Das Schädel-Hirn-Trauma im Erwachsenenalter - Thieme Connect
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Notfallmedizin up2date 1 · 2020 Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. Traumatologische und chirurgische Notfälle 3 Das Schädel-Hirn-Trauma im Erwachsenenalter Paul Hagebusch Andreas Pingel Frank Kandziora Reinhard Hoffmann Uwe Schweigkofler VNR: 2760512020158724704 DOI: 10.1055/a-0958-0649 Notfallmedizin up2date 2020; 15 (1): 59–74 ISSN 1611-6550 © 2020 Georg Thieme Verlag KG
CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: Traumatologie des Gesichtsschädels – eine aktuelle Orientie- Interdisziplinäre Schockraumversorgung polytraumatisierter rung H. Naujokat, A. Sengebusch, J. Wiltfang Heft 4/2019 Patienten J. Hinkelbein, C. Faymonville, M. Hackenbroch, V. Burst, B. Böttiger Heft 3/2013 Akzidentelle Hypothermie: ein Update S. Rauch, H. Brugger, P. Paal Heft 4/2018 Das TraumaNetzwerk der Deutschen Gesellschaft für Unfall- chirurgie A. Ernstberger, M. Nerlich, S. Ruchholtz Heft 3/2013 Präklinische Immobilisation bei Traumapatienten R. Klein, Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. N. Ramadanov, C. G. Wölfl, G. Matthes Heft 4/2018 Strom- und Blitzunfälle im Rettungsdienst O. Spelten, J. Hinkelbein Heft 1/2013 Penetrierende Verletzungen M. Völlmecke, D. Bieler, A. Franke, E. Kollig Heft 3/2018 Präklinische Versorgung von Extremitäten- und Wirbelsäulen- verletzungen B. Bücking, F. Debus, S. Ruchholtz Heft 4/2012 Handverletzungen S. Barzen, W. Moll, U. Schweigkofler, R. Hoffmann Heft 2/2018 Ersttherapie polytraumatisierter Patienten mit Schädel-Hirn- Verletzung B. Donaubauer, F. Pfeifer, H. Wrigge Heft 2/2012 S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung – ein Update U. Schweigkofler, H. Trentzsch Heft 2/2018 Versorgung von Brandverletzten J. Gille, H. Fischer, J.-C. Willms-Jones Heft 1/2012 Das schwere Trauma im Kindesalter P. Störmann, S. Meier, S. Wutzler, I. Marzi Heft 3/2017 Die S3-Leitlinie Polytrauma S. Ruchholtz, H. Bail, M. Barden- heuer, M. Bayeff-Filloff, A. Beck, A. Biewener, B. Bouillon, Das Schädel-Hirn-Trauma S. Liebigt, C. Renner Heft 3/2015 M. Fischbacher, S. Hentsch, E. Hüls, K.-G. Kanz, C. Lackner, T. Lindner, I. Marintschev, G. Matthes, H. Mayer, M. Raum, Präklinische Akutbehandlung von Wirbelsäulenverletzungen E. Rickels, S. Sauerland, U. Schächinger, M. Schädel-Höpfner, M. Kreinest, S. Goller, A. Türk Heft 2/2015 T. Schildhauer, K. Schwerdtfeger, A. Seekamp, E. Stolpe, J. Sturm, F. Walcher, C. Waydhas Heft 4/2011 Amputationsverletzungen und schwere Weichteilquetschung Y.-J. Kim, M. Sauerbier, R. Hoffmann, U. Schweigkofler S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletztenversorgung Heft 2/2015 M. Bernhard, G. Matthes, K.-G. Kanz, C. Waydhas, M. Fischbacher, M. Fischer, B. Böttiger, M. Raum Heft 4/2011 Präklinische Versorgung von Extremitätenfrakturen und Luxationen B. Wohlrath, U. Schweigkofler, R. Hoffmann Notfallbehandlung von Beckenfrakturen U. Culemann, Heft 1/2015 M. Burkhardt, T. Pohlemann Heft 2/2011 Thoraxtrauma S. Schulz-Drost, G. Matthes, A. Ekkernkamp Traumatische Nerven- und Plexusschäden: Prä- und Heft 1/2015 klinische Versorgungsalgorithmen und Behandlungsoptionen G. Antoniadis Heft 2/2011 Akzidentelle Hypothermie/schwere Unterkühlung H. Andruszkow, F. Hildebrand Heft 4/2013 Präklinisches Management akuter Blutungen J. Strüwer, E. Ziring, C. Kühne, S. Ruchholtz Heft 4/2010 A L L ES O NL INE L E SEN IHR ONLINE-SAMME LORD NER J E T Z T FR E I S CH A LT E N Mit der eRef lesen Sie möchten jederzeit Sie haben Ihre Zeit- Sie Ihre Zeitschrift: und überall auf Ihr schrift noch nicht online wie offline, up2date-Archiv zu- freigeschaltet? am PC und mobil, greifen? Kein Problem! Ein Klick genügt: alle bereits erschienenen Artikel. Ihren immer aktuellen Online- Für Abonnenten kostenlos! Sammelordner finden Sie unter: www.thieme.de/eref-registrierung https://eref.thieme.de/notfall-u2d https://eref.thieme.de/1ES9S
CME-Fortbildung Das Schädel-Hirn-Trauma im Erwachsenenalter Aktuelle präklinische Handlungsempfehlungen Paul Hagebusch, Andreas Pingel, Frank Kandziora, Reinhard Hoffmann, Uwe Schweigkofler Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. Das Schädel-Hirn-Trauma ist auch heute noch die häufigste Todesursache bei Erwachsenen unter 45 Jahren. Der präklinischen Akutversorgung dieser Patienten kommt eine wichtige Rolle zu. Dabei spielen die Sicherung des Atemwegs, die Aufrechterhaltung eines adäquaten Kreislaufs sowie der zeitnahe Transport in die richtige Zielklinik eine entscheidende Rolle. A B K Ü R ZU N G E N FAL L B E I S P I E L 1 ABCDE Airway – Breathing – Circulation – Disability Ein 68-jähriger Patient wird von einer Straßenbahn erfasst. Zu sehen – Exposure/Examination ist eine subtotale Skalpierungsverletzung (▶ Abb. 1). Diese Verlet- ATLS® Advanced Trauma Life Support zungen können potenziell mit einer Hb-relevanten Blutung einher- AWMF Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich gehen. Medizinischer Fachgesellschaften BBB Blood-Brain Barrier (Blut-Hirn-Schranke) BDMV Brain-Derived cellular Microvesicle cCT kranielle Computertomografie (Schädel-CT) etCO2 endtidales Kohlendioxid FFP Fresh frozen Plasma GCS Glasgow Coma Scale Hb Hämoglobin HWK Halswirbelkörper HWS Halswirbelsäule ICB intrakranielle Blutung ICP Intracranial Pressure (intrakranieller Druck) IPPV Intermittent positive Pressure Ventilation (Beatmung mit intermittierend positivem Druck) MAD arterieller Mitteldruck NOAK nicht Vitamin-K-antagonistisches orales Antikoagulans PHTLS® Prehospital Trauma Life Support RCT Randomized controlled Trial RR Blutdruck RSI Rapid-Sequence Induction SAB Subarachnoidalblutung ▶ Abb. 1 Skalpierungsverletzung eines Patienten nach Überroll- SHT Schädel-Hirn-Trauma trauma durch eine Straßenbahn. SpO 2 pulsoxymetrisch gemessene Sauerstoff- sättigung TF Tissue Factor tPA Tissue-Type Plasminogen Activator (gewebespezifischer Plasminogenaktivator) TZ Traumazentrum uPA urokinasespezifischer Plasminogenaktivator ÜTZ Überregionales Traumazentrum Hagebusch P et al. Das Schädel-Hirn-Trauma im … Notfallmedizin up2date 2020; 15: 59–74 59
CME-Fortbildung Stürze und Verkehrsunfälle sind die beiden häufigsten Einleitung Verletzungsmechanismen [10], wobei eine US-ame- Das Schädel-Hirn-Trauma (SHT) ist die Folge einer Ge- rikanische Studie den positiven Effekt der Helmpflicht in walt- bzw. Krafteinwirkung auf den Schädelknochen und Form einer signifikanten Reduktion der schwerem Schä- das darunterliegende Gewebe. Dabei kann es zu Verlet- del-Hirn-Traumata durch Motorradunfälle zeigen konnte zungen des Schädelknochens, der Hirnhäute, der Gefäße [11]. wie auch des Gehirngewebes selbst kommen [1]. Es wer- den primäre und sekundäre Verletzungsfolgen unter- schieden [2]. Bei der Versorgung eines Patienten mit Klassifikationen und Definitionen SHT kommt dem präklinischen Management eine äu- Glasgow Coma Scale Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. ßerst große Bedeutung zu. Die Implementierung von präklinischen Versorgungs-Leitlinien konnte die Überle- Es gab in den letzten Jahren immer wieder Versuche, das bensrate bei schwerem SHT nahezu verdoppeln [3]. SHT neu zu klassifizieren, dabei fanden verschiedenste Begrifflichkeiten und Scores Anwendung. Jedoch hat sich Die aktuellen Therapiekonzepte sollen hier vorgestellt die etablierte Beurteilung und schließlich auch Einteilung werden. Die klinischen Behandlungsstrategien variieren mittels Glasgow Coma Scale (GCS), ein Maß für den Be- trotz bestehenden Leitlinien in verschiedenen europä- wusstseinsstatus, immer wieder durchgesetzt [10, 12, ischen Ländern maßgeblich voneinander [4]. 13]. Beurteilt werden dabei die Augenöffnung, die ver- bale Antwort sowie die (beste) motorische Reaktion des Merke Patienten (s. ▶ Tab. 1). Dieser Artikel soll eine Übersicht über aktuelle natio- nale und internationale Handlungsempfehlungen Der Schweregrad des SHT ergibt sich dabei aus der GCS: zum präklinischen Management des SHT-Patienten ▪ leichtes SHT: GCS 13–15, geben. ▪ mittelschweres SHT 9–12, ▪ schweres SHT: < 9 (s. ▶ Tab. 2). Epidemiologie Die Aussagekraft der GCS hinsichtlich des Verlaufs ist je- Das Schädel-Hirn-Trauma ist die häufigste Todesursache doch eingeschränkt, da der Wert auch von anderen Fak- bei Kindern, Jugendlichen [5] und Erwachsenen jünger toren (z. B. Intoxikation) beeinflusst werden kann [14]. als 45 Jahre. Die Inzidenz des SHT liegt in Deutschland bei 332/100 000 und ist über die letzten Jahre hinweg sta- Merke bil (Statistisches Bundesamt, n. d.). Das Verhältnis von Der GCS-Wert sollte sequenziell erhoben werden, da Frauen zu Männern beträgt 1 : 2. Die innerklinische Mor- der Verlauf einen relevanten prognostischen Faktor talitätsrate beträgt 23,5 %. Der Altersgipfel liegt dabei darstellt [15, 16]. jenseits des 60. Lebensjahres [7]. Kritisch bleibt diesbezüglich jedoch anzumerken, dass die Etwa die Hälfte aller Schädel-Hirn-Traumata zeigen rele- Beurteilung der Pupillenweite und der Pupillenreaktion vante Begleitverletzungen, wobei festzuhalten bleibt, keinen Eingang in die GCS gefunden haben. Daneben ist dass die Mortalitätsrate bei einem isolierten SHT größer nicht klar, in welchen Zeitabständen eine Reevaluierung zu sein scheint. Das könnte u. a. daran liegen, dass hier des GCS-Status erfolgen sollte. das Durchschnittsalter wesentlich höher ist als bei den Mehrfachverletzten [8]. Offenes versus geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma Begleitverletzungen Bei der Beurteilung des SHT wird u. a. zwischen offenem und geschlossenem SHT unterschieden. Ein offenes SHT Cave ist durch die Eröffnung der Dura mater charakterisiert. Zwischen 12–22 % der SHT-Patienten haben eine Eine Verletzung der Kopfhaut ist hier nicht maßgebend begleitende Wirbelsäulenverletzung! [2]. Es sollte auf etwaigen Liquoraustritt, ggf. aus Nase und Mund, geachtet werden. Eine begleitende Wirbelsäulenverletzung liegt in 12–22 % der Fälle vor [7, 8]. Weitere von Begleitverletzungen be- Cave troffene Regionen können die oberen Extremitäten Eine Verletzung der Kopfhaut ist kein Kriterium für (23,2 %), die Gesichtsregion (18,3 %), die unteren Extre- ein offenes SHT! mitäten (13,5 %), das Becken (10,5 %) oder das Abdomen (8,8 %) sein [7]. Bei einem polytraumatisierten Patienten muss in bis zu 58 % der Fälle mit einer Schädel-Hirn-Betei- ligung gerechnet werden [9]. 60 Hagebusch P et al. Das Schädel-Hirn-Trauma im … Notfallmedizin up2date 2020; 15: 59–74
▶ Tab. 1 Glasgow Coma Scale (GCS). Verhalten Antwort Punkte Augen öffnen spontan 4 auf Aufforderung 3 auf Schmerzreiz 2 keine Reaktion 1 verbale Kommunikation konversationsfähig, orientiert 5 konversationsfähig, desorientiert 4 Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. unzusammenhängende Worte 3 unverständliche Laute 2 keine verbale Reaktion 1 motorische Reaktion befolgt Aufforderungen 6 gezielte Schmerzabwehr 5 ungezielte Schmerzabwehr 4 auf Schmerzreiz Beugesynergismen (abnormale Beugung) 3 auf Schmerzreiz Strecksynergismen 2 keine Reaktion auf Schmerzreiz 1 Summe 3–15 (Auswertung: s. ▶ Tab. 2) Der sekundäre Hirnschaden entsteht Minuten bis Tage ▶ Tab. 2 Schweregradeinteilung/Klassifikation des Schä- nach dem initialen Trauma. Hier spielen die Hirndurchblu- del-Hirn-Traumas (SHT) anhand der Glasgow Coma Scale tung und der intrakranielle Perfusionsdruck eine ent- (GCS). scheidende Rolle: SHT GCS leicht (I°) 13–15 zerebraler Perfusionsdruck = mittlerer arterieller Druck (MAD) – intrakranieller Druck (ICP) mittel (II°) 9–12 schwer (III°) 3–08 Die Folgeschäden entstehen u. a. auf molekularer Ebene und beinhalten eine Vielzahl von biochemischen Reakti- onskaskaden, die in Zelldegradation und Apoptose enden können. Es resultiert eine Beeinträchtigung der Blut-Hirn- Primäre versus sekundäre Schädigungen Schranke (Brain-Blood Barrier, BBB) was wiederum zu Primäre Hirnschädigungen sind therapeutisch einem zunehmenden intrazerebralen Ödem und einer nicht zu beeinflussen! Drucksteigerung führen kann [17]. Die primäre Hirnschädigung beschreibt die unmittelbare Merke Verletzungsfolge der externen Gewalteinwirkung auf den Diese Folgeschäden zu minimieren ist das primäre Schädel und das darunterliegende Gewebe. Dieser Scha- Therapieziel bei der Behandlung des Schädel-Hirn- denstyp ist durch keine therapeutische Maßnahme zu be- Traumas. einflussen [2], da er bereits stattgefunden hat, wenn man am Einsatzort eingetroffen ist. Typische primäre Hirnschädigungen sind [12]: ▪ Verletzungen des knöchernen Schädels, ▪ Verletzungen der Hirnhäute und intrakraniellen Gefä- ße mit daraus resultierenden Blutungen in den Sub- und Epiduralraum, Subarachnoidalraum und intrakra- nielle Blutungen, ▪ Kontusionsverletzung des Gehirns und axonale Scher- verletzungen. Hagebusch P et al. Das Schädel-Hirn-Trauma im … Notfallmedizin up2date 2020; 15: 59–74 61
CME-Fortbildung FAL L B E I S P I E L 2 Häuslicher Sturz eines 75-jährigen, multipel vorerkrankten Patienten unter Alkoholeinfluss. Nach Atemwegs- und Kreislaufsicherung er- folgt die Vorstellung über den Schockraum eines ÜTZ. Hier werden eine traumatische ICB rechts parietookzipital sowie eine begleitende SAB frontotemporoparietal festgestellt. Daneben zeigt sich eine SAB frontal im Sinne eines Contrecoup-Herdes links (▶ Abb. 2). Knöchern wird eine von den Hinterhauptkondylen (rechts) bis nach frontal ziehende Kalottenfraktur diagnostiziert. Bei den Verlet- zungsfolgen handelt es sich um primäre Schädigungen. Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. ▶ Abb. 2 Initiale cCT-Schnittbildgebung im Schockraum (transversale Schnittbildgebung). Der rote Kreis zeigt die Fraktur, der rote Stern die ICB und das rote Viereck den Contrecoup-Herd. Dabei geht man davon aus, dass dieser SHT-bedingten SHT-bedingte Koagulopathie Koagulopathie ein komplexer Pathomechanismus zu- Gerinnungsstörungen, wie sie bei extrakraniellen Verlet- grunde liegt [19]. Dieser ist aktuell noch größtenteils un- zungen auftreten können, entstehen u. a. durch Blutver- verstanden. Ein Schlüsselfaktor bei der Entstehung könn- lust, Hypothermie, Verbrauch von Gerinnungsfaktoren te eine Störung der Blut-Hirn-Schranke (BBB, engl. und metabolische Azidose [18]. Jedoch konnte bereits „blood-brain barrier“) sein. Dabei entsteht diese Störung mehrfach gezeigt werden, dass eine Koagulopathie auch durch eine direkte mechanische Verletzung und Steige- bei isolierten Schädel-Hirn-Traumata ohne Massenblu- rungen der Permeabilität, was die Diffusion von Mikro- tung auftreten kann [19 – 21]. (< 1 µm) und Makromolekülen möglich werden lässt [22]. Cave Chang merkte 2016 an, dass es den Anschein mache, als Oft beginnt die Gerinnungsstörung frühzeitig und steige die Komplexität des Pathomechanismus mit dem bereits im präklinischen Umfeld [22]. wachsenden Verständnis um die Entstehung der Gerin- 62 Hagebusch P et al. Das Schädel-Hirn-Trauma im … Notfallmedizin up2date 2020; 15: 59–74
nungsstörung [18]. Multiple Makromoleküle wie der Tis- sue Factor (TF), Tissue Plasminogen Activator (tPA), Uro- FAL L B E I S P I E L 3 kinase Plasminogen Activator (uPA) und Protein C schei- Anamnese nen an der Entstehung beteiligt zu sein [20, 23, 24]. Auch Ein 47-jähriger Patient wird während seiner Tätigkeit Mikropartikel wie Phospholipide (sog. „brain-derived cel- auf einer Baustelle von einem ca. 2 m langem Kantholz lular microvesicles“; BDMV) [22] scheinen eine gewisse am Kopf getroffen, unklare Fallhöhe. Rolle in der Pathogenese zu spielen [19]. Der genaue Ent- stehungsmechanismus ist Gegenstand kontroverser Dis- Ersteinschätzung kussionen, jedoch wurde gezeigt, dass auch eine Throm- Beim Eintreffen der Rettungsmittel zeigt sich ein bozytenfehlfunktion zu der Gerinnungsstörung beiträgt. bewusstseinsgetrübter Patient, initialer GCS13 bei Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. isokorer Pupillenreaktion. Der Patient zeigt kein Eine evidenzbasierte, leitliniengestützte Therapie der A-Problem. Es sind beidseits vesikuläre Atemgeräu- SHT-bedingten Koagulopathie besteht aktuell nicht. Ver- sche sicher zu auskultieren, dies bei einer Sauerstoff- schiedene Therapieansätze wie Omega-3-Fettsäuren sättigung von 93 % unter Raumluft, es besteht kein [25], die Substitution von Fibrinogen [21], die Gabe von B-Problem. Des Weiteren besteht kein C-Problem: FFP („fresh frozen plasma“) sowie die Nutzung von re- RR 134/95 mmHg bei einer Herzfrequenz von 85/min. kombinantem Faktor VII a [26] werden aktuell untersucht Die Rettungsdienstmitarbeiter immobilisieren den und international publiziert. Die Rolle von Tranexamsäure Patienten mit Stiffneck und Vakuummatratze und bei der Behandlung des SHTs wird unten erläutert. verbringen ihn in den Rettungswagen. Umgehend wird ein Notarzt nachgefordert. Aufgrund der ab- Der „klassische“ Schädel-Hirn-Trauma-Patient zeigte in gelegenen Einsatzstelle wird die Luftrettung parallel den letzten Jahren folgende Tendenzen: alarmiert. ▪ immer höheres Alter (> 50 Jahre), ▪ mehr relevante Vor- und Begleiterkrankungen, ▪ zunehmende Behandlung mit Antikoagulanzien [27], was zu einem signifikanten Mortalitätsanstieg führt [28]. Cave Direkte Vergleiche von Vitamin-K-Antagonisten und sog. Anzeichen für eine lebensbedrohliche Störung sind NOAK (nicht Vitamin-K-antagonistische orale Antikoagu- die Veränderung der Pupillenmotorik, Hemiparese, lanzien) liefern interessante Ergebnisse. Es scheint so, als Streck- oder Beugesynergismen sowie eine relevante sei die Mortalitätsrate unter Vitamin-K-Antagonisten bei kardiopulmonale Instabilität [31]. Patienten > 60 Jahren höher als unter NOAKs, obwohl hier die Möglichkeit zur Antagonisierung besteht. [29] Eine Blutdruck und Sauerstoffsättigung (A, B und C) weitere Studie konnte in einer Matched-Pair-Analyse zei- Die Sauerstoffsättigung und der Blutdruck sollten zügig gen, dass NOAK im Vergleich mit Vitamin-K-Antagonis- erhoben, beurteilt und im Verlauf kontinuierlich kontrol- ten eine signifikant höhere Mortalitätsrate und Blutungs- liert werden. Dies deckt sich mit den Vorgaben der präkli- progression bei leichten bis mittleren SHT zeigen. Dies nischen Traumaversorgung nach PHTLS®/ATLS®. Diese gilt jedoch nicht für schwere Schädel-Hirn-Traumata [30]. Parameter beeinflussen das Patienten-Outcome maß- geblich. Eine italienische Studie konnte schon 1996 zei- gen, dass die Sauerstoffsättigung das Behandlungsergeb- Präklinisches Assessment nis wie auch die Mortalitätsrate signifikant beeinflusst Das präklinische „Assessment“ des Schädel-Hirn-Trauma- (p < 0,005) [32] (▶ Tab. 3). Patienten beschreibt die ersten Untersuchungsschritte und Befundbeurteilung am Einsatzort. Anhand der hier Cave erhobenen Befunde können dann weitere fundierte The- Eine Sättigung < 90 % resultiert in einer signifikanten rapieentscheidungen getroffen werden. Da gezeigt wer- Steigerung der Mortalität! Das Ziel ist eine ständige den konnte, dass besonders schwere SHT von den einge- Sauerstoffsättigung (S pO 2%) von > 90. führten Leitlinien profitieren, sollte sich die primäre Beur- teilung an diesen orientieren [3]. Ähnliches wurde auch für den Blutdruck beschrieben. In einer retrospektiven Analyse von mehr als 7000 Patienten Symptome zeigten Zafar et al., dass ein Blutdruck < 120 mmHg und Die Symptome eines SHT können von Benommenheit, > 140 mmHg das Sterberisiko um den Faktor 2,7 erhöht Übelkeit und Schwindel bis hin zum Sehen von Doppelbil- [33]. Dabei gilt auch: je niedriger der Blutdruck bei Ein- dern, Verlust des Geruchssinns und Schwerhörigkeit rei- lieferung, desto höher das Sterberisiko (verdoppelte chen [9]. Anzeichen für eine schwere Funktionsstörung Sterberate bei < 100 mmHg sowie verdreifachte Sterbe- sind Erbrechen, Lähmung, Krämpfe und vegetative rate < 90 mmHg und 6-fach erhöhte Sterberate bei Symptome [1]. < 70 mmHg) [34]. Hagebusch P et al. Das Schädel-Hirn-Trauma im … Notfallmedizin up2date 2020; 15: 59–74 63
CME-Fortbildung ▶ Tab. 3 Zusammenhang von Sauerstoffsättigung auf das Behandlungsergebnis und die Mortalitätsrate (Datenquelle: [32]). Sauerstoffsättigung Mortalität schwere Folgeschäden > 90 % 14 % (3/21) 5 % (1/21) 60–90 % 27 % (6/22) 27 % (6/22) < 60 % 50 % (3/6) 50 % (3/6) Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. Merke eine Läsion des III. Hirnnervs, des N. oculomotorius, sein Der systolische Blutdruck sollte laut deutscher [9]. S2e-Leitlinie den Wert von 90 mmHg zu keinem Zeitpunkt unterschreiten [31]. Körperliche Untersuchung (E) Wie oben bereits erwähnt, liegt in mehr als der Hälfte der Als Faustregel kann dabei gelten, dass eine Herzfrequenz Fälle eine Begleitverletzung vor [7], sodass eine gründ- größer als der systolische Blutdruck das Behandlungs- liche körperliche Untersuchung (Body-Check) obligat ist. ergebnis signifikant negativ beeinflusst [35]. Dabei sollte besonders auf hämodynamisch relevante Blutungsräume geachtet werden (Thorax, Abdomen, Be- Cave cken und Oberschenkel). In bis zu 22 % der Fälle ist mit Die Mortalitätsrate steigt nochmals dramatisch an, einer Wirbelsäulenverletzung [7] und ca. in 9 % mit einer leidet der Patient sowohl unter einer Hypotonie als begleitenden HWS-Verletzung zu rechnen [38], daher auch einer Hypoxie. Diese fatale Kombination gilt es sollte eine konsequente „Inline“-Stabilisierung erfolgen. konsequent zu vermeiden [36]. Im Rahmen eines SHT kann es zu einer endogenen Kate- Therapie präklinisch cholaminausschüttung kommen, die wiederum zu einer Im Rahmen der präklinischen Versorgung des Schädel- Hypertonie führt. Hirn-Traumas kann auf das Standardverfahren (ABCDE- Schema) nach PHTLS® sowie die S2e-Leitlinie „Schädel- Hirn-Trauma im Erwachsenenalter“ zurückgegriffen wer- T A K E H O M E M E S SAG E den [31]. Die Qualität der präklinischen Versorgung trägt Eine Empfehlung zur präklinischen Blutdrucksenkung maßgeblich zum Behandlungsergebnis bei [39]. kann aktuell nicht ausgesprochen werden, auch wenn davon ausgegangen wird, dass ein schädlicher Atemweg Effekt durch die Hypertonie besteht [37]. Merke Patienten mit einem GCS-Wert < 9 gilt es zu intubie- ren. Hierbei ist der Goldstandard die endotracheale Glasgow Coma Scale (GCS) (D) Intubation. Die Glasgow Coma Scale (s. o.) eignet sich zur Einschät- zung der Schwere des SHT und sollte während der präkli- Die Bedeutung der adäquaten Atemwegssicherung durch nischen Versorgung wiederholt kontrolliert werden, da entsprechendes Fachpersonal wurde mehrfach fest- die Verlaufsbeurteilung entscheidend ist. Dabei sollte gestellt [40 – 42]. Der Einfluss der Sauerstoffsättigung der GCS-Wert nach Beurteilung von Sauerstoffsättigung auf die Mortalitätsrate wurde oben bereits erläutert. Auf- und Blutdruck sowie etwaiger Etablierung und/oder Si- grund der guten Ergebnisse bei der Anwendung der Vi- cherstellung des Atemwegs erhoben werden [34] (s. a. deolaryngoskopie zur Sicherung des Atemwegs sollte ABC-Schema nach PHTLS®/ATLS®. Diese Untersuchung diese in Betracht gezogen werden [38]. gilt es im Verlauf kurzfristig zu wiederholen. Beurteilung der Pupillenreaktion (D) T A K E H O M E M E S SAG E Bei der Beurteilung der Pupillenreaktion sollte auf eine of- Bei V. a. auf eine begleitende Wirbelsäulenverletzung fensichtliche Verletzung des Augapfels und der Orbita ge- sollte die Intubation in „Inline“-Stabilisierung durch- achtet werden. Des Weiteren gilt es, die Lichtreaktion, geführt werden. Die Abnahme der Immobilisie- die Symmetrie sowie die Pupillenweite im Seitenvergleich rungshilfe ist hier oft notwendig. Es empfiehlt sich zu evaluieren [34]. Eine Asymmetrie ist definiert als Pupil- eine Zwei-Helfer-Methode, bei der einer der Helfer lendifferenz > 1 mm. Ein pathologischer Befund kann den Kopf in der Körperachse stabilisiert. Hinweis auf eine direkte Augenschädigung, eine intrakra- nielle Drucksteigerung, eine Hirnstammverletzung oder 64 Hagebusch P et al. Das Schädel-Hirn-Trauma im … Notfallmedizin up2date 2020; 15: 59–74
FAL L B E I S P I E L 3 T A K E H O M E M E S SAG E Initiale Maßnahmen Insofern gilt es, die Kreislaufparameter im Rahmen Versorgung mit Sauerstoff über eine Maske (12 l) der präklinischen Atemwegssicherung und Narkose- sowie Anlage eines i. v. Zugangs. Im Rahmen des einleitung bei Patienten mit schwerem SHT eng- Body-Checks imponieren eine 14 cm lange, klaffende maschig zu kontrollieren, um umgehend etwaige und mäßig blutende Riss-Quetsch-Wunde okzipital Gegenmaßnahmen treffen zu können. sowie Schmerzen über der Hals- und mittleren Brust- wirbelsäule. Der Patient bewegt auf Aufforderung alle Extremitäten ohne den Hinweis auf ein sensomotori- Narkose Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. sches Defizit, es werden Kopfschmerzen und Schwin- del beklagt (D). Unter den o. g. Bedingungen ist auch die Wahl der Not- fallnarkose bedeutend. Oddo et al. haben 2016 in Critical Verlauf Care in einem Review sehr ausführlich und übersichtlich Der Schwindel ist progredient, und es setzt stärkste die verschiedenen Therapieoptionen dargelegt. Dabei Übelkeit ein, der Patient erbricht einmalig und bietet empfehlen die Kollegen die Standardnarkose mit Pro- danach eine rasche Vigilanzminderung. In den se- pofol und Fentanyl bzw. Sufentanil [45]. Zu beachten ist quenziell erhobenen GCS-Werten zeigt sich ein Abfall jedoch ein etwaiger Abfall des mittleren arteriellen der Werte auf 9, sodass die Indikation zur Atemwegs- Drucks (MAD). Dieser kann bei Propofol größer ausfallen sicherung besteht. als bei Midazolam (das als Alternative gilt) [46]. Andere Studien konnten die Überlegenheit von Propofol hinsicht- Weiterführende Maßnahmen lich der Hirndrucksenkung und des Behandlungsergeb- Die Narkoseeinleitung erfolgt mit Fentanyl, Propofol nisses nicht reproduzieren [47]. Initial musste davon aus- und Rocuronium im Sinne einer Rapid-Sequence gegangen werden, dass die andere Alternative, Ketamin Induction (RSI). Die Intubation gelingt bei einem in Form von Ketanest(-S), zu einem Hirndruckanstieg Cormack Lehane Grad I problemlos mit einem 8-mm- führt. Dies konnte nicht bestätigt werden, sodass eine et- Tubus, die auskultatorische Lagekontrolle bestätigt waige Anwendung überdacht werden kann [48]. die Sicherung des Atemwegs. Die angeschlossene Kapnometrie zeigt 42 mmHg(etCO2) an. Einen ggf. hirndrucksteigenden Effekt können hohen Do- Bei einem Blutdruck von 97/75 mmHg erfolgt die sen von Opioiden haben [46]. Gabe von 1 ml Akrinor (Theodrenalin-Cafedrin). Die Kontrollmessung zeigt keinen adäquaten Blutdruck- Die Narkoseeinleitung kann auch mit Barbituraten wie anstieg, sodass nochmals 1 ml Akrinor verabreicht z. B. Thiopental erfolgen. Dies sollte aber dem Status epi- und Arterenol 5 mg/50 ml im Perfusor bereitgestellt lepticus vorbehalten bleiben [49], da die relevanten Ne- werden. Unter einer Laufrate von 4 ml/h gelingt die benwirkungen (hauptsächlich kardiovaskulärer und im- Aufrechterhaltung eines suffizienten Kreislaufs, die munregulatorischer Natur) überwiegen [45, 50]. Narkose wird mit Propofol fortgesetzt. Die Beatmung wird maschinell im IPPV-Modus durch- Merke geführt. Die Kapnometrie zeigt dabei Werte von Generell gilt es, Agitiertheit und schmerzhafte 36 mmHg bei einem SpO2 von 99 % und ist unter nor- Stimuli im Rahmen der Akutversorgung aufgrund mofrequenter Ventilation (Atemfrequenz 12) stabil. des etwaigen ICP-Anstiegs zu vermeiden [50]. Die Nutzung von Muskelrelaxanzien wird in Studien emp- fohlen, da auf diese Wese die Erfolgsrate der Atemwegs- sicherung steigt. Eine positive Beeinflussung des Behand- Kreislauf lungsergebnisses konnte jedoch nicht nachgewiesen wer- Von großer Bedeutung ist, dass auch Patienten mit einem den [51]. isolierten SHT ohne weitere offensichtliche Verletzungs- folgen und ohne Verdacht auf eine kreislaufrelevante Blu- Eine weitere Möglichkeit zur Narkoseinduktion ist Etomi- tung im Rahmen der Notfallnarkose Zeichen einer Kreis- dat. Ein Unterschied zu anderen Narkosemitteln konnte laufinstabilität zeigen können. Dabei handelt es sich nicht bei der einmaligen Anwendung zur Narkoseeinleitung, um eine Rarität. Fast die Hälfte der Patienten mit schwe- was Mortalitäts- oder Sepsisrate angeht, nicht nach- rem SHT sind hiervon betroffen [43]. Das lässt sich auch gewiesen werden [52]. Wafasaide et al. haben jedoch anhand des gehäuften Vasopressoreneinsatzes bei Pa- 2019 zeigen können, dass Etomidat im präklinischen Set- tienten mit SHT zeigen [44]. ting (Luftrettung) nahezu nicht mehr (nur in ca. 6 % der Fälle) verwendet wird [53]. Hier scheint es so, als hätte Propofol Etomidat den Rang abgelaufen [53]. Hagebusch P et al. Das Schädel-Hirn-Trauma im … Notfallmedizin up2date 2020; 15: 59–74 65
CME-Fortbildung Eindeutige Medikationsempfehlungen wurden aufgrund Flüssigkeitsmanagement der teilweise kontroversen Studienlage (s. z. B. die Ver- Auf den Stellenwert der Koagulopathie im Rahmen der wendung von Ketamin) nicht in die S2e-Leitlinie auf- Versorgung des SHT-Patienten wurde bereits ausführlich genommen [31]. eingegangen (s. o.). Insofern kommt auch dem präkli- nischen Flüssigkeitsmanagement eine große Bedeutung Beatmung zu. Hinsichtlich der Gabe von hypertonen Lösungen zur Bei der anschließenden Beatmung ist eine Normokapnie Vermeidung eines zerebralen Ödems und Rekrutierung (etCO2 35–40 mmHg) anzustreben [54]. Eine präkli- von Flüssigkeit in den Intravasalraum konnte kein positi- nische Hyperventilation mit Hypokapnie sollte dem Fall ver Effekt nachgewiesen werden [59]. einer zerebralen Einklemmung vorbehalten bleiben [16], Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. da sie ansonsten mit einer erhöhten Mortalität assoziiert Merke ist [55]. Oberste Priorität hat die Aufrechterhaltung bzw. die Wiederherstellung eines adäquaten Kreislaufs. Cave Bei beatmeten Patienten ist eine Normokapnie Eine Studie aus dem Jahr 2000 mit 1300 Teilnehmern anzustreben. konnte sogar einen negativen Effekt einer Volumenthera- pie darlegen [60]. Zeichen einer solchen transtentoriellen Herniation kön- nen sein: Kristalloide versus Kolloide ▪ Bradykardie, Aktuell besteht kein wissenschaftlicher Nachweis eines ▪ Pupillenerweiterung (Mydriasis), positiven Effekts von hyperosmolarer oder kolloidaler In- ▪ Strecksynergismen, fusionslösung im Vergleich mit isotonen kristalloiden Lö- ▪ Streckreaktion auf Schmerzreiz sowie sungen, der eine evidenzbasierte Empfehlung zulässt [59, ▪ eine progrediente Bewusstseinstrübung [31]. 61]. Das Hauptziel sollte die Aufrechterhaltung des Blut- drucks und der zerebralen Perfusion sein. Dies sollte über Immobilisation/Lagerung des Patienten eine Normovolämie mittels isotoner Vollektrolytlösung Das Thema der Immobilisation des Patienten wird beson- erreicht werden [62]. Gelingt dies nicht, sollten Katechol- ders mit Hinblick auf die Immobilisation der HWS kontro- amine zur Kreislaufstabilisierung genutzt werden. vers diskutiert, sodass sich das Nationale Board PHTLS® Deutschland zu einer Stellungnahme gezwungen sah. Bei traumatisierten Patienten ohne SHT ist die gesteiger- [56] Das Problem einer HWS-Immobilisation z. B. mittels te präklinische Volumengabe sogar ein unabhängiger Ri- Stifneck ist ein möglicher Anstieg des ICP. Dies wurde in sikofaktor für eine erhöhte Mortalität [63]. zwei aktuellen Studien an gesunden Probanden [57] und an SHT-Patienten bestätigt [58]. Jedoch ist die Studien- lage weiterhin nicht eindeutig. Mit dem Wissen um die T A K E H O M E M E S SAG E hohe Anzahl an begleitenden HWS-Pathologien bei SHT- Die Gabe von Mannitol und hyperosmolarer Lösung Patienten bleibt die HWS-Immobilisation weiterhin eine ist prinzipiell in der Lage, den intrakraniellen Druck in Abwägungssache und muss individuell entschieden wer- einem kurzen Zeitfenster von ca. einer Stunde zu den. senken. Nur bei einem Verdacht auf eine transtento- rielle Herniation kann auf eine Hirndruckmessung vor Das nationale PHTLS®-Board bevorzugt, sofern möglich, der Applikation verzichtet werden [31]. Bei der Gabe die Ganzkörperimmobilisation auf einer Vakuummatrat- von Mannitol sollte auf eine etwaige Hypotension ze anstatt einer isolierten HWS-Ruhigstellung [56]. Hier geachtet werden, da diese negativ beeinflusst wer- können zur weiteren HWS-Stabilisierung dann „Head- den kann [64]. Blocks“ oder alternative Lagerungshilfen genutzt werden. T I PP Tranexamsäure Der Vorteil der Immobilisation in der Vakuummat- Die Verbrauchskoagulopathie stellt für den polytraumati- ratze ist auch in der Möglichkeit der 30°-Oberkör- sierten Patienten eine ernste Bedrohung dar. Die Gabe perhochlagerung zu sehen, wie sie bei schweren SHT von Gerinnungsfaktoren und das Transfusionsmanage- empfohlen wird. ment sind aktuell noch dem klinischen Setting vorbehal- ten. Die CRASH2-Studie konnte zeigen, dass die Gabe von Tranexamsäure innerhalb der ersten 60 Minuten nach Die weitere Entwicklung muss hier beobachtet und ggf. Trauma den positivsten Effekt auf das Patienten-Out- Anpassungen in den Therapiealgorithmen vorgenommen come hat [65]. Aktuell wurde die sog. PATCH-Traumastu- werden. die initiiert, die als internationale Multicenterstudie kon- 66 Hagebusch P et al. Das Schädel-Hirn-Trauma im … Notfallmedizin up2date 2020; 15: 59–74
zipiert ist und den Nutzen der präklinischen Gabe von Tra- nexamsäure weiter untersuchen soll [66]. T A K E H O M E M E S SAG E Wunden sollten, sofern möglich, steril verbunden und die Applikation von Hämostyptika in Erwägung T A K E H O M E M E S SAG E gezogen werden [1]. Gegebenenfalls kann die An- Eine etwaige Gabe von Tranexamsäure im Rahmen lage eines Druckverbandes sinnvoll sein. Soweit der Versorgung eines Patienten mit SHT sollte erwo- möglich, sollte ausgetretene Hirnmasse umpolstert gen werden [31]. Ein positiver Einfluss auf Blutungs- werden. progression und Behandlungsergebnis konnte ge- zeigt werden [67]. Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. Fremdkörper Bei penetrierenden Verletzungen sollte der Fremdkörper, Katecholamine sofern möglich, belassen werden [31]. An juvenilen Schweinen konnte der positive Effekt von Noradrenalin auf die Autoregulation des Hirns und die Vermeidung einer Verringerung des zerebralen Blutflus- Zeitmanagement und Transport ses nachgewiesen werden [68]. Da die Aufrechterhaltung Nach Versorgung und Stabilisierung des Schädel-Hirn- eines adäquaten Blutdrucks nach Sicherung der Atemwe- Traumas vor Ort ist der zügige und möglichst schonende ge oberste Priorität genießen sollte, gilt es frühzeitig eine Transport in die richtige Zielklinik entscheidend. Empfoh- etwaige Therapie zu initiieren. Dabei bleibt festzuhalten, len ist die Vorstellung in einem Überregionalen oder Re- dass zwar im Tiermodell ein positiver Effekt von Noradre- gionalen Traumazentrum, sofern keine lebensrettenden nalin auf die Aufrechterhaltung der zerebralen Perfusion Sofortmaßnahmen in einem Haus der Grundversorgung gezeigt werden konnte, jedoch klinische Studien aktuell durchzuführen sind [72]. Die Patienten profitieren von nicht vorliegen, die verschiedene Vasopressoren verglei- einer umgehenden neurochirurgischen Versorgung in chen [69]. einem Level-I-Traumazentrum [72]. Schädelhirntraumen aller Schweregrade sollten mög- T A K E H O M E M E S SAG E lichst in einemn ÜTZ versorgt werden. Im präklinischen Setting sollte die mögliche Applika- tion über ein Perfusorsystem zeitnah in Erwägung Merke gezogen werden, um repetitive Blutdruckspitzen zu Die Prähospitalzeit sollte dabei 60 Minuten nicht vermeiden. überschreiten und der Patient binnen 90 Minuten nach Verletzung in einem geeigneten Traumazent- rum vorgestellt werden [73, 74]. Sind die o. g. Zeiten durch lange Einsatzwege nicht zu gewährleisten, Hypothermie ist frühzeitig an die Möglichkeit der Luftrettung zu Das Temperaturmanagement bleibt Gegenstand kontro- denken [75]. verser Diskussionen. Im präklinischen Setting hat die Hypothermie bei der Versorgung von SHT-Patienten au- Zur Luftrettung sollte eine möglichst frühzeitige Alarmie- ßerhalb einer kontrollierten Studienumgebung kaum rung erfolgen, da eine Verzögerung den erwünschten noch einen Stellenwert, da die negativen Nebeneffekte Zeitspareffekt gefährdet [74]. Die Überlebensrate steigt zu überwiegen scheinen [54, 70]. Jedoch konnten in durch einen luftgebundenen Transport in das richtige einem stationären Setting auch hirnprotektive Effekte Zielkrankenhaus, dies besonders bei SHT-Patienten [76]. gezeigt werden, sodass die milde Hypothermie (ca. 35 ° C) sehr wohl Einzug in Behandlungsalgorithmen gefun- Die o. g. präklinischen Versorgungsempfehlungen de- den hat. Zur abschließenden Beurteilung sind jedoch me- cken sich auch mit der S3-Leitlinie zur Polytrauma- thodisch hochwertige RCT vonnöten [71]. behandlung (AWMF Register-Nr. 012/019) [77]. Wundmanagement Durch die Krafteinwirkung auf den Schädel, die schluss- endlich zum SHT führt, kann es zu Verletzungen der Kopf- schwarte bis hin zu Skalpierungsverletzungen kommen (s. a. Fallbeispiel 1). Eine hämodynamisch relevante Blu- tung kann auch bei formal geschlossenem SHT zu einer präklinisch schwierig zu kontrollierenden Situation wer- den. Hagebusch P et al. Das Schädel-Hirn-Trauma im … Notfallmedizin up2date 2020; 15: 59–74 67
CME-Fortbildung FAL L B E I S P I E L 3 Einsatztaktik und weitere Versorgung Die frühzeitige Alarmierung der Luftrettung ermöglicht nun die zeitgerechte Vorstellung des Patienten in einem Überregionalen Traumazentrum zur weiteren Versorgung. Die Primärdiagnostik mittels CT erbringt ein Subduralhämatom rechts frontotemporal mit Kompression der rechten Seitenventrikel und geringer Mittellinienverlagerung sowie eine traumatische SAB temporal rechts. In der begleitenden Diagnostik werden unter anderem grob dislozierte A2-Frakturen der Halswirbelkörper (HWK) 3 und 4 sowie frakturierte Wirbelbögen der HWK 5 und 6 diagnostiziert. Ausschnitte der Bildgebung zeigen ▶ Abb. 3 u. ▶ Abb. 4. Nach Hemikraniektomie rechts imponiert eine regrediente Hirnschwellung rechtshemisphärisch. Als Beleg dafür zeigt sich eine rück- läufige Mittellinienverlagerung, der rechte Seitenventrikel ist deutlich besser einsehbar, und die rechte Hemisphäre wölbt sich nach Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. Dekompression über das Kalottenniveau nach außen. ▶ Abb. 3 Initiale cCT-Diagnostik im Schockraum (transversale Schnittbildgebung). ▶ Abb. 4 Postoperative cCT-Verlaufskontrolle (transversale Schnittbildgebung) nach Hemikraniektomie. 68 Hagebusch P et al. Das Schädel-Hirn-Trauma im … Notfallmedizin up2date 2020; 15: 59–74
Interessenkonflikt Behandlungsergebnisse Unabhängige Faktoren für ein gutes Behandlungsergeb- Erklärung zu finanziellen Interessen nis sind Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter ▪ ein bestehendes Beschäftigungsverhältnis zum Unfall- Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; zeitpunkt, Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, ▪ junges Alter sowie Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Patent/ ▪ männliches Geschlecht [13]. Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fort- bildung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein. Polytraumatisierte Patienten mit SHT haben dabei ein Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. wesentlich schlechteres Outcome als solche ohne SHT Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- [78]. Es konnte ebenfalls gezeigt werden, dass die Morta- konflikt besteht. litätsrate für stationär behandelte SHT-Patienten für ei- nen Zeitraum von 7 Jahren erhöht bleibt [79]. Autorinnen/Autoren Paul Hagebusch Zusammenfassung Dr. med. Studium der Humanmedizin an der Das Ziel der Akutversorgung ist primär die Vermeidung Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt sekundärer Hirnschäden. Dabei hat die Sicherstellung am Main. Assistenzarzt in der Abteilung für Un- fallchirurgie und Orthopädische Chirurgie der des Atemwegs, die Aufrechterhaltung eines adäquaten Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Frank- Kreislaufs sowie der Transport in die richtige Zielklinik furt am Main. Notarzt auf dem NEF 1 der Stadt oberste Priorität. Durch Implementierung von Leitlinien Frankfurt sowie des Rettungshubschraubers Christoph 2. zur präklinischen Versorgung von SHT-Patienten konnte eine signifikante Reduktion der Mortalität erzielt werden. Andreas Pingel Dr. med., Facharzt für Neurochirurgie, Manuelle Medizin/Chirotherapie, Master-Zertifikat der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft. Tätig als KER NAU SSAG EN Leitender Arzt und Stellvertreter des Chefarztes am Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie und ▪ Das SHT bleibt die häufigste Todesursache bei Neurotraumatologie an der BG Unfallklinik Erwachsenen unter 45 Jahren. Frankfurt am Main. ▪ Eine konsequente, leitlinienkonforme präklinische Therapie verbessert das Behandlungsergebnis. Frank Kandziora ▪ Die Atemwegssicherung und Kreislaufstabilisie- Prof. Dr. med., Facharzt für Chirurgie, Unfall- rung haben am Unfallort höchste Priorität. chirurgie und Orthopädie. Leiter des Wirbel- ▪ Hämodynamisch relevante Kopfplatzwunden säulenzentrums am Campus Virchow-Klinikum sollten versorgt und die Blutung gestillt werden. der Charité. Seit 2008 Chefarzt des interdiszip- ▪ Der GCS eignet sich zu Beurteilung des Schwere- linären Zentrums für Wirbelsäulenchirurgie und Neurotraumatologie an der BG Unfallklinik grades des SHTs und sollte sequenziell erhoben Frankfurt am Main. Prof. Kandziora ist oder war ehrenamtlich werden. Präsident, Vorstands- und Aufsichtsratsmitglied zahlreicher ▪ Der Patient profitiert von einem zeitnahen, schnel- Fachorganisationen, z. B. der DWG, EUROSPINE, der Europä- len Transport in ein geeignetes Traumazentrum. ischen Wirbelsäulenstiftung, der AOSpine. ▪ Die Prähospitalzeit von 60 Minuten sollte eingehal- ten werden. Reinhard Hoffmann ▪ Der Luftrettung kommt bei der Versorgung von Prof. Dr. med. Dr. med. habil., Ärztlicher Direk- SHT-Patienten eine entscheidende Rolle zu. tor der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Frankfurt am Main gGmbH und Chefarzt der Unfallchirurgie und orthopädischen Chirurgie. Außerplanmäßige Professur an der Goethe- Universität Frankfurt am Main. Hagebusch P et al. Das Schädel-Hirn-Trauma im … Notfallmedizin up2date 2020; 15: 59–74 69
CME-Fortbildung Uwe Schweigkofler [11] Hassan A, Jokar TO, Rhee P et al. More helmets fewer deaths: Dr. med. Stellvertretender ärztlicher Direktor Motorcycle helmet legislation impacts traumatic brain injury- der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik related mortality in young adults. Am Surg 2017; 83: 541–546 Frankfurt am Main, wo er zuvor als Leitender [12] Liebigt S, Renner C. Das Schädel-Hirn-Trauma. Klinische Spezi- Arzt des Notfall- und Rettungszentrums über fika und Einteilung. Notfallmed up2date 2015; 10: 241–257 viele Jahre u. a. als Ärztlicher Leiter des Ret- [13] Forslund MV, Perrin PB, Røe C et al. Global outcome trajecto- tungshubschraubers Christoph 2 und des NEF 1 ries up to 10 years after moderate to severe traumatic brain fungierte. Aktives Mitglied in vielen notfallmedizinisch orien- injury. Front Neurol 2019; 10: 219 tierten Gremien und Sektionen der DIVI und DGU. [14] Cheerio GS. Bidding farewell to the Glasgow Coma Scale. Ann Emerg Med 2011; 58: 427–430 Korrespondenzadresse [15] Balestreri M, Czosnyka M, Chatfield DA et al. Predictive value Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. of Glasgow Coma Scale after brain trauma: change in trend Dr. med. Paul Hagebusch over the past ten years. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2004; Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Frankfurt gGmbH 75: 161–162 Abteilung für Unfallchirurgie und orthopädische Chirurgie [16] Badjatia N, Carney N, Crocco TJ et al. Guidelines for prehospital Friedberger Landstraße 430 management of traumatic brain injury 2nd edition. Prehosp 60389 Frankfurt am Main Emerg Care 2008; 12 (Suppl. 1): S1–S52 paul.hagebusch@bgu-frankfurt.de [17] Galgano M, Toshkezi G, Qiu X et al. Traumatic brain injury: Cur- rent treatment strategies and future endeavors. 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