Das Schlachten trächtiger Tiere - Ein drängendes, bislang kaum wahrgenommenes Problem des Tier- und Verbraucherschutzes von Sievert Lorenzen
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Der kritische Agrarbericht 2015 Das Schlachten trächtiger Tiere Ein drängendes, bislang kaum wahrgenommenes Problem des Tier- und Verbraucherschutzes von Sievert Lorenzen Unbemerkt von der Öffentlichkeit wuchs in den letzten Jahren ein Problem heran, das uns alle ethisch und gesundheitlich berührt: das Schlachten trächtiger Tiere. Erfahrungen aus der Tra dition gibt es hierzu kaum. Umso heftiger hat die gegenwärtige Offenbarung der Problematik uns alle getroffen. Trächtige Tiere werden in vielen Fällen nicht versehentlich, sondern wissentlich der Schlachtung zugeführt, selbst wenn die Geburt schon zeitlich nah ist. Rund zehn Prozent der weib lichen Rinder, die in Deutschland geschlachtet werden, sind trächtig, überwiegend in einem fort geschrittenen Trächtigkeitsstadium. Pro Jahr sind dies in etwa 180.000 Tiere. Sanktionen sind kaum zu erwarten, da dieses Thema weder im Tierschutz- noch im Lebensmittelrecht klar geregelt ist. Abgesehen von der besonderen Tierschutzproblematik: Fleisch von hochtragenden geschlachteten Tieren ist mit Östrogenen belastet, die nach Verzehr im Körper angereichert werden können. Es wird darüber spekuliert, dass sie möglicherweise die Gefahr der hormonabhängigen Entstehung von Krebsarten erhöhen könnten. Derzeit wird auf verschiedenen Ebenen intensiv an einer Lösung des Problems gearbeitet. Ethische Leistungen gelten als nicht geldwert und wer braucht. Wegen dieser uralten Einsicht galten Schlach den deshalb gern aus dem Profitstreben von Konzernen tungen trächtiger Tiere jahrhundertelang und noch bis (einschließlich Finanzkonzernen) ausgeblendet. Den vor Kurzem als seltene Einzelfälle. Doch die Zeiten Gegenpol bilden Staat, Religionen oder andere gesell haben sich geändert. Früher hielt man überwiegend schaftliche Institutionen, in deren Fundament ethische Zweinutzungsrassen. Heute dagegen gilt ein männ Grundsätze fest verankert sind, z. B. im Grundgesetz. liches Bullenkalb von Hochleistungsmilchkühen als Zwischen beiden Polen findet immer wieder ein Kräf »Abfallprodukt der Milchindustrie«. Der Landwirt er temessen statt, ausgeführt von Lobbyisten der Konzer hält für dessen Verkauf nur wenig Geld. Der Tod dieser ne und von Interessenverbänden auf der einen Seite Kälber wird bei der Schlachtung der Muttertiere billi und von Ethikverfechtern auf der anderen. Zurzeit gend in Kauf genommen. Mittlerweile können trächti können die Lobbyisten die eindeutig längeren finan ge Tiere aus den verschiedensten – meist rein ökonomi ziellen Hebel bedienen, sodass ethische Grundsätze oft schen – Motiven zum Schlachter gebracht werden. Bei genug auf der Strecke bleiben. Das geschieht zum Nach den Rindern gehören zu den Motiven die folgenden: teil vieler Menschen, die finanziell oder anderweitig schwach sind. Aber auch die Nutztiere leiden, wenn ■■ Wenn trächtige Tiere nicht mehr die verlangten Profit vor Ethik gesetzt wird. Ein Beispiel soll hier näher Höchstleistungen erbringen, werden sie gern als beleuchtet werden: die Schlachtung trächtiger Tiere. Schlachtvieh entsorgt. ■■ Wenn der Rindfleischpreis hoch ist oder der Preis (Vermeintliche) Gründe für das Töten für junge Kälber niedrig, können vermehrt auch trächtiger Tiere trächtige Rinder geschlachtet werden. ■■ Wenn ein Milchbauer seinen Betrieb auflösen oder Früher konnte man sicher sein, dass trächtige Tiere von einem Krankheitsgeschehen befreien will, kann nicht ohne Not geschlachtet werden, denn der Nach er die ganze Herde einschließlich der tragenden wuchs wurde zur Existenzsicherung eines Betriebes ge Kühe zum Schlachten abgeben. 232
Tierschutz und Tierhaltung ■■ Die Besamung einer Kuh drei Monate vor ihrer Bislang unbekanntes Ausmaß Schlachtung gilt nach Auskunft einiger (anonymer) Tierärzte als eine effektive Masthilfe, weil das Wech Welches Ausmaß das Schlachten trächtiger Rinder zu selspiel von Auf- und Abbau von Muskelmasse zu Verzehrzwecken angenommen hat und welche ethi Gunsten des Aufbaus verschoben wird.1 Ob das an schen, rechtlichen und gesundheitlichen Aspekte hier einem Östrogeneffekt liegt oder daran, dass eine bei berührt werden, hat ein Autorenteam um die Pro trächtige Kuh wegen Ausbleiben von Brunst einfach fessorin Katharina Riehn 2010 in der Zeitschrift nur ruhiger und stressfreier ist, ist noch nicht geklärt. Fleischwirtschaft 3 und 2011 in der Tierärztlichen Um- ■■ Damoklesschwert Milchquote: In Deutschland wur schau 4 bekanntgemacht. Die Grundlage für die erst de die Milchquote (erlaubte Liefermenge von Milch genannte Arbeit lieferte eine Befragung deutscher pro Wirtschaftsjahr) im Wirtschaftsjahr 2012/13 um Schlachtbetriebe. 53 von ihnen gaben an, dass bei ihnen 0,1 Prozent (26.000 Tonnen) überschritten.2 Dafür trächtige Rinder regelmäßig geschlachtet werden. Alle muss Deutschland eine Geldstrafe von 7,2 Millionen erfassten Kühe gehörten der Milchviehrasse Holstein- Euro an die EU zahlen, die anteilig auf die Milchbau Friesian an, die durch ihr Schwarzweiß-Muster des ern umgelegt wird, die zu viel Milch geliefert haben. Fells auffallen (»schwarzbunt«) und auf höchste Milch Das sind 27,83 Euro pro 100 Kilogramm zu viel ge leistung gezüchtet wurden. Das Alter der geschlachte lieferter Milch. Droht einem Milchbauer eine solche ten trächtigen Rinder lag zwischen 17 und 127 Monaten Strafzahlung, kann er die Liefermenge von Milch und betrug im Mittel 57 Monate. Es wurden also auch rechtzeitig verringern – z. B. durch den Verkauf von trächtige Färsen (weibliche Jungrinder) und ausge Kühen, die z. B. zur Schlachtung kommen. Oft kön diente trächtige Milchkühe geschlachtet. Zu 90 Pro nen diese Kühe tragend sein, weil eine Milchkuh zent befanden sich die Tiere im 2. oder 3. Drittel der rund sechs Wochen nach der Geburt eines Kalbes Trächtigkeit. Die Ungeborenen können schon ein Fell schon wieder besamt und bis zur nächsten Trocken besitzen. Dass das 1. Drittel der Trächtigkeit so selten stehperiode noch rund sieben weitere Monate ge ermittelt wurde, mag an der geringen Größe der Lei molken wird. Mit Abschaffung der Milchquote zum besfrucht liegen, die nach Ansicht des Autorenteams April 2015 entfällt das Quotenmotiv für die Schlach deshalb leicht unbemerkt bleiben kann. tung trächtiger Milchkühe. Der Anteil tragend geschlachteter Rinder betrug in ■■ In der Biobranche oder in anderen Betrieben mit den 53 befragten Schlachtbetrieben je nach Saison bis Mutterkuhhaltung kann es Probleme geben, wenn zu 15 Prozent. Große Rinderschlachthöfe müssen drei- ein geschlechtsreifes männliches Kalb ein weibliches bis viermal jährlich erleben, dass eine trächtige Kuh ihr Rind unbemerkt deckt und die Trächtigkeit vor der Kalb auf dem Schlachthof oder dem Transport dorthin Schlachtung nicht festgestellt wird. zur Welt bringt. In solchen Fällen dürfen weder die ■■ Ein Sonderproblem ist die angeordnete Tötung gan Kuh noch ihr Kalb den Schlachthof lebend verlassen, zer Herden einschließlich der trächtigen Tiere aus das ist gesetzlich festgelegt. Also werden sie getötet. tierseuchenrechtlichen Gründen. Dies widerspricht allerdings dem Tierschutzgesetz, das grundsätzlich einen »vernünftigen Grund« für die Tö In allen Fällen ist die Tötung trächtiger Tiere eine tung eines Tieres verlangt. Doch nicht das gilt derzeit rechtliche Grauzone. Es fehlen eindeutige Regelungen als Rechtsverstoß, sondern dass die Kuh zum Schlacht zum Umgang mit dem Muttertier und dem ungebo hof transportiert wurde, denn die EU-Verordnung renen Kalb. Die aktuell geltenden rechtlichen Bestim 1/2005 (»Schutz von Tieren beim Transport«) verbietet mungen – Tierschutzgesetz, Tiertransportverordnung ausdrücklich den Transport weiblicher Tiere, die sich und Tierschutzschlachtverordnung – sind nur sehr im fortgeschrittenen Gestationsstadium (90 Prozent vage formuliert. Schlachttiere müssen zuvor nur als oder mehr) befinden oder um Tiere, die vor weniger transportfähig beurteilt worden sein. Nur für Kühe ab als sieben Tagen niedergekommen sind. Doch selbst einem Trächtigkeitsstadium vom 90 Prozent oder solche Verstöße bleiben bisher ungeahndet wegen mehr gilt ein Transportverbot. Der exakte Zeitpunkt schwammiger Rechtslage. des Trächtigkeitsstadiums lässt sich jedoch nur schwer bestimmen. Der Schlachtbetrieb seinerseits geht mit Risikobewertung des Fleisches dem Schlachten trächtiger Tiere kein rechtliches oder finanzielles Risiko ein, denn für angelieferte weibliche Die Trächtigkeit verändert den Hormonhaushalt einer Tiere besteht keine Auskunftspflicht, ob sie trächtig sind Kuh. Folglich kann sie auch das essbare Gewebe mit oder nicht; und bezahlt werden die Landwirte nicht Steroidhormonen beeinflussen und belasten. Die »Pla nach Lebendgewicht des Tieres, sondern nach dem Ge zenta des Rindes produziert außerordentlich hohe Ös wicht des Schlachtkörpers, wie er nach Abschluss der trogenmengen«, wie Helga Edith Greven 2008 in ihrer vorhergehenden Arbeitsschritte am Haken hängt. Doktorarbeit schrieb.5 Die Östrogene (= Estrogene) 233
Der kritische Agrarbericht 2015 werden noch am Entstehungsort durch Sulfatierung Föten – als fühlende Wesen schutzbedürftig inaktiviert, sind dann wasserlöslich (hydrophil) und können deshalb mit dem Blutstrom in alle Körperge Als die Schlachtung trächtiger Tiere noch als Ausnah webe transportiert werden (nur nicht in das Innere von me galt, gab es keinen Anlass, sich für den Schutz der Zellen), und wenn sie in die Niere gelangen, werden sie Ungeborenen ernsthaft einzusetzen. Das mag auch der mit dem Harn ausgeschieden. Grund dafür sein, dass das deutsche Tierschutzgesetz Durch ein passendes Enzym kann die Inaktivierung den Schutz der Ungeborenen noch nicht regelt. Das der Östrogene jederzeit schnell aufgehoben werden. ungeborene Tier gilt vielmehr als Teil seines Mutter Dann sind die Östrogene nicht mehr hydrophil, son tieres und wird bei der Schlachtung wie die Innereien dern fettlöslich (lipophil) und können im Körperfett aus dessen Körper entfernt. Doch das fortgeschrittene gespeichert werden und mit ihm in die Milch gelangen, Ungeborene kann in der Fruchtblase noch minuten doch sie können auch in Körperzellen und weiter in lang im Todeskampf zappeln, bevor es erstickt. Wie deren Zellkern hineingelangen. Treffen sie im Zellkern lange ein Ungeborenes in der Fruchtblase ohne Hirn auf die passenden Rezeptoren (molekularen Empfän schädigung überleben kann, hängt von seinem Alter ger), können sie das Aktivitätsmuster der Gene im ab: Ein 90 Tage alter Rinderfötus (alle Organe schon Zellkern in spezifischer Weise stark verändern. Das ist ausgebildet) schafft es auf 55 Minuten, ein 135 Tage z. B. am Ende der Trächtigkeit für die körperliche Vor alter Fötus auf zwölf Minuten, und kurz vor der Ge bereitung der Geburt und die Aktivierung der Milch burt sind es noch zwei Minuten.11 Das Sterben des Fö drüsen wichtig. Zu den potentesten Östrogenen gehört tus innerhalb der Fruchtblase gilt als schonender als das Östradiol-17ß, das vor allem am Ende der Trächtig außerhalb von ihr. keit gebildet und aktiviert wird. Lange wurde gestritten, ob ein Fötus schon ein be So wichtig diese Vorgänge für die Entwicklung und wusstes Empfinden hat oder ob er sich bis zur Geburt das Leben einer Frau oder eines anderen weiblichen in einem Stadium der Bewusstlosigkeit befindet und Säugetieres sind, so schädlich sind sie möglicherweise deshalb keinen Schmerz empfinden kann. Doch Stu bei der hormonabhängigen Entwicklung von Krebs dien haben ergeben, dass ein Fötus auf unterschied arten wie Brustkrebs bei Frauen und Prostata- und liche Reize mit der Ausschüttung von Stresshormonen Hodenkrebs bei Männern.6 In diesem Sinne gilt vor und verändertem Herzschlag ähnlich reagierte wie ein allem Östradiol-17ß in vollem Umfang als karzinogen neugeborenes Jungtier.12 Aus diesen Beobachtungen (krebsfördernd oder -auslösend). Deshalb wurde es in wurde geschlossen, dass Föten fühlende Wesen mit Europa als Mastfördermittel verboten.7 Das geschah eigenem Empfindungsvermögen sind. Deshalb haben auf Grund des Vorsichtsprinzips, das in der EU gilt, sie wie alle anderen Tiere das Recht auf Euthanasie nicht aber in den USA. Denn wenn natürlich gebilde (wörtlich: schöner Tod, gemeint ist Erleichterung des tes, lipophiles Östradiol-17ß mit einem Fleisch- oder Sterbens) und müssen deshalb schonend, d. h. mit Milchprodukt verzehrt wird, kann es durch die Darm vorheriger Betäubung getötet werden, wenn es denn wand hindurch in den Blutstrom gelangen und im sein muss.13 Dieses Problem ist nicht einfach zu lösen, Fettgewebe des Körpers angereichert werden. Diese aber es muss gelöst werden, wenn trächtige Tiere wei Belastung kann zunehmen, wenn sich das Tier im letz terhin getötet werden. ten Drittel der Tragezeit befindet, denn dann kann Östradiol-17ß in Muskel, Leber, Niere und Fett über Problem erkannt – erste Lösungsschritte hundertmal häufiger vorkommen als in den entspre chenden Geweben nicht tragender Rinder.8 Aber auch Die beiden Arbeiten von Riehn und Koautoren haben in der Milch hochtragender Kühe kann Östradiol-17ß zu mächtigen Dominoeffekten geführt. Endlich sind in möglicherweise gesundheitsrelevanten Konzen die Augen geöffnet für ein Problem, das ungestört ein trationen vorkommen.9 Wieweit sich der Verzehr von überwältigendes Ausmaß annehmen konnte und trotz Milch und Fleisch hochtragender Kühe auf die dem bisher kaum wahrgenommen wurde. Das lag vor menschliche Gesundheit auswirkt, dazu besteht noch allem an der fehlenden Berichtspflicht über die enormer Forschungsbedarf. Die Fachgruppe »Fleisch« Schlachtung tragender Tiere. Doch in Fachkreisen ist des Bundesverbands der beamteten Tierärzte e.V. das Problem schon seit zehn oder mehr Jahren be (BbT) und andere Fachgruppen sehen jedenfalls kein kannt.14 Jetzt, da Riehn und Koautoren das Problem erhöhten Risiko.10 Das Vorsichtsprinzip mag dennoch im ganzen Ausmaß weithin bekannt gemacht haben, gebieten, möglichen Gefahrenquellen frühzeitig in schwillt der Chor derer an, die es schnellstmöglich ge geeigneter Weise zu begegnen. Aber allein schon ethi löst haben wollen. »Schluss mit der Schlachtung träch sche Argumente könnten für viele Menschen ausrei tiger Rinder!« Das forderte die Bundestierärztekam chen, kein Fleisch von trächtig geschlachteten Kühen mer in ihrer Presseinformation vom 26. März 2014.15 zu verzehren. Der Gesetzgeber sei gefragt, diese Forderung durch 234
Tierschutz und Tierhaltung klare gesetzliche Regelungen durchzusetzen und end rechtlich einwandfreie Lösung des Problems. Schon lich auch die Föten als »schutzbedürftige Lebewesen« überraschend kleine Maßnahmen können weiterhel anzuerkennen, die »mindestens im letzten Drittel der fen. Zu ihnen gehören die folgenden: Trächtigkeit schmerzempfindlich sind und leiden« können. ■■ Im Formblatt »Tierische Lebensmittel-Hygienever Die Forderung der Bundestierärztekammer lässt ordnung nach Anlage 7 (zu § 10 Abs. 1)« muss die sich leicht ausdehnen auf alle trächtigen Tiere. In die vorgeschriebene Standarderklärung für Tiere, die sem Sinne erklärte die Bundesregierung im Mai 2014: zur Schlachtung abtransportiert werden sollen, er »Aus tierschutzfachlicher Sicht kann das Schlachten gänzt werden um die Mitteilung, ob und welche hochträchtiger Tiere im letzten Drittel der Trächtigkeit Tiere tragend sind und, wenn es sie gibt, in welchem grundsätzlich nicht mehr hingenommen werden.«16 Trächtigkeitsstadium sie sich befinden. Die Aus Und die Agrarminister der Bundesländer forderten auf kunft kann ein Tierhalter aus seinen Dokumenten der deutschen Agrarministerkonferenz am 5. Septem schnell ableiten, und der Hoftierarzt kann, wenn er ber 2014 die Bundesregierung auf, »sich auf nationaler forderlich, die Kontrolle schnell durchführen. Eine und EU-Ebene für die Prüfung rechtlicher Bestim Kontrolle auf dem Schlachthof käme zu spät für ein mung zur Vermeidung von Schmerzen und Leiden trächtiges Tier. auch bei Föten bzw. ungeborenen Kälbern in Zusam ■■ Sollte ein trächtiges Tier trotz zu weit fortgeschritte menhang mit der Schlachtung gravider Rinder ein ner Trächtigkeit geschlachtet werden, so muss vom zusetzen«.17 Auch einige große Schlachthöfe stimmen Preis für dessen Schlachtgewicht ein Betrag abge in diesen Chor ein. zogen werden, gestaffelt nach ermitteltem Trächtig Das Problem des Schlachtens trächtiger Tiere ist keitsstadium jenseits einer erlaubten Grenze (über also in der Gesellschaft und bei ihren Verantwort das Portemonnaie lässt sich viel regeln). lichen mit voller Wucht angekommen. Es gibt kein ■■ Viele Käufer werden Fleisch von tragend geschlach Zurück mehr bei der Bewältigung des Problems. Frei teten Tieren vermutlich ablehnen und stattdessen willige Vereinbarungen zur Lösung des Problems gibt Fleisch von nicht trächtig geschlachteten Tieren be es schon jetzt, aber sie reichen bestenfalls für eine An vorzugen, selbst wenn sie dafür etwas mehr bezahlen fangsphase aus. Schon weiter sind die Länder Nieder müssen. Aus ethischen Gründen sind viele Men sachsen und Nordrhein-Westfalen: Sie ließen im Sep schen dazu auch bereit. Ein entsprechender Hinweis tember und Oktober 2014 wissen, dass sie das Schlach auf der Ware könnte zu gelebter Ethik führen. ten trächtiger Kühe verbieten werden. »Das Problem kann aber nur im Dialog mit den Übrigens: Das Schlachten trächtiger Tiere gehört zum Landwirten und Schlachtbetrieben gelöst werden, denn Alltag auf Schlachthöfen überall auf der Welt. In den das Ganze muss auch praktikabel und umsetzbar sein.« meisten Ländern sind rund zehn Prozent aller ge Dieser Mahnung der Bundestierärztekammer 18 bedarf schlachteten weiblichen Rinder trächtig, in Einzelfäl es kaum noch, denn die Dialoge finden längst statt. Zu len auch mehr.19 Unterschiede im Prozentsatz treten sehr drängen alle Beteiligten auf eine schnelle und nicht nur regional, sondern auch saisonal auf. Folgerungen & Forderungen Durch die Rechtsprechung muss klar und eindeutig ge zahlungspreis für den Schlachtkörper zu verringern, regelt werden, ab welchem Stadium tragende Tiere nicht gestaffelt nach dem ermittelten Trächtigkeitsstadium zur Schlachtung abgeliefert werden dürfen. Als Grenze jenseits einer erlaubten Grenze. Darüber hinaus sollte wäre das Ende des zweiten Drittels der Trächtigkeit un ein Vermerk erfolgen, um Landwirte h erauszufiltern, die verzichtbar, aber das Ende des ersten Drittels wäre an mehrmals trächtige Tiere zum Schlachthof bringen. Ob gemessen analog zur gesetzlichen Regelung der Abtrei weitergehende Sanktionen erforderlich sind, muss aus bung beim Menschen. gehandelt werden. Tierhalter müssen bei der Abgabe von Tieren zur Im Fall von tierseuchenrechtlich angeordneten Tötungen Schlachtung schriftlich bestätigen, dass die weiblichen muss außer dem Muttertier auch das Ungeborene vor Tiere nicht tragend sind oder eine erlaubte Trächtigkeits der Tötung angemessen betäubt werden. grenze nicht überschreiten. Es müssen EU-einheitliche Regelungen erlassen werden, Gelangen fortgeschritten trächtige Tiere wissentlich die dem Schutz von Muttertieren und ungeborenen oder unwissentlich dennoch zum Schlachten, ist der Aus K älbern dienen. 235
Der kritische Agrarbericht 2015 Anmerkungen 11 Riehn et al. 2010 (siehe Anm. 3). 1 K. Di Nicolo: Studie zum Eintrag von Hormonen in die mensch 12 Ebd. liche Nahrungskette durch das Schlachten von trächtigen Rin 13 Ebd. dern in der Europäischen Union am Beispiel von Luxemburg 14 Ebd. und Italien. Diss. Leipzig 2006. 15 Bundestierärztekammer: »Schluss mit der Schlachtung trächtiger 2 »Milchquote überschritten. Deutschland muss Millionen-Strafe Rinder. Bundestierärztekammer fordert gesetzliche Regelun zahlen.« Deutsche Wirtschafts Nachrichten vom 2. Oktober 2013. gen für ein Tierschutzproblem.« Presseinformation Nr. 8/2014 3 K. Riehn et al.: Schlachtung gravider Rinder – ethische und vom 26. März 2014. rechtliche Aspekte. In: Fleischwirtschaft 5 (2010), S. 100–110. 16 Deutscher Bundestag: Drucksache 18/1535 vom 26. Mai 2014, S. 4 4 K. Riehn et al.: Schlachtung gravider Rinder – Aspekte der Ethik (http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/015/1801535.pdf). und des gesundheitlichen Verbraucherschutzes. In: Tierärzt 17 Agrarministerkonferenz am 5. September 2014 in Potsdam: liche Umschau 10 (2011), S. 391–405. Ergebnisprotokoll. TOP 25: »Grundsätzliches Verbot der 5 H. E. Greven: Hydrolyse und Transport sulfatierter Steroide in Schlachtung gravider Rinder«, Zitat S. 41 f. (https://www.agrar den Plazentomen des Rindes: Charakterisierung der Expression ministerkonferenz.de/documents/Ergebnisprotokoll_AMK_ und der Funktionen von Steroidsulfatase (StS) und des Sodium- Potsdam_05-09-2014_endg.pdf). dependent Organic Anion Transporters (SOAT). Diss. Gießen 2008. 18 Bundestierärztekammer 2014 (siehe Anm. 14). 6 Di Nicolo 2006 (siehe Anm. 1). 19 Riehn et al. 2010 (siehe Anm. 3). 7 Riehn et al. 2011 (siehe Anm. 4). 8 Kushinski 1983, referiert in Riehn et al. 2011 (siehe Anm. 4). 9 K. Maruyama, T. Oshima, T. and K. Ohyama: Exposure to exoge nous estrogen through intake of commercial milk produced from pregnant cows. In: Pediatric International 52 (2010), pp. 33–38. 10 W. Kulow: Erkenntnisse zur Schlachtung gravider Rinder. In: Prof. Dr. Sievert Lorenzen K. Riehn: Die Schlachtung tragender Nutztiere – Aspekte des Zoologe und seit Februar 2008 ehrenamtlicher Tierschutzes und Risikobewertung der additiven Hormon Vorstandsvorsitzender von PROVIEH-VgtM e.V. exposition (Vortrag auf dem BbT- Seminar in Fulda 2012). – K. Möhl et al.: Schlachtung gravider Rinder – Aspekte des Tier Zoologisches Institut der Universität Kiel schutzes und Risikobewertung der additiven Hormonexposition, 24098 Kiel in: Veterinary Public Health – Fleischhygiene, 2010, S. 330 ff. E-Mail: slorenzen@zoologie.uni-kiel.de 236
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