Denkmalpflege in Baden-Württemberg - 3 | 2020 49. Jahrgang
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Denkmalpflege 3 | 2020 in Baden-Württemberg 49. Jahrgang N A C H R I C H T E N B L AT T D E R L A N D E S D E N K M A L P F L E G E
Inhalt 137 Editorial 178 Nationaltheater Mannheim Anmerkungen zur bauzeitlichen 138 Die Krankensiedlung Ziegelklinge Farbgestaltung der Innenräume in Stuttgart Julia Feldtkeller Eine Innovation der 1920er Jahre für Das Feldsiechenhaus in Tuberkulosekranke und ihre Familien 184 Das älteste Gebäude Wertheims Gaildorf diente einstmals Inken Gaukel / Angelika Reiff Zur bauhistorischen Untersuchung der Absonderung anstecken- und Restaurierung der „Münze“ der Kranker. Foto: RPS-LAD, 146 Dem Kurgast zum Wohle und zur Markus Numberger / Karsten Preßler Martin Hahn. Erholung Der Terrassengarten des Sanatoriums 192 Die badischen Rheinbrücken – St. Blasien – Voruntersuchungen zur Teil 2 Sanierung Vor 75 Jahren: Die Zerstörung der Volkmar Eidloth / Petra Martin / Karin Schinken Brücken zwischen Maxdorf und Mann- heim 153 Symbole ihrer Zeit Ulrich Boeyng Architektonische Relikte des Tank- stellenbaus von den Anfängen bis in 198 Ausdauer lohnt sich die 1950er Jahre in Baden-Württem- Die Rettung eines ehemaligen berg Rebmannhauses in Sipplingen Franz Arlart Martina Goerlich 160 „…Denn nun geht es nach der 204 Die Wartung der Chorfenster von Mühle“ St. Dionys in Esslingen Die Drehers- und die Kochlinsmühle Erfahrungen und Herausforderungen Denkmalpflege am Neckar in Rottweil Peter Berkenkopf / Dunja Kielmann / Melanie Rager in Baden-Württemberg Stefan King N A C H R I C H T E N B L AT T DER LANDESDENKMALPFLEGE 165 Hunderte Köhler, Tausende Meiler 211 Denkmalporträt Relikte der Holzkohleproduktion in der Schutz vor Ansteckung anno 1887 3/ 2020 49. Jahrgang Kulturlandschaft Das Isolierkrankenhaus in Tübingen Herausgeber: Landesamt für Denkmal- Ralf Hesse / Oliver Nelle Sabine Kraume-Probst pflege im Regierungspräsidium Stuttgart. Berliner Straße 12, 73728 Esslingen a.N. 172 „Viel Gemeingeist und Liebe 212 Denkmalporträt gefördert vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden- wurzelt in den Bürgerherzen“ Schutz vor Ansteckung anno 1531 Württemberg – Oberste Denkmalschutz- Die Instandsetzung der Gottesacker- Das Feldsiechenhaus in Gaildorf behörde. kapelle auf dem Crailsheimer Ehren- Martin Hahn Verantwortlich im Sinne des Presserechts: Präsident des Landesamtes für Denkmal- friedhof pflege Prof. Dr. Claus Wolf 213 Mitteilungen Schriftleitung: Dr. Irene Plein Folker Förtsch / Jan Hofacker / Karin Krüger / Helga Steiger Stellvertretende Schriftleitung: Grit Grafe 217 Personalia Redaktionsausschuss: Dr. Dieter Büchner, Dr. Andreas Haasis- Berner, Daniel Keller, Dr. Melanie Mertens, Dr. Oliver Nelle, Karin Schinken, Dr. Anne- Christin Schöne, Susann Seyfert, Dr. André Spatzier Produktion: Verlagsbüro Wais & Partner, Stuttgart Lektorat: André Wais / Annine Fuchs Gestaltung und Herstellung: Hans-Jürgen Trinkner, Rainer Maucher Druck: Offizin Scheufele, Stuttgart Postverlagsort: 70178 Stuttgart Erscheinungsweise: vierteljährlich Auflage: 29 500 Bankverbindung: Landesoberkasse Baden-Württemberg, Baden-Württembergische Bank Karlsruhe, IBAN DE02 6005 0101 7495 5301 02 Dieser Ausgabe liegt eine Beilage der BIC SOLADEST600. Nachdruck nur mit schriftlicher Geneh- Denkmalstiftung Baden-Württemberg Verwendungszweck: migung des Landesamtes für Denkmal- bei. Sie ist auch kostenlos bei der Öffentlichkeitsarbeit Kz 8705171264618. pflege. Quellenangaben und die Über- Geschäftsstelle der Denkmalstiftung lassung von zwei Belegexemplaren Wenn Sie eine Spendenbescheinigung wünschen, Baden-Württemberg, Charlottenplatz 17, an die Schriftleitung sind erforderlich. bitte Name und Anschrift angeben. 70173 Stuttgart, erhältlich.
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, das Feldsiechenhaus von Gaildorf, die Kranken- siedlung Ziegelklinge, das Tübinger Isolierkran- kenhaus und der Kurgarten von St. Blasien sind vier Kulturdenkmale, die in der vorliegenden Aus- gabe des Nachrichtenblattes der Landesdenkmal- pflege Baden-Württemberg vorgestellt werden und stellvertretend für viele andere vom Umgang mit hochinfektiösen Erkrankten in der Vergangen- heit Zeugnis ablegen. Dieser unterscheidet sich in seinem Grundsatz zu- nächst nicht von den aktuellen Maßnahmen der Separierung und späteren Rehabilitation der Patienten, obwohl wir heute zweifellos über un- gleich bessere medizinische Methoden und Kennt- nisse verfügen, um Infektionen zu verhindern und zu heilen. Ebenso wie Seuchenzüge eine histori- nahmen verfasst, Denkmaleigenschaften über- sche Konstante und im Zuge des Zivilisationspro- prüft, Förderanträge bearbeitet und Förderungen zesses stete Begleiter der menschlichen Gemein- gewährt. Das archäologische Grabungswesen, im schaften sind, ist es auch deren Auseinanderset- Vorfeld von Baumaßnahmen auf historischem zung mit Epidemien und Pandemien. Grund unverzichtbar, ruhte zu keiner Zeit. Auch In unzähligen schriftlichen Quellen wird die Be- in den Restaurierungswerkstätten, in den For- drohung durch tödliche Infektionskrankheiten ge- schungsgruppen, im Publikationswesen und der schildert, und der berechtigte Schrecken davor hat Verwaltung wurde, teils im Schichtdienst, teils im sich so im kollektiven Unterbewusstsein verankert. Home Office, durchgehend weitergearbeitet. Nur Ähnliches gilt für Zeugnisse der Sachkultur ein- öffentliche Veranstaltungen mit Publikum konnten schließlich der bildenden Kunst. Im Gegensatz zu und können bis auf Weiteres nicht stattfinden und den literarischen Quellen rufen diese Bauwerke, werden so weit wie möglich in den virtuellen Raum Kunstwerke und Artefakte allein durch ihre physi- verlegt. Dies gilt bedauerlicherweise auch für den sche Präsenz aber eine unmittelbarere Erfahrung Tag des offenen Denkmals 2020, der traditionell beim Betrachten, Besichtigen oder Berühren her- am zweiten Sonntag im September begangen vor. So werden Gebäude wie Siechenhäuser, Spi- wird. Der Charme dieses zentralen Denkmalfes- täler, Sanatorien und Kurbäder fast automatisch tes besteht vor allem darin, dass im Alltag unzu- zu Mahn- und Erinnerungsorten, zu Denkmalen gängliche, oft unbekannte und in Privateigentum im echten Sinne des Wortes. Ob diese allerdings befindliche Kulturdenkmale für wenige Stunden eher zu einer von Vernunft gesteuerten Gelassen- von der Öffentlichkeit besichtigt werden können. heit angesichts der aktuellen Bedrohung durch das An diesem Tag treffen sich Tausende von Denkmal- Coronavirus auffordern, oder das Nachdenken begeisterten auf engstem Raum – ein nicht kal- über sie vielmehr tiefverwurzelte Urängste triggert, kulierbares Risiko in Zeiten einer sich schnell ver- sei dahingestellt. Es sind weniger bequeme Denk- breitenden letalen Krankheit, gegen die es bislang male, so viel ist sicher. weder eine durchgehend wirksame Therapie noch Es ist der gesetzliche Auftrag der Landesdenkmal- einen Impfstoff gibt. Es bleibt zu hoffen, dass die pflege, sich unabhängig von dergleichen Wertun- Rahmenbedingungen im kommenden Jahr es er- gen, unabhängig von der ästhetischen Qualität, lauben werden, den Tag des offenen Denkmals von der historischen Bedeutung oder emotionalen wie gewohnt zu feiern, und auch auf diese Weise Bezügen, aber auch unabhängig von äußeren Ein- die Bedeutung des kulturellen Erbes weiterhin im flüssen um den Erhalt, die Pflege und die Erfor- öffentlichen Bewusstsein verankert bleibt. Hierzu schung aller Kulturdenkmale zu kümmern. Dieser mag auch dieses aktuelle Heft der „Denkmal- Verpflichtung kommt das Landesamt für Denk- pflege in Baden-Württemberg“ beitragen, bei des- malpflege im Regierungspräsidium Stuttgart auch sen Lektüre ich Ihnen viel Vergnügen wünsche. während der gegenwärtigen Corona-Pandemie, im Rahmen der jeweiligen Verordnungen, unge- Prof. Dr. Claus Wolf brochen nach. So weit wie möglich wurden und Präsident des Landesamtes für Denkmalpflege werden Ortstermine wahrgenommen, Stellung- im Regierungspräsidium Stuttgart Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020 137
Die Krankensiedlung Ziegelklinge in Stuttgart Eine Innovation der 1920er Jahre für Tuberkulosekranke und ihre Familien Nach dem Ersten Weltkrieg war laut den statistischen Erhebungen Tuberkulose die gefährlichste Infektionskrankheit mit Todesfolge in Stuttgart. Der Erreger dieser langwierigen und unheilbaren Krankheit verbreitete sich schnell. Die Krankenhäuser zeigten sich mit der Betreuung der Patienten überlastet und die Stadtwohnungen der meisten Kranken erfüllten nicht die hygienischen Bedin- gungen, die für eine häusliche Pflege erforderlich waren. Auf Initiative der Württembergischen Landesversicherungsanstalt plante das Stuttgarter Hoch- bauamt am Stadtrand Stuttgarts eine Siedlung speziell für Tuberkulosekranke, bestehend aus fünf dreigeschossigen Reihenhauszeilen in Flachdachbauweise. Zeitgleich zu der Unterstützung der Experimentalbauten der Ausstellung „Die Wohnung“ des Deutschen Werkbundes am Weißenhof initiierte das städ- tische Hochbauamt mit diesem Wohnquartier eine Siedlung in der Haltung des Neuen Bauens in Stuttgart. Inken Gaukel/ Angelika Reiff Der Clou sive Ausführung der Gebäude mit Feifel-Mauer- werk für einen guten Schall- und Wärmeschutz; ei- Nachdem auch heute wieder über Ansteckungs- nen zentralen Kachelofen, der das Erdgeschoss di- gefahr und Quarantäne diskutiert wird, soll der rekt beheizt und die oberen Etagen mit einer erste Blick dem damals ungewöhnlichen Grund- Warmluftheizung versorgt; eine eingemauerte Ba- risskonzept der einzelnen Reihenhäuser gelten. Zu- dewanne, deren Ausführung Schmutzwinkel und nächst folgt die Aufteilung der Häuser bekannten damit Infektionsherde vermeidet und die unge- Mustern: Im Erdgeschoss befinden sich ein Wind- wöhnliche Kombination von Klappläden und Roll- fang mit Garderobe, eine großzügige Küche und jalousien im Wohnzimmer. auf Hausbreite ein Wohn-Ess-Zimmer; im Ober- geschoss ein Elternschlafzimmer, zwei Kinderzim- Die Entstehungsgeschichte mer und ein Bad. Die Besonderheit des Konzepts, von der damaligen Tagespresse als „Clou“ be- Bereits im Mai 1926 behandelte die Bauabteilung zeichnet, findet sich im Dachgeschoss in Form ei- des Stuttgarter Gemeinderates den Wunsch der nes Zimmers auf Hausbreite, verbunden mit einer Landesversicherungsanstalt Württemberg, spe- Dachterrasse. Dieses Zimmer, auch „Tagesraum für zielle Wohnungen für Tuberkulosekranke mit städ- den Kranken“ genannt, ist fast eine eigene kleine tischen Mitteln zu errichten. Grundlage für den An- Wohnung mit großer Terrasse. Es wird ergänzt trag war das Anfang 1925 beschlossene Wohn- durch ein zusätzliches WC auf derselben Ebene bauprogramm, in dessen Rahmen die Stadt und ist von den Abläufen der eigentlichen Woh- Stuttgart zur Bekämpfung der Wohnungsnot in nung getrennt. Die Idee dahinter war die Integra- den Jahren 1925/26 insgesamt 2000 Wohnein- tion des Kranken in die Familie bei gleichzeitigem heiten mit einem Volumen von 8,6 Millionen Schutz, was nach den Erkenntnissen der Zeit die Reichsmark errichten oder fördern wollte. Aller- Heilung beförderte, die Allgemeinheit von Kosten dings waren im Mai 1926 erst gut 1400 Woh- entlastete und planmäßig sogar Heimarbeit er- nungen konkret geplant oder im Bau. Damit er- möglichen sollte (Abb. 1). Zur Rohbaufertigstel- öffnete sich die Möglichkeit für die Förderung wei- lung erschien am 11. Oktober 1928 im Stuttgarter terer Projekte. Das berühmteste Vorhaben, das Neuen Tagblatt ein ausführlicher Artikel, der einige nachträglich vom Wohnbauprogramm profitierte, spezielle Aspekte der Häuser erläuterte: die mas- ist die Werkbundsiedlung am Weißenhof. Ende Juli 138 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020
1 Grundrisse der Planung des Städtischen Hochbau- amtes vom Juli 1927. 1926 beschloss der Gemeinderat die Förderung Baugesuch für 26 Reihenhäuser, aufgeteilt in fünf der Weißenhofsiedlung, weshalb die Gebäude Zeilen ein. Eine Befreiung für die Unterschreitung nach Ausstellungsende von der Stadt als Miet- der Abstandsflächen hielten die Planer wegen der wohnungen bewirtschaftet wurden. Ausführung mit „ebenem“ Dach statt des bau- Die Suche nach einem Grundstück für die Woh- rechtlich zulässigen Satteldaches für unproble- nungen für Tuberkulosekranke führte bereits im matisch, zumal die Gebäudezeilen am steilen Sommer 1926 zu dem Vorschlag, das Gelände an Hang gestaffelt platziert waren (Abb. 3). Von städ- der Ziegelklinge in Heslach, einen nach Südosten tischer Seite wurde das Bauvorhaben genehmigt, orientierten Steilhang in Waldnähe, zu verwenden. allerdings legten acht von zehn Nachbarn Wider- Die Baukosten für diese Sonderwohnform in spruch ein, da sie die Ansteckungsgefahr und ei- schwierigem Gelände wurden vom Städtischen nen Wertverlust ihrer Grundstücke und Häuser Hochbauamt von vornherein höher beziffert, als für fürchteten. Auch ein Vororttermin konnte die Be- die Standardwohnungen kalkuliert, nämlich mit denken nicht zerstreuen, sieben Nachbarn hielten 400 000 Reichsmark für 25 Einheiten. Zunächst ihre Einwendungen aufrecht. Im November 1927 konnte keine Förderung für den Bau durchgesetzt trug der Amtsarzt sein Gutachten dem Bezirks- werden. Erst nach der Abrechnung des Wohnbau- beirat vor und wies darin nach, dass die Anste- programms im Frühjahr 1928 und der Feststellung ckungsgefahr nicht größer sei als in einer Stadt- eines Überschusses erhielt das Projekt einen Zu- wohnung. Damit galten die Bedenken als zurück- schuss von 115 000 Reichsmark. Die restliche Bau- gewiesen. Die Frage einer eventuellen Wert- summe wurde von der Landesversicherungsanstalt minderung wurde als baurechtlich nicht relevant Württemberg, durch Darlehen der Wohnungskre- erachtet und die Planung nach eingehender Dis- ditanstalt und der Ortskrankenkasse erbracht. kussion einstimmig beschlossen. Dennoch dauerte Das Städtische Hochbaumt begann umgehend mit die Erteilung der Baugenehmigung noch bis Ende den Planungen und reichte am 22. Juli 1927 ein Februar 1928. Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020 139
2 Perspektivische Ansicht der Architekten Schieber und Schleicher, März 1928. Ausführungsplanung durch überarbeitet. Auffällig ist die Veränderung im freie Architekten obersten Geschoss: Ursprünglich war es allseitig gegenüber dem Hausgrund zurückversetzt, in der Anfang März 1928 wurde die Ausführung der ge- neuen Planung lagen die Außenwände an der Ein- planten Siedlung entsprechend der genehmigten gangsseite und an den Stirnseiten auf den Wän- Pläne an die Architekten Ernst Schleicher und Al- den der darunter liegenden Etagen, was den Bau- bert Schieber, beide Mitglieder des Deutschen körper vereinheitlichte. Dafür wurde die Brüstung Werkbundes, vergeben. Der Gemeinderatsbe- der Dachterrasse nach außen geschoben und die schluss verwies ausdrücklich auf die bereits ge- Terrasse betont (Abb. 2; 3). Dieses Detail stieß auf leistete Vorarbeit des Hochbauamtes, die das Ho- Ablehnung und musste zurückgenommen wer- norar reduzierte. Noch im März 1928 begann die den. Außerdem erhielten die Stirnseiten zusätzli- weitere Planungsarbeit. Zuerst reichten die Archi- che Fenster, die auf der Eingangsseite entfielen, tekten ein Umbaugesuch für das vorhandene Gar- was die Eingangsseite mit einer durchgehenden tenhaus, 1904 von den Gebrüdern Kärn errichtet, Wandfläche zu den Ecken hin beruhigte. Die Über- zur Schwesternstation für die gesamte Siedlung eckfenster an den Reihenendhäusern blieben er- 3 Schnitte des ersten ein. Ende April 1928 war ein Änderungsbauge- halten, wurden aber noch entschiedener ausge- Entwurfs und der Überar- such für die Reihenhäuser fertig. Die neuen Ar- führt. Ein weiterer Eingriff fand durch die Drehung beitung vom April 1928. chitekten hatten den Entwurf an etlichen Stellen der Treppe statt, was bergseitig zu einer Verklei- 140 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020
nerung des Untergeschosses und damit zu einer ursprünglich geplanten Markisen wurde zuguns- 4 Talseite der Reihen- Kostenreduzierung führte (Abb. 1; 10) ten günstigerer Vorhänge verzichtet. hauszeilen, Frühjahr Am 22. Mai 1928 erging die Baugenehmigung für 1932 schlug der Stadtarzt vor, ein Reihenhaus als 1929. das Untergeschoss, nach der ausdrücklich ge- Ledigenheim für junge Frauen mit offener Tuber- 5 Talseite der Reihen- wünschten Korrektur der Dachterrassenausfüh- kulose zu nutzen, da diese oft als Untermieterin- hauszeilen, Frühjahr rung am 5. Juni 1928 dann die gesamte Freigabe. nen wohnten und so ein großes Infektionsrisiko 2019. Trotz der extremen Hanglage gelang es, den Roh- darstellten. Im Frühjahr 1933 startete das auf ein bau Anfang Oktober 1928 fertigzustellen. Jahr angelegte Experiment. Gleichzeitig wurde der Ernst Schleicher reichte noch im September 1928 Kreis der Wohnberechtigten erweitert, da sich im- ein „Baugesuch über die Herstellung von Zufahr- mer noch nicht genügend interessierte Familien ten, Gängen und Einfriedigungen“ ein. Neben den finden ließen, die alle Kriterien erfüllten. Zunächst aufwändigen Treppenanlagen, welche die Sied- wurden Kranke mit geschlossener (abgekapselte lung von der Talseite her erschließen, wurden im Infektionsherde) Tuberkulose zugelassen, dann terrassierten Gelände auch Gemeinschaftsflächen auch anderweitig Versicherte und schließlich wie Wäschetrockenplätze und Bereiche zum Aus- schrieb man die Wohnungen im Amtsblatt der klopfen von Teppichen eingerichtet. Dazwischen Stadt Stuttgart zur freien Vermietung aus. Ab 1934 lagen stark geböschte Rasenflächen mit einzelnen wandelte sich die „Krankensiedlung“ Ziegelklinge Bäumen. zu einer Siedlung mit gesunden Bewohnern. Das Der weitere Ausbau ging schnell, sodass noch vor Experiment war gescheitert. Weihnachten 1928 die Schlusskontrolle durch das Baurechtsamt erfolgte und der Gemeinderat im Ja- Die Resonanz nuar 1929 eine Besichtigung der fertigen Häuser auf der Tagesordnung hatte (Abb. 4; 6). „Die Bauzeitung“ begann im August 1929 ihre Sonderseiten zu „Das neue Stuttgart“ mit der Tuber- Die Nutzung kulose-Siedlung. Der Autor verwies auf die Erstma- ligkeit einer solchen Siedlung sowie auf die bau- Die Wohnungen wurden zum 1. Februar 1929 ver- technischen Besonderheiten und die kurze Bauzeit mietet. Allerdings ließen sich nur 21 Familien finden, von nur sechs Monaten. Als Architekten wurden die allen Kriterien entsprachen: Das an offener, Schleicher und Schieber in Gemeinschaft mit dem also ansteckender Tuberkulose erkrankte Familien- Städtischen Hochbauamt genannt. Im Dezember mitglied musste bei der Landesversicherungs- 1929 druckte auch die Berliner Architekturzeit- anstalt Württemberg versichert sein, und die schrift „Der Neubau“ einen Artikel ab und nannte kinderreiche Familie sollte aus dem Kreis der Kriegs- entgegen späteren Veröffentlichungen ausschließ- beschädigten stammen. Die fünf weiteren Woh- lich Baurat Cloos als Architekt. Das ist deshalb er- nungen gingen an weniger kinderreiche Familien, wähnenswert, weil die Siedlung heute als Werk von allerdings mit dem Vorbehalt einer Kündigung falls Albert Schieber und Ernst Schleicher bekannt ist. sich passendere Mieter finden ließen. Im April kon- Im Februar 1933 veröffentlichte Richard Döcker trollierten Mitglieder des Gemeinderates und Ärzte in der internationalen Monatsschrift „die neue des Gesundheitsamtes die Wohnverhältnisse und stadt“ einen umfangreichen Artikel mit dem Titel stellten einige Mängel und Lücken in der Ausstat- „Stuttgart – die schöne und moderne Stadt“. Ne- tung fest. So mussten beispielsweise Schäden im ben eigenen Bauten, dem Heslacher Hallenbad Belag ausgebessert werden, um die erforderliche und dem Tagblatt-Turmhaus zeigte er die Tuber- Hygiene durchsetzen zu können. Außerdem fehl- kulose-Siedlung als gelungenes Beispiel für das ten noch Liegestühle für die Luftkuren auf den Neue Bauen. Wichtiges Kriterium für ihn war, dass Dachterrassen, etliche Betten und einheitliche Ver- sich die Bauten ideal in die Stuttgarter Topografie schattungsmöglichkeiten für die Terrassen. Auf die einfügten und modernen Grundsätzen folgten. Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020 141
nen in der Krankensiedlung, die schnell den Na- men Hustenburg bekam, stigmatisierte auch die gesunden Bewohner. So gab es Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche oder im Berufsleben, Kinder wurden in der Schule wegen der Ansteckungsge- fahr gemieden oder gar vom Unterricht ausge- schlossen und die Verehelichung der Bewohner war gehemmt, wie es in einer Besprechungsnotiz des Sozialamtes vom 30. Januar 1934 hieß. Die Fa- milien taten sich also immer schwerer, den Le- bensunterhalt zu verdienen und waren folglich auf Unterstützung angewiesen. Ein Mietzuschuss war aber nicht im Sinne der Bauherrschaft, weshalb das Pilotprojekt schließlich 1934 schrittweise auf- gegeben wurde. Die Instandsetzung Die Stuttgarter Wohnungs-und Städtebaugesell- schaft mbH (SWSG), die seit 1986 die Siedlung be- treut, strebte 2010 eine grundlegende Instand- setzung der Häuser sowie eine Anpassung an heu- tige Standards an. Neben der Erneuerung der Haustechnik, einer Modernisierung im Innern und der Errichtung zusätzlicher Balkone, stand die ener- getische Sanierung im Fokus der Sanierungspla- nung. Angedacht waren die Anbringung eines Wärmedämmverbundsystems und von Solaranla- gen auf den Dachflächen. Zu diesem Zeitpunkt war die Siedlung als Kultur- denkmal zwar erfasst, ihr bauhistorischer Stellen- wert konnte jedoch ohne detaillierte Recherche nicht wissenschaftlich fundiert benannt werden. Zur Beurteilung der architekturgeschichtlichen Be- deutung und der Überlieferungsqualität der Wohnsiedlung wurde daher eine bauhistorische Dokumentation in Auftrag gegeben. Dem von der Autorin Inken Gaukel erstellten Gutachten gelang es, den dokumentarischen und innovativen Wert der Siedlung als Pilotprojekt der Krankenfürsorge 6 Siedlung Ziegelklinge Die Siedlung Ziegelklinge erfüllte sowohl mit den und für die Architekturauffassung des Neuen Bau- von Südosten, um 1930. Dachterrassen als auch mit der Baukörperanord- ens herauszustellen. Der anhand von Planunterla- nung den von Döcker propagierten Terrassentyp, gen und einer Begehung der Wohnungen erstellte 7 Siedlung Ziegelklinge vgl. Artikel zu Richard Döcker im Nachrichten- Bauphasenplan verdeutlichte die gute Überliefe- von Süden, 2020. blatt 1/ 2020 (Abb. 6; 7). rung. Die Instandsetzungen, beispielsweise in der Nachkriegszeit sowie insbesondere 1986/87, hat- Die Gründe für das Scheitern ten auf grundlegende Veränderungen verzichtet. Die Eingriffe beschränkten sich auf die Erneuerung Die waldnahe Lage der Siedlung am Steilhang der Fenster sowie auf die Modernisierung der sorgte zwar für ein gutes Klima, erschwerte den Wand- und Fußbodenoberflächen. Wie die ersten lungenkranken Bewohnern aber den Zugang. Der Untersuchungen des Restaurators Erwin Raff er- Weg von der Straßenbahnhaltestelle bis zur Sied- gaben, lagen an den Außenfassaden die bauzeit- lung und die Treppenanlagen innerhalb der Sied- lichen Oberflächen unter jüngeren Putzschichten lung waren kaum zu bewältigen. Ebenso erleich- und Farbfassungen verborgen. Das Spiel zwischen terte die Verteilung der Wohnung auf drei Ebenen den materialsichtigen Gliederungselementen, wie zwar die Trennung von gesunden und kranken Fa- den Ziegelbändern an den Eckausbildungen und milienmitgliedern, wurde von den damaligen Be- Türrahmungen sowie den Betonwerksteinfenster- wohnern aber als unpraktisch beurteilt. Das Woh- bänken und den Putzoberflächen hatte durch das 142 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020
Überarbeiten der Oberflächen an Wirkung einge- gieeffiziente Technik konnten die Anforderungen büßt. des Erneuerbare-Wärme-Gesetz Baden-Württem- Auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse ge- berg (EWärmeG BW) erfüllt werden. Allerdings er- lang es, die SWSG und das Architekturbüro für forderten die Leitungsführung und die Einrichtung eine behutsame Konzeption zu gewinnen, die auf der Übergabestationen in jedem Keller erhebliche der einvernehmlich formulierten, konservatori- Bestandseingriffe in die Gebäude und Freianlagen. schen Zielsetzung beruhte: Die Siedlung sollte mit Auf eine Dämmung der Außenwände wurde zu- ihrem Alleinstellungsmerkmal als historisches Pi- gunsten der Erhaltung der Putzoberflächen innen lotprojekt der Krankenfürsorge sowie in der Um- und außen und der Bewahrung des charakteristi- setzung dieser Bauaufgabe in der Formensprache schen Erscheinungsbilds verzichtet. Dach und Kel- des Neuen Bauens weiterhin ablesbar und be- lerdecke erhielten eine Isolierung. Die nicht bau- fragbar bleiben. Unter dieser Prämisse minimierte zeitlichen Fensterelemente wurden durch zweifach Architekt Stefan Früh von der ARP – Architekten- isolierverglaste Holzfenster ersetzt, die sich in Tei- partnerschaft Stuttgart GbR die Eingriffe in die lung und Gliederung durch Wiener Sprossen an der Grundrissstruktur. Das kleine Bad im Obergeschoss bauzeitlichen Gestaltung orientieren. Es gelang, die wurde zur Dusche mit WC umgeplant, das ei- bauzeitlichen Klappläden zu erhalten und zu repa- gentliche Bad mit zeitgemäßer Ausstattung im rieren. Jüngere Klappläden wurden in Anlehnung ehemaligen Trockenraum des Dachgeschosses vor- an den ursprünglichen Bestand ersetzt (Abb. 5). gesehen. Auf zusätzliche Balkone wurde verzich- Nach einer längeren Vorbereitungsphase, wäh- tet (Abb. 1; 8; 10). rend der die Neuvermietung gestoppt und ein so- Die energetische Optimierung basierte auf der Stel- zialverträgliches Umzugskonzept für die verblie- lungnahme zu Wärmeschutzstandards und Ge- benen Mieter ausgearbeitet wurde, konnte die bäudetechnik. Sie führte letztendlich zum Konzept Durchführung der Maßnahmen 2017 bis 2019 ab- einer zentralen Wärmeversorgung mittels eines schnittsweise erfolgen. Blockheizkraftwerks, das in einem separaten Tech- Baubegleitend führte die Restauratorin Dr. Julia nikgebäude eingerichtet wurde. Durch diese ener- Feldtkeller exemplarisch im Innern zweier Gebäude 8 Schnitt aus dem Maßnahmenplan fur die Instandsetzung. Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020 143
9 Eingangsseite, 2019. 10 Geschosse aus dem Maßnahmenplan fur die Instandsetzung. 144 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020
im Sperlingweg eine Untersuchung durch, die Ein- blicke in die bauzeitliche Farbgestaltung ver- mittelte. Decken und Wände erhielten zur Bauzeit einen einheitlichen Verputz und einen monochro- men Anstrich, besonders häufig ließ sich eine Gelb- fassung beispielsweise im Flur, Treppenhaus und im Dachgeschoss nachweisen. Das lichte Gelb sollte wohl die Sonne auch in das Krankenzimmer holen. Die Treppe setzte sich mit einer rotbraunen Holzlasur ab. An der Holzausstattung, zu der auch die Hauseingangstüren zählen, dominierten weiße und graue Anstriche. Eine Umsetzung der Befunde im Inneren der Wohnungen wurde nur bedingt vorgenommen, die Farbigkeit der Außenfassade orientiert sich ebenfalls am Befund. Auf die Freile- gung der ursprünglich materialsichtigen Gliede- rungselemente wurde bewusst verzichtet (Abb. 9). In Bezug auf die Ausstattung besaßen Reparatur und Instandsetzung von Anfang an Vorrang vor ei- ner Erneuerung. Die prägenden Ausstattungsele- mente, wie beispielsweise die Treppen, die sicht- baren Elemente der ehemaligen Warmluftheizung sowie alle bauzeitlichen Außen- und Innentüren blieben erhalten. Das Stuttgarter Neue Tagblatt hatte 1928 den Ta- gesaufenthaltsraum für die Kranken, ein sonniges und luftiges Zimmer, das durch eine Glastür Zutritt auf die gedeckte Terrasse gewährt, als Clou des Ge- bäudes bezeichnet. Unverändert ermöglicht die Sonnenterrasse den heutigen Bewohnern Ent- spannung und Erholung. (Abb. 11; 12). Literatur und Quellen Martin Hahn: Ziegelklinge, in: Christina Philipp (Hrsg): Wohnorte². 90 Wohnquartiere in Stuttgart von 1890 Glossar 11 Krankenzimmer im bis 2017, Stuttgart 2017, S. 106– 109. Dachgeschoss eines Dr. Julia Feldtkeller: Dokumentation zur restauratori- Feifel-Mauerwerk Reihenmittelhauses, schen Untersuchung des Putz- und Fassungsbestands Speziell entwickelte Hakensteine des Schwäbisch 2019. (unveröffentlicht), Tübingen 2016. Gmünder Baustofflieferanten Albert Feifel verhindern durchgehende Fugen und lassen in der Wand Hohl- 12 Dachterrasse eines Erwin Raff: restauratorischer Untersuchungsbericht räume entstehen. Dadurch wird eine bessere Dämm- Reihenendhauses, 2019. der Außenfassaden (unveröffentlicht), Denkendorf qualität erzielt. 2010 mit Ergänzungen 2016. Inken Gaukel: Bauhistorische Dokumentation zur Inken Gaukel Siedlung Ziegelklinge, Stuttgart-Süd (unveröffent- Architekturhistorikerin licht), Stuttgart 2010. Alexanderstraße 12b Sylvylen Hähner-Rombach: Sozialgeschichte der Tu- 70184 Stuttgart berkulose vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs unter besonderer Berücksichtigung Würt- Angelika Reiff tembergs, Stuttgart 2000. Landesamt für Denkmalpflege Frank Gericke: Die Stadt als Bauherr. Stuttgarter Woh- im Regierungspräsidium Stuttgart nungsbau der 20er Jahre, Stuttgart 1997. Dienstsitz Esslingen Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020 145
Dem Kurgast zum Wohle und zur Erholung Der Terrassengarten des Sanatoriums St. Blasien – Voruntersuchungen zur Sanierung Ehrenamtliches Engagement von Bürgern vor Ort, Unterstützung lokaler Politi- ker sowie die Expertise verschiedener Fachgutachter und des Landesamtes für Denkmalpflege zielen auf die langfristige Erhaltung des Sanatoriumsgartens in St. Blasien. Um dieses Ziel erreichen zu können, bedarf es fundierter Grund- lagenarbeit von der akribischen Archivrecherche über die sorgfältige Bestands- dokumentation bis zum Maßnahmenkonzept. Volkmar Eidloth/ Petra Martin/ Karin Schinken St. Blasien – vom Kloster zum Kurort Dazu gilt es sich zu vergegenwärtigen: Im 19. und frühen 20. Jahrhundert forderte die Schwindsucht, Bis zur Säkularisation bestand der Ort St. Blasien wie die Lungentuberkulose in der Zeit genannt im Südschwarzwald aus wenig mehr als dem wohl wird, mehr Opfer als jede andere Krankheit. Noch im 9. Jahrhundert entstandenen gleichnamigen um 1900 starb jeder siebte Erwachsene in Europa Benediktinerkloster. Unweit des Feldbergs auf daran. Zwar hatte 1882 Robert Koch den Tuber- 770 m Höhe gelegen, stieg der Ort im Lauf des kulose-Erreger entdeckt. Impfungen gab es aller- 19. Jahrhunderts zu einer „herrliche[n] Sommer- dings erst in den 1920er Jahren in Frankreich; eine frische und ein[em] geschätzten Höhenluftkurort“ antibiotische Therapie mit Streptomycin stand gar auf, wie die Jubiläumsausgabe des Bäderalmanach erst ab 1944 zur Verfügung. Die gängige Behand- 1907 vermeldet. Zu der Zeit beträgt die Kurfre- lungsmethode für die Tuberkulose war die Freiluft- quenz (das heißt Kurgäste pro Jahr) in St. Blasien therapie. Schon 1854 hatte der Arzt Hermann 6300 Kurgäste, darunter viele Prominente aus Po- Brehmer im schlesischen Görbersdorf (heute So- litik, Wirtschaft und Kunst. Es gab ein modernes kołowsko Polen) damit begonnen, Tuberkulose- Kurhaus sowie mehrere Kuranstalten und Sana- kranke mit Luft- und Liegekuren zu behandeln und torien. die erste Lungenheilanstalt eröffnet, die auch ei- 1 Dr. Haufe’s Sanatorium, Ansichtskarte 1896. 146 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020
nen weitläufigen Park umfasste. Fast zeitgleich ent- deckte der deutsche Arzt Alexander Spengler in Davos die therapeutische Wirkung des Hochge- birgsklimas. Die Idee zu einem Lungensanatorium in St. Blasien hatte 1876 Peter Dettweiler, ein ehemaliger As- sistenzarzt Brehmers in Görbersdorf. Realisiert wurde sie sechs Jahre später durch den in Davos ausgebildeten Lungenarzt Paul Haufe, der sich 1878 hier als Allgemeinarzt niedergelassen hatte. 1882 eröffnete Haufe neben seiner Arztvilla ein Sa- natorium; die beiden Gebäude verband eine ver- glaste Galerie mit Liegehalle (Abb. 1). 1895 ver- kaufte Haufe den Komplex an den Medizinalrat Al- bert Sander, unter dessen Leitung von 1900 bis 1908 ein großer Neubau erfolgte, der den verbin- denden Wandelgang ersetzte; gärtnerisch gestal- tet war nur der Haupteingangsbereich (Abb. 2). Das Sanatorium St. Blasien genoss zu dieser Zeit international einen hervorragenden Ruf. Mit Aus- bruch des Ersten Weltkriegs musste die inzwischen unter der Leitung des habilitierten Lungenarztes Adolf Bacmeister stehende Anstalt deutliche Ein- brüche bei den internationalen Gäste- und Pa- tientenzahlen hinnehmen. Dem versuchte man mit umfangreichen baulichen Modernisierungs- maßnahmen entgegenzuwirken. 1921 bis 1923 wurden dazu nach Plänen des Freiburger Archi- tekten Wilhelm Rutsch ein neuer Westflügel ge- baut und von 1923 bis 1925 am Südhang davor nun der Sanatoriumsgarten angelegt (Abb. 3). Der Terrassengarten des Lungen- sanatoriums Es handelt sich dabei um einen 12 Höhenmeter überwindenden Terrassengarten mit Stützmauern, verbindenden Treppenanlagen und mit Vasen ge- schmückten Balustraden auf einer Fläche von circa rassenstützmauern verwendete man ursprünglich 2 Sanatorium St. Blasien, 53 x 43 m. Vom unteren Eingangstor (Abb. 4) mit Jungfernreben, die ab den 1930er Jahren weitge- Ansichtskarte 1908. einem dahinter liegenden grottierten Wandbrun- hend durch Kletterrosen ersetzt wurden. nen führt eine zweiläufige Treppe mit Wendepo- Die Urheberschaft der Gartenanlage wird nach ei- 3 Sanatorium St. Blasien desten über eine Böschung auf die erste Terrasse nem Sanatoriumsprospekt von 1930 dem Frei- mit dem Sanatoriums- garten, Ansichtskarte mit einem achteckigen Brunnen in der Mittelachse, burger städtischen Gartendirektor Robert Schimpf um 1930. der von zwei großen rechteckigen Beeten mit Som- zugeschrieben. Zusammen mit dem Architekten merbepflanzung und Eibenkugeln an den Ecken Rutsch habe dieser „großzügige, ausgedehnte flankiert wird. Die rückwärtige Stützmauer ist im Gartenanlagen mit Aussichtsterrassen, Wandel- zentralen Bereich durch Rundbogen als eine Art hallen, Ruhe- und Spielplätze, welche die ganze Loggia ausgeformt. Über zwei geradlinige Trep- Anstalt unten bis zum Kurort St. Blasien umgeben“, penläufe wird die nächste Terrassenebene erreicht. geschaffen. Ein Gartenplan von Schimpf ließ sich Diese wird beidseitig von Pergolen begrenzt und in den Archiven nicht finden. Eine frühe zeichne- weist drei ähnlich der unteren Terrasse gestaltete rische Darstellung des Gartengrundrisses gibt ein Beetkompartimente auf. Auch auf dieser Ebene von Wilhelm Rutsch gefertigter Lageplan zu einem wird die Stützmauer mittig durch Rundbögen ge- auf den 20. Mai 1925 datierten Baugesuch zu Um- öffnet (Abb. 7). Zwei symmetrisch der Mauer vor- und Erweiterungsarbeiten des Sanatoriums wieder gelagerte Treppenaufgänge führen wiederum auf (Abb. 8). Der Sanatoriumsgarten in St. Blasien er- die als Altane gestaltete Übergangsebene zum Sa- weist sich als prominentes Beispiel der Garten- natorium. Für die Berankung der Pergolen und Ter- kunstreform in den ersten Jahrzehnten des Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020 147
4 Eingang zum Garten, 20. Jahrhunderts, die vor allem die Idee der Funk- Neben seiner zweifellos repräsentativen Funktion Foto 2017. tionalität und architektonische Raumvorstellungen war die Anlage wohl als geschlossener Kur- und verfolgte. Dabei griff sie einerseits gerne auf ältere Heilgarten ausschließlich für die Sanatoriumsgäste formale Gestaltungsprinzipien zurück – hier sind bestimmt. Im Hintergrund mag bei seiner Entste- 5 Krocketspiel im es italienische Terrassengärten der Renaissance hung auch ein 1911 öffentlich ausgetragener Sanatoriumsgarten, und des Frühbarock – und leitete andererseits da- Streit zwischen der städtischen Kurverwaltung und Foto aus dem Sanatori- raus neue eigene Formen ab. Aufschlussreich ist in dem Sanatorium nachgewirkt haben. Vorwurf war, umsprospekt um 1935. diesem Zusammenhang der Fund der Skizzenbü- durch die von den Tuberkulosekranken ausge- 6 Liegekur im Sanatori- cher von Robert Schimpf aus den Jahren 1918 bis hende Ansteckungsgefahr den Ruf des ganzen umswald, Foto aus dem 1921. Sie enthalten Entwürfe für Vasen, Formge- Kurortes zu schädigen. Die am anderen Ortsende Sanatoriumsprospekt um hölze und Gartenbänke, wie sie auch im Sanato- gelegene Kuranstalt Friedrichshaus zum Beispiel 1930 riumsgarten wiederzufinden sind. schloss Lungenkranke sogar explizit aus. Mit sei- 148 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020
nen Terrassen, bequemen Treppenläufen, vielfäl- tigen Sitzgelegenheiten und nicht zuletzt der pflanzlichen Ausstattung ermöglichte der Sanato- riumsgarten den Patienten einen abwechslungs- reichen Aufenthalt im Freien und diente so glei- chermaßen der Erholung wie der Zerstreuung. Letztere bot laut einem Lageplan von 1928 auch ein so genannter „Golfplatz“ östlich der oberen Terrasse, auf dem – wie ein zeitgenössisches Foto zeigt – Krocket gespielt wurde (Abb. 5). Für die in St. Blasien ebenfalls selbstverständliche Liegekur standen die privaten loggienartigen Balkone vor den Zimmern des Sanatoriums und mehrere Lie- gehallen im anschließenden Wald zur Verfügung (Abb. 6). Der Garten als denkmalpflegerische 7 Obere Terrasse, Herausforderung Foto 2017. Das Sanatorium St. Blasien wird bis heute als Fach- 8 Lageplan zu einem klinik für Lungenkrankheiten betrieben. Damit Baugesuch (Ausschnitt) blieb ihm das Schicksal anderer derartiger Heil- vom 20. Mai 1925. stätten erspart, die aufgegeben, in Hotels umge- wandelt, verfallen oder abgebrochen worden sind. Allerdings verloren die zum ursprünglichen thera- peutischen Programm gehörenden Freiräume und Gartenanlagen des Sanatoriums an Bedeutung, wurden immer mehr sich selbst überlassen und ver- tigkeit, fehlende Hangentwässerung, Witterung kamen. 2015 erwarb die Stadt St. Blasien den Gar- und mangelnde Pflege in den vergangenen Jahr- ten mit dem Ziel, zusammen mit einem Förder- zehnten massive Schäden entstanden sind (Abb.11). verein die Anlage wieder in Wert zu setzen. Diese führten unter anderem zum Abrutschen ei- In ersten Instandsetzungskampagnen wurde auf nes Stützmauerbereiches unterhalb einer Pergola, den Terrassen umgebaut, die Oberflächen abge- Setzungen in den Treppenanlagen, Teilabstürzen tragen, der Pflanzenbestand entfernt sowie un- von Balustraden und Rückbaumaßnahmen an der sachgemäß neue Beete angelegt und Wege ein- Brunnenanlage. Für die Mauerbereiche sind stati- gebaut. Das Ganze ohne fachgerechte Analyse sche Ertüchtigungsmaßnahmen und die Entwick- und Dokumentation. Angesichts der Schäden an lung eines Entwässerungssystems erforderlich, um den Architekturteilen wandte man sich dann an langfristig die Substanz zu sichern und die stüt- das Landesamt für Denkmalpflege. Dieses beauf- zende Funktion der Mauern wiederherzustellen zu tragte unverzüglich die Anfertigung eines garten- können (Abb. 10). denkmalpflegerischen Gutachtens. Darin sollte die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Betonwerkstein der Firma Brenzinger Gartenanlage insbesondere hinsichtlich ihrer pflanzlichen Ausstattung aufgearbeitet und do- Die Architektur- und Zierelemente des Sanatori- kumentiert werden. Leider ließen sich keinerlei umsgartens wurden 1923 bis 1925 von der Firma Pflanzpläne oder andere archivalische Nachweise Brenzinger in Freiburg im Breisgau gefertigt. Diese zur historischen Pflanzenverwendung finden. Da- hatte bereits in den Jahren zuvor das oberhalb des für gibt es einen umfangreichen Bestand an Bild- Gartens liegende Sanatoriumsgebäude in Kalk- quellen, der Aussagen zur Bepflanzung und ihrer stein imitierendem Betonwerkstein ausgeführt. Veränderung erlaubt (Abb. 9). Die gärtnerische Die „Firma Brenzinger & Cie., Cementwarenfabrik, Ausstattung des Sanatoriumsgartens hat sich dem- Bau-Unternehmung“ wurde 1872 in Freiburg- nach schon sehr früh und wiederholt geändert; bis Stühlinger durch Julius Brenzinger gegründet und auf wenige kleine Bereiche und einzelne Relikte ist war auf die Herstellung von Betonwerkstein spe- sie heute verloren. Die architektonische Grund- zialisiert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ge- struktur und die baulichen Elemente sind dagegen wann die neu entwickelte Stahlbetonbautechnik unverändert erhalten. an Bedeutung und es wurden zunehmend Beton- Eine große Herausforderung stellt die Betonwerk- fertigteile sowie Bau- und Brückenbauwerke her- stein-Architektur dar, da durch eindringende Feuch- gestellt. 1893 wurde die Firma zur Errichtung ei- Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020 149
9 Gärtnerische Ausstat- nes Bauwerkes auf die Weltausstellung in Chicago Ort, durch Schalungsbau und einen zweischaligen tung der unteren Terrasse eingeladen. 1912 galt sie als das größte Beton- Aufbau aus grobem Kernbeton und feiner Vor- um 1930 (links oben), um bauunternehmen Freiburgs. Die guten Material- satzschale, hergestellt. 1940 (links unten), 1995 kenntnisse und die Erfahrung in der Herstellungs- (rechts oben) und 2018 technik lassen sich noch heute an den qualitäts- Schäden erkennen, erfassen und (rechts unten). vollen Sichtoberflächen, der Gefügestruktur und analysieren Farbigkeit des Betonwerksteins im Sanatoriums- garten ablesen. Die sehr gleichmäßig und präzise Als Grundlage für die Schadenserfassung und scharrierten Oberflächen aller Betonwerksteinele- -analyse wurden zunächst seitens des Fachgebie- mente spiegeln die Kenntnisse und Fähigkeiten tes Baudokumentation und Bauforschung des Lan- aus dem Steinmetzhandwerk wieder, die Julius desamtes für Denkmalpflege Bildpläne im Maß- Brenzinger als ausgebildeter Steinmetz in die Firma stab 1:20 erstellt. Diese bilden alle Betonwerk- eingebracht hatte. Neben Zierelementen wie Ba- steinteile fotorealistisch ab und konnten von dem lustern und Vasen wurden Treppenstufen, Mau- durch die Stadt St. Blasien beauftragten Fachgut- erabdeckungen und profilierte Bauteile seriell achter für die Erstellung der Schadenskartierung durch Abformungen produziert. Diese konnten verwendet werden. Bei dieser phänomenologi- zum Beispiel anhand eines Musterbuches vom schen Schadenserfassung wurden alle Bauteile hin- Kunden ausgewählt und bestellt werden. Kon- sichtlich Abplatzungen, Rissen und Schalen bzw. struktive Bauteile wie die Stützwände wurden vor Hohlräumen überprüft und die Schäden in den 150 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020
Bildplänen grafisch dokumentiert. Neben der Er- Konzeptentwicklung fassung des Schadensumfangs konnte auch die Häufung der Schäden an den westlichen Mauer- Risse, Ausbrüche und Ablösungen der äußeren Vor- bereichen erkannt werden. satzschale vom Kernbeton machen eine umfang- reiche Restaurierung notwendig, die neben konser- Materialanalyse und Voruntersuchungen vierenden Maßnahmen auch die Wiederherstellung der teilweise verloren gegangenen Oberfläche be- Der Kernbeton besteht aus Grobkorn von bis zu inhalten wird. Anhand der vorliegenden Material- mehreren Zentimetern Größe. Neben Gesteins- untersuchungen soll der verwendete Betonwerk- bruchstücken aus Granit und Kalkstein konnten stein in seiner Zusammensetzung nachgestellt und auch Kiesel und Schlackestücke als Zuschlagstoffe entsprechend der historischen Technik die Ober- identifiziert werden. In der feineren Vorsatzschale flächen wiederhergestellt werden. Dies ermöglicht ist der hohe Anteil an Kalksteinbruchstücken aus- einerseits bestmöglich die Verträglichkeit von Be- schlaggebend für die beige warmtonige Farbge- standsmaterialien zu neu eingebrachtem Material bung. Exemplarisch wurde ein Mauerabschnitt und andererseits lässt sich so ein einheitliches und mittels Georadar untersucht. Es zeigte sich, dass harmonisches Gesamtbild erzeugen. Neben dem im Maueraufbau kein Armierungsstahl bei der Be- Verfüllen von Hohlräumen, dem Schließen von Ris- tonherstellung verwendet wurde. Flächige Ablö- sen und dem statisch-konstruktiven Wiederher- sungen befinden sich hauptsächlich zwischen gro- stellen einzelner Teilbereiche werden die gezielte bem Kernbeton und feiner Vorsatzschale, dies ist Ableitung des Hang- und Oberflächenwassers so- auf die geringe Verzahnung untereinander zu- wie die Abdichtung der Stützmauerrückseiten ge- rückzuführen. Erfreulicherweise sind die tieferlie- gen Hangwasser wesentlicher Bestandteil der In- genden Mauerbereiche im Vergleich dazu stabil standsetzungsmaßnahmen sein. und kompakt, mit der Ausnahme einiger weniger Hinsichtlich der gärtnerischen Ausstattung gilt es, ermittelter Hohlräume. vernachlässigte Gartenräume wie zum Beispiel Mittels Dünnschliffanalyse konnte in Zusammen- den ehemaligen „Golfplatz“ wieder erfahrbar zu arbeit mit der Materialprüfanstalt Stuttgart Ettrin- machen. Dringend erforderlich ist es vor allem, die gitbildung im Porenraum des groben Kernbetons Wege mit wassergebundenen Decken fach- und nachgewiesen werden. Die Entstehungsursache denkmalgerecht neu aufzubauen sowie die Beet- wird derzeit untersucht, man vermutet, dass Aus- kompartimente auf den Terrassen in ihrem ur- waschungen aus dem Beton, der Bodenverfüllung sprünglichen Umfang wiederherzustellen. Beim oder Pflanzendünger für die Bildung des Treibsal- Sommerflor bestehen dagegen Spielräume für ei- zes verantwortlich sein könnten. ne pflegeextensive und dem heutigen Geschmack 10 2017 ausgeführte Notsicherung. Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020 151
11 Schaden: Ausbruch Betonwerkstein. gemäße Bepflanzung. Wünschenswert wäre es au- Oskar Haffner: Die Kurorte und Sommerfrischen Ba- ßerdem, die letzten Exemplare an Jungfernreben dens und des gesamten Schwarzwaldes. Ein Führer zu erhalten und den Bestand zu ergänzen, wobei für Ärzte und Heilbedürftige, 12. Auflage, Freiburg im Rankgerüste helfen könnten, Schäden an den Stütz- Breisgau 1911. mauern zu vermeiden. Der oktogonale Brunnen Barbara Bauer: Sanagarten. Kleinod der Gartenkunst auf der unteren Terrasse müsste wieder aktiviert und Zeugnis St. Blasiens glamouröser Vergangenheit und der Garten in Anlehnung an die historischen als Weltkurort, online unter: https:// www.sanagar- Vorbilder, aber ohne diese zu kopieren, wieder mö- ten.de/ Archiv/ bliert werden. So könnte der Terrassengarten des Sanatoriums St. Blasien heute nicht nur dem Kur- Praktischer Hinweis gast sondern auch den Bürgerinnen und Bürgern und allen Besuchern der Stadt zum Wohle und zur Viele Bilder und Informationen zum Kulturdenk- Erholung dienen. mal auf der Website des Fördervereins Sanagarten e. V.: www.sanagarten.de Literatur und Quellen Glossar Hannes Rother: „Sanagarten“ Gartendenkmalpfle- gerisches Gutachten, unveröffentlichtes Manuskript, Ettringitbildung Karlsruhe 2018. Ettringit ist ein Mineral, das nach seinem ersten Fundort Friedrich Grüner: Unveröff. Untersuchungsbericht der Ettringen in der Eifel benannt wurde. Chemisch han- delt es sich um Calciumaluminatsulfat. Es entsteht als Materialprüfanstalt Stuttgart, Südschwarzwald St. Bla- erstes Kristallisationsprodukt beim Aushärten sulfathal- sien: Untersuchung von Mörtelproben der Mauern tiger Zemente oder nachträglich bei der Reaktion von aus dem Sanatoriumsgarten, 29. 08. 2018, Landes- sulfathaltigem Wasser mit Zement. Die beim Ettringit- amt für Denkmalpflege, Restaurierungsarchiv. wachstum (Kristallisation) entstehenden Drücke kön- Joanna Flawia Figiel: Beton, Kunststein, Stuck: Firma nen vom Porenraum ausgehend den Beton zerstören. Brenzinger und ihre Konkurrenten, in: Augustiner- museum Freiburg, Jugendstil in Freiburg, Freiburg 2001. Volkmar Eidloth Sanatorium St. Blasien (Hrsg.): Sanatorium St. Blasien. Petra Martin Heilanstalt für Lungenkranke in St. Blasien im süd- Karin Schinken lichen badischen Schwarzwald. 800 Meter ü. d. M., Landesamt für Denkmalpflege div. Auflagen, Freiburg im Breisgau 1914, um 1930, im Regierungspräsidium Stuttgart um 1935. Dienstsitz Esslingen 152 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020
Symbole ihrer Zeit Architektonische Relikte des Tankstellenbaus von den Anfängen bis in die 1950er Jahre in Baden-Württemberg In der aktuellen Diskussion über die zukünftigen Antriebstechniken des Autos und der damit verbundenen notwendigen Umstrukturierung und Neuausrich- tung von Tankstellen lohnt es sich, einen Blick zurück in die äußerst bewegte Historie dieser Bauaufgabe zu werfen. Ein Forschungsprojekt an der Fakultät für Architektur und Stadtplanung der Universität Stuttgart befasst sich gegen- wärtig mit der architektonischen Entwicklung der Tankstelle und ihren kon- struktiven Leistungen unter Betrachtung der sich dabei wandelnden Symbol- haftigkeit. Insbesondere die Zeitspanne zwischen Moderne, nationalsozialis- tischer Herrschaft und Nachkriegszeit offenbart aus architektonischer und konstruktiver Sicht Erstaunliches. Einige aus dieser Phase in Baden-Württem- berg erhalten gebliebene, jedoch von der Allgemeinheit kaum beachtete Tank- stellenbauten bekannter zeitgenössischer Architekten zeigen die hohe künstle- rische, technische und wissenschaftliche Bedeutung dieser mit dem Siegeszug des Automobils eng verbundenen Bauaufgabe. Franz Arlart Die Bedeutung der Tankstelle bis zur risierung des Automobils entstanden einzelne Massenmotorisierung in der Nachkriegs- Benzinbürgersteigsäulen, dezentral in den Städten zeit verteilt, und später auch die ersten Klein- und Großtankstellen mit mehreren Zapfsäulen. „Das Auto ist ein Gegenstand mit einfacher Funk- Insbesondere gilt das Dach im Tankstellenbau als tion (es soll fahren) und von vielfältiger Bestim- das charakteristische Gestaltungsmerkmal, wel- mung (Bequemlichkeit, Widerstandsfähigkeit, ches viele Architekten und Ingenieure vor neue Aussehen), das die Großindustrie vor die zwin- technische Herausforderungen stellte, aber auch gende Notwendigkeit gestellt hat, Standardlö- zu neuen ästhetischen Formfindungen führte. Die sungen zu finden. […] So ist zur bestehenden Stan- Überdachungskonstruktion wurde zum kühnen dardlösung das Streben nach Perfektion, nach ei- Designobjekt. In den 1920er bis 1930er und in den ner über den rohen praktischen Gesichtspunkt 1950er bis 1960er Jahren wurde eine besondere hinausgehenden Harmonie getreten, was nicht Leichtigkeit und Offenheit in Form von beinahe flie- nur Perfektion und Harmonie, sondern Schönheit gend anmutenden Dächern erzielt. Die Platzierung bewirkt hat. […] Dies adelt das Auto!“ und Gestaltung der Dachstützen, die trotzdem Diese Feststellungen Le Corbusiers aus dem Jahr eine gute Erreichbarkeit der Zapfsäulen gewähr- 1922 in „Vers une architecture“ gelten auch für leisten sollten, wurde somit zur entscheidenden Bauten, die unmittelbar mit dem Automobil in Ver- Aufgabenstellung für Architekten und Ingenieure. bindung stehen. Einen solchen Ort, dem architek- Neben typisierten Bauten, bei denen die verschie- tonisch eine besondere Bedeutung zukam und der denen Einzelmodule miteinander kombinierbar bisher wissenschaftlich kaum in seiner über das ver- waren und je nach Bedarf zu einem Gesamtbau ad- gangene Jahrhundert aufblühenden Gestaltungs- diert werden konnten, sind zahlreiche Werke nam- vielfalt untersucht worden ist, stellt die Tankstelle hafter Architekten und Ingenieure im Tankstellen- dar. bau bekannt. Hierzu zählen Peter Behrens, Hans Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts konnte man Poelzig, Arne Jacobsen, Mies van der Rohe, der Benzin und andere Treibstoffe vornehmlich in Apo- Bauhausabsolvent Karl Schneider oder auch be- theken erwerben. Erst mit der steigenden Popula- kannte Stuttgarter Architekten wie Paul Bonatz, Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020 153
1 Reichsautobahn- tankstelle Stuttgart Süd, Nordseite von Carl August Bembé, 1938. Paul Schmitthenner, Wilhelm Tiedje, in den 1950er einem großzügig verglasten Kassenhaus und ei- und 1960er Jahren insbesondere Lothar Götz, Paul nem weit ausladenden dünnen Flugdach auf Stohrer, Werner Luz und viele weitere. schlanken Stützen liegen in den USA und wurden in Deutschland von den dem Ideengut des Bau- Symbol der Moderne hauses verpflichteten Architekten weiterentwi- ckelt. Zum Ende der Weimarer Republik entwi- Viele Vertreter der klassischen Moderne in den ckelte sich die Tankstelle somit zum avantgardisti- 1920er Jahren waren von Maschinen, ihrer Kon- sches Großstadtsymbol und Sinnbild für das „Neue struktion und der damit verbundenen Zweckform Bauen“. Nach der Machtergreifung der National- begeistert. Insbesondere die zur Fortbewegung sozialisten zeigte sich allgemein eine dogmatische entwickelten Maschinen, wie das Dampfschiff Abkehr von den Ideen der funktionalistischen Re- oder das sich immer mehr in der Gesellschaft ver- formbewegung des „Internationalen Stils“. Für breitende Automobil wurden zum Vorbild visio- zweckgebundene Industriebauten, zu denen auch närer und wegweisender Architekturen. Somit ver- die Tankstelle als notwendiges technisches Zube- wundert die große Bedeutung der Bauaufgabe hör zum Verkehr zählte, war es dennoch bis etwa 2 Grundriss und Ansicht Tankstelle für die progressiv denkenden Architek- in die Mitte der 1930er Jahre gestattet, nach den Reichsautobahntankstelle ten jener Zeit nicht. Für diesen gänzlich neuen, in Prinzipien der Moderne zu bauen. Dies bezieht sich Stuttgart Süd (Nordseite) Form und Konstruktion geschichtlich nicht vorge- folglich auch auf die frühen Reichsautobahntank- von Carl August Bembé, prägten Bautypus galt es eine adäquate Identität stellen. 1938. zu finden. Die Ursprünge der Großtankstelle mit Carl August Bembé, Architekt und Assistent am Lehrstuhl von Paul Bonatz, entwarf 1936 einen Tankstellen-Typenbau für die damals noch junge Reichsautobahn, der vornehmlich an der Strecke Bruchsal-Frankfurt gebaut wurde. Dieser serielle Entwurf wurde in etwas abgewandelter Form auch an der Anschlussstelle Stuttgart Süd, der heutigen Ausfahrt Plieningen, errichtet (Abb. 1, 2). Wie in der Anfangszeit üblich, stand die Tankstelle im Dreieck zwischen Auf- und Abfahrtspur. Die Ge- staltung der modernen, in Stahlbau errichteten Tankstation mit einem halbrund vorschwingenden, bandartig verglasten Tankwarthaus und einer fili- granen, flügelförmig auskragenden Überdachung auf dünnen Stützen, die zwei Tankinseln schützt, zeigt dabei deutlich Anlehnung an die städtische Großtankstelle der 1920er Jahre. Gemäß den Prin- zipien des Neuen Bauens wurde hier mit den da- mals modernsten Bautechniken und -materialen ein zukunftsweisender Bau geschaffen, der dem Stellenwert des Automobils formal gerecht wer- den sollte. In den 1960er Jahren wurde die Tank- stelle im Zuge der Umgestaltung der Anschluss- stelle abgerissen. 154 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2020
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