abgerufen am 7.11.2021), unter V.3.b.
354   KriPoZ 6 | 2021

         Winter der Zeitraum von 21 bis 6 Uhr gemeint ist.40 Dies                 Ein Stück weit wird die Neuerung aber dadurch wieder
         dürfte in Anlehnung an eine entsprechende Entscheidung                   relativiert, dass in Fällen der Pflichtverteidigung zwar
         des BVerfG, in der das Gericht die Tagzeit von 6 bis 21                  nach wie vor darauf hinzuweisen ist, dass die Bestellung
         Uhr definiert hatte,41 geschehen sein. Diese Änderung                    eines Pflichtverteidigers beantragt werden kann (§ 114b
         war dringend geboten, weil die vorherige Gesetzesfassung                 Abs. 2 Nr. 4 a StPO); allerdings muss jetzt auch darauf
         von einem Ende der Nacht in den Monaten von April bis                    hingewiesen werden, dass der Beschuldigte im Falle einer
         zum 30. September um 4 Uhr ausging. Dies hatte letztlich                 Verurteilung nach § 465 StPO die Kosten des Pflichtver-
         nicht nur das BVerfG kritisiert.42                                       teidigers trägt. Dies wird in der Praxis wahrscheinlich
                                                                                  häufig dazu führen, dass aus Angst vor den Kosten keine
         Nach der Rechtsprechung führt ein Verstoß gegen das                      Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragt wird. Dabei
         Verbot der Durchsuchung zur Nachtzeit allerdings nicht                   wird in Fällen notwendiger Verteidigung ohnehin – auch
         zur Unverwertbarkeit der Beweismittel, sodass Ermitt-                    ohne Zutun des Beschuldigten – ein Pflichtverteidiger be-
         lungsbehörden gerade in großen länderübergreifenden Er-                  stellt, und die Kostenlast trifft den Beschuldigten im Falle
         mittlungsverfahren, in denen ein zeitgleiches Vorgehen                   einer Verurteilung unabhängig davon, ob er einen Antrag
         von Nöten ist, auch schon nach alter Rechtslage faktisch                 gestellt hat oder nicht.43 Eine entsprechende Regelung fin-
         durchsuchen konnten, da die Beweise ja ohnehin verwert-                  det sich für den nicht verhafteten Beschuldigten im Rah-
         bar waren. Im Rahmen der Neuregelung erscheint frag-                     men der Vernehmung bereits in § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2
         lich, ob durch Durchsuchungen in der Nachtzeit wirklich                  StPO. Durch die Neuregelung sollten beide Vorschriften
         auf Speichermedien zugegriffen werden kann, die ansons-                  einander angepasst werden.44
         ten verschlüsselt wären. Dies setzt voraus, dass der Be-
         schuldigte quasi auf frischer Tat gestellt wird. Je nach                 8. § 136 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, Abs. 5 StPO n.F. und § 163a
         Wohnsituation wird es der Polizei aber nicht möglich sein,               StPO n.F.
         unentdeckt in die Räumlichkeiten zu gelangen, sodass in
         der Regel genug Zeit bleiben dürfte, die entsprechende                   In § 136 Abs. 1 S. 1 StPO wird nunmehr durch die Strei-
         Elektronik auszuschalten und damit wieder zu verschlüs-                  chung des Wortes „ersten“ klargestellt, dass die Beleh-
         seln. Zudem darf bezweifelt werden, ob die dargestellte                  rungspflichten und andere in § 136 StPO normierte For-
         Änderung wirklich notwendig war. Dies würde vorausset-                   merfordernisse bei allen Vernehmungen und nicht nur bei
         zen, dass in der Vergangenheit Beweismittel verloren gin-                der ersten Vernehmung gelten. Über § 163a Abs. 4 S. 2
         gen, weil zur Nachtzeit nicht durchsucht werden durfte.                  StPO gilt § 136 StPO nicht nur für richterliche Verneh-
         Sollte die Polizei in der Vergangenheit von einer entspre-               mungen. Der Verweis auf § 58b StPO stellt klar, dass auch
         chenden Gefahr ausgegangen sein, hätte sie zumindest,                    Videovernehmungen nunmehr möglich sind.45
         ohne ernsthafte Konsequenzen in Bezug auf die Unver-
         wertbarkeit befürchten zu müssen, trotzdem durchsuchen                   Beide Änderungen sind zu begrüßen. Hinsichtlich der Be-
         können.                                                                  lehrung kommt es zwar in der Praxis häufig auf die Art
                                                                                  und Weise der Belehrung an, aber grundsätzlich sind wei-
         7. § 114b Abs. 2 Nr. 4 und 4a StPO n.F.                                  tere Belehrungen vor jeder Vernehmung in der Lage, Be-
                                                                                  schuldigtenrechte besser zu wahren. Da die audiovisuelle
         Auch der Inhalt der Beschuldigtenbelehrung nach Verhaf-                  Vernehmung in § 58b StPO als Ermessensvorschrift aus-
         tung in § 114b StPO wurde geändert. Bereits vorher war                   gestaltet ist, kann nachträglich zumindest ansatzweise
         der Beschuldigte darauf hinzuweisen, dass er jederzeit ei-               überprüft werden, ob die Fallkonstellation für die audio-
         nen Verteidiger kontaktieren könne. Nunmehr sind ihm                     visuelle Vernehmung geeignet war oder nicht.
         dazu auch Informationen zur Verfügung zu stellen, die die                In § 163a StPO, der die Vernehmung des Beschuldigten
         Kontaktaufnahme mit einem Verteidiger erleichtern, und                   betrifft, wird nunmehr klargestellt, dass die Vorgaben –
         er ist auf den anwaltlichen Notdienst hinzuweisen.                       spiegelbildlich zu den Änderungen in § 136 StPO – nicht
         Diese Änderung ist zu begrüßen, auch wenn die Gefahr                     nur die erste Vernehmung, sondern jegliche Vernehmun-
         besteht, dass ein gerichtsbekannter Anwalt, der mit dem                  gen betreffen. Der eingefügte Verweis auf § 186 GVG be-
         Gericht gerne zusammenarbeitet, ausgewählt wird.                         trifft die Vernehmung von Menschen mit Hör- und/oder

         40                                                                       43
              Ausführlich dazu: Hütwohl, NJW 2021, 3298 ff.                            Kritisch daher auch: Stellungnahme DAV, S. 4 f., abrufbar unter:
         41
              BVerfGE 151, 67.                                                         https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellun
         42
              BVerfGE 151, 67. Sie zu der Kritik auch: BT-Drs. 19/27654, S. 73         gnahmen/2020/Downloads/112520_Stellungnahme_DAV_RefE_
              m.w.N. aus der Literatur. Die Deutsche Polizeigewerkschaft kann          Fortentwicklung_StPO.pdf;jsessionid=556C2F892389796F423B1
              die Erwägungen zwar nachvollziehen, weist aber darauf hin, dass          CB9560D2B97.1_cid297?__blob=publicationFile&v=3         (zuletzt
              „den Ermittlungsbehörden strategische Spielräume in ihrem Vorge-         abgerufen am 7.11.2021); Stellungnahme BRAK, S. 8, abrufbar un-
              hen gegen Kriminelle [genommen werden].“, siehe: Stellungnahme           ter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Ste
              Deutsche     Polizeigewerkschaft,   S.    3,   abrufbar    unter:        llungnahmen/2020/Downloads/111220_Stellungnahme_brak_RefE
              https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellun            _Fortentwicklung_StPO.pdf;jsessionid=556C2F892389796F423B
              gnahmen/2020/Downloads/111220_Stellungnahme_GdP_RefE_                    1CB9560D2B97.1_cid297?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt
              Fortentwicklung_StPO.pdf;jsessionid=556C2F892389796F423B1                abgerufen am 7.11.2021).
                                                                                  44
              CB9560D2B97.1_cid297?__blob=publicationFile&v=3          (zuletzt        BT-Drs. 19/27654, S. 78.
                                                                                  45
              abgerufen am 7.11.2021).                                                 Kritisch dazu: Stellungnahme DAV, S. 5 ff., abrufbar unter:
                                                                                       https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellun
                                                                                       gnahmen/2020/Downloads/112520_Stellungnahme_DAV_RefE_
                                                                                       Fortentwicklung_StPO.pdf;jsessionid=556C2F892389796F423B1
                                                                                       CB9560D2B97.1_cid297?__blob=publicationFile&v=3         (zuletzt
                                                                                       abgerufen am 7.11.2021).
Bohn – Das Gesetz zur Fortentwicklung der StPO                                                           KriPoZ 6 | 2021                     355

Sprachbehinderungen.                                                 (§ 345 Abs. 1 S. 3 StPO n.F.). Wird die Urteilsabsetzungs-
                                                                     frist komplett ausgeschöpft, liegen den Neuregelungen
9. § 222 StPO n.F.                                                   Verfahren mit mehr als 70 oder mit mehr als 140 Haupt-
                                                                     verhandlungstagen zugrunde. Gegebenenfalls hätte der
Durch Änderungen des § 222 StPO sollen Zeugen im                     Gesetzgeber auch bereits bei weniger als 21 Wochen zwi-
Strafverfahren noch besser geschützt werden, weil es sei-            schen Verkündung und dem Verbringen zu den Akten die
tens des Gerichts und der Staatsanwaltschaft nicht mehr              Revisionsbegründungsfrist ausdehnen können, aber die
erforderlich ist, dem Angeklagten Wohn- und Aufent-                  jetzige Regelung stellt jedenfalls einen Schritt in die rich-
haltsort der Zeugen und Sachverständigen mitzuteilen                 tige Richtung dar.
(§ 222 Abs. 1 S. 1 und S. 2 StPO n.F.). Die Änderung ist
vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte kein schutz-                III. Änderungen in anderen Gesetzen
würdiges Interesse daran hat, den Wohn- und Aufenthalts-
ort von Zeugen und/oder Sachverständigen zu erfahren,                Es finden sich auch noch Änderungen in anderen Geset-
nachvollziehbar. Der WEISSE RING kritisiert aber mit                 zen, die teilweise weitreichende Folgen haben.
Recht, dass diese Regelung nicht ausreiche, da der Ange-
klagte regelmäßig über das Akteneinsichtsrecht der Ver-              1. § 50 Abs. 2 BKAG n.F.
teidigung in der Lage sein wird, Wohn- und Aufenthalts-
ort und gegebenenfalls sogar die komplette Anschrift zu              So wurde beispielsweise in § 50 Abs. 2 BKAG n.F. nun-
erfahren.46 Diesbezüglich bedarf es de lege ferenda wo-              mehr ebenfalls die Befugnis des BKA festgelegt, be-
möglich eines noch weiter reichenden Schutzes, wobei da-             stimmte Auskünfte von Postdienstleistern unter den Vo-
rauf hinzuweisen ist, dass es eher die Ausnahme darstellt            raussetzungen der Postbeschlagnahme zu erlangen. Dabei
und allenfalls in bestimmten Deliktsbereichen häufiger               muss Auskunft erteilt werden über Namen und Anschrift
vorkommt, dass Angeklagte Zeugen und/oder Sachver-                   des Absenders, des Empfängers und, sofern abweichend,
ständige drangsalieren.                                              der Person, die die Postsendung entgegengenommen hat
                                                                     (§ 50 Abs. 2 Nr. 1 BKAG n.F.), Art des Postdienstes
10. § 268 Abs. 3 S. 2 StPO n.F. und § 345 Abs. 1 S. 2 StPO           (Nr. 2), Maße und Gewicht der Postsendung (Nr. 3), Sen-
n.F.                                                                 dungsnummer und, sofern vorhanden, persönliche Post-
                                                                     nummer (Nr. 4), Zeit- und Ortsangaben zum jeweiligen
Zunächst wurde für das Gericht die Frist bis zur Urteils-            Versendungsverlauf und gegebenenfalls vorhandene
verkündung nach dem Schluss der Verhandlung von 11                   Bildaufnahmen der Postsendung (Nr. 5). Die Auskünfte
Tagen auf zwei Wochen ausgeweitet (§ 268 Abs. 3 S. 2                 dürfen aber nur verlangt werden, wenn die Informationen
StPO n.F.). Damit soll es den Gerichten ermöglicht wer-              rechtmäßig erlangt wurden (§ 50 Abs. 2 S. 3 BKAG n.F.).
den, Urteile an den regulären Sitzungstagen zu verkün-               Diesbezüglich kann auf die obigen Ausführungen zu § 99
den.47 Dies ist nachvollziehbar; eine noch größere Zeit-             Abs. 2 StPO n.F. verwiesen werden.
spanne sollte aber vor dem Hintergrund, dass das Gericht
das Urteil zu einem Zeitpunkt fällen soll, in dem es noch            2. § 1 Abs. 1 S. 1 GewSchG n.F.
unter dem Eindruck der Schlussvorträge und des letzten
Wortes des Angeklagten steht,48 nicht festgelegt werden.             Zuletzt soll eine Änderung im Gewaltschutzgesetz darge-
Außerdem stellt es insbesondere für inhaftierte Ange-                stellt werden: Es wurde dahingehend geändert, dass nun-
klagte eine enorme Belastung dar, länger auf das Urteil zu           mehr auch bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestim-
warten.                                                              mung entsprechende Maßnahmen nach dem Gewalt-
                                                                     schutzgesetz erwirkt werden können.50 Dies war vorher
Viel weitreichender erscheint aber die Neuregelung des               nur bei Straftaten in Bezug auf den Körper, die Gesund-
§ 345 StPO. In § 345 StPO wurden wesentliche Erleichte-              heit oder die Freiheit möglich. Dies ist auf der einen Seite
rungen für die Revisionsbegründung bei umfangreichen                 zu begrüßen, da sexuelle Übergriffe auch ohne körperli-
Hauptverhandlungen eingeführt. Die starre Monatsfrist                che Gewalt begangen werden können, die Betroffenen
für die Revisionsbegründung wurde in der Vergangenheit               aber trotzdem schutzwürdig sind und daher die Möglich-
bereits häufig kritisiert.49 Dieser Kritik ist der Gesetzgeber       keit haben sollten, nach dem Gewaltschutzgesetz gegen
nunmehr dahingehend gefolgt, dass sich die Revisionsbe-              den Täter vorzugehen. Wenn die Gesetzesbegründung
gründungsfrist um einen Monat verlängert, wenn das Ur-               aber anführt, dass nunmehr beispielsweise bei einer sexu-
teil später als 21 Wochen nach Verkündung (§ 345 Abs. 1              ellen Belästigung nach § 184i StGB im Falle der Wieder-
S. 2 Var. 1 StPO n.F.) – und um einen weiteren Monat,                holungsgefahr eine Gewaltschutzanordnung beantragt
wenn es später als 35 Wochen nach Urteilsverkündung –                werden kann,51 erscheint dies als zu weitgehend, da § 184i
zu den Akten gebracht worden ist (§ 345 Abs. 1 S. 2                  StGB körperliche Berührungen in sexuell bestimmter
Var. 2 StPO). In diesen Fällen beginnt die Frist dann aber           Weise für eine Strafbarkeit ausreichen lässt.
„schon“ mit der Mitteilung des Zeitpunkts, in dem das Ur-
teil zu den Akten gelangt ist, und nicht erst mit Zustellung
46                                                                   47
     Stellungnahme WEISSER RING, S. 2 f., abrufbar unter:                 BT-Drs. 19/27654, S. 44.
                                                                     48
     https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellun        BT-Drs. 19/27654, S. 44, hier auch zum Folgenden.
                                                                     49
     gnahmen/2020/Downloads/110420_Stellungnahme_WR_RefE_Fo               Siehe statt aller nur: Grabenwarter, NJW 2002, 109 ff; Valerius,
     rtentwicklung_StPO.pdf;jsessionid=556C2F892389796F423B1CB            NJW 2018, 3429 ff.
                                                                     50
     9560D2B97.1_cid297?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abge-         § 1 Abs. 1 S. 1 GewSchG n.F.
                                                                     51
     rufen am 7.11.2021).                                                 BT-Drs. 19/27654, S. 128.
356   KriPoZ 6 | 2021

         IV. Fazit                                                Regelungen muss sich erst zeigen, ob sie den gewünsch-
                                                                  ten Effekt haben, so bei der neu eingeführten Kennzei-
         Die Neuregelungen können insgesamt als durchwachsen      chenerfassung. Wiederum andere Regelungen sind inak-
         bezeichnet werden. Einige Änderungen sind nachvoll-      zeptabel, weil irreführend. Hierbei ist der Hinweis des Be-
         ziehbar und teilweise überfällig, wie zum Beispiel die   schuldigten auf die Kostentragungspflicht bei Beantra-
         Ausweitung der Revisionsbegründungsfrist. Bei anderen    gung eines Pflichtverteidigers zu nennen.
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