Das Wow!-Erlebnis Benutzerzentriertes Design im Spannungsfeld gestenbasierter Eingabetechnologien und Anwendungsszenarien Rainer Dorau, 6. Oktober ...

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Das Wow!-Erlebnis
    Benutzerzentriertes Design im Spannungsfeld gestenbasierter
    Eingabetechnologien und Anwendungsszenarien

    Rainer Dorau, 6. Oktober 2011

    Abstract: Im stark diversifizierten Markt der Eingabegeräte stehen
    zwei Eingabetechnologien im besonderen Fokus des öffentlichen
    Interesses: Multitouch-Geräte wie das iPad und Spielekonsolen wie
    die Wii, die Playstation (mit Move-Controller) oder die Kinect, mit
    denen Anwender über Raumgesten interagieren. Die Faszination,
    die von diesen neuen Consumerprodukten ausgeht, ist bis in Berei-
    che hinein spürbar, die bislang eher als consumerfern und konser-
    vativ galten, etwa der Industrie und der Medizintechnik. Hersteller
    »ernsthafter« Software liebäugeln immer mehr mit den neuen Ein-
    gabemethoden und stellen sich die Frage: Wie kann softwareba-
    sierte Technik auch außerhalb des Spielemarkts von einer spieleri-
    schen Mensch-System-Interaktion profitieren?

    Weil sich kaum ein Softwarehersteller dem Multitouch- und
    Motion-Hype entziehen kann, unterliegen innovative Ansätze in
    der Softwareentwicklung momentan der Gefahr, sich zu sehr von
    den technischen Möglichkeiten leiten zu lassen und den Anwen-
    der aus dem Auge zu verlieren. Der Benutzer aber muss weiterhin
    im Mittelpunkt stehen, mit seinen Bedürfnissen und Erwartungen.
    Was selbstverständlich nicht ausschließt, dass neue Arten der Inter­
    aktion auch neue Bedürfnisse wecken und Erwartungen übertref-
    fen dürfen.

    Der Vortrag vergleicht die heute verfügbaren Eingabesysteme
    mit Gestensteuerung im Hinblick auf ihre besondere Eignung für
    unterschiedlichste Anwendungsfelder und bewertet sie unter
    dem Aspekt der User-Experience. Um erfolgreich zu sein, muss
    Technik begeistern, und dies in einer Weise, die sie als sinnvolle
    Neuerung mit besonderen Vorteilen gegenüber jeder Vorgänger-
    technik ausweist. In seiner Schlussfolgerung plädiert der Vortrag
    für einen benutzerzentrierten Ansatz, der neben der Praxistaug-
    lichkeit und dem Akzeptanzpotenzial neuer Eingabtechnologien
    die Begeisterungs­fähigkeit als eines der wichtigsten Kriterien der
    Produkt­entwicklung betrachtet.

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    Benutzerzentriertes Design im Spannungsfeld gestenbasierter Eingabetechnologien und Anwendungsszenarien

    Long Version: Im stark diversifizierten Markt der Eingabegeräte
    stehen zwei Eingabetechnologien im besonderen Fokus des öffent-
    lichen Interesses: Multitouch-Geräte wie das iPad und Spielekon-
    solen wie die Wii, die Playstation (mit Move-Controller) oder die
    Kinect, mit denen Anwender über Raumgesten interagieren. Die
    Faszination, die von diesen neuen Consumerprodukten ausgeht,
    ist bis in Bereiche hinein spürbar, die bislang eher als consumerfern
    und konservativ galten, etwa der Industrie und der Medizintechnik.
    Hersteller »ernsthafter« Software liebäugeln immer mehr mit den
    neuen Eingabemethoden und stellen sich die Frage: Wie kann soft-
    warebasierte Technik auch außerhalb des Spielemarkts von einer
    spielerischen Mensch-System-Interaktion profitieren?

    Ganz unabhängig von der Technologiefrage besteht heute allge-
    meiner Konsens, dass jede Softwareentwicklung nach der Maß-
    gabe eines benutzerzentrierten Designs zu erfolgen hat. Wenn der
    Benutzer im Mittelpunkt steht und gleichzeitig über Technologie
    nachgedacht wird, ist eines der zentralen Kriterien, an dem sich
    Ideen und Lösungen messen lassen müssen, die direkte Manipula-
    tion. Es geht also um die Frage, wie gut ein Benutzer mittels hard-
    waregestützter Eingabe mit einem System bzw. dessen User-Inter-
    face interagiert.

    Die direkte Manipulation wurde seit der Einführung der großen
    Desktop-Betriebssysteme Mac OS und Windows und der Fokus-
    sierung auf Mausbedienung als Aufgabenstellung für das User-
    Interface-Designs betrachtet, in letzter Konsequenz also als ein
    Softwarethema. Die Errungenschaft der Desktop-Betriebssysteme
    bestand ja in der objektorientierten Benutzerperspektive: Dateien,
    Ordner und Programme wurden als Symbole dargestellt, die sich
    per Maus auswählen und bearbeiten ließen. Was daran einst revo-
    lutionär war, lässt sich heute nur vor dem Hintergrund der Vorgän-
    gertechnologien verstehen, die dem Paradigma der kommando­
    zeilenbasierten Eingabe verhaftet waren. Der objektorientierte
    Ansatz hat sich durchgesetzt, und es gibt niemanden mehr, der die
    direkte Manipulation als vorrangiges Interaktionsprinzip ernsthaft
    in Frage stellt; sie ist und bleibt das erklärte Ziel jeder User-Inter-
    face-Entwicklung.

    Wie stimmig die direkte Manipulation per Gesten und das Verhal-
    ten des User-Interfaces vom Benutzer wahrgenommen werden,
    hängt in hohem Maße vom Design und der Programmierung der
    Software ab. Das Bedienerlebnis der direkten Manipulation ist eng
    verknüpft mit einer entsprechenden Visualisierung, die dem Bedie-

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    ner schon vor einer Geste anzeigt, welche Handlungsoptionen mit
    welchen Konsequenzen bestehen, ihm während einer Geste die
    Sicherheit gibt, richtig zu handeln, und ihm nach einer Geste bestä-
    tigt, seine Eingaben angenommen und verstanden zu haben.

    Diese Aufgaben des User-Interface-Designs stehen weiterhin auf
    der Agenda, aber die neuen Multitouch-Geräte stellen so etwas
    wie eine Horizonterweiterung dar. Bislang konnte sich ein Herstel-
    ler, der sich zum Ziel setzt, benutzerfreundliche Software zu ent-
    wickeln, auf konzeptionelle Überlegungen der Benutzeroberfläche
    und deren Umsetzung in Kode konzentrieren, weil die Bedienung
    hardwareseitig über gut zwei Jahrzehnte von der Mausbedienung
    der Desktop-Betriebssysteme geprägt war. Zwar gab es neben
    Mausanwendungen auch schon Singletouch-Anwendungen im
    öffentlichen Raum oder in der Industrie – diese führten aber eher
    ein armseliges Schattendasein in Form von »Mausanwendungen
    ohne Maus«. Man verzichtete auf komplexere Gesten wie Drag-
    and-Drop und reduzierte die Interaktion mehr oder weniger auf das
    Drücken von Knöpfchen. Viele Singletouch-Anwendungen fielen
    daher in ­ihren Möglichkeiten hinter Mausanwendungen zurück.

    Dabei kommt eine Touchbedienung dem Ideal der direkten Mani-
    pulation viel näher als jede mausgesteuerte Interaktion und macht
    evident, wie indirekt die direkte Manipulation mit einer Maus
    ­eigentlich ist – man schiebt ein kleines Gerät über den Tisch und
     drückt Tasten, wo man die Objekte des User-interfaces doch
     ­eigentlich direkt anfassen und bewegen möchte. Genau das ist
      bei Touchbedienung möglich, die auf die Zwischenschicht einer
      Zeigersteuerung verzichtet. Aber es musste erst das US-amerika-
      nische Unternehmen Apple einen neuen Markt erobern, um die
      Multitouch-Bedienung flächendeckend als das neue Interaktions-
      paradigma für mobile Geräte zu etablieren. En passant unterwirft
      Apple damit die Maus einer Kritik, die sie zwar nicht insgesamt in
      Frage stellt, ihr in der nahen Zukunft aber einen Platz als Spezia-
      list für pixelgenaue Aufgaben zuweist. Man erinnere sich: Einst war
      es ja Apple selbst, die die Maus als technologische Innovation im
      Massenmarkt einführte. Nun ist es dasselbe Unternehmen, das die
      Einschränkungen der damaligen Innovation mit neuartigen Multi-
      touch-Geräten überwindet. Vor diesem Hintergrund ist es nur kon-
      sequent, wenn Apple auch seine Desktop-Produkte an die neue
      Bedienphilosophie anpasst. Die Maus wird multitouchfähig, zur
      Tastatur gesellt sich ein Multitouch-Trackpad. Und in der neusten
      Betriebssystemversion sind viele Organisationsaufgaben des Desk-
      top-Betriebssystems an Multitouch-Gesten geknüpft.

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    Die neuen Apple-Produkte setzen viele andere Hersteller unter
    Druck. Wo sich Hersteller nicht trauten oder technologisch nicht
    in der Lage waren, ein mit dem iPhone vergleichbares Produkt zur
    Serienreife zu bringen, tümmeln sich heute viele Geräte, die das
    iOS-Konzept bisweilen unverhohlen kopieren. Weil sich kaum ein
    Hardware- oder Softwarehersteller aktuellen Technologie-Hypes
    entziehen kann, unterliegen innovative Ansätze in der Softwareent-
    wicklung momentan der Gefahr, sich zu sehr von den technischen
    Möglichkeiten leiten zu lassen und den Anwender aus dem Auge
    zu verlieren. Hersteller glauben, sie müssten ihre Produkte auf
    Multitouch nach- oder umrüsten, um up-to-date zu bleiben. Auf
    der einen Seite ist dies sicherlich richtig, denn die Menschen, die
    an eine Multitouch-Bedienung gewohnt sind, gehen mit einer
    ganz anderen Erwartung und Selbstverständlichkeit an technische
    Geräte heran. Auf der anderen Seite ist die bloße Tatsache, auch
    Multitouch zu können, kein Garant für den Erfolg neuer Produkte.
    Das gilt für Hardware wie für Software. Ein Produkt, das allein von
    der Angst um die Wettbewerbsfähigkeit getrieben ist (»Wir müssen
    irgend etwas mit Multitouch machen, um wettbewerbsfähig zu blei-
    ben«), wird sich im Markt nur schwer behaupten können.

    Doch der Multitouch-Hype hat auch sein Gutes: Er hat den Blick für
    alternative Eingabemethoden geschärft. Abseits der vielen Nach-
    ahmerprodukte wird wieder ernsthaft über Alternativen zur klas-
    sischen Mausbedienung oder simplen Singletouch-Anwendungen
    nachgedacht. Dabei rückt wieder ins Bewusstsein, dass eine direkte
    Manipulation, wie sie von einem benutzerzentrierten Design gefor-
    dert wird, in starkem Maße auch von der verwendeten Eingabe-
    technologie abhängt.

    Technologieentscheidungen können sich daher vom Kriterium der
    direkten Manipulation leiten lassen und sich so eine Designphilo-
    sophie nutzbar machen, die den Benutzer mit seinen Erwartungen,
    Bedürfnissen und zu erledigenden Aufgaben in den Mittelpunkt
    stellt. Die Leitfrage lautet daher nicht: Wie können wir unsere Pro-
    dukte multitouchfähig machen?, sondern: Mit welcher Technologie
    lässt sich die direkte Manipulation – auf den eigenen, konkreten
    Anwendungsfall bezogen – am besten umsetzen? Und weiter: Wie
    muss ein Produktentwicklungsprozess aussehen, der sich zum Ziel
    setzt, den Umgang mit einer neuen Technologie zu etablieren, die
    vom Benutzer nicht nur nüchtern akzeptiert wird, sondern in eine
    Begeisterung für das Produkt umschlägt? In vielen Fällen wird Mul-
    titouch ganz oben auf der Liste geeigneter Eingabemethoden ste-
    hen, aber es gibt andere Eingabetechnologien, die für bestimmte

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    Anwendungen besser geeignet sind oder die ihre Vorteile in Kombi-
    nation mit einer Multitouch-Eingabe ausspielen können.

    Dabei geht es ja nicht nur um Consumergeräte und -anwendungen.
    Jenseits des Consumerbereichs gibt es mitunter Anforderungen
    zu berücksichtigen, die gegen eine Multitouch-Eingabe sprechen,
    wie wir sie vom iPad her kennen. Bei medizinischen Geräten, die
    im OP-Saal oder auf der Intensivstation eingesetzt werden, ist Ste-
    rilität oberstes Gebot, eine direkte oder ständige Berührung eines
    Multitouch-Panels keine geeignete Option. Ein gutes Beispiel ist
    eine OP-Anwendung des Medizinunternehmens Karl Storz, die in
    Kooperation mit dem Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut entwi-
    ckelt worden ist. Das Informationssystem macht dem operierenden
    Team Patienteninformationen zugänglich und löst das Sterilitäts-
    problem über die berührungslose Interaktion mittels touchähn-
    licher Raumgesten, die vom Benutzer innerhalb eines Infrarot-
    vorhangs ausgeführt werden, also in gebührendem Abstand zum
    Anzeigemonitor. Die Trennung des Interaktionsraums vom visua-
    lisierenden System stellt hohe Anforderungen an die Umsetzung
    der direkten Manipulation. Ein ganz ähnliches Problem besteht in
    der Industrie, wo beim Einrichten oder der Wartung von Produk­
    tionsmaschinen mit Handschuhen gearbeitet wird, die jede feinfüh-
    lige Bedienung ausschließen und unansehnliche Spuren auf einem
    Touchmonitor hinterlassen würden. Auch hier legen die Anforde-
    rungen berührungslose Gesten im Raum nahe.

    Solche Beispiele aus der Industrie und Medizintechnik zeigen, vor
    welchen Schwierigkeiten »ernsthafte« Anwendungen im Vergleich
    zu consumerorientierten Produkten stehen können. Ziel der Pro-
    duktentwicklung muss sein, die besonderen Umstände der Bedie-
    nung nicht in eine umständliche Bedienung münden zu lassen.
    Es gilt Lösungen zu finden, die von den Benutzern angesichts der
    erschwerten Bedingungen, unter denen sie arbeiten, als natürlich
    und besonders pfiffig empfunden werden.

    Literaturverzeichnis:
    Dorau, R: Emotionales Interaktionsdesign, Gesten und Mimik
    ­interaktiver Systeme. Springer, Heidelberg 2011.

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