Die "große Rezession": Fand sie bei uns nicht statt?

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Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 7/2013   Wirtschaft,
                                                                                                                  Arbeitsmarkt

Die „große Rezession“:
Fand sie bei uns nicht statt?

Reinhard Knödler

Die Rezession im Jahre 2009 hat sowohl in den        In den Vereinigten Staaten wird die Rezession,
USA als auch in Europa deutliche Spuren hinter­      in der die Wirtschaftsleistung in einigen Quar­
lassen. Während sie allerdings in Deutschland,       talen um rund 4 % gegenüber dem Vorjahres­
das vergleichsweise gut durch die Krise ge­          zeitraum sank, mittlerweile als „Great Recession“
kommen ist, mittlerweile vor allem als Auslöser      bezeichnet, was an die „Great Depression“ der
für die (südeuropäische) Schuldenkrise wahr­         1930er-Jahre denken lässt und ein Hinweis auf
genommen wird, hat sie in den Vereinigten            die große Verunsicherung ist, den die Rezession
Staaten eine Diskussion um die Grundlagen            ausgelöst hat. Entsprechend trafen die in den
des Wachstums ausgelöst. Im Jahr 2011 erschien       beiden Publikationen „The Great Stagnation“
                                                                                                                  Dipl.-Volkswirt Reinhard
in den USA ein schmaler Band mit dem Titel           und „The Race Against The Machine“ darge­                    Knödler ist Referent im
                                                                                                                  Referat „Wirtschaftswissen-
„The Great Stagnation“1, in dem die langfristigen    legten Argumente, insbesondere zu den tech­                  schaftliche Analysen,
Wachstumsperspektiven insbesondere der               nologischen Grundlagen des wirtschaftlichen                  Volkswirtschaftliche
                                                                                                                  Gesamtrechnungen“ des
USA, aber auch der übrigen westlichen Industrie­     Wachstums, auf große Resonanz.3                              Statistischen Landesamtes
länder pessimistisch beurteilt werden. Das                                                                        Baden-Württemberg.
Buch löste ein breites Medienecho aus. Als           Den entscheidenden Anstoß zu der Diskussion
Replik erschien der Titel „The Race Against          in den Vereinigten Staaten gab die Arbeits­
The Machine“2, in dem die Informationstech­          marktentwicklung während und nach der
nologie und besonders das Internet als Inno­         „großen Rezession“. Zwischen dem 1. Quartal
vationsquelle und damit Wachstumsgarant              2008, dem letzten „Vorkrisen“-Quartal, und
für die nächsten Jahrzehnte identifiziert werden.    dem 4. Quartal 2009 kam es in den USA glatt
Besitzen die Kernaussagen der beiden Analysen        zu einer Verdoppelung der Arbeitslosigkeit.
für Europa und insbesondere für Baden-               Die von der OECD ausgewiesene, international
Württemberg Relevanz? Dieser Frage soll in           vergleichbare „harmonisierte Arbeitslosen­
einer lockeren Folge von Beiträgen nachge­           quote“4 kletterte innerhalb eines Jahres von
gangen werden.                                       5 % auf den für US-amerikanische Verhältnisse
                                                     ausgesprochen hohen Wert von 9,9 % (Abbil-
                                                     dung 1). Fast noch schockierender für die
                                                     Amerikaner war jedoch, dass die Arbeitslosig­
                                                     keit auch dann hartnäckig auf diesem sehr
Verdoppelung der Arbeitslosigkeit in den USA         hohen Niveau verharrte, als die Wirtschafts­
                                                     leistung wieder zulegte und sich eine wirtschaft­
Im vorliegenden Beitrag soll untersucht werden,      liche Erholung ankündigte. Erst 2011 ging die
was die Autoren der beiden Bücher zu ihren           Arbeitslosigkeit wieder leicht zurück und die
Analysen veranlasst hat und weshalb es in            harmonisierte Arbeitslosenquote lag im 4. Quartal
den USA, nicht jedoch in Europa, zu einer Dis­       des Jahres 2011 erstmals seit zweieinhalb Jah­
kussion um die Grundlagen des wirtschaftlichen       ren wieder unter der Marke von 9 %.
Wachstums gekommen ist.
                                                     In Deutschland und Baden-Württemberg konnte
Die Vereinigten Staaten haben 2008 und 2009          dagegen verhindert werden, dass der Produk­
                                                                                                                  1 Cowen, Tyler (2011): The
ebenso wie Europa eine schwere Rezession             tionseinbruch während der Krise nennenswert                    Great Stagnation, Dutton
erlebt, die von einer Finanzkrise begleitet wurde.   auf den Arbeitsmarkt übergriff. Das wurde durch                (Verlag), New York.
Die Krise setzte, gemessen an der Veränderung        den massiven Einsatz von Kurzarbeit erreicht.                2 Brynjolfsson, Eric/
des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber           Zwar stieg auch hierzulande während der Re­                    McAfee, Andrew (2011):
                                                                                                                    The Race Against The
dem Vorquartal, Anfang 2008 ein, erreichte           zession die Arbeitslosigkeit leicht an. So kletterte           Machine, Digital Frontier
                                                                                                                    Press, Lexington, Mas­
zum Jahreswechsel 2008/2009 ihren Höhepunkt          die harmonisierte Arbeitslosenquote in Deutsch­                sachusetts.
und klang schließlich Mitte 2009 mit dem Wieder­     land aber lediglich auf 8 % im 3. Quartal 2009
                                                                                                                  3 Vgl. Wikipedia (engl.)
anstieg der Wirtschaftsleistung aus. Auch in         und ging dann wieder zurück. Auch in Baden-                    Artikel “The Great
Deutschland und Baden-Württemberg kam es,            Württemberg nahm die Erwerbslosigkeit im                       ­Stagnation”: “…the book
                                                                                                                     was largely welcomed
abgesehen von dem etwas späteren Einsetzen           Verlauf der Rezession nur moderat zu. Die von                   as timely and skilled in
                                                                                                                     framing the debate
der Rezession, zu keinen größeren Abweichun­         der Bundesagentur für Arbeit berechnete Arbeits­                around the future of the
gen von diesem Verlauf.                              losenquote (bezogen auf alle zivilen Erwerbs­                   American economy.”

                                                                                                                   27
Wirtschaft,           Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 7/2013
        Arbeitsmarkt

                                               Arbeitslosigkeit*) in den USA, dem Euroraum, Deutschland und Baden-Württemberg
                                  S1           2008 bis 2012

                                    %
                                    12
                                                                                                                              Euroraum
                                    10
                                                                                                                                                             USA
                                      8
                                                                                                                             Deutschland
                                      6

                                      4
                                                                Baden-Württemberg
                                      2

                                      0
                                           I     II    III      IV       I     II    III   IV     I      II       III   IV     I    II       III   IV   I      II       III   IV
                                                   2008                          2009                         2010                       2011                       2012

                                    *) USA, Euroraum, Deutschland: harmonisierte Arbeitslosenquote. Baden-Württemberg: Zahl der Arbeitslosen bezogen auf alle zivilen
                                    Erwerbspersonen.
                                    Datenquellen: OECD, Bundesagentur für Arbeit.

                                 Statistisches Landesamt Baden-Württemberg                                                                                                    305 13

                                personen) erhöhte sich bis zum 1. Quartal 2010                                   wurde maßgeblich durch den Beschäftigungs­
                                auf 5,5 % und lag damit nur um 1 Prozentpunkt                                    abbau verursacht, der während der Rezession
                                über dem Wert 2 Jahre zuvor, also vor dem                                        besonders kräftig ausfiel (Abbildung 2). 2009
                                Ausbruch der Rezession.                                                          sank die Zahl der Erwerbstätigen in den USA
                                                                                                                 in jedem Quartal um rund 4 % gegenüber
                                                                                                                 dem jeweiligen Vorjahresquartal. Damit war
                                Konjunkturelle Erholung ohne                                                     der Beschäftigungsrückgang nicht nur in sei­
                                Beschäftigungsaufbau?                                                            ner Stärke, sondern auch in seiner Dauer mehr
                                                                                                                 als doppelt so hoch wie in Deutschland und
                                Für die amerikanische Öffentlichkeit zeigte sich                                 Baden-Württemberg (Abbildungen 3 und 4).
                                die Krise vor allem in der für die USA sehr                                      Sogar in Europa war 2009 die Beschäftigungs­
                                hohen und anhaltenden Arbeitslosigkeit. Sie                                      entwicklung noch besser als in den USA. Zwar
4 Die harmonisierte
  ­Arbeitslosenquote beruht
   auf dem ILO-Konzept
   der Arbeitslosigkeit.
   Dementsprechend ist
   eine Person zwischen 15
                                  S2           Wirtschaftsleistung*) und Beschäftigung**) in den USA von 2008 bis 2012
   und 74 Jahren dann
   ­arbeitslos, wenn sie in
    einer Referenzwoche
    keine Arbeit hat und            Veränderung des realen BIP
    bereit ist, innerhalb der       gegen das Vorjahresquartal in %
    nächsten 2 Wochen eine           6
    Beschäftigung aufzu­                 Produktivitäts-
    nehmen, wenn sie in                  gewinne
    den letzten 4 Wochen             4
    aktiv nach Arbeit ge­                                                                               3/10
    sucht hat, oder wenn sie                                                                    2/10             4/10       1/12 3/12
    innerhalb der nächsten                                                          1/10                     2/11      4/11
                                       2                                                                                    2/12
    3 Monate eine Beschäf­                                                                             1/08         1/11         4/12
    tigung antreten wird.                                                                               2/08   3/11
    Diese Arbeitslosenzahl
                                       0
    wird zur Gesamtzahl                                      4/09
    aller Erwerbspersonen                                                                              3/08
    zwischen 15 und 74 Jah­
    ren in Beziehung ge­            –2
    setzt. Die harmonisierte                                                               4/08
    Arbeitslosenrate ist sai­                                3/09
                                                                             1/09
    sonbereinigt. Die von           –4
    der Bundesagentur für                                                                                                                                   Produktivitäts-
                                                                      2/09                                                                                  verluste
    Arbeit für Deutschland
    und die Bundesländer            –6
    berechnete Arbeitslosen­          –6                            –4               –2                 0                2                              4                     6
    quote gibt die Relation                                         Veränderung der Erwerbstätigenzahl gegen das Vorjahresquartal in %
    zwischen den bei der
    Bundesagentur als ar­           *) Reales Bruttoinlandsprodukt. – **) Zahl der Erwerbstätigen.
    beitslos gemeldeten Per­
                                    Datenquelle: OECD.
    sonen und der
    ­Gesamtzahl der Erwerbs­
                                 Statistisches Landesamt Baden-Württemberg                                                                                                    306 13
     personen wieder.

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Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 7/2013   Wirtschaft,
                                                                                                                                                Arbeitsmarkt

 S3        Wirtschaftsleistung*) und Beschäftigung**) in Deutschland von 2008 bis 2012

    Veränderung des realen BIP
    gegen das Vorjahresquartal in %
     8
             Produktivitäts-
      6      gewinne
                                                                              2/10 3/10
                                                                     4/10                        1/11
      4
                                                                                            1/08    2/11
                                                                            1/10
                                                                                   2/08               3/11
      2
                                                                            2/12        1/12            4/11
      0                                                                             3/12 3/08
                                                                            4/12

    –2
                                                                            4/09          4/08
    –4
                                                             3/09
                                                                              2/09                                  Produktivitäts-
    –6                                                                                                              verluste
                                                                                   1/09
    –8
      –8                 –6             –4           –2           0             2            4                           6             8
                                   Veränderung der Erwerbstätigenzahl gegen das Vorjahresquartal in %

    *) Reales Bruttoinlandsprodukt. – **) Zahl der Erwerbstätigen.
    Datenquelle: OECD.

 Statistisches Landesamt Baden-Württemberg                                                                                             307 13

fiel auch in der Eurozone in allen 4 Quartalen                              ohne Beschäftigungsaufbau wird im Englischen
die Zahl der Erwerbstätigen, die Rückgänge                                  als „jobless growth“ oder „jobless recovery“
waren mit jeweils rund 2 % jedoch nur halb                                  bezeichnet. Bereits nach den Rezessionen 1991
so hoch wie in den Vereinigten Staaten (Ab-                                 und 2001 war es in den USA stark diskutiert
bildung 5).                                                                 worden und galt als das Symptom der De­
                                                                            industrialisierung der US-amerikanischen
So problematisch der starke Beschäftigungs­                                 Wirt­schaft schlechthin.
abbau und die daraus resultierende hohe Arbeits­
losigkeit für die amerikanische Öffentlichkeit                              Obwohl auch hierzulande die Zahl der Erwerbs­
war, für die Ökonomen war der Beschäftigungs­                               tätigen erst 2011 wieder spürbar zunahm, also
rückgang in der Krise noch kein Anlass zur                                  rund 1 Jahr, nachdem die Wirtschaftsleistung
Beunruhigung. Im Gegenteil: Da der Beschäfti­                               wieder zu wachsen begonnen hatte, spielte
gungsabbau mit einer starken Abnahme der                                    das Phänomen des „jobless growth“ in der
Wirtschaftsleistung einher ging, konnte er sogar                            wirtschaftspolitischen Diskussion keine Rolle.
als Bestätigung des sogenannten „Gesetzes                                   Stattdessen dominierte die Finanz- und Schul­
von Okun“5 betrachtet werden, aus dem sich                                  denkrise die öffentliche Wahrnehmung der
ein stabiler, gleichgerichteter Zusammenhang                                ­Rezession. Das gilt auch für Europa. Gerade im
zwischen der Wirtschaftsleistung und der Be­                                 Euroraum sank oder stagnierte jedoch in den
schäftigung ableiten lässt.                                                  Jahren 2010 und 2011 die Zahl der Erwerbs­
                                                                             tätigen trotz des Wiederanstiegs der Wirtschafts­
Mit dem Einsetzen der wirtschaftlichen Erholung                              leistung.
hätte es entsprechend des Gesetzes von Okun
wieder zu einem Beschäftigungsaufbau und
einer Verminderung der Arbeitslosigkeit kommen                              Günstige Produktivitätsentwicklung
müssen. Doch dieser Beschäftigungsanstieg                                   in den USA
blieb aus, als 2010 und in der ersten Hälfte 2011
die Wirtschaftsleistung in den USA wieder                                   Die Kehrseite der Beschäftigungssicherung in
spürbar zunahm und sich die Anzeichen für                                   Deutschland und Baden-Württemberg war ein
eine konjunkturelle Erholung verdichteten. So                               starker Rückgang der Arbeitsproduktivität
nahm 2010 die Zahl der Erwerbstätigen sogar                                 ­(i-Punkt, Abbildungen 2 bis 5). In den ersten
trotz steigender Wirtschaftsleistung in den ersten                           Quartalen 2009, also auf dem Höhepunkt der
3 Quartalen weiter ab und die USA mussten                                    Rezession, ist die Wirtschaftsleistung je Erwerbs­
bis 2011 warten, bis die Beschäftigung wieder                                tätigem in Deutschland und Baden-Württemberg                       5 Okun, Arther Melvin,
                                                                             um rund ein Zehntel gesunken. Dieser Einbruch,                       1928–1980, US-amerika­
spürbar stieg. Das Phänomen des Wirtschafts­
                                                                                                                                                  nischer Wirtschaftswis­
wachstums bzw. der konjunkturellen Erholung                                  der eine Begleiterscheinung der sprunghaften                         senschaftler.

                                                                                                                                                 29
Wirtschaft,          Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 7/2013
       Arbeitsmarkt

                                                                                                       Zunahme der Kurzarbeit war, wurde jedoch
                                         Einfache Wachstumszerlegung                                   bewusst in Kauf genommen, um das Ziel der
                                                                                                       Beschäftigungsstabilisierung zu erreichen. Aller­
                                       Die Gerade durch den Koordinaten­                               dings hat sich der Rückgang der Arbeitspro­
                                       ursprung markiert all diejenigen                                duktivität nicht auf das Jahr 2009 beschränkt.
                                 Punkte, bei denen die Veränderungs­rate                               Besonders in Deutschland ist die Wirtschafts­
                                 des Bruttoinlandsprodukts der Verände­                                leistung je Erwerbstätigem auch noch 2011 und
                                 rungsrate der Erwerbstätigenzahl ent­                                 2012 leicht gesunken. Auch die ausgesprochen
                                 spricht. Bei nominaler Betrachtung ergibt                             günstige Beschäftigungsentwicklung in diesen
                                 sich die Veränderungs­rate der Wirtschafts­                           Jahren ging also mit einer nur schwachen Pro­
                                 leistung aus der Summe der Verände­                                   duktivitätsentwicklung einher.
                                 rungsrate der Beschäftigung und der
                                 Veränderung der Arbeitsproduktivität.                                 In den USA ist es dagegen lediglich während
                                 Alle Datenpunkte, die unterhalb der Ge­                               des Höhepunkts der Rezession zum Jahres­
                                 raden durch den Koordinatenursprung                                   wechsel 2008/2009 zu einem Rückgang der
                                 liegen, geben deshalb einen Rückgang                                  ­Arbeitsproduktivität gekommen. Dieser fiel mit
                                 der nominalen Arbeitsproduktivität wie­                                Abnahmen von unter 5 %, verglichen mit
                                 der, die Punkte oberhalb der Geraden                                   Deutschland und Baden-Württemberg, zudem
                                 ent­sprechen einer Produktivitätszunahme.                              sehr moderat aus. In den meisten Quartalen
                                 Bei nominaler Betrachtung ist der verti­                               der Jahre von 2008 bis 2012 ist die Wirtschafts­
                                 kale Abstand zwischen Datenpunkt und                                   leistung je Erwerbstätigem sogar gestiegen.
                                 Ursprungsgerade ein direktes Maß für                                   Zwar wird darauf hingewiesen, dass es sich
                                 die Veränderungsrate der Erwerbstätigen­                               dabei zu einem nicht unerheblichen Teil um
                                 produktivität. In den Streudiagrammen                                  sogenannte „Freisetzungsproduktivität“ han­
                                 gibt der vertikale Abstand die reale Ver­                              dele, also um eine Zunahme der Arbeitsproduk­
                                 änderung der Arbeits­produktivität aller­                              tivität, die durch einen Beschäftigungsabbau
                                 dings nur näherungsweise wieder. Aus                                   erreicht wird. Und in der Tat traten im 2. Halb­
                                 wirtschaftsstatistischen Gründen treten                                jahr 2009 und in den ersten 3 Quartalen 2010
                                 bei quartals­bezogenen Veränderungsraten                               die Produktivitätssteigerungen in Kombinati­
                                 realer Größen gegenüber dem Vorjahres­                                 on mit Rückgängen bei der Beschäftigung auf.
                                 zeitraum neben den Mengeneffekten in                                   Allerdings machen diese Quartale nur rund
                                 geringem Umfang auch Preiseffekte auf.                                 ein Drittel des gesamten Zeitraums mit Pro­
                                                                                                        duktivitätssteigerungen in der US-Wirtschaft
                                 Was sagen die einzelnen                                                aus. Im Euroraum spielt die „Freisetzungspro­
                                 Datenpunkte aus?                                                       duktivität“ demgegenüber eine deutlich grö­
                                                                                                        ßere Rolle. Dort ist es in rund der Hälfte des
                                                                                •D          g=l
                                                                                
                                                             g                                          Zeitraums von knapp 3 Jahren, in dem zwi­
                                                                                                        schen 2008 und 2012 Produktivitätszuwächse
                                                                         g''D
                                                                                                       zu verzeichnen waren, gleichzeitig zu
                                                                                                       Beschäftigungs­rückgängen gekommen.
                                                                                    
                                                                                     g'D
                                                                                            = lD
                                                                                                       Die Frage der technologischen Grundlagen
                                                                  45º                                 des Wachstums ist hochaktuell…
                                                                                                   l
                                                                 
                                                                 
                                                                 

                                                                        lD
                                                                                                       Was lässt sich nun aus der konjunkturellen
                                                                                                       Entwicklung seit dem Beginn der „großen
                                                                                                       ­Rezession“ über die Wachstumsperspektiven
                                                                                                        der einzelnen Regionen ableiten? Auch der
                                                                                                        Vergleich der mittleren, quartalsbezogenen
                                                                                                        Veränderungsraten von Wirtschaftsleistung,
                                                                                                        Erwerbstätigenzahl und Arbeitsproduktivität für
                                                                                                        die Jahre von 2009 bis 20126 zeigt, dass die
                                 D   Datenpunkt
                                                                                                        Rezession in den Regionen bis Ende 2012, also
6 Für Baden-Württemberg          g   Veränderungsrate des Bruttoinlandsprodukts
  liegen nach der aktuellen      I   Veränderungsrate der Erwerbstätigenzahl                            in der eigentlichen Rezessionsphase und der
  „Klassifikation der Wirt­      p   Veränderungsrate der Arbeitsproduktivität                          nachfolgenden Erholungsphase, sehr unter­
  schaftszweige“, Ausgabe            (BIP je Erwerbstätigem)
  2008, vierteljährliche                                                                                schiedliche Auswirkungen hatte (Abbildung 6).
  Erwerbstätigenzahlen                                                                                  Während in den USA, Deutschland und Baden-
  ab 2008 vor, sodass sich       In der Grafik ist gD = g'D + g''D außerdem gilt
  Veränderungsraten zum          wirtschafts­theoretisch gD = lD + pD.                                  Württemberg die Wirtschaftsleistung im Mittel
  Vorjahreszeitraum ab           Da im Schaubild zudem g'D = lD ist, ergibt sich pD = g''D.             über den gesamten Zeitraum sogar stieg, ging
  2009 berechnen
  lassen.                                                                                               sie in der gesamten Eurozone leicht zurück.

                     30
Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 7/2013   Wirtschaft,
                                                                                                                                            Arbeitsmarkt

 S4        Wirtschaftsleistung*) und Beschäftigung**) in Baden-Württemberg von 2009 bis 2012

   Veränderung des realen BIP
   gegen das Vorjahresquartal in %
    16

      12    Produktivitäts-
            gewinne
                                                                               3/10   1/11
                                                                  2/10
       8
                                                                                  4/10
                                                                                    2/11
       4
                                                         1/10                      1/12 3/11
                                                                                3/12     4/11
       0
                                                                                4/12 2/12
                                                                 4/09
     –4

     –8
                                                        3/09                  1/09
   – 12                                                                                                         Produktivitäts-
                                                                                                                verluste
                                                                  2/09
   – 16
       –8                –6             –4           –2            0            2           4                        6             8
                                   Veränderung der Erwerbstätigenzahl gegen das Vorjahresquartal in %

   *) Reales Bruttoinlandsprodukt. – **) Zahl der Erwerbstätigen.
   Datenquelle: Erwerbstätigenrechnung der Länder, eigene Berechnungen.

Statistisches Landesamt Baden-Württemberg                                                                                          308 13

Die Schwäche der konjunkturellen Erholung                                     darauf sein, dass sich die Finanz- und Schulden­
im Euroraum zeigt sich auch darin, dass die                                   krise im Euroraum zu einer anhaltenden real­
Wirtschaftsleistung dort nicht nur, wie in den                                wirtschaftlichen Wachstumskrise entwickelt
USA, Deutschland und Baden-Württemberg in                                     hat.7
den eigentlichen Krisenquartalen sank, sondern
auch in den letzten 3 Quartalen 2012. Diese                                   Aber auch in den anderen Regionen weist die
Rückkehr der Rezession könnte ein Hinweis                                     Krisenbewältigung Schwachstellen auf. Zwar

 S5        Wirtschaftsleistung*) und Beschäftigung**) im Euroraum von 2008 bis 2012

   Veränderung des realen BIP
   gegen das Vorjahresquartal in %
    8
            Produktivitäts-
      6     gewinne

      4
                                                           2/10        1/11
                                                                       3/10     1/08
      2                                                                    2/11
                                                       1/10       4/10
                                                                        3/11 2/08
                                                                 1/12 4/11
      0                                                     2/12
                                                        4/12      3/12   3/08
                                                                                                                                            7 In Abbildung 6 gibt der
   –2                                                                                                                                         obere Abschnitt der ver­
                                                         4/09                 4/08                                                            tikalen Linie durch den
   –4                                                                                                                                         Datenpunkt im Verhält­
                                                3/09    2/09                                                                                  nis zur gesamten Strecke
                                                                1/09                                            Produktivitäts-               den Anteil des Zeitraums
   –6
                                                                                                                verluste                      mit negativen Verände­
                                                                                                                                              rungsraten oder mit
   –8                                                                                                                                         Stagnation am gesamt­
     –8                 –6             –4           –2           0             2            4                        6             8          en Zeitraum wieder.
                                  Veränderung der Erwerbstätigenzahl gegen das Vorjahresquartal in %                                          Zwischen 2009 und 2012
                                                                                                                                              verzeichnete die Euro­
   *) Reales Bruttoinlandsprodukt. – **) Zahl der Erwerbstätigen.                                                                             zone also deutlich mehr
                                                                                                                                              Quartale mit stagnie­
   Datenquelle: OECD.
                                                                                                                                              render oder sinkender
                                                                                                                                              Wirtschaftsleistung als
Statistisches Landesamt Baden-Württemberg                                                                                          309 13
                                                                                                                                              die USA.

                                                                                                                                             31
Wirtschaft,         Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 7/2013
       Arbeitsmarkt

                                        Kennzahlen*) zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in den USA, dem Euroraum,
                               S6       Deutschland und Baden-Württemberg 2009 bis 2012

                                       Wirtschaftsleistung1)                   Beschäftigung2)                     Arbeitsproduktivität3)

                                                                                                                                                      USA

                                                                                                                     1,3                              Euroraum

                                                            0,9                        1,0
                                        0,8                                                                                                           Deutschland
                                                   0,7
                                                                                                0,6
                                                                                                                             0,3       0,3            Baden-
                                                                                                                                                      Württemberg
                                                                                                                             – 0,2
                                                 – 0,3
                                                                             – 0,5
                                                                                      – 0,7

                                 *) Arithmetische Mittelwerte der Veränderungsraten zum Vorjahresquartal in %. – 1) Reales Bruttoinlandsprodukt. – 2) Erwerbstätigen-
                                 zahl. – 3) Reales BIP je Erwerbstätigem (näherungsweise).
                                 Datenquelle: OECD, eigene Berechnungen.

                              Statistisches Landesamt Baden-Württemberg                                                                                             310 13

                             hat sich die Diagnose des „jobless growth“,                              im Bereich der technologischen Innovationen
                             die sowohl für „The Great Stagnation“ als auch                           verlieren. Die Kluft innerhalb Europas zwischen
                             für „The Race Against The Machine“ als Auf­                              den innovationsstarken und den innovations­
                             hänger fungierten, für die USA im Nachhinein                             schwächeren Ländern habe sich erheblich ver­
                             als unbegründet erwiesen – 2012 stieg die Zahl                           größert.8
                             der Erwerbstätigen um rund 2 % an. Dieser
                             Beschäftigungsaufbau war jedoch nur mit                                  Die Autoren von „The Race Against The Ma­
                             einer vergleichsweise geringen Zunahme der                               chine“ würden wohl der Deutung der geringen
                             Arbeitsproduktivität verbunden, die deutlich                             Produktivitätssteigerungen als Indiz für das
                             unter dem Durchschnittswert von 1,3 % lag.                               Fehlen von Wachstumsimpulsen ebenfalls zu­
                             Im Sinne von „The Great Stagnation“ ließe                                stimmen. Allerdings vertreten sie auch die An­
                             sich dies als Beleg dafür deuten, dass der Auf­                          sicht, dass es nach wie vor Technologien gibt,
                             schwung nicht durch einen autonomen                                      die über ein hohes Innovations- und Wachs­
                             Wachstumsimpuls vorangetrieben wird, der                                 tumspotential verfügen. Insbesondere die In­
                             zu einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität, zu                           formations- und Kommunikationstechnologie
                             höheren Löhnen und damit zu einer steigenden                             zählt für sie zu diesen sogenannten „Schlüssel­
                             gesamtwirtschaftlichen Nachfrage führt. Viel­                            technologien“. Gleichzeitig weisen Brynjolfsson
                             mehr muss man davon ausgehen, dass die Er­                               und McAfee allerdings auch darauf hin, dass
                             höhung der Beschäftigung auch in den USA                                 die langfristige Herausforderung nicht nur darin
                             lediglich konjunktureller Natur ist, also nur                            besteht, das Innovationspotential der Schlüssel­
                             durch die geringe Zunahme der Arbeitspro­                                technologien zu nutzen, sondern auch den wirt­
                             duktivität ermöglicht wird.                                              schaftlichen und sozialen Strukturwandel, der
                                                                                                      durch den technologischen Fortschritt ausge­
                                                                                                      löst wird, zu bewältigen. Vor dieser Herausforde­
                             … gerade auch für den Euroraum                                           rung stehen auch die Länder, die gegenwärtig
                                                                                                      von der Europäischen Kommission im Hinblick
                             Noch mehr als im Fall der USA muss man bei                               auf ihren Ressourceneinsatz im Bereich von
                             der Eurozone, Deutschland und Baden-Württem­                             Forschung und Entwicklung als führend be­
                             berg davon ausgehen, dass sich in der geringen                           trachtet werden, wie das bei Deutsch­land und
                             durchschnittlichen Zunahme der Arbeitspro­                               damit auch Baden-Württemberg der Fall ist.
                             duktivität und den häufigen Phasen ihres Rück­
                             gangs oder ihrer Stagnation das Fehlen auto­
                             nomer Wachstumsimpulse manifestiert. Im
8 Europäische Kommis­        Hinblick auf die wichtigste Quelle derartiger
  sion, Leistungsanzeiger:   Wachstumsimpulse, den technologischen
  EU wird innovativer,
  aber Kluft zwischen den    Fortschritt, warnt die Europäische Kommission                            Weitere Auskünfte erteilt
  Ländern vertieft sich,
  Pressemitteilung vom
                             insbesondere davor, dass in der Eurozone die                             Reinhard Knödler, Telefon 0711/641-29 58,
  26. März 2013.             südeuropäischen Krisenländer den Anschluss                               Reinhard.Knoedler@stala.bwl.de

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