Diakonie ohne Zivildienst - Positionspapier Für den Fall der Beendigung des Zivildienstes Stuttgart, September 2010

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Diakonie ohne Zivildienst - Positionspapier Für den Fall der Beendigung des Zivildienstes Stuttgart, September 2010
Diakonie
ohne Zivildienst

Positionspapier
Für den Fall der Beendigung
                              W ü r t t e m b e r g
des Zivildienstes
Stuttgart, September 2010
Diakonie ohne Zivildienst - Positionspapier Für den Fall der Beendigung des Zivildienstes Stuttgart, September 2010
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Diakonie ohne Zivildienst
Arbeits- und Positionspapier des Diakonischen Werks Württemberg
für den Fall der Beendigung des Zivildienstes

Vorwort

Seit dem Koalitionsbeschluss vom Herbst 2009, in dem die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP eine
weitere Verkürzung der Wehrpflicht auf sechs Monate beschlossen haben, allerspätestens jedoch seit der
Haushaltskonsolidierungsdiskussion im Frühjahr 2010 erscheint das Aus für die Wehrpflicht immer
wahrscheinlicher.

Deshalb ist es im Vorfeld notwendig, sorgfältig zu analysieren, was der Verzicht auf Zivildienstleistende für
die Diakonie bedeuten würde; und Ideen und Konzepte für diesen Fall zu entwickeln.

Das vorliegende Arbeits- und Positionspapier des Diakonischen Werks Württemberg dient den Gremien
des Diakonischen Werks, den Zivildienststellen und der interessierten Öffentlichkeit als Diskussionsgrund-
lage und Entscheidungshilfe in der Debatte um die Verkürzung und Aussetzung des Zivildienstes sowie der
Bewältigung der Folgen.

Es wurde in Zusammenarbeit mit dem Beirat Zivildienst des Diakonischen Werks Württemberg erstellt.
Mitglieder im Beirat sind Vertreterinnen und Vertreter der Einrichtungen, des Pfarramts der Evangelischen
Landeskirche in Württemberg für Friedensarbeit, Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende und der
Landesgeschäftsstelle.

Das Diakonische Werk Württemberg verfolgt keine politischen Ziele in Sachen Wehrpflicht. Weder tritt es
für den Erhalt der Wehrpflicht und damit des Zivildienstes ein, noch fordert es eine Aussetzung oder Ab-
schaffung. Vielmehr betrachtet die Diakonie den Zivildienst als einen staatlichen Pflichtdienst, den es – so
lange es ihn gibt – möglichst sinnvoll und nutzbringend zu gestalten gilt, und zwar zum Wohle aller Betei-
ligten: der jungen Männer, der Dienststellen und Einrichtungen und vor allem der betreuten Menschen.

Der Zivildienst ist historisch gesehen ein Friedensdienst. Er wurde als gewaltfreie Alternative zum Wehr-
dienst geschaffen und bietet allen jungen Männern, die von ihrem Grundrecht der Kriegsdienstverwei-
gerung Gebrauch machen, sinnvolle Einsatzmöglichkeiten. Für die evangelische Kirche und ihre Diakonie
ist dies besonders wichtig und erklärt ihr Engagement für eine gute Ausgestaltung des Dienstes.

Politischer Hintergrund

Der Zivildienst ist in seinem Fortbestand von der Entwicklung des Wehrdienstes abhängig. Die Entschei-
dung für die Abschaffung oder die Aussetzung der Wehrpflicht gilt automatisch auch für den Zivildienst.
Begründet ist die Dienstpflicht in Artikel 12a, Absatz 2 des Grundgesetzes. Er definiert den Zivildienst als
“Ersatz”-Dienst für einen aus Gewissensgründen nicht geleisteten Kriegsdienst. Wenn keine Wehrpflicht
mehr besteht, bedarf es auch keines Ersatzes mehr. Andere Formen des Zwangsdienstes untersagt das
Grundgesetz im Artikel 12, Absatz 2.
Dennoch bedarf es für den Wegfall der Wehrpflicht nicht einmal einer Grundgesetzänderung. Es reicht die
Änderung des Wehrpflichtgesetzes mit einfacher Mehrheit im Bundestag. Im Wehrpflichtgesetz steht, dass
junge Männer zum Wehrdienst einberufen werden können. Von einem Muss ist nicht die Rede.
Die im Bundestag vertretenen Parteien haben zum Fortbestand der Wehrpflicht unterschiedliche Auffas-
sungen. Innerhalb der Union scheint der Rückhalt für die Wehrpflicht am größten. Es sind aber erste
Stimmen zu vernehmen, die insbesondere unter dem Spar- und Reformdruck in Sachen Bundeswehr eine
Aussetzung zumindest nicht kategorisch ausschließen. Innerhalb der SPD scheint sich mittlerweile die
Haltung durchgesetzt zu haben, für einen freiwilligen Wehrdienst zu votieren. Dieser Ansatz firmiert auch
unter der Bezeichnung „Skandinavisches Modell“. Es sieht vor, dass junge Männer nur dann pflichtweise
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zum Dienst herangezogen werden, wenn sich nicht genügend Freiwillige melden. Die FDP plädiert für eine
Aussetzung der Wehrpflicht. Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei sind für eine Abschaffung der Wehr-
pflicht.
Eine jüngst eingesetzte Kommission soll Verteidigungsminister zu Guttenberg bis September 2010 Vor-
schläge zur Neustrukturierung und Effektivierung der Streitkräfte liefern. Die Frage der Wehrpflicht wird
dabei eine entscheidende Rolle spielen.

Aktuelle Situation in der Diakonie Württemberg

Im Jahr 2009 haben 1785 Zivildienstleistende ihren Dienst in Einrichtungen der württembergischen Dia-
konie abgeleistet. Eine im Vergleich zu anderen Verbänden ungewöhnlich große Zahl leistet einen unmit-
telbaren Dienst am Menschen. Es waren 981 Zivildienstleistende in der Pflege und Betreuung beschäftigt,
was einem Prozentsatz von 55 % entspricht. (Quelle: Platzbelegungsstatistik der Verwaltungsstelle Zivil-
dienst vom 10.12.2009)

Die Diakonie Württemberg beschäftigte 2009 rund 40.000 Hauptamtliche auf rund 28.500 Stellen und zähl-
te im Jahresschnitt 1239 Zivildienstleistende. Umgerechnet auf Vollzeitstellen machen Zivildienstleistene
einen Anteil von ca. 4,3 Prozent an der gesamten Mitarbeiterschaft aus. Diese Zahl variiert nach Einsatzort
und Fachbereich ganz erheblich. (Quelle: Pressestelle und Platzbelegungsstatistik der Verwaltungsstelle
für Zivildienst des Diakonischen Werks Württemberg)

Im Frühjahr 2010 führte das Diakonische Werk Württemberg eine repräsentative Umfrage unter ihren Ein-
satzstellen zur Zukunft des Zivildienstes unter veränderten Bedingungen (Verkürzung der Dienstdauer auf
sechs Monate) durch. Darin ging es unter Anderem um die Motivation, Zivildienstleistende einzustellen:

 Aus diakonischer Sicht ist es erfreulich, dass neben dem ganz praktischen Interesse, die Hauptamtlichen
durch Zivildienstleistende entlasten zu wollen, bei den Einrichtungen auch jugendpolitische Gedanken
eine wichtige Rolle spielen. Ein sehr hoher Prozentsatz gab an, dass die Ermöglichung einer Lernerfah-
rung bei der Entscheidung für einen ZDL eine sehr wichtige Motivation darstellt.
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Des Weiteren wurden die Einrichtungen gefragt, ob und wenn ja, welche Alternativen zum Einsatz von
Zivildienstleistenden geplant sind.

Das Ergebnis zeigt, dass die Einrichtungen den Wegfall des Zivildienstes am ehesten mit FSJ-Plätzen
kompensieren würden.
Es ist zu bedenken, dass sich sowohl die Finanzierung (siehe Kapitel „Ökonomische Überlegungen“) als
auch die Rahmenbedingungen der möglichen Alternativen unterscheiden. Die wichtigsten Unterschiede
lassen sich folgendermaßen darstellen:
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Ökonomische Überlegungen

Im Rahmen der Überlegungen, welche Konsequenzen die betroffenen Einrichtungen beim Wegfall von
Zivildienstleistenden tragen müssen, spielt die Finanzierung eine zentrale Rolle. Immer wieder kommt die
Frage auf, welche Kosten für entsprechende Alternativen entstehen würden.
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Betriebswirtschaftliche Betrachtung

Zunächst soll eine Übersicht darüber gegeben werden, was ein Zivildienstplatz betriebswirtschaftlich für die
Einrichtung momentan ausmacht und was Festanstellungen nach TVöD-Württemberg kosten würden.
Außerdem wird als weitere Größe das FSJ herangezogen, welches für die Einsatzstellen die wichtigste
Alternative ist.

Kostenvergleich (Stand 2010)

*      Mitarbeiter mit einfacher Tätigkeit im Haus, Reinigungs- und Küchendienst oder gärtnerisch tätige
       Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne Fachausbildung
**     Gesamtbetrag (Taschengeld, Verpflegung) der monatlichen Aufwendungen für das FSJ, der aller-
       dings durch die Differenz zwischen den Sachbezugswerten und den tatsächlichen Kosten für Sach-
       leistungen relativiert wird.
***    Stand Januar 2010 mit 9-monatiger Zivildienstdauer: auf 6 Monate heruntergerechnet Mobilitätszu-
       schlag und Restbetrag des Entlassgeldes (Einmalsonderzahlung) bleiben unberücksichtigt, da Er-
       stattung durch das Bundesamt erfolgt. Der Kostenpunkt Verwaltungskosten etc. stellt einen
       Erfahrungswert dar.
       Bruttoverdienst beinhaltet Sold, Kleidergeld und Verpflegungsgeld für 6 Monate; Erstattung durch das
       Bundesamt ist eingerechnet.
****   stellt einen Erfahrungswert dar. Hier können sich je nach individueller Situation des Freiwilligen/
       Zivildienstleistenden oder der Einsatzstelle zum Teil erhebliche Abweichungen ergeben.

Die Übersicht macht deutlich, dass Festanstellungen im Vergleich zu einem Zivildienstleistenden mehr als
das Dreifache an Personalkosten verursachen. Als wesentlich günstiger erweisen sich Freiwillige im FSJ,
wobei diese kostenmäßig etwas stärker zu Buche schlagen als Zivildienstleistende.

Zivildienstleistende übernehmen in der Regel keine Aufgaben von Fachkräften und sind deshalb
arbeitsmarktneutral. Ihr Wegfall würde aber bedeuten, dass viele zusätzliche Aufgaben, oft sozialer oder
kommunikativer Art, nicht mehr gewährleistet sind. In der Summe wäre dies im sozialen Bereich deutlich
spürbar und kann nicht allein durch freiwilliges Engagement kompensiert werden.

Es muss an dieser Stelle deutlich darauf hingewiesen werden, dass diese Aufstellung nur die
monatlichen Personalkosten vergleicht. Natürlich lässt sich je nach Einsatzgebiet und fachlicher
Anforderung nicht jeder Festangestellter einfach durch einen oder mehrere Zivildienstleistende
ersetzen.
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Auch kann hier nicht generell beziffert werden, welche Auswirkungen der Wegfall des Zivildienstes auf
Pflegesatzverhandlungen hätte. In diakonischen Einrichtungen ist nur ein kleiner Teil der Dienstleistenden
mit Tätigkeiten betraut, die über Pflegesätze refinanziert werden. In der Summe sind die durch den Wegfall
entstehenden Mehrkosten deshalb vermutlich gering. In Einzelfällen, beispielsweise dort, wo Einrichtungen
ZDL in der Pflegehilfe einsetzen, können sich erhebliche Steigerungen ergeben, da alle alternativen An-
stellungsarten höhere Kosten verursachen.

Mehrwert des Zivildienstleistenden

Neben den betriebswirtschaftlichen Überlegungen müssen zum Vergleich der Alternativen noch weitere
Faktoren herangezogen werden:

„Arbeitspraktischer“ Wert
Zivildienstleistende sind häufig allein schon wegen ihrer Physis sehr wertvoll, beispielsweise in Arbeitszu-
sammenhängen, wo sonst keine Männer beschäftigt sind. Speziell im Bereich der Betreuung von Kindern
und Jugendlichen sind Zivildienstleistende als männliche Mitarbeiter besonders wertvoll, da sie ein ande-
res, männliches Rollenbild verkörpern. Ebenso könnte ein Zivildienstleistender beispielsweise in einer
Werkstatt für behinderte Menschen ein junger Mann mit Berufsausbildung als Schreiner oder Mechatroni-
ker sein, der dann einen immens hohen arbeitspraktischen Wert mitbringen würde.

Ideeller Wert
Durch seine besondere Aufgabenstellung (zusätzlicher Einsatz; Arbeitsmarktneutralität) hat der Zivildienst
eine besondere Bedeutung in vielen Einsatzfeldern. So haben Zivildienstleistende durch ihr Alter, ihr grö-
ßeres Zeitbudget, ihre größeren Spielräume und ihre Kreativität eine enorme Bereicherung. Besonders
durch den begrenzten Einsatzzeitraum entsteht oft eine besondere Einsatzbereitschaft.

Arbeitsmarktpolitische Relevanz
Abseits der reinen Kosten muss bei einem Wegfall des Zivildienstes immer auch beachtet werden, ob am
Arbeitsmarkt eine entsprechend große Zahl an helfenden Händen verfügbar wäre. Es darf zumindest be-
zweifelt werden, dass es kurzfristig gelingen kann, einen solchen Wegfall zu kompensieren. Auch durch
ehrenamtliches Engagement werden sich die Lücken nicht schließen lassen.

Volkswirtschaftliche Betrachtung

Man kann die Bedeutung des Zivildienstes auch einer volkswirtschaftlichen Betrachtung unterziehen. Hier-
bei ist zu untersuchen, welche Kosten bei welchem Nutzen der Zivildienst insgesamt verursacht, d.h. wel-
che Mittel gegebenenfalls aufkommensneutral für seine Kompensation zur Verfügung stehen könnten. Ob
eine Mittelumschichtung in Anbetracht unterschiedlicher föderaler Zuständigkeiten gelingen kann ist zu-
mindest skeptisch einzuschätzen.

Der Wertschöpfung durch den Einsatz von Zivildienstleistenden stehen dabei verschiedene Ausgaben ge-
genüber, die über die reinen Kosten, die der Zivildienst selbst verursacht, hinausgehen. Dazu zählen Ein-
nahmeverluste, die beim Einsatz hauptamtlicher Kräfte nicht auftreten würden, zum Beispiel
Sozialversicherungsbeiträge und Steuern. Ebenfalls müssten die Kosten betrachtet werden, die der Staat
für die Verwaltung und Begleitung der Dienstleistenden aufwendet. Hierzu zählen die Kosten für die Mus-
terungsbehörden, die entsprechenden Fachabteilungen im Bundesfamilienministerium, das Bundesamt für
den Zivildienst in Köln mit rund 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Regionalbetreuer sowie die
derzeit 15 Zivildienstschulen. Ebenso müssten die Kosten betrachtet werden, die der Bund den freien
Trägern für die fachliche Einführung zur Verfügung stellt.
Diese Berechnungen können wir im Rahmen unseres Papiers nicht leisten. Es ist aber wichtig, darauf
hinzuweisen, dass der ausschließliche Blick auf die unmittelbaren Kosten, die der Einsatz der Zivildienst-
leistenden verursacht, nicht ausreicht. Unter Einbeziehung volkswirtschaftlicher Gesichtspunkte ist der
Zivildienst wesentlich teurer als bei reiner Betrachtung der Kosten für die Einrichtungen erscheint.
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Beurteilung der aktuellen Situation

Die Diakonie Württemberg bewertet einen Wegfall des Zivildienstes wie folgt:
 Der größte Verlust für die Diakonie wäre ideeller Art. Zivildienstleistende sind ein großes Plus durch
  Lebendigkeit und Menschlichkeit im Umgang mit den Betreuten. Zivildienstleistende bringen neben ihrer
  Arbeitskraft den zusätzlichen Faktor Zeit mit. Ohne den Einsatz von Zivildienstleistenden müssten die
  Klienten auf so manchen Spaziergang, das tägliche Zeitungsvorlesen oder das Fußballspielen im Hof
  verzichten. Außerdem wäre es ein Verlust an ‘frischem Engagement’ (jung, Anteil nehmend, kreativ etc.).

 Die Zivildienstleistenden sind wichtige Multiplikatoren für die Anliegen des Sozialen. Sie wirken in ge-
  sellschaftliche Kreise hinein, die sonst oft gar nicht erreicht werden. Zivildienstleistende bekommen
  einen Einblick in den sozialen Bereich, der sie bei gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen
  Entscheidungsprozessen in ihren späteren Arbeitsfeldern beeinflussen kann. Mit dem Wegfall des
  Zivildienstes müsste auf diese Art von Öffentlichkeitsarbeit für soziale Zusammenhänge verzichtet
  werden.

 Außerdem entfiele eine wichtige Plattform für die Nachwuchsgewinnung, vor allem der männlichen
  Mitarbeiter. Berufsfelder der sozialen Arbeit sind nach wie vor hauptsächlich durch Frauen besetzt und
  die Befürchtung liegt nahe, dass dies durch den Wegfall des Zivildiensts noch verstärkt wird. Soziales
  Engagement in der Biografie von Männern beginnt oft mit dem Zivildienst.
 Der Zivildienst ist ein wichtiges sozial- und jugendpolitisches Lernfeld für junge Männer. Gerade in der
  Lebensphase, die durch Übergang von Schule/Ausbildung zur Erwerbsarbeit geprägt ist, sind entspre-
  chende Erfahrungen von großer Bedeutung. Sie erwerben dort in einem geschützten Raum berufliche,
  aber auch lebenspraktische Schlüsselqualifikationen, die auf ihrem weiteren Lebensweg von hohem
  Nutzen sind. Der Zivildienst ermöglicht den Einblick in und die Auseinandersetzung mit den unter-
  schiedlichsten Facetten des Lebens. Akzeptanz und Toleranz gegenüber Andersartigkeit sind hierbei
  neben Empathie- und Reflexionsfähigkeit wichtige Schlüsselqualifikationen. Soziales Lernen im Rahmen
  des Zivildiensts umfasst unter anderem Beziehungsaufbau, Übernahme von Verantwortung für andere,
  Vertrauen, Loyalität und Verlässlichkeit.

 Es ist kritisch zu hinterfragen, was es gesamtgesellschaftlich heißt, wenn die „Sozialisationsinstanz
  Zivildienst“ wegfällt. Der Zivildienst hat über die Jahre hinweg einen hohen Stellenwert in der Gesell-
  schaft erworben. Er hat das männliche Rollenverständnis innerhalb Deutschlands mitgeprägt und dazu
  beigetragen, dass soziale Arbeit und Pflege auch eine sinnerfüllende Aufgabe für Männer sein kann.
  Zudem verbindet er Generationen im Hinblick auf den demografischen Wandel.

 Der Wegfall der Arbeitskraft des Zivildienstleistenden wäre für die Diakonie Württemberg ein Verlust. Er
  wäre aber zu ersetzen - vorausgesetzt, es kommt zu einem geplanten Übergang und dem Ausbau von
  Alternativen.

 Nicht alle Hilfebereiche sind in der Lage, den Wegfall von Zivildienstleistenden ohne erhebliche Qualitäts-
  einbußen zu bewältigen - vor allem im Bereich der menschlichen Zuwendung bestehen enorme Beden-
  ken über die Folgen. Es bedarf einer Differenzierung bezüglich der Dienststellen und deren
  Tätigkeits- und Einsatzfelder - auch im Hinblick auf mögliche Alternativen. Jede Einrichtung hat für sich
  zu entscheiden, mit welchem Personenkreis die Arbeit des Zivildienstleistenden ersetzt werden soll,
  damit die momentane Qualität der Hilfe aufrecht erhalten werden kann. Es muss davon ausgegangen
  werden, dass längst nicht alle Zivildienstplätze durch Freiwilligendienste ersetzt werden können.
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Fazit

1. Die Umwandlung des Zivildienstes ist möglich, braucht aber Mittel
  Eine Umwandlung des Zivildienstes ist eine große Herausforderung. Der Zivildienst ist eine feste Größe
  und erfreut sich höchster Akzeptanz auf allen Seiten. Jede Alternative wird an diesen Erfahrungen ge-
  messen werden. Finanziell bedeutet der Wegfall des Zivildiensts eine größere Belastung der Einsatz-
  stellen. Hierfür müssen die Mittel zur Verfügung gestellt werden. Dies lässt sich mit den jetzt für den
  Zivildienst aufgewendeten Mitteln sicherstellen.

2. Es gibt Alternativen zum Einsatz von Zivildienstleistenden
  Es steht eine Reihe von Alternativen zur Verfügung. Die Palette geht von Festanstellungen über ge-
  ringfügige Beschäftigungsverhältnisse bis zum FSJ und anderen Möglichkeiten des freiwilligen Engage-
  ments. Jede Einsatzstelle ist herausgefordert, je nach Anforderungen und Möglichkeiten des
  Einsatzfeldes eigene Lösungen zu finden und auszugestalten. Zivildienstplätze lassen sich nicht 1:1 in
  Einsatzstellen für Freiwillige umwidmen. Für die Jugendfreiwilligendienste gelten andere Regeln. Auch
  diese Umwandlung ist eine aufwändige Herausforderung für die Einrichtungen der Diakonie.

3. Die Diakonie kann und will die Umwandlung gestalten - Voraussetzungen
  Die Diakonie ist in der Lage, Alternativen zu entwickeln und umzusetzen, denn sie verfügt über die
  Ressourcen, Erfahrungen und die notwendigen Einsatzfelder. Ebenso wie die anderen Träger von Juge
  ndfreiwilligendiensten ist die Diakonie nahe an den Einsatzstellen und den Freiwilligen, kann dadurch
  flexibel auf sich verändernde Rahmenbedingungen reagieren und arbeitet bürokratiearm.
  Allerdings müssen die Träger so ausgestattet werden, dass sie die an sie gerichteten Erwartungen
  erfüllen können. Die derzeitige Förderung aus Bundesmitteln ist unzureichend, die Förderpauschale
  muss deutlich erhöht werden und alle angebotenen Plätze berücksichtigen. Als Richtwert kann die
  derzeitige Förderung des FÖJ gelten.
  Besondere Zielgruppen bedürfen besonderer Unterstützung. Wenn, wie immer wieder eingefordert, der
  Anteil von benachteiligten Jungendlichen und Minderjährigen im FSJ/FÖJ erhöht werden soll, müssen
  entsprechende zusätzliche Mittel und Förderstrukturen geschaffen werden. Hierbei ist darauf zu achten,
  dass diese nicht stigmatisierend gestaltet werden. Bürokratische Hürden sind niedrig zu halten.
  Zudem ist für die Umwandlung eine ausreichende Zeitspanne vorzusehen. Dies ist schon allein im
  Interesse der jungen Menschen sicherzustellen, die Anspruch auf qualitativ hochwertige Einsatzstellen
  und Abläufe haben. Die Träger müssen in diesem Zeitraum für qualifiziertes Personal, Räume und die
  entsprechenden Strukturen Sorge tragen.

4. Es braucht schnelle Planungssicherheit
  Um die Umgestaltung verantwortungsvoll zu gestalten, bedarf es der Planungssicherheit. Dies umfasst
  klare zeitliche Perspektiven: Wie lange wird es den Zivildienst noch geben? In welchen Zeiträumen
  werden die Freiwilligendienste ausgebaut? Zudem ist Sicherheit in Bezug auf Art und Umfang der För-
  derung nötig. Erst auf dieser Basis können Konzepte entwickelt und konsequent umgesetzt werden. Die
  Planungen müssen einen längeren Zeitraum umfassen, damit der Ausbau sukzessive gesteigert und
  zukünftige Entwicklungen berücksichtigt werden können. Da der Einsatz von Freiwilligen stets auch
  Anleitung durch hauptamtliches Personal in den Einsatzstellen bedeutet, ist auch im Interesse der Ein-
  satzstellen Planungssicherheit nötig: Bei mehr Freiwilligen muss mehr Personal zur Verfügung stehen.
  In Baden-Württemberg dürfen zudem die Auswirkungen des doppelten Abiturjahrgangs 2012 nicht aus
  den Augen verloren werden.

5. Ein neuer Jugendfreiwilligendienst muss attraktiv sein
  Zwar gibt es immer noch mehr Bewerber/innen als Plätze bei den Jugendfreiwilligendiensten, aber es ist
  nicht davon auszugehen, dass der Wegfall des Zivildienstes ohne wirkungsvolle begleitende Maßnah-
  men durch das FSJ/FÖJ kompensiert werden kann. Insbesondere junge Männer müssen dann für den
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  sozialen Bereich neu gewonnen werden. Es bedarf einer mutigen Imagekampagne für freiwilliges Enga-
  gement, die spürbare Anreize beinhaltet: Zu denken ist dabei z. B. an
   eine Befreiung von Studiengebühren für die Dauer des FSJ
   den Anspruch auf kostenlose Heimfahrten mit der Bahn
   eine kostenlose Bahncard 50
   einen Anspruch auf Wohngeld, um selbständiges Wohnen möglich zu machen
   die Berücksichtigung der Ableistung eines FSJ bei der Ausbildungsvergabe im öffentlichen Dienst und
    der Wirtschaft
   einen erleichterten Zugang zu beliebten Studiengängen mit hohem Numerus Clausus
   die doppelte Anrechnung eines FSJ als Wartesemester für Hochschulen
   die Verlängerung des Kindergeldbezugs um die Dauer eines FSJ
   eine Befreiung von der Praxisgebühr sowie der Krankenkassenzusatzbeiträge für die Dauer des FSJ
   Anerkennung des FSJ/FÖJ im Rahmen von Berufsausbildungen
   Erstattung von Beiträgen zum Erwerb des Führerscheins bzw. anteilige Finanzierung durch die
    öffentliche Hand.
Die Diakonie Württemberg ist gern bereit, an der Entwicklung einer solchen Kampagne mitzuarbeiten.

6. Der Sozialbereich ist auf die Kompetenz junger Männer angewiesen
  Durch den Wegfall des Zivildienstes wird der „männliche Faktor“ im sozialen Bereich kleiner werden. Der
  Zivildienst ist derzeit der wichtigste Zugang für Männer in Sozialberufe. Der Sozialbereich profitiert von
  den jungen Männern; die jungen Männer profitieren von ihren Erfahrungen im Sozialbereich. Diese Win-
  Win-Situation muss erhalten bleiben.
  Eine zielgruppenspezifische Kampagne muss entwickelt und durchgeführt werden.

7. Die Diakonie hat mit der Umwandlung bereits begonnen
  Die Diakonie Württemberg führt seit Jahren innovative Modellprojekte zur Weiterentwicklung der Frei-
  willigendienste, aber auch des Zivildienstes erfolgreich durch. Von diesen Projekten gehen spürbare
  Impulse für die zukünftige Gestaltung aus. Zu nennen sind das FSJ plus (Kombination von FSJ und
  Erwerb des Realschulabschlusses), das FSJ focus (FSJ mit Schwerpunkt der beruflichen Orientierung
  im sozialen Bereich).
  Mit diesen Aktivitäten hat der Wandel bereits begonnen. Viele Einsatzstellen haben auch die Verkür-
  zungen des Zivildienstes von zehn auf neun sowie von neun auf sechs Monate dazu genutzt, um Alter-
  nativen zu prüfen und zu erproben.
  Jede zukünftige Förderstruktur für Jugendfreiwilligendienste und andere Formen bürgerschaftlichen
  Engagements muss Freiräume und Mittel für Experimente und Erprobungen bereit stellen. Unsere
  Gesellschaft mit ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen ist in schnellem Wandel begriffen, der auch die
  Möglichkeiten freiwilligen Engagements betrifft. Der Bedarf an kreativen Innovationen ist weiter gegeben.
  Die Diakonie Württemberg wird ihre Erfahrungen und Ideen weiter einbringen.

W ü r t t e m b e r g
Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Württemberg e.V.
Heike Baehrens, Stellvertretende Vorstandsvorsitzende
Abteilung Freiwilliges Engagement und Zivildienst
Wolfgang Hinz-Rommel, Abteilungsleiter
Referat Zivildienst
Tanja Ensinger, Michael Ott, Referenten für Zivildienst
September 2010
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