DER EUROPÄISCHE HAFTBEFEHL IM LICHTE RECHTSSTAATLICHER DEFIZITE - JKU ePUB
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Eingereicht von Kevin Schönfelder- Kickinger Angefertigt am DER EUROPÄISCHE Institut für Europarecht Beurteiler HAFTBEFEHL IM Univ.-Prof. Dr. Franz Leidenmühler LICHTE März 2021 RECHTSSTAATLICHER DEFIZITE Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magister der Rechtswissenschaften im Diplomstudium Rechtswissenschaften JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ Altenberger Straße 69 4040 Linz, Österreich jku.at DVR 0093696
EIDESSTATTLICHE ERKLARUNG lch erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw. die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch. Theresienfeld, 31 .03.2021 Kevin Schönfelder-Kickinger / d
Danksagung Zuerst gebührt mein Dank Herrn Institutsvorstand Univ.-Prof. Dr. Franz Leidenmühler, der diese Diplomarbeit betreut und begutachtet hat. Meiner Mutter Alexandra danke ich für die finanzielle Unterstützung und den stets bestärkenden Zuspruch in schwierigen Zeiten. Ohne sie wäre mir das Studium in dieser Form nicht möglich gewesen. Darüber hinaus gilt mein Dank meinem Stiefvater Christian, meiner Schwester Jacqueline, meiner Oma Johanna, meinem Freund Paul und allen namentlich hier nicht genannten Personen. Sie alle haben mich durch einen materiellen und / oder immateriellen Beitrag auf diesem Weg unterstützt.
Inhaltsverzeichnis I. Einleitung ............................................................................................................... 1 II. Hauptteil ................................................................................................................ 3 A. Historische Entwicklung der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen........ 3 B. Rechtliche Grundlagen ................................................................................... 5 1. Primärrecht ............................................................................................................ 5 2. Sekundärrecht ....................................................................................................... 7 a) Rahmenbeschluss 2002/584/JI .............................................................................. 8 b) Rahmenbeschluss 2009/299/JI .............................................................................. 8 c) Beschluss 2002/187/JI ........................................................................................... 9 d) Beschluss 2007/533/JI ........................................................................................... 9 C. Problemfelder ............................................................................................... 10 1. Ausstellung .......................................................................................................... 10 a) Organisatorische Anforderungen an den Aussteller ............................................. 10 2. Vollstreckung ....................................................................................................... 13 a) Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ......................................................... 13 b) Aussetzung des Mechanismus ............................................................................ 14 c) Ablehnung ........................................................................................................... 15 (1) Fakultativ ............................................................................................................. 15 (2) Obligatorisch........................................................................................................ 17 (3) Grundrechte und allgemeine Rechtsgrundsätze .................................................. 18 (a) Zweistufige Prüfung (Aranyosi-Formel) ................................................................ 18 i. Systemische oder allgemeine Mängel ...................................................... 19 ii. Individuelle Gefahrenprognose ................................................................. 24 (b) Kritik und alternatives Prüfungsmodell ................................................................. 25 i. Strukturunterschiede Art 4 und Art 47 Abs 2 GRC .................................... 25 ii. Selektiver Grundrechtsvorbehalt ............................................................... 26 iii. Verlagerung der Grundrechtsverantwortlichkeit ........................................ 27 iv. Notwendigkeit einheitlicher Auslegung des systemischen Mangels .......... 28 v. Art 19 Abs 1 UAbs 2 EUV als Prüfungsmaßstab....................................... 29 III. Resümee und Ausblick ........................................................................................ 30 IV. Literatur-, Judikatur- und Materialienverzeichnis .................................................. 33
Abkürzungsverzeichnis ABl ............................................ Amtsblatt Abs ........................................... Absatz AEUV ........................................ Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union aF ............................................. alte Fassung Art ............................................. Artikel Aufl ........................................... Auflage Bd ............................................. Band BGBl ......................................... Bundesgesetzblatt bspw ......................................... beispielsweise bzw ........................................... beziehungsweise dh ............................................. das heißt EGMR....................................... Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGV .......................................... Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften EMRK ....................................... Europäische Menschenrechtskonvention EnzEur ...................................... Enzyklopädie Europarecht EU ............................................ Europäische Union EuGH ........................................ Europäischer Gerichtshof EuHb ........................................ Europäischer Haftbefehl EuR .......................................... Zeitschrift Europarecht EUV .......................................... Vertrag über die Europäische Union f ................................................ folgende ff ............................................... fortfolgende GA ............................................ Generalanwalt ggf ............................................ gegebenenfalls GRC ......................................... Charta der Grundrechte der Europäischen Union hM ............................................ herrschende Meinung Hrsg .......................................... Herausgeber HS ............................................ Halbsatz idF ............................................ in der Fassung idR ............................................ in der Regel
iSd ............................................ im Sinne des iVm ........................................... in Verbindung mit iZm ........................................... im Zusammenhang mit Jud............................................ Judikatur EU-JZG..................................... Bundesgesetz über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union lit ............................................... littera Ms............................................. Mitgliedstaat Nr.............................................. Nummer ÖJZ........................................... Österreichische Juristenzeitung RB ............................................ Rahmenbeschluss RFSR ........................................ Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes Rs ............................................. Rechtssache Rsp ........................................... Rechtsprechung Rz ............................................. Randziffer S ............................................... Satz SIS............................................ Schengener Informationssystem sog............................................ sogenannte ua ............................................. unter anderen UAbs ......................................... Unterabsatz verb .......................................... verbundene vgl ............................................. vergleiche vs .............................................. versus Z ............................................... Ziffer ZStW ........................................ Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaften
I. Einleitung „Wenn es in Polen Rechtsverletzungen gibt, dann werden diese vor allem von den Gerichten selbst begangen und es gibt dafür unzählig viele Beispiele.“1 Dieses Zitat stammt vom Vorsitzenden der polnischen Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość), Jarosław Kaczyński, der damit das Gesetz zur Richterdisziplinierung zu rechtfertigen versuchte. Mit Beschluss vom 08.04.20202 gewährte der EuGH vorläufigen Rechtsschutz und trug der Republik Polen auf die Anwendung der Bestimmungen über die Befugnisse der Disziplinarkammer beim Obersten Gericht, im Hinblick auf Disziplinarverfahren gegen Richter, auszusetzen. Polen hat bereits im November 2015 Justizreformen eingeleitet, welche die gesamte Struktur des Justizsystems betreffen und zwar neben den Verwaltungsgerichten und dem Verfassungsgerichtshof auch die ordentliche Gerichtsbarkeit, einschließlich dem Obersten Gericht. Besonders hervorzuheben ist die Justizreform von 2018, mittels welcher das Verfahren zur Ernennung der richterlichen Mitglieder des Landesjustizrates geändert wurde. Diese werden nun direkt vom Parlament (Sejm) ernannt und nicht mehr von ihresgleichen. Der Landesjustizrat ist für die Unabhängigkeit der Gerichte von fundamentaler Bedeutung, zumal er dem Präsidenten der Republik Kandidaten für die Ernennung als Richter vorschlägt und auch die richterlichen Mitglieder der Disziplinarkammer auf seinen Vorschlag hin ernannt werden. Dieser Kammer wiederum kommen weitreichende Befugnisse zu, denn sie ist nicht nur ermächtigt die Immunität von Richtern aus Anlass eines Strafverfahrens aufzuheben, sondern bildet auch die letzte Instanz in Disziplinarverfahren.3 Mit Beschluss vom 17.02.2020 hat zum ersten Mal ein deutsches Gericht, das Oberlandesgericht Karlsruhe, Zweifel geäußert, ob aufgrund der Justizreformen Polens die Unabhängigkeit der polnischen Justiz und der Anspruch des zu Übergebenden auf ein faires Verfahrens iSd Art 47 Abs 2 GRC im Zuge des Übergabeverfahrens, nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, gewährleistet ist. Die 1 https://orf.at/stories/3152188/, abgefragt am 12.02.2021. 2 EuGH 08.04.2020 Rs C-791/19, Kommission/Polen, ECLI:EU:C:2020:277. 3 Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020, Länderkapitel Polen, 1-9. 1
Übergabehaft wurde in dieser Rechtssache aufgehoben, im Verfahren selbst ist jedoch noch keine abschließende Entscheidung ergangen.4 Auch in Ungarn ist die Kritik in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz nicht vollends verstummt. So kritisiert der Bericht über die Rechtsstaatlichkeit die untergeordnete Stellung des Landesrichterrates im Vergleich zum politisch gewählten Präsidenten des Landesrichteramtes, welcher wesentliche Entscheidungen hinsichtlich der Verwaltung des Gerichtssystems zu treffen hat und daher einer zureichenden Kontrolle unterliegen sollte. Darüber hinaus steht die Beeinträchtigung der Stellung von Vorabentscheidungsersuchen durch die Gerichte in Kritik, sowie das leistungsabhängige Bonussystem für Richter.5 Diese Diplomarbeit setzt sich mit einem wichtigen Instrumentarium der europäischen Strafrechtspflege, dem Europäischen Haftbefehl, auseinander, dessen Mechanismus vor dem Hintergrund des Justizumbaus in Polen, aber auch aufgrund der Haftbedingungen in Ungarn und Rumänien, auf eine besondere Probe gestellt wurde und wird. Er war mehrfach Gegenstand von Vorabentscheidungsersuchen, weil die Gefahr von Grundrechtsverletzungen im Raum stand. Die besondere Relevanz des EuHb resultiert letztlich aus dem Abbau der Grenzkontrollen in der Union, zumal die Erleichterung und Beschleunigung des Personenverkehrs auch der grenzüberschreitenden Kriminalität zu Gute kommt. Ausgehend vom Prinzip der gegenseitigen Anerkennung war die Abschaffung des zweigliedrigen förmlichen Auslieferungsverfahrens im Verhältnis der Unionsstaaten6 zueinander folgerichtiger Schritt, wiewohl diese Anerkennung auf dem Vertrauen eines Mitgliedstaates in die Einhaltung des Unionsrechtes und der Grundrechte durch den anderen Mitgliedstaat fußt.7 Ich gehe nun im Vorfeld auf die rechtshistorischen und rechtlichen Grundlagen ein, um sodann die Problemfelder im Rahmen von Ausstellung und Vollstreckung aufzuzeigen. Bei Ausstellung eines Europäischen Haftbefehles muss stets eine Justizbehörde im Sinne des Art 6 Abs 1 RB-EuHb handeln, wobei ich anhand der Rechtsprechung des EuGH die Anforderungen an diese Behörde herausstreichen möchte. Der Schwerpunkt 4 https://www.lto.de/recht/justiz/j/olg-karlsruhe-ausl301ar156-19-ausliefung-polen-faires-verfahren- justizreform/, abgefragt am 16.02.2021; https://oberlandesgericht-karlsruhe.justiz-bw.de/pb/,Lde/6096769/, abgefragt am 16.02.2021. 5 Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020, Länderkapitel Ungarn, 1-9. 6 Vgl Erwägungsgrund 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI. 7 Vgl EuGH 18.12.2014 Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 (Rz 191-192). 2
der gegenständlichen Arbeit liegt aber jedenfalls im Bereich der Vollstreckung. Es wird hier die zweistufige Prüfungsformel erörtert, welche die außergewöhnlichen Umstände iZm den Grundrechten darlegt, die letztlich ein Abgehen vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung erlauben. Im Anschluss daran möchte ich die wesentliche Kritik an dieser, von der Judikatur entwickelten, Formel dartun. II. Hauptteil A. Historische Entwicklung der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen Da die Justizpolitik als Kernbereich der staatlichen Souveränität betrachtet wird, bestanden hier seitens der Mitgliedstaaten von Anfang an massive Vorbehalte. Zunächst gab es Kooperation im Bereich von Kriminalitätsbekämpfung und Strafverfolgung nur im Rahmen der TREVI-Arbeitsgruppen („Terrorisme, Radicalisme, Extrémisme, Violence Internationale“), eingesetzt 1975 und CELAD („Comité Européen de la Lutte Antidrogue“), einem Komitee zur Bekämpfung der Drogenkriminalität, eingesetzt 1989 jeweils durch den Europäischen Rat.8 Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht am 03.11.1993 wurde die EU zu einem aus drei Säulen bestehenden Tempel geformt. Dabei wurde die erste Säule aus Gemeinschaftsrecht konstruiert, dem supranationaler Charakter zugesprochen wurde. Die zweite und die dritte Säule waren intergouvernemental geprägt. Die zweite Säule umfasste die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Die dritte Säule wiederrum schuf Strukturen für eine staatsübergreifende Kooperation in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse. Bemerkenswert ist, dass die Grenzen zwischen der ersten und dritten Säule teilweise aufgeweicht wurden, als der Gerichtshof klarstellte, dass strafrechtliche Vorgaben des Gemeinschaftsgesetzgebers im Bereich der Umwelt insofern zulässig waren, als sie die volle Wirksamkeit von Rechtsnormen zum Umweltschutz gewährleisten sollten.9 Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) wurde in den EUV und damit auch in die dritte Säule überführt. Die justizielle Zusammenarbeit in Straf- und Zivilsachen war damit einer von neun Politikbereichen, welche Art K.1 EUV (idF des Maastrichter Vertrages) taxativ aufzählte. Ziel der ZBJI war zudem die Installation eines Systems zum Informationsaustausch im Rahmen eines Europäischen Polizeiamtes 8 Vgl Hecker, Europäisches Strafrecht, Rz 26-28. 9 EuGH 13.09.2005 Rs C-176/03, Kommission/Rat, ECLI:EU:C:2005:542 (Rz 19). 3
(Europol).10 Regelungen des Unionsrechtes bildeten Fundament und Dach der Tempelkonstruktion.11 Im Bereich der dritten Säule war der Rat der EU gesetzgebendes Organ, welches sich bezüglich der grenzüberschreitenden Strafverfolgung der Mittel des Art 34 Abs 2 EUV aF bedienen konnte.12 Das waren der gemeinsame Standpunkt, der Rahmenbeschluss, der Beschluss und das Übereinkommen.13 Durch das Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam am 01.05.1999 wurde die Basis für einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts geschaffen, zugleich aber die ZBJI auf eine polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) reduziert, dh der RFSR auf einen supranationalen und intergouvernementalen Bereich zerteilt.14 Als Handlungsform der dritten Säule wurde das Rechtsinstitut des Rahmenbeschlusses installiert, wobei dieses seiner Natur nach der Richtlinie gem Art 249 Abs 3 EGV aF ähnelte, zumal Verbindlichkeit hinsichtlich des zu erreichenden Zieles bestand, den innerstaatlichen Stellen aber Spielraum bei Wahl von Form und Mittel überlassen wurde.15 Nach Inkrafttreten eines Rahmenbeschlusses mussten die Mitgliedstaaten legislativ tätig werden, zugleich aber auch nationale Vorgaben, also Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und etwaige verfassungsmäßige Schranken bei der Umsetzung beachten. Rahmenbeschlüsse gem Art 34 Abs 2 lit b EUV aF sollten Rechts- und Verwaltungsvorschriften angleichen, um die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu fördern. Für die Annahme von Rahmenbeschlüssen galt das Einstimmigkeitsprinzip. Eine unmittelbare Anwendbarkeit war explizit ausgeschlossen.16 Am 01.12.2009 trat schließlich der Vertrag von Lissabon in Kraft, der die bisherige dritte Säule der EU, also die bereits genannte polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, in den vergemeinschafteten Bereich übernahm. Daraus folgt auch, dass seitdem das Instrument des Rahmenbeschlusses nicht mehr genutzt werden kann, 10 Vgl Hecker, Europäisches Strafrecht, Rz 54. 11 Zur Tempelkonstruktion vgl Feik in Lagodny/Wiederin/Winkler (Hrsg), Probleme des Rahmenbeschlusses, 9 f. 12 Vgl Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), 16. 13 Vgl Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), 16. 14 Vgl Weiß/Satzger in Streinz (Hrsg), 3. Aufl. 2018, AEUV Art 67, Rz 3. 15 Vgl: Hecker, Europäisches Strafrecht, Rz 67; Von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Vorbemerkung zu den Artikeln 67 bis 76, Rz 9. 16 Vgl Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), 18. 4
vielmehr die supranationalen Handlungsformen heranzuziehen sind.17 Bereits erlassene Rahmenbeschlüsse bleiben gültig bis zur Aufhebung, Nichtigerklärung oder Änderung.18 B. Rechtliche Grundlagen 1. Primärrecht Art 3 EUV enthält die Ziele der Union, der damit Grundlage aller Unionsakte ist. Dabei kommt dieser Bestimmung fundamentale Bedeutung zu, weil es sich nicht um einen bloßen Programmsatz handelt, sondern um eine rechtsverbindliche Ausrichtungsvorgabe im Gefüge des Unionsrechtes. Adressat dieser nicht unmittelbar anwendbaren Bestimmung ist alleine die Union.19 Mit Art 3 Abs 2 EUV wurde der RFSR als eigenes Ziel verankert, welches seine Konkretisierung in Art 67ff AEUV erfährt.20 Gem Art 3 Abs 6 EUV gilt hier das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.21 Art 67 Abs 1 AEUV spricht von einem RFSR, ohne dass es hierzu eine Legaldefinition gäbe. Es ist wohl davon auszugehen, dass jedem dieser drei Begriffe „Freiheit“, „Sicherheit“ und „Recht“ einer der Abs 2-4 zuzuordnen ist.22 Die Kapitel des Titel V enthalten die Regelungsgebiete Asyl, Migration, Grenzkontrolle, Zusammenarbeit der Zivilgerichte, Zusammenarbeit der Justiz in Strafsachen und polizeiliche Zusammenarbeit. Bei näherer Betrachtung dieser Bereiche wird klar, dass der RFSR ein Areal der Reisefreiheit und Personenfreizügigkeit umfasst, in welchem sich alle Menschen, nicht nur die Unionsbürger, ohne Grenzkontrollen und Gefahr von Kriminalität fortbewegen können.23 Die gegenseitige Anerkennung wird Grundlage der justiziellen Kooperation.24 Das Kapitel 4 „Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ umfasst die Art 82-86 AEUV. Basis für die Kooperation im Bereich der Strafverfolgung bildet Art 82 AEUV. Diese Norm ist auch Grundlage für ein werdendes europäisches Strafverfahrensrecht.25 Aufgrund der Supranationalisierung in diesem Bereich greift nunmehr der Vorrang des Unionsrechtes 17 Vgl Weiß/Satzger in Streinz (Hrsg), 3. Aufl. 2018, AEUV Art 67, Rz 16. 18 Art 9 des Protokolls (Nr 36) über die Übergangsbestimmungen, ABl. 2010 C 83/322. 19 Vgl Pechstein in Streinz (Hrsg), 3. Aufl. 2018, EUV Art 3, Rz 2-4. 20 Vgl Pechstein in Streinz (Hrsg), 3. Aufl. 2018, EUV Art 3, Rz 6. 21 Vgl Pechstein in Streinz (Hrsg), 3. Aufl. 2018, EUV Art 3, Rz 13. 22 Weiß/Satzger in Streinz (Hrsg), 3. Aufl. 2018, AEUV Art 67, Rz 25. 23 Weiß/Satzger in Streinz (Hrsg), 3. Aufl. 2018, AEUV Art 67, Rz 26-31. 24 Bauer in Weidenfeld, Lissabon in der Analyse, 104. 25 Satzger in Streinz (Hrsg), 3. Aufl. 2018, AEUV Art 82, Rz 1. 5
und es stehen alle bekannten Rechtsaktformen zur Verfügung. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung soll einen RFSR ermöglichen, wobei auf dieses an späterer Stelle genauer eingegangen werden wird. Art 82 Abs 1 UAbs 2 AEUV sieht im Gegensatz zu Abs 2 und Art 83 AEUV keine bestimmte Rechtsaktform vor. Eine Rechtsangleichung des nationalen Strafprozessrechts im engeren Sinne darf sich nicht auf diese Grundlage stützen. Sämtliche strafprozessuale Vorschriften sind einer Harmonisierung auf Basis des Abs 1 UAbs 2 entzogen, sofern diese in einem rein innerstaatlichen Strafverfahren ohne Auslandsbezug zur Anwendung kommen.26 Richtlinien können jedenfalls Vorschriften enthalten, die im Kern den in Abs 1 UAbs 2 vordringlich angesprochenen Bereich der Kooperation der Mitgliedstaaten bei der Strafrechtspflege (die Rechtshilfe) betreffen. Somit können auch Nachbesserungen an Instrumenten wie dem Europäischen Haftbefehl, die nach altem Recht durch einen Rahmenbeschluss geschaffen worden sind, mittels Richtlinien (konkret auf Grundlage des Abs 1 UAbs 2 lit a) erfolgen und es muss nicht, was deutlich umständlicher wäre, zu Verordnungen gegriffen werden.27 Für die gegenständliche Arbeit relevant sind lit a und lit d. Lit a ist die umfangreichste und wichtigste Rechtsgrundlage, zumal diese das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung betrifft und gleichsam die Königsnorm der strafjustiziellen Zusammenarbeit darstellt.28 Umfasst sind sämtliche Maßnahmen, welche Regeln aufstellen für die Gewährleistung der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen und justiziellen Entscheidungen. Lit d normiert eine Generalklausel. Während lit a die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen betrifft, verbleibt für lit d ein Anwendungsbereich abseits von gegenseitiger Anerkennung und in Bezug auf andere Behörden als Justizbehörden, sowie hinsichtlich nichtjustizieller Entscheidungen, etwa solcher von Steuer- und Vollzugsbehörden. 29 Art 82 Abs 2 AEUV erlaubt eine Mindestharmonisierung des Strafverfahrensrechtes in einzelnen Bereichen. Dabei ist zu beachten, dass nach UAbs 3 die Mitgliedstaaten nicht an der Beibehaltung oder Einführung eines höheren Schutzniveaus gehindert werden. Außerdem besteht eine Pflicht zur Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und Rechtstraditionen. Die Vorgabe von Mindestvorschriften durch den Erlass von Richtlinien wird außerdem an das Erfordernis der Erleichterung der 26 Vgl Satzger in Streinz (Hrsg), 3. Aufl. 2018, AEUV Art 82, Rz 16. 27 Satzger in Streinz (Hrsg), 3. Aufl. 2018, AEUV Art 82, Rz 17. 28 Vgl Meyer in Von der Groeben/Schwarze/Hatje AEUV Art 82, Rz 18. 29 Böse in Schwarze/Becker/Hatje/Schoo (Hrsg), Art 82 AEUV, Rz 33; Vogel/Eisele in Grabitz/Hilf/Nettesheim AEUV Art 82, Rz 79. 6
gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit geknüpft, worin Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechend Art 5 Abs 1 S 2, Abs 3 bzw 4 EUV zum Ausdruck kommen.30 Erwähnt sei noch, dass sich die Notbremsregelung des Art 82 Abs 3 AEUV grundsätzlich nur auf Abs 2 bezieht. Art 83 Abs 1 AEUV bildet eine Kompetenzgrundlage für die Union zur Festlegung von Mindestvorschriften, soweit dies zur Bekämpfung besonders schwerer, grenzüberschreitender Kriminalität in bestimmten Deliktsbereichen erforderlich ist. Das begrenzende Erforderlichkeitskriterium ist hier in Art 67 Abs 3 AEUV zu verorten.31 Abs 2 stellt eine Annexkompetenz dar und erlaubt die Angleichung von strafrechtlichen Rechtsvorschriften dort, wo es unerlässlich ist für die wirksame Durchführung der Politik der Union, auf einem Gebiet, auf welchem bereits Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind. Abs 3 enthält wiederum einen Notbremsmechanismus. Am 28.02.2002 wurde auf Basis von Art 31, 34 lit c EUV aF, heute Art 85 AEUV, der Beschluss des Rates 2002/187/JI32 erlassen und damit Eurojust ins Leben gerufen, eine zentrale europäische Stelle für die justizielle Zusammenarbeit und gleichsam Gegenstück zu Europol. Hauptaufgabe von Eurojust liegt gem Art 85 I darin, die Koordinierung (Art 85 I lit b) und Zusammenarbeit (Art 85 I lit c) zwischen den nationalen Behörden der Mitgliedstaaten zu unterstützen und zu verstärken. Die in Art 85 Abs 1 UAbs 2 lit a–c AEUV erwähnten Aufgaben sind jedoch nur beispielhaft, wie die Verwendung des Wortes „kann“ impliziert.33 2. Sekundärrecht Nach Erläuterung der relevanten primärrechtlichen Grundlagen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen möchte ich nunmehr auf die Rahmenbeschlüsse über den EuHb eingehen und aufgrund der besonderen Bedeutung für den Übergabemechanismus auch auf die Beschlüsse zur Einrichtung des Schengener Informationssystems der 2. Generation sowie Eurojust. 30 Vgl Satzger in Streinz (Hrsg), 3. Aufl. 2018, AEUV Art 82, Rz 45-46. 31 Vogel/Eisele in Grabitz/Hilf/Nettesheim AEUV Art 83 Rz 45; Meyer in von der Groeben/Schwarze/Hatje AEUV Art 83, Rz 34. 32 ABl 2002 L 63/1. 33 Dannecker in Streinz (Hrsg), 3. Aufl. 2018, AEUV Art 85, Rz 6. 7
a) Rahmenbeschluss 2002/584/JI Auf Grundlage von Art 31 lit a und lit b EUV aF und Art 34 Abs 2 lit b EUV aF hat der Rat am 13.06.2002 den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten erlassen. Er soll entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere34 das förmliche zweigliedrige Auslieferungsverfahren abschaffen und durch ein rein justizielles Übergabesystem ersetzen.35 Zufolge Art 34 Abs 1 RB-EuHb mussten die Mitgliedsstaaten die Vorgaben bis zum 31.12.2003 in ihre Rechtssysteme implementieren. Österreich erließ in Umsetzung des Rahmenbeschlusses das „Gesetz über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union“ (EU-JZG).36 Gemäß Art 1 RB-EuHb wird Europäischer Haftbefehl als justizielle Entscheidung definiert, die in einem Ms ergangen ist und Festnahme und Übergabe einer bestimmten Person durch einen anderen Staat zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung bezweckt. Gem Art 2 Abs 1 RB-EuHb besteht das Erfordernis, dass im Ausstellungsstaat bei einem EuHb zur Strafverfolgung eine Mindesthöchststrafe von 12 Monaten Freiheitsstrafe droht, sowie bei einem EuHb zur Strafvollstreckung eine Mindest(rest)strafe von 4 Monaten Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist. Der Erlass soll im Sinne der Verhältnismäßigkeit daher bei leichter Kriminalität nicht möglich sein.37 b) Rahmenbeschluss 2009/299/JI Auf Grundlage von Art 31 lit a und lit b EUV aF und Art 34 Abs 2 lit b EUV aF hat der Rat am 26.02.2009 diesen Rahmenbeschluss erlassen um damit unter anderem Rahmenbeschluss 2002/584/JI mit dem Ziel der Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu ändern. Nach Ansicht des Unionsgesetzgebers gibt es in den verschiedenen Rahmenbeschlüssen keine einheitliche Behandlung von Abwesenheitsurteilen, was wiederrum ein Hindernis für die Praxis darstellen könnte.38 In Rahmenbeschluss 2002/584/JI wurde daher ein Art 4a RB-EuHb eingefügt und Art 5 Abs 1 RB-EuHb gestrichen. Man hat einen fakultativen Ablehnungsgrund39 verankert, auf welchen an späterer Stelle noch einmal eingegangen wird. 34 Nr 35 der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16.10.1999. 35 Erwägungsgrund 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI. 36 BGBl I Nr 36/2004. 37 Sautner, ÖJZ 2005, 330. 38 Erwägungsgrund 2 des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI. 39 Erwägungsgrund 15 des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI. 8
c) Beschluss 2002/187/JI Dieser Ratsbeschluss ist auf Basis von Art 31 und Art 34 Abs 2 lit c EUV aF am 28.02.2002 ergangen und bildet die Grundlage für die Einrichtung der Dokumentations- und Clearingstelle Eurojust mit Sitz in Den Haag. Beschluss 2002/187/JI wurde wiederrum durch Beschluss 2009/426/JI vom 16.12.2008 geändert und erhielt eine Neufassung.40 Es handelt sich bei Eurojust um eine weisungsunabhängige Unionsagentur mit Rechtspersönlichkeit, wobei diese von den Mitgliedsstaaten mit Richtern, Staatsanwälten oder Polizeibeamten beschickt wird. Eurojust soll insbesondere die effektive Zusammenarbeit der nationalen Strafverfolgungsbehörden ermöglichen und ist primär für schwere Kriminalität im grenzüberschreitenden Bereich zuständig. Gemäß Rahmenbeschluss 2002/584/JI (EuHb) kann Eurojust auf Ersuchen einer vollstreckenden Justizbehörde hin eine Stellungnahme abgeben, sofern zwei oder mehrere Mitgliedsstaaten die Auslieferung einer Person begehren (Mehrfachersuchen) und die vollstreckende Behörde unter Berücksichtigung der in Art 16 Abs 1 RB-EuHb genannten Umstände eine Entscheidung zu treffen hat (Art 16 Abs 2 RB-EuHb). Zudem ist Eurojust nach Art 17 Abs 7 RB-EuHb in Kenntnis zu setzen, wenn ein Mitgliedsstaat die in diesem Artikel vorgesehenen Fristen aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht einhalten kann. Grundsätzlich ist über eine EuHb-Vollstreckung binnen 10 Tagen nach Festnahme der betroffenen Person zu entscheiden, sofern diese ihrer Übergabe zustimmt, widrigenfalls binnen 60 Tagen nach Festnahme. Eine Verlängerungsmöglichkeit von 30 Tagen besteht in Sonderfällen, wobei die ausstellende Justizbehörde unverzüglich zu informieren ist. d) Beschluss 2007/533/JI Der Schengen-Raum41 brachte eine Abschaffung der EU-Binnengrenzen und dadurch uneingeschränkten Personenverkehr infolge des Entfalls der Grenzkontrollen.42 Vor diesem Hintergrund erfolgte die Installation des Schengener Informationssystems (SIS I).43 Die Behörden der Schengen-Staaten konnten mittels diesem grenzübergreifenden, automationsgestützten polizeilichen Fahndungssystem auf mehr als 32,5 Millionen 40 ABlEU 2009 Nr L 138, 14. 41 Errichtet durch das Schengener Abkommen 1985 und das Schengener Durchführungsübereinkommen 1990. 42 Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.3.2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl EU L 77 vom 23.3.2016. 43 Vgl Esser in Böse (Hrsg), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Bd 11), §19, Rz 8. 9
Fahndungsdaten (Personen- und Sachfahndungen) zugreifen.44 Aufgrund der EU- Osterweiterung beschloss man die Weiterentwicklung von SIS I zu SIS II, welches mit Verspätung erst am 09.04.2013 in Betrieb gehen konnte. Im Gegensatz zu SIS I erfolgt hier ein zentraler Betrieb durch einen Rechner in Straßburg, der mit den nationalen Systemen der Mitgliedsstaaten verbunden ist.45 Kapitel V des SIS-B steht unter dem Titel „Ausschreibungen von Personen zum Zwecke der Übergabe- oder Auslieferungshaft“. Hier ist vorgesehen, dass Personendaten zum Zwecke der Übergabehaft von per EuHb Gesuchten auf Antrag der Justizbehörde des ausstellenden Mitgliedstaats eingegeben werden. Diese hat auch eine Kopie des originalen Europäischen Haftbefehls der Ausschreibung im SIS II beizugeben. Zufolge Art 9 Abs 1 RB-EuHb kann bei bekanntem Aufenthaltsort der gesuchten Person eine Direktübermittlung an die vollstreckende Justizbehörde erfolgen. Nach Abs 2 kann die ausstellende Justizbehörde aber in allen Fällen auch eine Ausschreibung im SIS II beschließen. Art 8 Abs 1 RB-EuHb nennt jene Informationen welche der EuHb zu enthalten hat. Diese werden gemäß Artikel 28 SIS II-B im Wege des Austauschs von Zusatzinformationen an alle Mitgliedsstaaten übermittelt. C. Problemfelder 1. Ausstellung a) Organisatorische Anforderungen an den Aussteller Gem Art 1 RB-EuHb handelt es sich beim Europäischen Haftbefehl um eine justizielle Entscheidung. Die zuständige ausstellende Justizbehörde richtet sich nach dem Recht des Ausstellungsstaates. Die Verweisung durch Art 6 Abs 1 RB-EuHb betrifft jedoch nicht den Begriff „Justizbehörde“ als solche. Bedeutung und Tragweite des Begriffes können nicht den Mitgliedstaaten überlassen werden. Vielmehr ist eine einheitliche und autonome Interpretation geboten, die sich an Wortlaut und Kontext zu orientieren hat.46 In der Rs Poltorak stellte der EuGH fest, dass der Begriff Justiz weder nach seiner gewöhnlichen Bedeutung, noch unter Beachtung des Kontexts, Polizeibehörden erfasst, denn entsprechend dem Grundsatz der Gewaltentrennung kann damit nur die Judikative 44 Vgl Esser in Böse (Hrsg), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Bd 11), §19, Rz 123. 45 Vgl Esser in Böse (Hrsg), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Bd 11), §19, Rz 129. 46 Vgl: EuGH 10.11.2016 Rs C-452/16, Poltorak, ECLI:EU:C:2016:858 (Rz 31-32); EuGH 17.07.2008 C-66/08, Kozłowski, ECLI:EU:C:2008:437 (Rz 43); EuGH 16.11.2010 Rs C-261/09, Mantello, ECLI:EU:C:2010:683 (Rz 38). 10
gemeint sein.47 Für die Vollstreckungsbehörde muss die Gewissheit einer justiziellen Prüfung gegeben sein, was aber bei einer Polizeibehörde nicht der Fall sein kann, sodass ihre Stellung im Gefüge der Exekutive und das Maß an Autonomie letztlich irrelevant ist.48 Wenn jedoch eine Polizeibehörde bloß den nationalen Haftbefehl ausstellt, der wiederrum im Rahmen der Ausstellung des EuHb durch die extern weisungsunabhängige Staatsanwaltschaft bestätigt wird, so ist dies unproblematisch.49 Der Begriff Justizbehörde erfasst nicht nur Gerichte, sondern darüber hinaus all jene Behörden, die zur Mitwirkung an der Strafrechtspflege berufen sind.50 Fraglich ist nun, unter welchen Voraussetzungen dies der Fall ist. Der Begriff Verfahren erstreckt sich von der Phase vor dem Strafprozess über den Prozess selbst hin zum Vollzug bzw zur Vollstreckung der Entscheidung. Unterstützt wird diese Auslegung durch den Wortlaut von Art 82 Abs 1 lit d AEUV, sowie dem fünften Erwägungsgrund.51 In der Rs PF52 hat der EuGH entgegen dem Ausspruch des Verfassungsgerichtes der Republik Litauen, wonach die Staatsanwaltschaft nicht zur Mitwirkung an der Rechtspflege berufen ist und der Tatsache, dass nach der Rechtsordnung dieses Mitgliedstaates die Generalstaatsanwaltschaft eine von der Exekutive, wie auch strukturell von der Judikative unabhängige Stelle ist, diese als Behörde im Sinne des Art 6 Abs 1 RB-EuHb qualifiziert. Die Verfahrens- und Grundrechte des Betroffenen erfahren eine doppelte Prüfung, und zwar auf der ersten Stufe im Rahmen der Ausstellung der nationalen Entscheidung, also dem nationalen Haftbefehl, sowie im Rahmen der zweiten Stufe, wenn der EuHb erlassen wird.53 Dabei hat die Justizbehörde im Sinne des Art 6 Abs 1 RB-EuHb eine Voraussetzungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen.54 Wesentlich ist, dass eine objektive Prüfung unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Umstände des Falles sichergestellt sein muss. Dies verlangt wiederrum die Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde. Der Gerichtshof fordert hierfür 47 Vgl: EuGH 10.11.2016 Rs C-452/16, Poltorak, ECLI:EU:C:2016:858 (Rz 35); vgl GA Campos 10.11.2016 Rs C-452/16, Poltorak, ECLI:EU:C:2016:782 (Rz 39). 48 Vgl EuGH 10.11.2016 Rs C-452/16, Poltorak, ECLI:EU:C:2016:858 (Rz 45). 49 Vgl EuGH 10.11.2016 Rs C-453/16, Özçelik, ECLI:EU:C:2016:860 (Rz 38). 50 Vgl EuGH 27.05.2019 verb Rs C-508/18 und C-82/19, OG/PI, ECLI:EU:C:2019:456 (Rz 50); EuGH 10.11.2016 Rs C-477/16, Kovalkovas, ECLI:EU:C:2016:861 (Rz 34). 51 Vgl EuGH 27.05.2019 verb Rs C-508/18 und C-82/19, OG/PI, ECLI:EU:C:2019:456 (Rz 54-56). 52 Vgl EuGH 27.05.2019 Rs C-509/18, PF, ECLI:EU:C:2019:457. 53 Vgl EuGH 01.06.2016 Rs C-241/15, Bob-Dogi, ECLI:EU:C:2016:385 (Rz 56). 54 Vgl EuGH 10.11.2016 Rs C-477/16, Kovalkovas, ECLI:EU:C:2016:861 (Rz 47). 11
entsprechende Rechts- und Organisationsvorschriften der nationalen Rechtsordnung, die dies gewährleisten.55 Im Falle der deutschen Staatsanwaltschaften hatte sich der EuGH der Frage zu stellen, ob ein externes Weisungsrecht des Justizministers, gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft in einem deutschen Bundesland, diese Unabhängigkeit ausschließt. Er hat dies bejaht, weil die einschlägigen Rechtsvorschriften Weisungen im Einzelfall, also bei und für die Ausstellung eines EuHb, ermöglichen. Dabei waren die Einwendungen der deutschen Regierung, dass für die Staatsanwaltschaft das Legalitätsprinzip gelte und die Nichtbeachtung von Einzelweisungen für die Beamten keinen Entlassungsgrund bildet. Darüber hinaus bedürfe es im Bundesland Schleswig- Holstein dem Schriftlichkeitsgebot für solche Weisungen und der Mitteilung der Ausübung an den Landtagspräsidenten. In Sachsen hingegen hätten sich die regierenden Parteien im Koalitionsvertrag auf die Nichtausübung geeinigt. Meiner Ansicht nach hat der Gerichtshof hier folgerichtig die Einwendungen als irrelevant zurückgewiesen, zumal all dies Hemmnisse für die Ausübung oder gar den Missbrauch des Weisungsrechtes sein mögen, allerdings keine rechtlichen Garantien. Im Fall der französischen Staatsanwaltschaften hat der EuGH jedoch entschieden, dass ein allgemeines Weisungsrecht für die Qualifikation als ausstellende Justizbehörde unschädlich sein soll. In Frankreich besteht nämlich eine Befugnis des Justizministers zur Erteilung von Weisungen auf dem Gebiet der Strafrechtspolitik um die Kohärenz derselben im Staatsgebiet sicherzustellen. Auch Weisungszüge innerhalb der Anklagebehörde, also ein internes Weisungsrecht, sind unproblematisch.56 In Österreich besteht die Möglichkeit, dass der Bundesminister für Justiz Einzelweisungen an die Generalprokuratur oder die Oberstaatsanwaltschaft erteilt, welche wiederrum Weisungen an die untergeordneten Instanzen erteilen können. Wesentlicher Unterschied zur Rs OG/PI ist, dass vor Übermittlung des EuHb durch die Staatsanwaltschaft eine gerichtliche Bewilligung einzuholen ist, in deren Rahmen die Voraussetzungen für den Erlass und die Verhältnismäßigkeit neuerlich geprüft werden. Gegen diese ist ein Rechtsmittel zulässig. Das Gericht ist weder an die Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft, noch an die Begründung ihrer Anordnung gebunden.57 55 Vgl EuGH 27.05.2019 verb Rs C-508/18 und C-82/19, OG/PI, ECLI:EU:C:2019:456 (Rz 74). 56 Vgl EuGH 12.12.2019 verb Rs C-566/19 und C-626/19, JR und YC, ECLI:EU:C:2019:1077 (Rz 54-56). 57 Vgl EuGH 09.10.2019 Rs C-489/19, NJ, ECLI:EU:C:2019:849 (Rz 43-45). 12
In der Rs L und P hat der Gerichtshof außerdem festgehalten, dass systemische oder allgemeine Mängel, wie schwer sie auch immer sein mögen, die die Unabhängigkeit der Justiz betreffen und im Zeitpunkt der Ausstellung des EuHb bestanden haben oder danach aufgekommen sind nicht dazu führen können, dass schlechthin allen Richtern und Gerichten eines Mitgliedstaates, die ihrer Natur nach völlig unabhängig agieren, die Eigenschaft als ausstellende Justizbehörden aberkannt werden kann. Denn tatsächlich bedeuten diese Mängel nicht, dass jede einzelne Entscheidung jedes Gerichtes betroffen sein muss. In weiterer Folge verweist der Gerichtshof auch darauf, dass die Folge der gegenteiligen Interpretation, die Aberkennung der Gerichts- bzw. Tribunalsqualität, auch zum Zwecke der Anwendung anderer Normen des Unionsrechtes wäre.58 2. Vollstreckung a) Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung erhöht die Effektivität der justiziellen Kooperation. Technisch betrachtet stellt er den Treibriemen für die Kriminalpolitik des Ausstellungsstaates dar, indem er die Reichweite innerstaatlicher Entscheidungen in strafrechtlichen Belangen über das ganze Territorium der Europäischen Union ausdehnt, wobei das gegenseitige Vertrauen als Schmiermittel gesehen werden kann.59 Ob man nun die rechtliche Herleitung aus der Gleichheit der Ms60 vornimmt, aus dem Loyalitätsgebot61 oder aus den gemeinsamen Werten und Zielen (Art 2 EUV iVm Art 3 EUV)62, ändert nichts daran, dass nach hM der Vertrauensgrundsatz die Basis der gegenseitigen Anerkennung bildet.63 Im Gutachten 2/13 hat der EuGH dazu ausgeführt, dass ein Ms die Beachtung der Grundrechte durch den anderen Ms zu unterstellen hat. Weder darf er einen (nach nationalem Recht) höheren Schutzstandard verlangen, als ihn das Unionsrecht gewährleistet, noch darf er eine Prüfung der tatsächlichen Einhaltung vornehmen, ausgenommen bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände.64 58 Vgl EuGH 17.12.2020 verb Rs C-354/20 und C-412/20, L und P, ECLI:EU:C:2020:1033 (Rz 44). 59 Vgl Caeiro, Scenes from a marriage: trust, distrust and (re)assurances in the execution of a European arrest warrant, 20 year anniversary of the Tampere Programme 2019 – EUI, 240. 60 Vgl Lenaerts, la vie après l’avis: exploring the principle of mutual (yet not blind) trust, common market law, 807. 61 Meyer, Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens – Konzeptualisierung und Zukunftsperspektiven eines neuen Verfassungsprinzips, EuR 2017, 163. 62 von Danwitz, Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Eine wertebasierte Garantie der Einheit und Wirksamkeit, EuR 2020, 79. 63 Vgl: EuGH 25.07.2018 Rs C-216/18, LM, ECLI:EU:C:2018:586 Rz 36; EuGH 10.08.2017 Rs C-270/17, Tupikas, ECLI:EU:C:2017:628 (Rz 49). 64 Vgl EuGH 18.12.2014 Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 (Rz 192). 13
Im Bereich des Binnenmarktes besteht eine Verpflichtung der Ms ihre binnenmarktbezogenen Vorschriften und die hiernach ergangenen Entscheidungen als wirksam anzusehen.65 Auch der RFSR sollte auf vertrauensbasierten Anerkennungspflichten aufgebaut werden, dabei hat man die gegenseitige Anerkennung für das Strafrecht in Art 82 Abs 1 S 1 AEUV primärrechtlich verankert. Der RB-EuHb stellt nach Erwägungsgrund 12 die erste konkrete Verwirklichung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar, welches vom Europäischen Rat zum Eckstein strafjustizieller Zusammenarbeit erhoben wurde. Dementsprechend ordnet Art 1 Abs 2 RB-EuHb an, dass jeder EuHb nach diesem Grundsatz zu vollstrecken ist. Die gegenseitige Anerkennung von strafjustiziellen Entscheidungen im Rahmen des Übergabemechanismus wird teils auch sehr kritisch gesehen, denn klar ist, dass es sich hierbei um normative Konstrukte handelt mit ganz eigentümlichen Charakteristika und eben nicht um Waren iSd Warenverkehrsfreiheit.66 Eingewandt wird auch, dass man eine Unfreiheit durch die Erweiterung der Strafverfolgungsmöglichkeit verkehrsfähig machen würde.67 In sich geschlossene Strafverfahrensmodelle mit einer wohlüberlegten Balance zwischen Eingriffen und Rechtsschutzmöglichkeiten würde man zudem sprengen.68 Das Absehen vom Erfordernis der beidseitigen Strafbarkeit bei Vorliegen eines Listendeliktes iVm einer Mindeststrafandrohung zieht eine Unterwerfung unter fremde Strafrechtsordnungen, sowie die Gefahr der Durchsetzung der punitivsten 69 Rechtsordnung, nach sich. Heftig kritisiert wird vor allem die mangelnde Determinierung dieser enumerierten Delikte bzw Deliktsgruppen. 70 Von der Verankerung einer Grundrechtsklausel wurde Abstand genommen. Die Grundrechte finden lediglich in Erwägungsgrund 12 und Art 1 Abs 3 RB-EuHb Erwähnung.71 b) Aussetzung des Mechanismus Zufolge Erwägungsgrund 10 darf der Übergabemechanismus nach RB-EuHb nur dann allgemein ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art 6 Abs 1 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom 65 Vgl EuGH 20.02.1979 Rs C-120/78, Cassis de Dijon, ECLI:EU:C:1979:42 (Rz 8). 66 Vgl Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), 71f. 67 Vgl Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), 72f. 68 Vgl Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), 73f. 69 Vgl Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), 76f. 70 Vgl Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), 77f. 71 Vgl Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), 79f. 14
Rat gemäß Art 7 Abs 1 EUV des genannten Vertrags mit den Folgen von Art 7 Abs 2 EUV festgestellt wird. Der Verfahrensabschluss benötigt demnach einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates, woraufhin der Rat mit qualifizierter Mehrheit die Anwendung des Mechanismus im Verhältnis zu dem betroffenen Ms aussetzen kann. Ein Teil der Lehre vertritt, dass schon bei Erfüllung des Art 7 Abs 1 RB-EuHb eine Aussetzung erfolgen kann.72 Mangels politischem Konsens im Rat ist es zur Aussetzung bisher nie gekommen. Im März 2014 hat die EU-Kommission dem Art 7 Verfahren einen (informellen) Rechtsstaatsdialog vorangestellt.73 c) Ablehnung Die Vollstreckung des EuHb stellt den Regelfall dar, während die Ablehnung restriktiv zu handhabende Ausnahme bleibt74 und grundsätzlich an die fakultativen Gründe des Art 4 RB-EuHb und Art 4a RB-EuHb oder die obligatorischen Gründe des Art 3 RB-EuHb gebunden ist. Auf diese möchte ich an dieser Stelle möglichst kurz eingehen. (1) Fakultativ Zunächst kann eine Ablehnung nach Art 4 Z1 RB-EuHb erfolgen, wenn die Strafbarkeit im Vollstreckungsstaat nicht gegeben ist, sohin keine beidseitige Strafbarkeit vorliegt. Dies erfolgt jedoch unter der Voraussetzung, dass es sich um kein Listendelikt handelt. Eine Prüfung der beidseitigen Strafbarkeit hat nämlich bei Vorliegen eines Deliktes gem Art 2 Abs 2 RB-EuHb iVm einer Strafandrohung von mindestens 3 Jahren zu unterbleiben. Art 4 Z1 RB-EuHb normiert weiter, dass in Steuer-, Zoll- und Währungsangelegenheiten, das Fehlen gleichartiger Steuern nach dem Recht des Vollstreckungsstaates keinen Ablehnungsgrund darstellen kann. Z2 normiert, dass eine Strafverfolgung wegen derselben Handlung75 im Vollstreckungsstaat zur Ablehnung berechtigt. Dem Wortlaut der Bestimmung nach wäre auch der Fall erfasst, dass die Strafverfolgung erst nach Erhalt des EuHb aufgenommen wird.76 72 https://verfassungsblog.de/rule-of-law-retail-and-rule-of-law-wholesale-the-ecjs-alarming-celmer- decision, abgefragt am 05.03.2021; https://verfassungsblog.de/the-cjeu-in-the-celmer-case-one-step- forward-two-steps-back-for-upholding-the-rule-of-law-within-the-eu, abgefragt am 05.03.2021. 73 Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 11.03.2014 (IP/14/237). 74 Vgl: EuGH 29.06.2017 Rs C-579/15, Popławski, EU:C:2017:503 (Rz 19); EuGH 10.08.2017 Rs C- 270/17, Tupikas, EU:C:2017:628, (Rz 50-51); EuGH 23.01.2018 Rs C-367/16, Piotrowski, ECLI:EU:C:2018:27 (Rz 48). 75 Zum Begriff vgl EuGH 16.11.2010 Rs C-261/09, Mantello, ECLI:EU:C:2010:683. 76 Vgl Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), 31. 15
Z3 1. HS erlaubt die Ablehnung, wenn die Justizbehörden des Vollstreckungsstaates entschieden haben, dass kein Verfahren eingeleitet wird oder ein solches einzustellen ist. Z3 2. HS regelt den Fall, dass in einem anderen Ms als dem Vollstreckungsstaat wegen derselben Handlung eine rechtskräftige Entscheidung erging, welche der weiteren Strafverfolgung entgegensteht. Das bedeutet Einstellung des Strafverfahrens durch ein Gericht oder eine Staatsanwaltschaft, bei letzterer will Schwaighofer jedoch den vom EuGH in der Rs Gözütok und Brügge77 aufgestellten Kriterien entsprochen wissen. Der Gerichtshof stelle nämlich seiner Ansicht nach auf eine Ahndungswirkung ab.78 Nach Z4 kann eine Ablehnung erfolgen, wenn Strafverfolgung oder Strafvollstreckung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates verjährt wäre, sofern dieser Jurisdiktion besessen hätte. Z5 verankert das drittstaatliche Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem). Es greift, wenn in einem Drittstaat eine rechtskräftige Aburteilung wegen derselben Handlung erfolgte. Falls eine Verurteilung erfolgte, muss die Sanktion vollstreckt worden sein, sich in Vollstreckung befinden oder darf nach dem Recht des Drittstaates nicht mehr vollstreckbar sein. Z6 normiert die sog Vollstreckungsverweigerung. Es handelt sich dabei um einen speziellen Ablehnungstatbestand, welcher nur Haftbefehle zur Strafvollstreckung betrifft. Demnach wurde bereits eine Strafe oder Maßregel im Ausstellungsstaat verhängt und es besteht ein entsprechendes Naheverhältnis des zu Übergebenden zum Vollstreckungsstaat, also Aufenthalt, Staatsbürgerschaft oder Wohnsitz. Wobei der EuGH „sich aufhält“ interpretiert als beständiges Verweilen von gewisser Dauer, sodass Bindungen ähnlicher Intensität wie zu einem Wohnsitzstaat bestehen.79 Der Vollstreckungsstaat muss sich aber jedenfalls zur Übernahme des Vollzuges verpflichten. Z7 lit a erlaubt die Ablehnung, wenn die Tat ganz oder zum Teil im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaates begangen wurde. Ob dies der Fall ist bestimmt sich aber nach nationalem Recht desselben. Nach Z7 lit b wurde die Tat weder im Ausstellungs- noch 77 Vgl EuGH 11.02.2003 verb Rs C-187/01 und C-386/01, Gözütok und Brügge, ECLI:EU:C:2003:87. 78 Vgl Schwaighofer in Lagodny/Wiederin/Winkler (Hrsg.), Probleme des Rahmenbeschlusses, 82. 79 Vgl EuGH 17.07.2008 Rs C-66/08, Kozłowski, ECLI:EU:C:2008:437. 16
im Vollstreckungsstaat begangen, sondern außerhalb davon und zudem fehlt die Gerichtsbarkeit des Vollstreckungsstaates. Art 4a ermöglicht dem Vollstreckungsstaat die Ablehnung, falls dem EuHb zur Strafvollstreckung ein Abwesenheitsurteil zugrunde liegen sollte. Zugleich werden aber zahlreiche Ausnahmen normiert. Eine Ablehnung soll nicht möglich sein, wenn die betroffene Person rechtzeitig persönlich geladen wurde, sowie dabei von Ort und Termin der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde. Ebenso wenn sie auf andere Weise tatsächlich offiziell in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine solche, die einen zweifelsfreien Nachweis ermöglicht. Eine Ausnahme ist auch dann gegeben, wenn der Betroffene ein Mandat an einen Rechtsbeistand erteilt hat und auch tatsächlich vertreten wurde. Ebenso nicht wenn der Betroffene erklärt, dass er die Entscheidung nicht anficht oder innerhalb geltender Frist kein weiteres Verfahren beantragt hat. Zuletzt besteht die Möglichkeit, dass zwar keine persönliche Zustellung der Entscheidung erfolgte, jedoch die Person diese unverzüglich nach der Übergabe persönlich erhalten wird und diese über das Wiederaufnahmerecht oder das Recht auf ein Berufungsverfahren, sowie die im EuHb genannte Antragsfrist in Kenntnis gesetzt werden wird. (2) Obligatorisch Die Übergabe hat nach Art 3 Z1 im Falle einer Amnestie zu unterbleiben. Der ersuchte Staat hat die Vollstreckung demnach abzulehnen, wenn die Straftat, die Grundlage des EuHb ist, einer Amnestie in diesem Staat unterliegt und er nach eigenem nationalem Strafrecht zur Verfolgung berufen war. Mangels Judikatur und Legaldefinition unklar bleibt der Begriff der Amnestie. Ein EuHb ist entsprechend Z2 auch abzulehnen, sofern die betroffene Person wegen derselben Handlung von einem anderen Unionsstaat bereits rechtskräftig abgeurteilt wurde (ne bis in idem). Freisprüche werden davon mitumfasst.80 Falls die Person verurteilt wurde, muss die Sanktion vollstreckt worden sein, gerade vollstreckt werden oder sie darf nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckbar sein. 80 Vgl Zeder, AnwBl 2003, 376. 17
Den dritten obligatorischen Ablehnungsgrund nach Z3 bildet die Strafunmündigkeit bzw Deliktsunfähigkeit des zu Übergebenden und zwar nach dem Recht des Vollstreckungsstaates. (3) Grundrechte und allgemeine Rechtsgrundsätze Im RB-EuHb findet sich kein Ablehnungstatbestand in Bezug auf die Grundrechte. Erwägungsgrund 12 statuiert, dass der RB die Grundrechte und die in Art 6 EUV niedergelegten Grundsätze achtet. Außerdem dürfe keine Bestimmung des RB dahingehend ausgelegt werden, dass sie es untersagen würde die Übergabe abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der Religion, der ethnischen Herkunft, der Staatsangehörigkeit, der Sprache, der politischen Überzeugung oder der sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden könnte. Art 1 Abs 3 RB-EuHb, der sich im Gegensatz zu Erwägungsgrund 12 im normativen Teil befindet, ordnet quasi neuerlich an, dass die Pflicht zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie diese in Art 6 EUV festgeschrieben werden nicht berührt wird. Ein ordre public, welcher im Ergebnis einem Grundrechtsvorbehalt gleichkäme, existiert auch nicht.81 (a) Zweistufige Prüfung (Aranyosi-Formel) Den Eckstein der (straf)justiziellen Zusammenarbeit bildet das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung.82 Jeder EuHb ist gem. Art 1 Abs 2 RB-EuHb nach diesem Grundsatz zu vollstrecken. Die Ablehnungsgründe nach Art 3, 4, 4a RB-EuHb sind taxativ enumeriert.83 Nichts desto trotz hat der Gerichtshof im Gutachten 2/13 die Beschränkbarkeit der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens aufgrund außergewöhnlicher Umstände bestätigt.84 Der Gerichtshof sieht die Rechtsgrundlage für die Ablehnung der Vollstreckung aufgrund außergewöhnlicher Umstände iZm dem EuHb in Art 1 Abs 3 RB-EuHb85, der deklaratorisch86 klarstellt, dass 81 Vgl Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), 79. 82 Vgl Erwägungsgrund 10 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI. 83 Vgl EuGH 16.07.2015 Rs C-237/15, Lanigan, ECLI:EU:C:2015:474 (Rz 191). 84 Vgl EuGH 18.12.2014 Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454. 85 Vgl EuGH 27.03.2018 Rs C-216/18, LM, ECLI:EU:C:2018:586 (Rz 45). 86 Vgl Geneuss/Werkmeister, Faires Verfahren vor systemisch abhängigen Gerichten?, ZStW 2020, 102ff. 18
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