DAS VERLETZTE SELBST Persönlichkeitsstörungen aus existenzanalytischer Sicht - Christoph Kolbe
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PLENARVORTRAG DAS VERLETZTE SELBST Persönlichkeitsstörungen aus existenzanalytischer Sicht Christoph Kolbe Im Artikel werden zunächst die Grundprinzipien der mensch- THE INJURED SELF lichen Persönlichkeitsentwicklung dargestellt. In Gegenüber- Personality disorders from an existential analytical point of view stellung hierzu werden dann die wesentlichen Merkmale der Persönlichkeitsstörungen beschrieben. Am Beispiel der histrio- Basic principles of human personality development are firstly nischen und narzisstischen sowie der Borderline-Persönlichkeits- outlined in this article. In comparison to this, the essential traits störung wird ausgeführt, worin die spezifische Verletzung für of personality disorders are described. By the example of his- diese Menschen besteht, wie es zu dieser Verletzung kommt, trionic and narcissistic as well as the borderline personality dis- wie diese Menschen mit dieser Verletzung typischerweise um- order it is described wherein the specific injury of these people gehen und wie sich dies auf die Beziehung zu anderen Men- lays, how it comes to such an injury, how these people typi- schen auswirkt. cally deal with this injury and how it effects the relationship to other people. SCHLÜSSELWÖRTER: Persönlichkeitsentwicklung, Persönlich- keitsstörung, Histrionismus, Narzissmus, Borderline, Persönlich- KEYWORDS: personality development, personality disorder, keit, psychische Struktur histrionism, narcissism, borderline Basierend auf der grundlegenden Frage nach der Persön- dern auch verstehen zu können. Und dieses Verstehen lichkeit und ihrer Entwicklung wird die Psychopatholo- seelischer Erkrankungen wird insbesondere dann mög- gie der Persönlichkeitsstörungen aus existenzanalytischer lich, wenn die psychische Verfasstheit des Menschen in Sicht thematisiert, um dann einen Fokus bei den Stö- Korrespondenz zu Daseinsthemen des Menschen gese- rungen zu setzen, deren Hauptthema der Selbstwert ist. hen wird, wie dies für die Existenzanalyse spezifisch ist. Wie also wird die Persönlichkeit unter dem Aspekt der I. Was ist die Persönlichkeit des Menschen? psychischen Struktur sichtbar? Sie zeigt sich in einer spezifischen Erlebnis- und Reaktionsdisposition des je- Von Persönlichkeit lässt sich zum einen unter dem Aspekt weiligen Menschen, also bspw. eher ängstlich, depressiv, der psychischen Struktur sprechen. Gemeint ist hier das histrionisch oder narzisstisch. Wie dieser Mensch sich im strukturell Gegebene und Geprägte, das einen Menschen allgemeinen gibt, wie er vorwiegend etwas erlebt oder re- spezifisch ausmacht, wie es im Typus sichtbar wird. Von agiert – dies ist Ausdruck seiner Persönlichkeit. Oder wie Persönlichkeit lässt sich zum anderen aber auch unter Längle sagt: Persönlichkeit ist „die in der psychischen dem Aspekt der spezifischen Gestaltungsleistungen der Dimension verankerte Struktur der Psychodynamik“ Person sprechen. Was hat ein Mensch aus seinem Leben (Längle 2003a, 6). In der Persönlichkeit zeigt sich also gemacht, für welche Überzeugungen lebt er, wie hat er eine Neigung im Erleben und Reagieren auf situative Ge- eine Haltung gefunden zu schweren Schicksalsereignis- gebenheiten. Hierzu zählen eine spontane Emotionalität, sen, wie hat er sich Herausforderungen des Lebens ge- Affektivität und Reaktionsbereitschaft. stellt, ohne Sinn, Zuversicht oder Hoffnung zu verlieren? Ein Beispiel: Ein Mann mit einer ängstlichen Persönlich- Wir sprechen dann häufig von einer großen Persönlich- keit steht vor einer Reise. Seine spontane Emotionalität keit, indem wir diesen Leistungen Respekt zollen. im Hinblick auf diese bevorstehende Unternehmung ist Im ersten Verständnis werden mit dem Begriff Persön- Unsicherheit und Unruhe, die Affektivität ist Ange- lichkeit typische psychische Strukturmerkmale charakte- spanntheit und Gereiztheit, die Reaktionsbereitschaft ist risiert, im zweiten Verständnis wird mit dem Begriff Per- akribische Planung beim Kofferpacken, umsichtiges Ein- sönlichkeit die spezifische und herausfordernde Leistung holen aller Informationen zur Reiseroute o.ä. der Person gewürdigt, mit einer Situation oder Aufgabe umzugehen oder für etwas einzustehen. Alle Typologien beruhen auf einem derartigen Verständ- Für unser Verständnis hier ist der Begriff Persönlichkeit nis von Persönlichkeit. Sie sind Clusterbildungen von im Sinne psychischer Struktur gebraucht. Die differen- Persönlichkeitsmerkmalen, weil die Struktur der Per- zierte Kenntnis dieser psychischen Strukturen ermöglicht sönlichkeit beim Menschen im Grunde festgelegt ist. es, seelische Erkrankungen nicht nur beschreiben, son- Aufgrund dieser Merkmale lassen sich Einschätzungen EXISTENZANALYSE 34/2/2017 19
PLENARVORTRAG vornehmen und Wahrscheinlichkeitsaussagen für das Er- das Ufer, Überschwemmungen sind die Folge. Dies ist leben und Verhalten von Menschen treffen. die Analogie zur Persönlichkeitsstörung. Der Mensch kann sich mit seiner Persönlichkeit ausein- andersetzen, er kann sie weiten – jedoch nur in Grenzen. Im ICD10 ist die Persönlichkeitsstörung folgendermaßen Der Ängstliche kann lernen, gelassener mit Unbekanntem definiert: umzugehen, der Depressive kann lernen, nicht alles gleich „Diese Störungen umfassen tief verwurzelte, anhal- schwer zu nehmen, der Hysterische kann lernen, auch tende Verhaltensmuster, seine Schattenseiten nicht verbergen zu müssen, und der •• die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche Narzisstische kann lernen, dass er längst genug bietet. persönliche und soziale Lebenslagen zeigen. Am besten ist es, der Mensch macht Frieden mit seiner •• Dabei findet man bei Personen mit Persönlichkeits- Persönlichkeitsprägung. Seine Aufgabe ist es, auf dem störungen gegenüber der Mehrheit der betreffenden Boden seiner Persönlichkeit mit den situativen Heraus- Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrneh- forderungen seiner Lebenswelt konstruktiv, angemessen men, Denken, Fühlen und in Beziehungen zu anderen. und sinnstiftend umzugehen und dabei die Potentiale der •• Solche Verhaltensmuster sind meistens stabil und Persönlichkeit zu nutzen, aber auch ihre Einseitigkeiten beziehen sich auf vielfältige Bereiche von Verhalten zu vermeiden. Dies ist die Aufgabe der Person. und psychischen Funktionen. •• Häufig gehen sie mit persönlichem Leiden und ge- Wie entwickelt sich die Persönlichkeit? störter sozialer Funktions- und Leistungsfähigkeit Diese Frage ist in den zurückliegenden Jahrzehnten zum einher. … Teil sehr einseitig und auch ideologisch mit biologischer •• Persönlichkeitsstörungen … beginnen in der Kindheit oder soziokultureller Prägung beantwortet worden. Heute oder Adoleszenz und dauern im Erwachsenenalter weiß man: Die Persönlichkeit des Menschen entwickelt an.“ (Dilling et al. 2010, 244) sich a) aus seinen genetischen Anlagen, b) aus dem Ein- Die Prävalenz (Häufigkeit) von Persönlichkeitsstörungen fluss seiner biographischen, sozialen, kulturellen etc. wird mit ca. 10% in der Allgemeinbevölkerung und ca. Herkunft und Erfahrungen sowie c) aus den Gestal- 40 – 60% bei psychiatrisch behandelten Patienten ange- tungsleistungen der Person. geben (vgl. Lieb et al. 2012, 293). Wie unterscheiden sich neurotische Störungen von Per- II. Was ist eine Persönlichkeitsstörung? sönlichkeitsstörungen in personal-existenzieller Hinsicht? Hier ist vor allem ein Merkmal wesentlich: Bei einer Persönlichkeitsstörung ist diese psychische In der neurotischen Störung ist die personal-existenzielle Struktur, auf die der Mensch in seinem situativen Erle- Dimension noch stärker beteiligt, weil der Mensch in einem ben und Reagieren zugreift, starr, verbogen oder insta- nachvollziehbaren Bezug zur Situation steht und mit der bil. Deshalb hat dieser Mensch nur einen sehr engen erlebten Bedrohung durch Haltungen und Stellungnah- Spielraum für seine Lebensgestaltung. Das mangelhafte men umgeht, wenngleich die psychodynamische Kraft psychische Strukturniveau blockiert oder behindert den stärker wirkt als das personale Ich. Die Haltung hat die gesunden und differenzierten Vollzug der Ich-Funktionen Funktion, die Störeinflüsse zu regulieren, sie auf Distanz (vgl. Kolbe 2014, 35f.). zu bringen oder zu halten. Gleichzeitig wird um die Be- Um es mit einem schönen Bild von Längle zu sagen: drohung gewusst. Das neurotische Verhalten wird des- Jeder Fluss fließt in seinem Flussbett. Die psychische halb noch ich-haft erlebt, also ich-dyston. Struktur ist nun dieses Flussbett. Ist dieses intakt, so Um in dem Beispiel des ängstlichen Mannes, der vor kann der Fluss ungehindert mäandern und fließen. Ist das einer Reise steht, zu bleiben: Sein Grundthema ist eine Flussbett gestört durch ein Hindernis, z.B. große Felsbro- übertriebene Verunsicherung, die zum Affekt führt, sich cken oder Baumstämme, bilden sich Stromschnellen, und bedrängt und unter Druck zu erleben. Die dominierende es dauert, bis das Wasser, nachdem es die Schnelle pas- Psychodynamik lässt ihn nach Sicherheit und 100%iger siert hat, wieder gleichmäßig fließen kann. Diese Unruhe Einschätzung der unsicheren Situation suchen. Hier- des Wassers wäre die Analogie zur neurotischen Störung. für nimmt er auch die Haltung der Umsicht und einer Um dem Fluss ein ungehindertes Fließen zu ermöglichen, gründlichen Wahrnehmung ein. Er macht lange Listen, wäre die Störung zu beheben, der Felsbrocken oder die exakte Planungen, sieht Eventualitäten voraus etc. Mit Baumstämme zu entfernen. Ist jedoch das Flussbett nicht dieser Haltung und diesen Aktivitäten versucht er, seine mehr intakt, hat der Fluss keinen Halt mehr, er tritt über Verunsicherung zu beruhigen. Umsicht und gründliche 20 EXISTENZANALYSE 34/2/2017
PLENARVORTRAG Wahrnehmung sind also weniger Ausdruck seiner typo- rungen dann bis ins Erwachsenenalter andauern bzw. sich logischen Neigung, sondern vielmehr getrieben von der dort erst deutlich manifestieren. Diese Erklärung datiert Beruhigung der Verunsicherung, seiner dominierenden die Entstehung. Psychodynamik. Ihm ist dabei bewusst, dass andere Die Existenzanalyse setzt mit ihrer Erklärung darüber Menschen lockerer mit einer gleichen Situation umgehen hinaus (u.a.) bei den existenziellen Daseinsthemen, dem können, weil sie mehr Gelassenheit und Vertrauen in sich Strukturmodell der Existenzanalyse an. Die Entstehung tragen. Und es ärgert ihn sogar, dass er das eben nicht ver- von Persönlichkeitsstörungen sind demzufolge durch fol- mag. Deshalb ist sein neurotisches Verhalten ich-dyston. gende Merkmale charakterisiert (vgl. Längle 2003a, 20): Dies charakterisiert u.a. auch den Unterschied zur Persön- 1. Die existenziellen Inhalte der Daseinsthemen des lichkeitsstörung. Das von der Norm abweichende Verhal- Menschen wurden stark erschüttert. tens- oder Denkmuster wird vom Betreffenden in der Re- 2. Aufgrund dessen hat sich ein spezifisches leidvolles gel nicht als störend, schon gar nicht als „krankhaft“ erlebt. Gefühl eingestellt. Man nennt es deshalb ich-synton. Auf dem Hintergrund 3. Aufgrund seiner Stärke und der langen Dauer dieses seiner mangelhaften oder nicht zur Verfügung stehenden Gefühls haben sich Copingreaktionen als Lebensstil eta- psychischen Struktur stehen dem Betreffenden keine Ich- bliert (sie sind also nicht mehr nur situative Reaktionen Funktionen zur Verfügung, mit denen er sich flexibel auf auf einzelne Auslöser), die zu starren Verhaltensweisen, wechselnde Situationen und Umgebungsbedingungen ein- aber eben auch zur Abwehr des Leid-Gefühls führen. stellen könnte, um sich angemessen zu ihnen zu verhalten. Wir sprechen hier von fixierten Copingreaktionen. Aufgrund der Einseitigkeit seines Erlebens kann er keine 4. Die psychische Struktur kann sich nicht gefestigt Distanz zum Auslöser finden und agiert aus reiner Psycho- ausbilden, spezifische Grundgefühle mit verzerrenden dynamik, ohne eine Haltung zu entwickeln. Die subjektiv emotionalen Einfärbungen sind die Folge. erlebte situative Bedrohung wird so überflutend empfun- den, dass aus dieser maximalen Überlastung nur ein im- Es lässt sich also festhalten: pulsives und blindes Um-sich-Schlagen hilft, um sich aus Persönlichkeitsstörungen brauchen Zeit, bis sie entstehen der erlebten Bedrohung zu retten. Diese Bedrohung wird können. als unerträglicher Schmerz erlebt, zu dem Distanz gesucht Ihnen liegt meist eine massive Verletzung, Traumatisie- wird. Und dieser Schmerz nun wird abgespalten. Dies hilft, rungen oder ein massiver Mangel eines existenziellen den überfordernden Schmerz des Bedrohtseins nicht füh- Grundthemas zugrunde. len zu müssen. Deshalb ist die Spaltung ein spezifischer Diese Verletzung ist außerdem so stark, dass alle weiteren Copingmechanismus der Persönlichkeitsstörung. Gleich- existenziellen Grundthemen des Menschen mitbetroffen zeitig wird damit jedoch die psychische Integrität ganz- sind. heitlich zu fühlen und zu erleben gestört. Weder Halt, noch Beziehung sowie ein Selbstkonzept Das Ausmaß der spezifisch erlebten Angst und der damit oder ein Sinnhorizont stehen dem Menschen für einen verbundene Schmerz sind also in der Persönlichkeitsstö- gelassenen Verhaltensspielraum sowie zur Orientierung rung wesentlich stärker und tiefer als in der Neurose (vgl. zur Verfügung. Die Führung wird durch die Psychodyna- Längle 2003a, 12f.). mik übernommen. Deshalb reagiert der Mensch mit einer Unser Reisender mit ängstlicher Persönlichkeitsstörung Persönlichkeitsstörung entkoppelt und vorwiegend psy- wird also seinen Koffer packen und zum Flughafen fahren. chodynamisch. In der Schalterhalle setzt er sich ins Restaurant, um die Wartezeit zu überbrücken. Dort genießt er die Mahlzeit. Weil eines der existenziellen Daseinsthemen jeweils do- Schließlich schaut er auf die Uhr, um festzustellen, dass miniert, lassen sich Persönlichkeitsstörungen nach exi- sein Flieger inzwischen ohne ihn gestartet ist. Zuhause stenzanalytischem Verständnis in vier Cluster gliedern: zeigt er wenig Bedauern, dass es mit der großen Reise nicht 1. Ängstliche Persönlichkeitsstörung (also der Halter- geklappt hat, im Bekanntenkreis wird die Geschichte, das fahrung) Flugzeug verpasst zu haben, humorig zum besten gegeben. 2. Depressive Persönlichkeitsstörung (also der Bezie- hungsqualität) 3. Extravertierte Persönlichkeitsstörung (also des Selbst- III. Wie entsteht eine Persönlichkeitsstörung? wertes) 4. Existenzielle Persönlichkeitsstörung (also des Kon- Im ICD10 wird angegeben, dass der Beginn der Stö- textes) rungen in der Kindheit oder Adoleszenz liegt, diese Stö- Innerhalb dieser Gruppen lassen sich nun spezifische EXISTENZANALYSE 34/2/2017 21
PLENARVORTRAG Ausformungen finden. Dies erklärt sich durch die Beo- Persönlichkeitsstörungen des Selbst (vgl. Längle 2003a, bachtung, dass die jeweilige Gruppe der Persönlichkeits- 15). Diese Störungen beziehen sich auf die im sozialen störungen durch ein existenzielles Hauptthema und ein Kontext stattfindende Selbstwertbildung. weiteres existenzielles Nebenthema charakterisiert ist. Hier zunächst ein kurzer Abriss zu den Daseinsthemen V. Wie bildet sich der Selbstwert? und dann der Selbstwertbildung, die den Persönlichkeits- störungen, die hier ausgeführt werden sollen, thematisch Drei Merkmale sind wesentlich, die den Selbstwert kon- als die wesentliche Störung zugrunde liegt. stituieren. 1. Die Eigenwerterfahrung: Es handelt sich um das in- nere Wissen, bedingungslos wertvoll, also kostbar zu IV. Welche sind die vier Grundthemen des sein. Einfach deshalb, weil man ist. Eine Erfahrung, die Menschen? jedem Menschen zunächst von anderen her vermittelt wird – primäre Bezugspersonen, die ihn lieben und an- Vier Daseinsthemen lassen sich beschreiben, die psy- nehmen. Diese Erfahrung bildet die Basis für eine Ge- chisch und existenziell für jeden Menschen von zentraler lassenheit des In-der-Welt-Seins, für eine Haltung der Bedeutung sind. Die Existenzanalyse nennt sie Grund- Achtsamkeit im Selbstbezug und für den qualitativen motivationen, weil jeder Mensch durch diese Themen Bezug zum Leben. Die Existenzanalyse nennt diese Ei- grundlegend motiviert ist. Deshalb sind diese Themen genwerterfahrung die Grundwerterfahrung. gleichzeitig auch fundamentale Strebungen jedes Men- 2. Die Selbstverständlichkeit der Einzigartigkeit: Es schen. Die Daseinsthemen nimmt der Mensch gefühls- handelt sich um das innere Wissen, im situativen So- haft als Bedürfnisse und als Intentionalitäten wahr. Sein berechtigt zu sein, das zu leben, was der eigenen Authentizität gemäß ist. Die Erfahrung der Achtung Im Zentrum der menschlichen Lebensgestaltung steht und des Respekts anderer bildet die Basis, sich selbst (1.) das Bestreben, ein erfülltes Leben führen zu wol- liebevoll und in Respekt verbunden zu sein. len. Das meint ein Leben, für das es sich lohnt zu leben. 3. Die Kenntnis in Bezug auf das eigene Können: Es Frankl beschreibt diese Intention mit dem Begriff Sinn: handelt sich um das innere Wissen über den Cha- Jeder Mensch will sinnvoll leben. Dies sei die primäre rakter und die Qualität des eigenen Vermögens. Die Motivation des Menschen (vgl. Frankl 1985, 39f.). In Erfahrung, von anderen Rückmeldungen zu eigenen der Weiterentwicklung der Existenzanalyse ist deutlich Fähigkeiten, Begabungen und Leistungen erhalten zu geworden, dass diese Strebung eingebettet ist in weitere haben, bildet die Basis für eine angemessene Selbst- existenzielle Themen, die für den Menschen bedeutsam einschätzung und Gewissheit für das eigene Können. sind (vgl. Längle 2008, 29ff.). Diese Themen sind: (2.) Menschen mit einem gesunden Selbstwert können sich sich gehalten und sicher fühlen zu können, (3.) sich ge- also gemäß ihrer Fähigkeiten, gemäß ihrer Begabungen liebt und erwünscht zu wissen und (4.) sich gesehen und und gemäß ihrer Möglichkeiten in Beziehung setzen zu anerkannt zu erleben. Die Folge dieser Erfahrungen ist, aktuell als wertvoll erlebten Möglichkeiten. Gleichzeitig dass der Mensch Vertrauen schenken kann, dass er Liebe fundiert ein solches Verhalten wieder den Selbstwert. geben kann, dass er wertschätzen kann und dass er sich hingeben kann an Aufgaben und Menschen. Welche Bedingungen braucht es, damit dieser Selbstwert In allen diesen Daseinsthemen ist der Mensch mit Per- entstehen kann? sönlichkeitsstörung haltlos. Ihm fehlt die innere und Die Existenzanalyse unterscheidet hier eine Außen- und äußere Gewissheit dieser basalen thematischen Seinser- eine Innenperspektive (vgl. Längle 2003b, 32ff.). fahrungen. Und zusätzlich ist eine dieser Erfahrungen Die Außenperspektive beschreibt den Einfluss bedeut- besonders traumatisiert. samer Anderer auf die Entwicklung des Selbst, die Innen- Dem Ängstlichen fehlt die Gewissheit der Halterfahrung, perspektive beschreibt die Haltung, die ein Mensch zu dem Depressiven die Beziehungsgewissheit, dem Selbst- sich selbst einnimmt, wie er mit sich umgeht. gestörten die Gewissheit um ein hinreichendes Gesehen- Im Grunde ist die Selbstwertentwicklung niemals abge- werden und damit Selbstgefühl und dem Dependenten schlossen. Natürlich ist entscheidend und prägend, welche die Kontextgewissheit. Beziehungen und Bedingungen ein Mensch auf seinem Kommen wir nun auf die Gruppe der Persönlichkeits- Weg ins Leben vorgefunden hat, die es ihm ermöglichten, störungen zu sprechen, die am häufigsten vorkommt, die einen guten Selbstwert aufzubauen. Trotzdem kann der 22 EXISTENZANALYSE 34/2/2017
PLENARVORTRAG Mensch ein Leben lang an einem guten Selbstwert arbei- legendes Charakteristikum für diese Art der Störung (vgl. ten – auch dann, wenn die eigene Geschichte unglücklich auch Lieb et al. 2012, 293). gelaufen ist. 1. Der histrionische Modus Die Außenperspektive, also der Einfluss anderer auf den eigenen Selbstwert, ist durch drei Aspekte charakterisiert: Wie wird die histrionische Dynamik sichtbar? 1. Beachtung, die wir erhalten, führt zu Selbstbeachtung. Das gesamte Erleben und Ausdrucksverhalten dieser 2. Gerechtigkeit, die uns widerfährt, führt zu Selbstent- Menschen ist „ein bisschen zu ...“ – laut, dramatisch, tra- faltung. gisch, schön, lustig, traurig, verletzt, fröhlich usw. Trotz 3. Wertschätzung, die wir erhalten, führt zu Selbstwert- dieser Intensität werden sie mit dem, wie es ihnen im festigung. Grunde geht, nicht spürbar. Das Erleben ist ich-fern. Sie haben „viel Volumen, aber wenig Dichte, ... wenig Mitte, Die Innenperspektive, also welchen Einfluss wir selbst aber viel Äußerlichkeit“ (Tutsch 2002b, 67f.) Diese Men- auf unsere Selbstwertentwicklung nehmen, kennt eben- schen sind impulsiv, auch manipulativ, in Gruppen stehen falls drei thematische Aspekte: sie gerne im Mittelpunkt. Beziehungen werden funktio- 1. Selbstwahrnehmung durch Distanznahme ermöglicht nalisiert, weil sie dem Gesehen-Werden dienen (vgl. Möl- ein Selbstbild. ler et al. 1996, 344f.). 2. Sich ernst nehmen und sich gerecht werden ermögli- Ihr dysfunktionales Selbsterleben ist: „Ich bin schlecht.“ chen Authentizität. Und deshalb darf das, was ist, so nicht gesehen werden. 3. Sich beurteilen und wertschätzen ermöglichen Selbst- Was sind die Folgen dieses Selbsterlebens? kritik. Um nicht gesehen zu werden, wie sie im Grunde sind, führen diese Menschen ein Leben in Rollen oder zeigen Bei den Selbststörungen sind nun diese Themen trauma- nur ihre guten Seiten. Sie reagieren blitzschnell auf Er- tisiert und verletzt, so dass die Selbstwertbildung nicht wartungen und schmiegen sich ihrer jeweiligen Umge- hinreichend und gesund verlaufen konnte. Hierzu werden bung an, um sich im eigentlichen Sosein damit jedoch die Krankheitsbilder des Histrionismus’, des Narzissmus’ zu verbergen. Dies führt dazu, dass sie sich selbst auch und der Borderline-Störung gegenüber gestellt. nicht wirklich kennen. Ihre Wahrnehmung von sich selbst ist diffus, die Beziehung zu sich „lose“. Sie achten und schätzen sich nicht. Tief im Inneren tragen sie ein „Mo- VI. Was sind die spezifischen Themen und gelpackungsgefühl“ (vgl. Lieb et al. 2012, 307). Erscheinungsformen der Selbststörungen? Wie kommt es zu diesem Selbsterleben? Allen Selbststörungen eigen ist, dass diese Menschen kei- Drei pathogenetische Faktoren in der biographischen Ge- nen guten Selbstwert entwickeln konnten. Eine Störung schichte dieser Menschen sind typisch, die einer histrio- des Selbst-seins, -werdens und -wertes ist die Folge. Das nischen Verarbeitung zugrunde liegen: ist ihr Hauptthema. Die Existenzanalyse siedelt dies da- 1. Grenzverletzungen, Missachtung (Missbrauch), Ent- seinsthematisch im Bereich der 3. Grundmotivation als wertungen durch primäre Bezugspersonen, Verunsicherung der Frage „Darf ich so sein, wie ich bin?“, 2. Aufdrängen von Rollen durch primäre Bezugsper- „Bin ich so in Ordnung?“ an. Persönlichkeitsstörungen sonen, sind aber zusätzlich durch ein Nebenthema gekennzeich- 3. Geheimnisse in der Familiengeschichte, die dem Kind net. Dieses Nebenthema liegt beim Histrionismus in der auferlegt werden. ersten Grundmotivation, also zusätzlich in einem Gefühl der Haltlosigkeit, beim Narzissmus doppelt es sich mit Histrionische Persönlichkeitsstörung der dritten Grundmotivation, also in der Unsicherheit zu Das Selbsterleben der Menschen mit histrionischer Per- genügen und bei der Borderline-Störung liegt es in der sönlichkeitsstörung ist weitergehend: „Ich bin schlecht zweiten Grundmotivation, also zusätzlich in einer Angst und die Welt bietet keinen Halt.“ Der Verlust des Selbst- vor dem Verlassenwerden. seins ist also zusätzlich verknüpft mit einem ängstlichen Gefühl der Haltlosigkeit. Noch ein allgemeiner Hinweis: Menschen mit diesen Was ist die Folge? Ein in die Breite gehendes, weltbezo- Störungen erscheinen oft als dramatisch, emotional oder genes Verhalten wird gelebt, um sich auf diese Weise hin- launisch. Alles ist immer sehr intensiv. Das ist ein grund- sichtlich der eigenen Selbstunsicherheit zu verankern. Die EXISTENZANALYSE 34/2/2017 23
PLENARVORTRAG Vielzahl soll Halt geben. Dieses Verankern ist jedoch nur 4. Traumatisierung, dass die Welt nicht der Idealisierung numerisch und quantitativ, nicht qualitativ. Der oder das entspricht. Andere ist wichtig wegen seiner Gegebenheit, seines Vor- handenseins. Das stiftet diesen Menschen Halt, sie sichern Narzisstische Persönlichkeitsstörung sich in ihrer Gegebenheit, sind sich so ihrer eigenen Prä- Für das Selbsterleben der Menschen mit narzisstischer Per- senz sicherer. Viele Einladungen, viele Unternehmungen, sönlichkeitsstörung charakteristisch ist, dass sie von ihrem viele Kontakte geben Sicherheit. Im Grunde geht es aber Selbst abgeschnitten sind. Sie haben zu sich keinen Bezug: nicht um den Anderen oder das Andere. Beziehungen ha- „Ich bin zu wenig. Da ist nichts in mir.“ – so lautet ihr ben deshalb keinen Bestand, es fehlt der Persönlichkeit die Selbstgefühl, das ihnen jedoch nicht (mehr) bewusst ist. Verlässlichkeit (vgl. Längle 2003a, 29). Das Leiden dieser Menschen ist geprägt von einer Wie- derholung des Hauptthemas der 3. Grundmotivation im 2. Der narzisstische Modus Nebenthema: Das Wissen um sich selbst, ihr Können und ihren Wert ist, weil es derart massiv verletzt wurde, wie Wie wird die narzisstische Dynamik sichtbar? ausgelöscht. Der Selbstwert ist zutiefst verunsichert, weil Menschen mit dieser Störung neigen zu starker Selbstdar- es keinen Selbstbezug zum Selbstwert gibt. So wird der stellung und Betonung ihrer Großartigkeit mit einer gewis- nicht vorhandene Selbstwert ersetzt durch das Besonde- sen Selbstherrlichkeit. Schnell rivalisieren sie mit anderen, re, „das Betreiben und Stilisieren des Eigenen“ (Längle, die sie als stark und bedeutend erleben, oder sie entwerten 2003a, 30), um anerkannt zu werden. In der Biographie diese. Wenn sie nicht umhin können, andere in ihrer Be- fehlte ein angemessenes spiegelndes Gegenüber, so dass es deutung oder ihrem Vermögen anerkennen zu müssen, ide- zu einer gelassenen und differenzierten Selbstfindung nicht alisieren sie sie. Dies erhöht auch ihre eigene Bestätigung kommen konnte. Deshalb kompensieren äußere Objekte, oder Bedeutsamkeit. Bei Kritik sind sie schnell empfind- die als wertvoll gesehen werden, den fehlenden Selbstbe- lich und insgesamt schnell kränkbar (Tutsch 2002a, 28f.). zug und bilden das „falsche“ Selbst. Diese Bezugnahme Narzisstische Menschen treten nicht wirklich in die Nähe auf die äußeren Objekte stammt jedoch nicht aus einem au- zu anderen Menschen, jedoch in die Nähe zum Projekt, das thentischen Innenbezug, sondern aus der Notwendigkeit, Menschen verbindet. Die Beziehungsebene bleibt deshalb besonders sein zu müssen. Weil aber die Gewissheit des kalt. Oder sie wird symbiotisch mit dem Bedürfnis nach Innenbezugs fehlt, erwarten diese Menschen unbedingte absoluter Bestätigung gelebt. Wertschätzung von außen, um auf diese Weise ein Selbst zu haben. Sie können anderen Menschen nicht einfühlend Ihr dysfunktionales Selbsterleben ist: „Ich bin nicht ge- begegnen, sehen sie nur als Mittel. Sie dienen ihnen für nug.“ Denn ihre größte Angst ist, mittelmäßig zu sein, ihr Selbstgefühl, deshalb idealisieren sie diese oder ent- zu wenig bieten zu können. Weil sie also befürchten, werten sie. So stilisieren sie ihr Selbst. Und wenn diesem dass das, was sie zeigen, nicht reichen könnte, zeigen sie keine Wertschätzung durch andere entgegengebracht wird, gleich, dass da mehr ist – am besten, dass da etwas Be- bringt sie das als Person in Gefahr. Deshalb sind sie so sonderes ist (vgl. Hoffmann et al. 1999, 193f.) empfindlich für Kritik (vgl. Längle 2003a, 30). Was sind die Folgen dieses Selbsterlebens? Die Suche nach der Bestätigung, nicht mittelmäßig zu 3. Der Borderline-Modus sein, führt für sie zu einer Überbetonung des Besonderen (vgl. Lieb et al. 2012, 308). Die Folge ist, dass das Selbst- Wie wird die Borderline-Dynamik sichtbar? gefühl immer starrer und enger wird. Einen Makel darf es Menschen mit dieser Störung sind impulsiv und extrem nicht geben. im Ausdruck, gehen an die Grenze. Sie zeigen häufig selbstschädigendes Verhalten. Gerne stellen sie Sachver- Wie kommt es zu diesem Selbsterleben? halte schwarz oder weiß dar und haben eine Tendenz zu Vier pathogenetische Faktoren in der biographischen Ge- spalten. Auf der Beziehungsebene können sie durch ihre schichte dieser Menschen sind typisch, die der narziss- Intensität sehr schnell eine totale Nähe herstellen. Im an- tischen Verarbeitung zugrunde liegen: deren Moment jedoch zeigen sie totale Distanz. Ein für 1. Zuschreibung eines Makels durch primäre Bezugsper- Außenstehende nicht nachvollziehbarer Wechsel dieser sonen, Beziehungsebenen ist typisch (vgl. Möller et al. 1996, 2. Idealisierungen durch primäre Bezugspersonen, 342f.; vgl. Lieb et al. 2012, 303f.). 3. ein undurchschaubares Wechselspiel von Idealisie- rung und Entwertung durch primäre Bezugspersonen, Das dysfunktionale Selbsterleben dieser Menschen ist: 24 EXISTENZANALYSE 34/2/2017
PLENARVORTRAG „Ich habe es verdient, schlecht behandelt zu werden, und Soweit eine Skizze und Gegenüberstellung zu Dynamik, bin von mir selbst abgeschnitten, fühle mich nicht. Ich Selbsterleben und Umgehensweise dieser drei typischen kann mich nicht fassen, habe mich verloren. Manchmal Selbstwertstörungen aus existenzanalytischer Sicht. ist dieses Gefühl von mir selbst fragmentiert da.“ Außer- dem ist da ein unerträglicher und deshalb zumeist dis- Gerecht werden wir erkrankten Menschen dann, wenn soziierter Schmerz. Übrig bleibt eine „schützende“ und wir sie nicht nur in ihren dominanten Reaktionsmodi gleichzeitig bedrohliche Leere und Selbstverlorenheit. wahrnehmen, die sie häufig schwer zugänglich machen, Was sind die Folgen dieses Selbsterlebens? sondern wenn wir sie als Menschen sehen, die an einer Durch das Herstellen intensiver Beziehungen zum Kör- fundamentalten existenziellen Strebung verzweifelt sind, per, zur Psyche oder zu anderen Menschen (v.a. einer die verletzt sind in einem grundlegenden Thema mensch- ganz intensiven Beziehung) soll dieses Selbst gefunden lichen Daseins, zu dem sie Frieden und Beruhigung su- werden. Bei Enttäuschung oder Nichterfüllung dieses chen, wie wir alle das tun. Erst dann werden sie sich als Bedürfnisses wird der Beziehungspartner fallengelassen. Person wahrgenommen, gewürdigt und verstanden erle- ben und sich auf eine Begleitung einlassen. Dieser Über- Wie kommt es zu diesem Selbsterleben? blick und Einblick soll hierfür helfen. Zwei pathogenetische Faktoren in der biographischen Geschichte dieser Menschen sind typisch, die der border- linigen Verarbeitung zugrunde liegen: Literatur 1. Gegensätzliche und desorganisierte Erziehungswei- Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (2010) Internationale Klassifikation sen durch unvorhersehbare, gewalttätige, aber auch psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V(F). Bern: Huber Frankl V (1985) Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und unsichere, ängstliche primäre Bezugspersonen, Existenzanalyse. Frankfurt/Main: Fischer 2. Schwere und frühe Traumatisierungen in Bezie- Hoffmann SO, Hochapfel G (1999) Neurosenlehre, Psychotherapeu- tische und Psychosomatische Medizin. Stuttgart / New York: hungen durch wichtige Personen (Übergriffe, Miss- Schattauer brauch, Gewalt). Kolbe C (2014) Person und Struktur. Existenzanalyse 31, 2, 32–40 Längle A (2003a) Persönlichkeitsstörungen. Lehrskriptum zur Existenzana- So entsteht ein ambivalentes Dilemma: das Bedürfnis lyse. Wien: GLE-Verlag nach schützender Nähe und nach Abwendung angesichts Längle A (2003b) Dritte Grundmotivation. Lernskriptum zur Existenzana- lyse. Wien: GLE-Verlag der Gefahr gleichzeitig. Längle A (2008) Existenzanalyse. In: Längle A, Holzhey-Kunz A (2008) Existenzanalyse und Daseinsanalyse. Wien: Facultas, 23–179 Lieb A, Frauenknecht S, Brunnhuber S (2012) Intensivkurs Psychiatrie und Borderline Persönlichkeitsstörung Psychotherapie. München: Elsevier Das Selbsterleben der Menschen mit einer Borderline Per- Möller HJ, Laux G, Deister A (1996) Psychiatrie. Stuttgart: Hippokrates sönlichkeitsstörung lautet: „Ich kann mich selbst nicht spü- Tutsch L (2002a) „Wotan trifft Parsifal“, Zur Phänomenologie und The- rapie der narzißtischen Persönlichkeitsstörung. Existenzanalyse ren, möchte aber das Leben fühlen. Aber das Recht auf ein 19, 2+3, 25–33 eigenes Erleben habe ich nicht.“ Es ist da eine tiefe Angst, Tutsch L (2002b) Alles (k)ein Problem. Praxis, Theorie und Therapie der histrionischen Persönlichkeitsstörung. In: Längle A (Hg) Hyste- die eigene Lebendigkeit zu leben, weil dies den Verlust der rie. Wien: Facultas, 59–84 Beziehung und Nähe zu den primären Bezugspersonen zur Folge hätte, denen dieses Ausleben der Lebendigkeit miss- fallen würde. Somit kann sich auch die Beziehung zu sich selbst nicht entwickeln. Sie fühlen sich nicht, sind von sich abgeschnitten und haben sich verloren. Deshalb konzentriert sich das Verhalten dieser Menschen auf intensive und nahe Beziehungen, um darüber in Füh- lung zum eigenen Leben zu kommen. Wenn diese Inten- Anschrift des Verfassers: sität des Fühlens verloren geht, verlieren sie auch sich Dr. Christoph Kolbe selbst. Deshalb sind ihnen Dichte und Nähe wichtig (im Borchersstr. 21 Unterschied zur histrionischen Persönlichkeitsstörung, die D – 30559 Hannover die Breite braucht). Diese Nähe hat etwas Verschlingendes, c.kolbe@existenzanalyse.com sie ist sehr affektgeladen. Gleichzeitig ist sie geprägt von www.christophkolbe.de starken Ängsten des Verlassen-Werdens. Dann nämlich würden diese Menschen nicht nur eine andere Person, son- dern auch sich selbst verlieren (vgl. Längle 2003a, 29f.). EXISTENZANALYSE 34/2/2017 25
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