Das Schlachten trächtiger Tiere - Ein drängendes, bislang kaum wahrgenommenes Problem des Tier- und Verbraucherschutzes von Sievert Lorenzen

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Der kritische Agrarbericht 2015

Das Schlachten trächtiger Tiere
Ein drängendes, bislang kaum wahrgenommenes Problem
des Tier- und Verbraucherschutzes

von Sievert Lorenzen

                       Unbemerkt von der Öffentlichkeit wuchs in den letzten Jahren ein Problem heran, das uns alle
                       ethisch und gesundheitlich berührt: das Schlachten trächtiger Tiere. Erfahrungen aus der Tra­
                       dition gibt es hierzu kaum. Umso heftiger hat die gegenwärtige Offenbarung der Problematik uns
                       alle getroffen. Trächtige Tiere werden in vielen Fällen nicht versehentlich, sondern wissentlich der
                       Schlachtung zugeführt, selbst wenn die Geburt schon zeitlich nah ist. Rund zehn Prozent der weib­
                       lichen Rinder, die in Deutschland geschlachtet werden, sind trächtig, überwiegend in einem fort­
                       geschrittenen Trächtigkeitsstadium. Pro Jahr sind dies in etwa 180.000 Tiere. Sanktionen sind kaum
                       zu erwarten, da dieses Thema weder im Tierschutz- noch im Lebensmittelrecht klar geregelt ist.
                       Abgesehen von der besonderen Tierschutzproblematik: Fleisch von hochtragenden geschlachteten
                       Tieren ist mit Östrogenen belastet, die nach Verzehr im Körper angereichert werden können. Es wird
                       darüber spekuliert, dass sie möglicherweise die Gefahr der hormonabhängigen Entstehung von
                       Krebsarten erhöhen könnten. Derzeit wird auf verschiedenen Ebenen intensiv an einer Lösung des
                       Problems gearbeitet.

Ethische Leistungen gelten als nicht geldwert und wer­          braucht. Wegen dieser uralten Einsicht galten Schlach­
den deshalb gern aus dem Profitstreben von Konzernen            tungen trächtiger Tiere jahrhundertelang und noch bis
(einschließlich Finanzkonzernen) ausgeblendet. Den              vor Kurzem als seltene Einzelfälle. Doch die Zeiten
Gegenpol bilden Staat, Religionen oder andere gesell­           haben sich geändert. Früher hielt man überwiegend
schaftliche Institutionen, in deren Fundament ethische          Zweinutzungsrassen. Heute dagegen gilt ein männ­
Grundsätze fest verankert sind, z. B. im Grundgesetz.           liches Bullenkalb von Hochleistungsmilchkühen als
Zwischen beiden Polen findet immer wieder ein Kräf­             »Abfallprodukt der Milchindustrie«. Der Landwirt er­
temessen statt, ausgeführt von Lobbyisten der Konzer­           hält für dessen Verkauf nur wenig Geld. Der Tod dieser
ne und von Interessenverbänden auf der einen Seite              Kälber wird bei der Schlachtung der Muttertiere billi­
und von Ethikverfechtern auf der anderen. Zurzeit               gend in Kauf genommen. Mittlerweile können trächti­
können die Lobbyisten die eindeutig längeren finan­             ge Tiere aus den verschiedensten – meist rein ökonomi­
ziellen Hebel bedienen, sodass ethische Grundsätze oft          schen – Motiven zum Schlachter gebracht werden. Bei
genug auf der Strecke bleiben. Das geschieht zum Nach­          den Rindern gehören zu den Motiven die folgenden:
teil vieler Menschen, die finanziell oder anderweitig
schwach sind. Aber auch die Nutztiere leiden, wenn              ■■   Wenn trächtige Tiere nicht mehr die verlangten
Profit vor Ethik gesetzt wird. Ein Beispiel soll hier näher          Höchstleistungen erbringen, werden sie gern als
beleuchtet werden: die Schlachtung trächtiger Tiere.                 Schlachtvieh entsorgt.
                                                                ■■   Wenn der Rindfleischpreis hoch ist oder der Preis
(Vermeintliche) Gründe für das Töten                                 für junge Kälber niedrig, können vermehrt auch
trächtiger Tiere                                                     trächtige Rinder geschlachtet werden.
                                                                ■■   Wenn ein Milchbauer seinen Betrieb auflösen oder
Früher konnte man sicher sein, dass trächtige Tiere                  von einem Krankheitsgeschehen befreien will, kann
nicht ohne Not geschlachtet werden, denn der Nach­                   er die ganze Herde einschließlich der tragenden
wuchs wurde zur Existenzsicherung eines Betriebes ge­                Kühe zum Schlachten abgeben.

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Tierschutz und Tierhaltung

■■   Die Besamung einer Kuh drei Monate vor ihrer                Bislang unbekanntes Ausmaß
     Schlachtung gilt nach Auskunft einiger (anonymer)
     Tierärzte als eine effektive Masthilfe, weil das Wech­      Welches Ausmaß das Schlachten trächtiger Rinder zu
     selspiel von Auf- und Abbau von Muskelmasse zu              Verzehrzwecken angenommen hat und welche ethi­
     Gunsten des Aufbaus verschoben wird.1 Ob das an             schen, rechtlichen und gesundheitlichen Aspekte hier­
     einem Östrogeneffekt liegt oder daran, dass eine            bei berührt werden, hat ein Autorenteam um die Pro­
     trächtige Kuh wegen Ausbleiben von Brunst einfach           fessorin Katharina Riehn 2010 in der Zeitschrift
     nur ruhiger und stressfreier ist, ist noch nicht geklärt.   Fleischwirtschaft 3 und 2011 in der Tierärztlichen Um-
■■   Damoklesschwert Milchquote: In Deutschland wur­             schau 4 bekanntgemacht. Die Grundlage für die erst­
     de die Milchquote (erlaubte Liefermenge von Milch           genannte Arbeit lieferte eine Befragung deutscher
     pro Wirtschaftsjahr) im Wirtschaftsjahr 2012/13 um          Schlachtbetriebe. 53 von ihnen gaben an, dass bei ihnen
     0,1 Prozent (26.000 Tonnen) überschritten.2 Dafür           trächtige Rinder regelmäßig geschlachtet werden. Alle
     muss Deutschland eine Geldstrafe von 7,2 Millionen          erfassten Kühe gehörten der Milchviehrasse Holstein-
     Euro an die EU zahlen, die anteilig auf die Milchbau­       Friesian an, die durch ihr Schwarzweiß-Muster des
     ern umgelegt wird, die zu viel Milch geliefert haben.       Fells auffallen (»schwarzbunt«) und auf höchste Milch­
     Das sind 27,83 Euro pro 100 Kilogramm zu viel ge­           leistung gezüchtet wurden. Das Alter der geschlachte­
     lieferter Milch. Droht einem Milchbauer eine solche         ten trächtigen Rinder lag zwischen 17 und 127 Monaten
     Strafzahlung, kann er die Liefermenge von Milch             und betrug im Mittel 57 Monate. Es wurden also auch
     rechtzeitig verringern – z. B. durch den Verkauf von        trächtige Färsen (weibliche Jungrinder) und ausge­
     Kühen, die z. B. zur Schlachtung kommen. Oft kön­           diente trächtige Milchkühe geschlachtet. Zu 90 Pro­
     nen diese Kühe tragend sein, weil eine Milchkuh             zent befanden sich die Tiere im 2. oder 3. Drittel der
     rund sechs Wochen nach der Geburt eines Kalbes              Trächtigkeit. Die Ungeborenen können schon ein Fell
     schon wieder besamt und bis zur nächsten Trocken­           besitzen. Dass das 1. Drittel der Trächtigkeit so selten
     stehperiode noch rund sieben weitere Monate ge­             ermittelt wurde, mag an der geringen Größe der Lei­
     molken wird. Mit Abschaffung der Milchquote zum             besfrucht liegen, die nach Ansicht des Autorenteams
     April 2015 entfällt das Quotenmotiv für die Schlach­        deshalb leicht unbemerkt bleiben kann.
     tung trächtiger Milchkühe.                                     Der Anteil tragend geschlachteter Rinder betrug in
■■   In der Biobranche oder in anderen Betrieben mit             den 53 befragten Schlachtbetrieben je nach Saison bis
     Mutterkuhhaltung kann es Probleme geben, wenn               zu 15 Prozent. Große Rinderschlachthöfe müssen drei-
     ein geschlechtsreifes männliches Kalb ein weibliches        bis viermal jährlich erleben, dass eine trächtige Kuh ihr
     Rind unbemerkt deckt und die Trächtigkeit vor der           Kalb auf dem Schlachthof oder dem Transport dorthin
     Schlachtung nicht festgestellt wird.                        zur Welt bringt. In solchen Fällen dürfen weder die
■■   Ein Sonderproblem ist die angeordnete Tötung gan­           Kuh noch ihr Kalb den Schlachthof lebend verlassen,
     zer Herden einschließlich der trächtigen Tiere aus          das ist gesetzlich festgelegt. Also werden sie getötet.
     tierseuchenrechtlichen Gründen.                             Dies widerspricht allerdings dem Tierschutzgesetz, das
                                                                 grundsätzlich einen »vernünftigen Grund« für die Tö­
In allen Fällen ist die Tötung trächtiger Tiere eine             tung eines Tieres verlangt. Doch nicht das gilt derzeit
rechtliche Grauzone. Es fehlen eindeutige Regelungen             als Rechtsverstoß, sondern dass die Kuh zum Schlacht­
zum Umgang mit dem Muttertier und dem ungebo­                    hof transportiert wurde, denn die EU-Verordnung
renen Kalb. Die aktuell geltenden rechtlichen Bestim­            1/2005 (»Schutz von Tieren beim Transport«) verbietet
mungen – Tierschutzgesetz, Tiertransportverordnung               ausdrücklich den Transport weiblicher Tiere, die sich
und Tierschutzschlachtverordnung – sind nur sehr                 im fortgeschrittenen Gestationsstadium (90 Prozent
vage formuliert. Schlachttiere müssen zuvor nur als              oder mehr) befinden oder um Tiere, die vor weniger
transportfähig beurteilt worden sein. Nur für Kühe ab            als sieben Tagen niedergekommen sind. Doch selbst
einem Trächtigkeitsstadium vom 90 Prozent oder                   solche Verstöße bleiben bisher ungeahndet wegen
mehr gilt ein Transportverbot. Der exakte Zeitpunkt              schwammiger Rechtslage.
des Trächtigkeitsstadiums lässt sich jedoch nur schwer
bestimmen. Der Schlachtbetrieb seinerseits geht mit              Risikobewertung des Fleisches
dem Schlachten trächtiger Tiere kein rechtliches oder
finanzielles Risiko ein, denn für angelieferte weibliche         Die Trächtigkeit verändert den Hormonhaushalt einer
Tiere besteht keine Auskunftspflicht, ob sie trächtig sind       Kuh. Folglich kann sie auch das essbare Gewebe mit
oder nicht; und bezahlt werden die Landwirte nicht               Steroidhormonen beeinflussen und belasten. Die »Pla­
nach Lebendgewicht des Tieres, sondern nach dem Ge­              zenta des Rindes produziert außerordentlich hohe Ös­
wicht des Schlachtkörpers, wie er nach Abschluss der             trogenmengen«, wie Helga Edith Greven 2008 in ihrer
vorhergehenden Arbeitsschritte am Haken hängt.                   Doktorarbeit schrieb.5 Die Östrogene (= Estrogene)

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Der kritische Agrarbericht 2015

werden noch am Entstehungsort durch Sulfatierung          Föten – als fühlende Wesen schutzbedürftig
inaktiviert, sind dann wasserlöslich (hydrophil) und
können deshalb mit dem Blutstrom in alle Körperge­        Als die Schlachtung trächtiger Tiere noch als Ausnah­
webe transportiert werden (nur nicht in das Innere von    me galt, gab es keinen Anlass, sich für den Schutz der
Zellen), und wenn sie in die Niere gelangen, werden sie   Ungeborenen ernsthaft einzusetzen. Das mag auch der
mit dem Harn ausgeschieden.                               Grund dafür sein, dass das deutsche Tierschutzgesetz
    Durch ein passendes Enzym kann die Inaktivierung      den Schutz der Ungeborenen noch nicht regelt. Das
der Östrogene jederzeit schnell aufgehoben werden.        ungeborene Tier gilt vielmehr als Teil seines Mutter­
Dann sind die Östrogene nicht mehr hydrophil, son­        tieres und wird bei der Schlachtung wie die Innereien
dern fettlöslich (lipophil) und können im Körperfett      aus dessen Körper entfernt. Doch das fortgeschrittene
gespeichert werden und mit ihm in die Milch gelangen,     Ungeborene kann in der Fruchtblase noch minuten­
doch sie können auch in Körperzellen und weiter in        lang im Todeskampf zappeln, bevor es erstickt. Wie
deren Zellkern hineingelangen. Treffen sie im Zellkern    lange ein Ungeborenes in der Fruchtblase ohne Hirn­
auf die passenden Rezeptoren (molekularen Empfän­         schädigung überleben kann, hängt von seinem Alter
ger), können sie das Aktivitätsmuster der Gene im         ab: Ein 90 Tage alter Rinderfötus (alle Organe schon
Zellkern in spezifischer Weise stark verändern. Das ist   ausgebildet) schafft es auf 55 Minuten, ein 135 Tage
z. B. am Ende der Trächtigkeit für die körperliche Vor­   ­alter Fötus auf zwölf Minuten, und kurz vor der Ge­
bereitung der Geburt und die Aktivierung der Milch­        burt sind es noch zwei Minuten.11 Das Sterben des Fö­
drüsen wichtig. Zu den potentesten Östrogenen gehört      tus innerhalb der Fruchtblase gilt als schonender als
das Östradiol-17ß, das vor allem am Ende der Trächtig­    außerhalb von ihr.
keit gebildet und aktiviert wird.                              Lange wurde gestritten, ob ein Fötus schon ein be­
    So wichtig diese Vorgänge für die Entwicklung und     wusstes Empfinden hat oder ob er sich bis zur Geburt
das Leben einer Frau oder eines anderen weiblichen        in einem Stadium der Bewusstlosigkeit befindet und
Säugetieres sind, so schädlich sind sie möglicherweise    deshalb keinen Schmerz empfinden kann. Doch Stu­
bei der hormonabhängigen Entwicklung von Krebs­           dien haben ergeben, dass ein Fötus auf unterschied­
arten wie Brustkrebs bei Frauen und Prostata- und         liche Reize mit der Ausschüttung von Stresshormonen
Hodenkrebs bei Männern.6 In diesem Sinne gilt vor         und verändertem Herzschlag ähnlich reagierte wie ein
allem Östradiol-17ß in vollem Umfang als karzinogen       neugeborenes Jungtier.12 Aus diesen Beobachtungen
(krebsfördernd oder -auslösend). Deshalb wurde es in       wurde geschlossen, dass Föten fühlende Wesen mit
Europa als Mastfördermittel verboten.7 Das geschah         ­eigenem Empfindungsvermögen sind. Deshalb haben
 auf Grund des Vorsichtsprinzips, das in der EU gilt,       sie wie alle anderen Tiere das Recht auf Euthanasie
 nicht aber in den USA. Denn wenn natürlich gebilde­        (wörtlich: schöner Tod, gemeint ist Erleichterung des
 tes, lipophiles Östradiol-17ß mit einem Fleisch- oder      Sterbens) und müssen deshalb schonend, d. h. mit
 Milchprodukt verzehrt wird, kann es durch die Darm­        vorhe­riger Betäubung getötet werden, wenn es denn
 wand hindurch in den Blutstrom gelangen und im             sein muss.13 Dieses Problem ist nicht einfach zu lösen,
 Fettgewebe des Körpers angereichert werden. Diese          aber es muss gelöst werden, wenn trächtige Tiere wei­
 Belastung kann zunehmen, wenn sich das Tier im letz­       terhin getötet werden.
 ten Drittel der Tragezeit befindet, denn dann kann
 Östradiol-17ß in Muskel, Leber, Niere und Fett über      Problem erkannt – erste Lösungsschritte
 hundertmal häufiger vorkommen als in den entspre­
 chenden Geweben nicht tragender Rinder.8 Aber auch       Die beiden Arbeiten von Riehn und Koautoren haben
in der Milch hochtragender Kühe kann Östradiol-17ß        zu mächtigen Dominoeffekten geführt. Endlich sind
in möglicherweise gesundheitsrelevanten Konzen­           die Augen geöffnet für ein Problem, das ungestört ein
trationen vorkommen.9 Wieweit sich der Verzehr von        überwältigendes Ausmaß annehmen konnte und trotz­
 Milch und Fleisch hochtragender Kühe auf die             dem bisher kaum wahrgenommen wurde. Das lag vor
 menschliche Gesundheit auswirkt, dazu besteht noch       allem an der fehlenden Berichtspflicht über die
 enormer Forschungsbedarf. Die Fachgruppe »Fleisch«       Schlachtung tragender Tiere. Doch in Fachkreisen ist
 des Bundesverbands der beamteten Tierärzte e.V.          das Problem schon seit zehn oder mehr Jahren be­
 (BbT) und andere Fachgruppen sehen jedenfalls kein       kannt.14 Jetzt, da Riehn und Koautoren das Problem
 erhöhten Risiko.10 Das Vorsichtsprinzip mag dennoch      im ganzen Ausmaß weithin bekannt gemacht haben,
gebieten, möglichen Gefahrenquellen frühzeitig in         schwillt der Chor derer an, die es schnellstmöglich ge­
­geeigneter Weise zu begegnen. Aber allein schon ethi­    löst haben wollen. »Schluss mit der Schlachtung träch­
 sche Argumente könnten für viele Menschen ausrei­        tiger Rinder!« Das forderte die Bundestierärztekam­
 chen, kein Fleisch von trächtig geschlachteten Kühen     mer in ihrer Presseinformation vom 26. März 2014.15
 zu verzehren.                                            Der Gesetz­geber sei gefragt, diese Forderung durch

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Tierschutz und Tierhaltung

klare gesetz­liche Regelungen durchzusetzen und end­              rechtlich einwandfreie Lösung des Problems. Schon
lich auch die Föten als »schutzbedürftige Lebewesen«              überraschend kleine Maßnahmen können weiterhel­
anzuerkennen, die »mindestens im letzten Drittel der              fen. Zu ihnen gehören die folgenden:
Trächtigkeit schmerzempfindlich sind und leiden«
können.                                                           ■■   Im Formblatt »Tierische Lebensmittel-Hygienever­
   Die Forderung der Bundestierärztekammer lässt                       ordnung nach Anlage 7 (zu § 10 Abs. 1)« muss die
sich leicht ausdehnen auf alle trächtigen Tiere. In die­               vorgeschriebene Standarderklärung für Tiere, die
sem Sinne erklärte die Bundesregierung im Mai 2014:                    zur Schlachtung abtransportiert werden sollen, er­
»Aus tierschutzfachlicher Sicht kann das Schlachten                    gänzt werden um die Mitteilung, ob und welche
hochträchtiger Tiere im letzten Drittel der Trächtigkeit               Tiere tragend sind und, wenn es sie gibt, in welchem
grundsätzlich nicht mehr hingenommen werden.«16                        Trächtigkeitsstadium sie sich befinden. Die Aus­
Und die Agrarminister der Bundesländer forderten auf                   kunft kann ein Tierhalter aus seinen Dokumenten
der deutschen Agrarministerkonferenz am 5. Septem­                     schnell ableiten, und der Hoftierarzt kann, wenn er­
ber 2014 die Bundesregierung auf, »sich auf nationaler                 forderlich, die Kontrolle schnell durchführen. Eine
und EU-Ebene für die Prüfung rechtlicher Bestim­                       Kontrolle auf dem Schlachthof käme zu spät für ein
mung zur Vermeidung von Schmerzen und Leiden                           trächtiges Tier.
auch bei Föten bzw. ungeborenen Kälbern in Zusam­                 ■■   Sollte ein trächtiges Tier trotz zu weit fortgeschritte­
menhang mit der Schlachtung gravider Rinder ein­                       ner Trächtigkeit geschlachtet werden, so muss vom
zusetzen«.17 Auch einige große Schlachthöfe stimmen                    Preis für dessen Schlachtgewicht ein Betrag abge­
in diesen Chor ein.                                                    zogen werden, gestaffelt nach ermitteltem Trächtig­
   Das Problem des Schlachtens trächtiger Tiere ist                    keitsstadium jenseits einer erlaubten Grenze (über
also in der Gesellschaft und bei ihren Verantwort­                     das Portemonnaie lässt sich viel regeln).
lichen mit voller Wucht angekommen. Es gibt kein                  ■■   Viele Käufer werden Fleisch von tragend geschlach­
Zurück mehr bei der Bewältigung des Problems. Frei­                    teten Tieren vermutlich ablehnen und stattdessen
willige Vereinbarungen zur Lösung des Problems gibt                    Fleisch von nicht trächtig geschlachteten Tieren be­
es schon jetzt, aber sie reichen bestenfalls für eine An­              vorzugen, selbst wenn sie dafür etwas mehr bezahlen
fangsphase aus. Schon weiter sind die Länder Nieder­                   müssen. Aus ethischen Gründen sind viele Men­
sachsen und Nordrhein-Westfalen: Sie ließen im Sep­                    schen dazu auch bereit. Ein entsprechender Hinweis
tember und Oktober 2014 wissen, dass sie das Schlach­                  auf der Ware könnte zu gelebter Ethik führen.
ten trächtiger Kühe verbieten werden.
   »Das Problem kann aber nur im Dialog mit den                   Übrigens: Das Schlachten trächtiger Tiere gehört zum
Landwirten und Schlachtbetrieben gelöst werden, denn              Alltag auf Schlachthöfen überall auf der Welt. In den
das Ganze muss auch praktikabel und umsetzbar sein.«              meisten Ländern sind rund zehn Prozent aller ge­
Dieser Mahnung der Bundestierärztekammer 18 bedarf                schlachteten weiblichen Rinder trächtig, in Einzelfäl­
es kaum noch, denn die Dialoge finden längst statt. Zu            len auch mehr.19 Unterschiede im Prozentsatz treten
sehr drängen alle Beteiligten auf eine schnelle und               nicht nur regional, sondern auch saisonal auf.

  Folgerungen    & Forderungen
   	Durch die Rechtsprechung muss klar und eindeutig ge­             zahlungspreis für den Schlachtkörper zu verringern,
     regelt werden, ab welchem Stadium tragende Tiere nicht           ­gestaffelt nach dem ermittelten Trächtigkeitsstadium
     zur Schlachtung abgeliefert werden dürfen. Als Grenze             jenseits einer erlaubten Grenze. Darüber hinaus sollte
     wäre das Ende des zweiten Drittels der Trächtigkeit un­           ein Vermerk erfolgen, um Landwirte h ­ erauszufiltern, die
     verzichtbar, aber das Ende des ersten Drittels wäre an­           mehrmals trächtige Tiere zum Schlachthof bringen. Ob
     gemessen analog zur gesetzlichen Regelung der Abtrei­             weitergehende Sanktionen erforderlich sind, muss aus­
     bung beim Menschen.                                               gehandelt werden.
   	Tierhalter müssen bei der Abgabe von Tieren zur               	Im Fall von tierseuchenrechtlich angeordneten Tötungen
     Schlachtung schriftlich bestätigen, dass die weiblichen          muss außer dem Muttertier auch das Ungeborene vor
     Tiere nicht tragend sind oder eine erlaubte Trächtigkeits­       der Tötung angemessen betäubt werden.
     grenze nicht überschreiten.                                   	Es müssen EU-einheitliche Regelungen erlassen werden,
   	Gelangen fortgeschritten trächtige Tiere wissentlich             die dem Schutz von Muttertieren und ungeborenen
     oder unwissentlich dennoch zum Schlachten, ist der Aus­         ­K älbern dienen.

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Der kritische Agrarbericht 2015

Anmerkungen                                                           11   Riehn et al. 2010 (siehe Anm. 3).
 1 K. Di Nicolo: Studie zum Eintrag von Hormonen in die mensch­       12   Ebd.
   liche Nahrungskette durch das Schlachten von trächtigen Rin­       13   Ebd.
   dern in der Europäischen Union am Beispiel von Luxemburg           14   Ebd.
   und Italien. Diss. Leipzig 2006.                                   15   Bundestierärztekammer: »Schluss mit der Schlachtung trächtiger
 2 »Milchquote überschritten. Deutschland muss Millionen-Strafe            Rinder. Bundestierärztekammer fordert gesetzliche Regelun­
   zahlen.« Deutsche Wirtschafts Nachrichten vom 2. Oktober 2013.          gen für ein Tierschutzproblem.« Presseinformation Nr. 8/2014
 3 K. Riehn et al.: Schlachtung gravider Rinder – ethische und             vom 26. März 2014.
   rechtliche Aspekte. In: Fleischwirtschaft 5 (2010), S. 100–110.    16   Deutscher Bundestag: Drucksache 18/1535 vom 26. Mai 2014, S. 4
 4 K. Riehn et al.: Schlachtung gravider Rinder – Aspekte der Ethik        (http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/015/1801535.pdf).
   und des gesundheitlichen Verbraucherschutzes. In: Tierärzt­        17   Agrarministerkonferenz am 5. September 2014 in Potsdam:
   liche Umschau 10 (2011), S. 391–405.                                    Ergebnisprotokoll. TOP 25: »Grundsätzliches Verbot der
 5 H. E. Greven: Hydrolyse und Transport sulfatierter Steroide in          Schlachtung gravider Rinder«, Zitat S. 41 f. (https://www.agrar­
   den Plazentomen des Rindes: Charakterisierung der Expression            ministerkonferenz.de/documents/Ergebnisprotokoll_AMK_
   und der Funktionen von Steroidsulfatase (StS) und des Sodium-           Potsdam_05-09-2014_endg.pdf).
   dependent Organic Anion Transporters (SOAT). Diss. Gießen 2008.    18   Bundestierärztekammer 2014 (siehe Anm. 14).
 6 Di Nicolo 2006 (siehe Anm. 1).                                     19   Riehn et al. 2010 (siehe Anm. 3).
 7 Riehn et al. 2011 (siehe Anm. 4).
 8 Kushinski 1983, referiert in Riehn et al. 2011 (siehe Anm. 4).
 9 K. Maruyama, T. Oshima, T. and K. Ohyama: Exposure to exoge­
   nous estrogen through intake of commercial milk produced
   from pregnant cows. In: Pediatric International 52 (2010),
   pp. 33–38.
10 W. Kulow: Erkenntnisse zur Schlachtung gravider Rinder. In:                             Prof. Dr. Sievert Lorenzen
   K. Riehn: Die Schlachtung tragender Nutztiere – Aspekte des                             Zoologe und seit Februar 2008 ehrenamtlicher
   Tierschutzes und Risikobewertung der additiven Hormon­                                  Vorstandsvorsitzender von PROVIEH-VgtM e.V.
   exposition (Vortrag auf dem BbT- Seminar in Fulda 2012). –
   K. Möhl et al.: Schlachtung gravider Rinder – Aspekte des Tier­                         Zoologisches Institut der Universität Kiel
   schutzes und Risikobewertung der additiven Hormonexposition,                            24098 Kiel
   in: Veterinary Public Health – Fleischhygiene, 2010, S. 330 ff.                         E-Mail: slorenzen@zoologie.uni-kiel.de

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