Der Krieg und der Krebs - Über 40 krebskranke Kinder flohen aus der Ukraine nach Küsnacht an den Zürichsee. Von der Kriegshölle ins Paradies ...
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So wie Anhelina, 7, ist jedes zweite Kind in der Ukraine auf der Flucht. Die dreijährige Anastasia hat die Nacht in einer Turnhalle in Lublin verbracht. Nikita, 15, mit seiner Grossmutter Larisa: «Putin hat uns alles genommen.» Text: Sacha Batthyany Fotos: Helmut Wachter Der Krieg und der Krebs Über 40 krebskranke Kinder flohen aus der Ukraine nach Küsnacht an den Zürichsee. Von der Kriegshölle ins Paradies. Finden sie hier ihren Frieden? 15/2022 NZZ am Sonntag Magazin 9
A tomir und trafen ein Trainingszentrum Innerhalb weniger Tage sammelte er der ukrainischen Spezialeinheit, Schulen, Lebensmittel, Kleidung, Handybatterien, ein Geburtenhaus, Wohnblocks, die städ- einfache Drohnen, und reiste an die Gren- tische Wasserversorgung, mehr als hundert ze. Er gab das Material ab und lud die Men- Soldaten starben seitdem, neun Zivilisten, schen ein. Auf dem Rückweg in die Schweiz sagt der Bürgermeister Serhi Suchomlin. erreichte ihn die Nachricht des Bürger- Er dankt allen Menschen aus dem Westen, meisters von Schitomir, ob er nicht noch die Kleider spenden, Spielzeug und Medi- eine Gruppe krebskranker Kinder holen Als der Bus endlich losfährt, voller kamente. «Was wir aber wirklich brauchen, könne. Lüchinger schrieb zurück: «Let’s krebskranker Kinder aus der kriegsver- sind Helme, Kevlarwesten, Waffen und do this.» So kam das. sehrten Ukraine, ist es plötzlich ganz still. Busse. Wir müssen einen Krieg gewinnen.» «Die Erinnerungen an meine militäri- Sie waren vor Minuten noch so aufgeregt Suchomlin zeigt seine Kalaschnikow, sche Ausbildung kommen wieder hoch», gewesen, verstauten ihre Taschen, plat- die neben ihm auf dem Schreibtisch liegt, sagt er im Bus, wir sind irgendwo in Sach- zierten ihre Stofftiere, rangelten um die er sei eigentlich Pazifist, sagt er, bei ihm sen. In den achtziger Jahren, auf dem Höhe- Fensterplätze. Aber jetzt, da der Bus an im Büro hing bis vor wenigen Wochen ein punkt des Ost-West-Konfliktes, hätten sie den letzten Wohnhäusern und Tankstel- Porträt Mahatma Gandhis. Aber als die in der Armee dauernd darüber diskutiert, lenshops vorbeischleicht, bevor er auf die Russen begannen, seine Stadt zu belagern, wie lange es dauert, bis die Russen am Autobahn Richtung Westen biegt, halten nahm er Gandhi von der Wand - und Bodensee stünden, hätten Karten studiert, sie sich an ihren Müttern und Geschwis- hängte Wolodimir Selenski auf. Strategien durchgespielt, die Vorwarnzeit tern fest. Kein Wort ist zu hören, kein «Wir sind jetzt in der DDR», sagt Lü analysiert. «Vierzig Jahre später holt uns Rascheln, kein Lachen. Nur fröhliche Kin- chinger, es ist neun Uhr morgens, ein neb- der Kalte Krieg wieder ein, wer hätte das der machen Lärm. liger Märztag, sechs Stunden schon ist er gedacht?» Fassungslos klickt er sich durch Sie wissen nicht, was sie in der Schweiz unterwegs Richtung ukrainische Grenze, die Schlagzeilen einer neuen Welt: Bomben erwartet. Sie wissen nicht, wie es ihren blickt auf karge Felder, Hof, Plauen, hier auf Mariupol, Bomben auf Vororte Kiews, Vätern zu Hause in der Ukraine geht. Wer- irgendwo verlief der Eiserne Vorhang. Er Millionen von Flüchtlingen, steigende den ihre Spielsachen noch da sein, wenn habe zwei Tage nach der russischen Inva- Militärbudgets in Polen und Deutschland, sie zurückkommen? Werden die Gross- sion einen Vortrag an der ETH besucht, drohende Hungersnot in Afrika aufgrund eltern leben? Wird es ihr Land noch geben? als er den Entschluss fasste, seine Mit- explodierender Weizenpreise. «Die Kinder Alexander Lüchinger, vom Unternehmer zum Fluchthelfer: «Niemand wird zurückgelassen.» Der Krebs und der Krieg, diese Kinder arbeiter und ihre Familien aus Schitomir, und Mütter, die wir retten, sind ja doch tragen beides in sich. die er seit Jahren kennt, aus dem Bomben- nur ein Tropfen auf den heissen Stein.» hagel in die Schweiz zu holen. Aus Lüchin- Lüchinger hält seine Emotionen zurück, Selenski statt Gandhi ger, dem Unternehmer, wurde ein Flucht- an den Zuckungen um seine Mundwinkel Ein paar Tage zuvor steht Alexander helfer. «So kam das», sagt er. erkennt man sein inneres Beben. Rast in Lüchinger vor seinem Haus in Küsnacht, Es ist ein kurzer Satz, der den Kern die- Chemnitz. Hotdog, Wasser, Weiterfahrt. Kanton Zürich, es ist drei Uhr morgens, ses Alexander Lüchinger gut einfängt, tiefschwarze Nacht. Zufrieden steigt er in Generalstabsoffizier der Schweizer Armee, kinder auf der flucht einen der beiden Busse, die er organisierte, wetterfeste Hosen mit Klettverschlüssen, Lublin, 340 000 Einwohner, ist die erste um die Kinder an der polnisch-ukraini- misstrauischer, aber gutmütiger Blick: Ein grosse Stadt nach der ukrainischen Gren- schen Grenze abzuholen und in die Schweiz Mann der Tat. ze und seit dem Krieg so etwas wie ein zu bringen: Es läuft alles nach Plan. Er Sammelbecken für alle, die vor den russi- sitzt in der ersten Reihe, das Handy vor schen Granaten nach Polen fliehen. Täglich sich, den Laptop, die Funkgeräte, Lüchin- kommen Hunderte von Flüchtlingen in ger hat alles bis ins Detail geplant, 1550 Bussen an. Am Bahnhof stapeln sich bunte Flucht in die Schweiz Kilometer, über Nürnberg, Dresden, Lodz, Kinderrucksäcke, die Mütter laden ihre er hat den Abendverkehr um Warschau Von Schitomir nach Küsnacht Telefone auf und erhalten warme Suppe. natürlich mit einberechnet. Von hier reisen sie weiter nach Europa, Alexander Lüchinger, 69, studierter aber viele bleiben in der Hoffnung, bald Maschineningenieur, arbeitet als Unter- zurückzukehren in die zerbombte Heimat. nehmer seit 35 Jahren im Energiebereich Sie übernachten bei Gastfamilien, in Stu- in verschiedenen osteuropäischen Län- dentenheimen und Schulen, die in den Kiew dern. Meist ging es um Fragen der Ener- POLEN vergangenen Wochen zu Flüchtlingslagern Lublin Schitomir gieeffizienz und des Umweltschutzes, um DEUTSCHLAND umfunktioniert wurden. Die Einwohner- UKRAINE die Sanierung von Fernwärmeanlagen, um zahl Lublins hat sich in den ersten zwan- grosse, halbstaatliche Projekte, die er über zig Tagen des Krieges um zehn Prozent Jahre gemeinsam mit den Behörden vor Küsnacht vergrössert. Auch Lüchingers krebskranke Ort koordinierte. Auch in der Ukraine, in Kinder aus Schitomir haben die Nacht auf Schitomir und Winnizja, wenige Auto- armeegrünen Feldbetten in einer Turnhalle stunden westlich von Kiew. 500 km ausserhalb der Stadt verbracht. Am 24. Februar, als dieser Krieg begann, Dass keine Stunde von hier Krieg flogen auch die ersten Raketen auf Schi- herrscht, merkt man in Lublin auch an der Yuri, 18, im polnischen Flüchtlingslager: «Man hat mir lange nicht geglaubt, dass mit meinem Körper etwas nicht stimmt.» 10 NZZ am Sonntag Magazin 15/2022 15/2022 NZZ am Sonntag Magazin 11
Präsenz der internationalen Hilfswerks- lich, dass man Helfer von Tätern kaum aus einer Kleinstadt an der weissrussischen szene. Die Hotels sind voller NGO-Mit- unterscheiden könne. Gemäss Unicef ver- Grenze. Als sie eine Woche zuvor einen arbeiter, die man an den bunten Logos schwanden in den ersten drei Wochen des Anruf vom regionalen Krankenhaus er- ihrer Faserpelze erkennt und die sich am Krieges 500 Kinder allein an der rumäni- hielt, man habe ihre Tochter Karina aus- Frühstücksbuffet, während sie sich blasses schen Grenze. Sie reisten ohne ihre Eltern, erwählt, in die Schweiz zu fahren, wusste Rührei auf ihre Teller schaufeln, andächtig sie wollten dem Krieg entfliehen – und sie erst nicht, ob sie sich freuen soll. Karina, zunicken. Von hier verteilen sie die Tonnen gerieten in falsche Hände. 12, hat Leukämie, sie braucht Medika- an Hilfsgütern, die aus der ganzen Welt in mente, braucht regelmässige Therapie, Lublin eintreffen, in ukrainische Städte «Niemand wird zurückgelassen» erzählt ihre Mutter, der Bus ist bereits wie Irpin, Tschernihiw oder Slawutitsch, Voller Tatendrang steht Alexander Lüchin- irgendwo in Deutschland. «Aber ich wollte die man im Westen vor Wochen kaum ger am nächsten Morgen vor der Turnhalle, meinen Mann nicht verlassen, der an einem kannte und nun zu Mahnmalen wurden in der die Kinder übernachteten. Er hat der Checkpoints steht und unser Land ver- dieses Krieges, den niemand vorhersah. Listen in der Hand mit den Namen und teidigt.» Es gehe nicht nur um die kranke «Jedes zweite Kind in der Ukraine ist Diagnosen und bespricht sich mit Tetiana Tochter, auch um die Zukunft der anderen auf der Flucht», sagt James Elder vom Kin- Samoiliuk, einer Ärztin aus der Ukraine, beiden mache sie sich Sorgen. Ständig derhilfswerk Unicef, «seit dem Zweiten die die jungen Patienten auf ihrer Flucht werde sie von ihren Kindern mit Fragen Weltkrieg haben wir so etwas nie mehr in die Schweiz begleitet. «Der Krebs hat gelöchert: Warum herrscht Krieg, Mama? gesehen.» Über 50 Spitäler wurden bereits das Leben dieser Kinder gezeichnet, jetzt Wie wird unser Leben in der Schweiz, getroffen, Schulen, Gebärhäuser, Kinder- kommt der Krieg hinzu.» Viele seien im Mama? Wann gehen wir zurück? «Aber gärten, erzählt Elder, der sich in Lwiw Schock, deshalb wirkten sie, als seien sie ich habe keine Antworten.» befindet, im Westen des Landes. Viele sediert. «Sie verstehen nicht, was gerade Ein paar Reihen hinter ihr sitzt Larisa schwangere Frauen erlitten aus Schock mit ihnen und ihrem Land passiert.» mit ihrem Enkel Nikita, 15, der an Hirn- Frühgeburten und sässen im Bombenhagel Aber wer tut das schon? krebs erkrankt ist. Sie wohnten im fünften fest, ukrainische Ärzte würden von Russen Lüchinger verteilt sie alle auf die Busse, Stock eines alten Sowjetbaus ausserhalb festgenommen, behauptet Elder. Es mangle hakt die Namen auf der Liste ab, «niemand Schitomirs. Sie hatten schon vor dem Krieg an Sauerstoff, Wasser und Medikamenten. wird zurückgelassen», sagt er, das alte ein beschwerliches Leben, weil Nikita nach An den Bahnhöfen des Landes würden Militärcredo, und er verteilt Schokolade, seinen Operationen kaum mehr laufen sich unfassbare Szenen abspielen: «Eltern Lollipop, später erhalten sie vom Walliser könne. «Doch Putin hat uns alles genom- Tetiana Samoiliuk, ukrainische Ärztin: «Der Krebs hat das Wird es ihr Land noch geben, wenn sie zurückkehren? setzen ihre Kinder allein in den Zug, in Busunternehmen einen Bergkristall, der men.» Nikitas Mutter kümmere sich zu Leben dieser Kinder gezeichnet. Jetzt kommt der Krieg hinzu.» Werden ihre Väter noch leben? Artem, 10 Jahre alt. der Hoffnung, dass sie es über die Grenze Kraft spenden soll. 18 Stunden dauert die Hause um die restlichen Kinder, der Vater schaffen.» Rückfahrt, Lüchinger will um neun Uhr habe bereits im Donbass 2014 gegen die Erst neulich hat Elder mit einem 15-jäh- morgens ankommen: aus der zerstörten Russen gekämpft, erzählt Larissa, die rigen Jungen gesprochen, der auf eine Mine Ukraine per Car bis nach Küsnacht an den Grossmutter. Als es hiess, Nikita dürfe in getreten war und seine Beine verlor. «Er Zürichsee, wo die Frühlingsprimeln in den die Schweiz, habe sie keine Sekunde ge- lag nach der Explosion unter einem Auto Vorgärten der Terrassenvillen blühen und zögert: «Ich will doch nur, dass mein Enkel und musste zusehen, wie seine Mutter die Menschen oft nicht wissen, wie gut es wieder gesund wird.» verblutet. Es ist so entsetzlich.» ihnen geht. Vom Krieg in den Frieden: So geht das Reihe für Reihe, Lymph- Schaffen es die Mütter und Kinder über Irina sitzt neben ihren drei Kindern krebs, Knochenkrebs, jedes Kind hat eine die Grenze, sind sie zwar vor Bomben ge- Natalia, Mikhail und Karina. Sie kommen viel zu dicke Krankheitsakte und Angst schützt, aber deswegen nicht in Sicherheit. vor Metastasen, die sich im Körper aus- Polnische Menschenrechtsorganisationen breiten wie feindliche Soldaten im eigenen warnen vor Zuhältern und Menschenhänd- Land. Und Tetiana Samoiliuk, 68, kennt lern, die die Verzweiflung und das Chaos sie alle. ausnutzen und es vor allem auf junge ukrai- Sie ist seit 44 Jahren Kinderärztin am nische Frauen abgesehen hätten. «Wir Popilnianskaia-Spital in Schitomir. Als haben beobachtet, wie sie vor den Flücht- «Warum der Krieg am 24. Februar ausbrach, arbei- lingslagern in Lublin herumlungern, nicht tete sie in einer Praxis in der Nähe des nur Männer, auch Paare aus ganz Europa, herrscht Militärgeländes und hörte die Detonatio- Krieg, Mama? und warten, bis sich eine Möglichkeit er- nen. Sie sah Granatsplitter, Explosionen, gibt, sich einer der jungen Frauen zu nä- Tetiana Samoiliuks erster Gedanke aber Wie wird unser hern. Sie bieten Mitfahrgelegenheiten an, galt den Kindern der Onkologie-Abteilung. versprechen einen guten Job, eine neue «Ich rief den Direktor an und sagte ihm, Zukunft», sagt Karolina Wierzbińska von der Organisation «Homo Faber». Leben in der wir müssen sie evakuieren. Sie haben hier keine Zukunft. Wir erstellten eine Liste Die Organisation «Missing Children Europe» behauptet, dass Kinder auf der Schweiz, und riefen die Eltern an. Die Kinder, die nicht mehr transportfähig sind, mussten Flucht aus der Ukraine immer wieder spur- Mama?» wir leider zurücklassen.» los verschwänden. Die Situation an der Im Bus ist es dunkel, die meisten schla- Grenze, nicht nur in Polen, auch in Ungarn fen schon, Tetiana Samoiliuks Leselicht oder der Moldau, sei derart unübersicht- scheint von oben auf ihre rötlich gefärbten Panzer auf der polnischen Autobahn Richtung ukrainische Grenze. 12 NZZ am Sonntag Magazin 15/2022 15/2022 NZZ am Sonntag Magazin 13
Haare. Seit ihr Mann im vergangenen Jahr Am Sonntag, keine zehn Tage nachdem an Corona gestorben sei, sagt sie, habe sie die Kinder und Mütter aus Schitomir in keine Familie mehr in der Ukraine. Sie Küsnacht ankamen, findet in der Kirche habe sich geschworen, die Kinder in Sicher- «Ich schäme ein Benefizkonzert für ukrainische Kriegs- heit zu bringen und am Ende des Krieges opfer statt. Der Pfarrer Andrea Marco mit ihnen wieder nach Hause zu fahren. mich, an der Bianca hält eine bewegende Rede, es gehe Sonne zu Sie sind alles, was sie hat. nicht um Nationen, ruft er den Zuhörern zu, es gehe um Menschen. Der irische Sän- sitzen, während Ein leiser held ger Chris de Burgh tritt mit den Swiss Gos- Serhi Suchomlin, der Bürgermeister aus pel Singers auf, singt John Lennons be- Schitomir, der Stadt, aus der die meisten dieser Kinder stammen, sagt, er sei der meine rühmte Zeilen: «Imagine thereʼs no countries / It isnʼt hard to do / Nothing to kill or die for Schweiz und Lüchinger im Speziellen zu «grossem Dank verpflichtet». Seine Stadt Landsleute / And no religion, too», und erklärt, wie nahe ihm dieser Krieg gehe, auch deshalb, liege an einem wichtigen Verkehrsknoten- sterben.» weil seine Tochter Rosanna nach 14 Fehl- punkt, sie verbinde die Hauptstadt mit geburten eine ukrainische Leihmutter auf- dem Westen des Landes. «Es würde mich gesucht habe, die ihr Kind austrug. «Nas- nicht erstaunen, wenn die Russen versu- tia, die Leihmutter, fürchtet nun um ihr chen, uns plattzumachen.» Sie seien dabei, Leben und versteckt sich in einem Bunker einen Abwehrriegel um Schitomir aufzu- in Odessa.» Es wird getanzt, gesungen bauen, umso wichtiger sei es für die Män- Vorort Schitomirs. Eine junge Mutter will und geweint, «ich habe die Küsnachter ner an der Front, zu wissen, dass ihre An- in wenigen Wochen mit ihrem Sohn zu- noch nie so emotional und geeint erlebt», gehörigen in Sicherheit seien. Lüchinger rück, «mein Arbeitgeber droht, meine neue sagen zwei Frauen nach dem Konzert. Sie habe bereits vor dem Krieg seiner Stadt Stelle zu streichen, sollte ich länger fort- legen das eine oder andere Nötchen in den geholfen, indem er die Energieeffizienz bleiben». Es sind auch kleine Dramen, die Spendenkorb, fallen sich in die Arme und erhöhte und die Luftqualität verbesserte. die Geschichte dieses Krieges erzählen. feiern auch ein wenig sich selbst. Jetzt rette er auch noch die kranken Kinder. «Es ist ein Paradies», sagt Alexander «Er ist einer, der uns hilft, unsere Sicht- Lüchinger leise. Er sitzt im Esszimmer des «Wird man an uns denken?» Yuri in seinem neuen Zimmer in Küsnacht: Chris de Burgh singt gemeinsam mit den Swiss Gospel Singers in «Meine Krankheit hat mich gelehrt zu kämpfen.» der Kirche in Küsnacht für die Opfer des Krieges in der Ukraine. weise auf das Leben zu verändern», sagt Altersheims, eine Woche ist vergangen seit Oben im Sonnenhof, wo die Kinder und Suchomlin, der Bürgermeister mit der der Busfahrt an die Grenze. Er sieht den Mütter aus Schitomir leben, keine fünf Kalaschnikow. «Ein leiser Held.» Kindern beim Spielen zu, jemand habe Minuten von der Kirche entfernt, ist es in Es ist halb acht Uhr morgens, Lüchinger, einen Pingpongtisch gespendet, bald wür- den meisten Zimmern dunkel. Yuri, 18, ist der leise Held, nimmt das Mikrofon in den sie mehrere Playstations erhalten und eines der ältesten Kinder von Lüchingers seine Hand und sagt: «Willkommen in der ein Fernsehzimmer einrichten. Lüchinger Gruppe. Er hält sein Telefon fest in der Schweiz!» Die Mütter klatschen schläfrig, ist jetzt so etwas wie der Heimleiter dieser Hand, auf dem er nach englischen Wörtern die Kinder schauen aus dem Fenster, Au, 120 Vertriebenen, «es fühlt sich an wie sucht, wenn sie ihm nicht einfallen. Kanton St. Gallen, das Erste, was sie sehen, früher als Kompaniekommandant im Mili- «Ich leide an Lymphkrebs», sagt er. sind Reklamen für schäbige Bordelle, von tär». Er habe soeben einen Coiffeur für Lange habe man ihm nicht geglaubt, dass denen es im Rheintal nur so wimmelt. seine Flüchtlinge organisiert, noch suche mit seinem Körper etwas nicht stimme, Pünktlich um neun kommen sie in Küs- er einen Seelsorger. «Mit ihrem Schutz- habe gedacht, er würde nur simulieren. nacht an, einer der reichsten Gemeinden status S dürfen sie gratis mit dem Zug fah- «Meine Erkrankung hat mich gelehrt zu der Schweiz. Sie werden in der leerstehen- ren, und sie werden im Kinderspital von kämpfen. Es braucht Ausdauer und den den Alterssiedlung Sonnenhof unter- Spezialisten untersucht», sagt er. «Ande- Glauben daran, wieder gesund zu werden, gebracht, den Blick auf den Zürichsee tei- ren Flüchtlingen geht es wahrscheinlich sonst schaffst du es nicht. Und du musst len sie mit Tina Turner, die in der Nähe weniger gut», fügt er nachdenklich hinzu, Rückschläge gut wegstecken können.» eine Villa am Ufer besitzt. als wäre es ihm unangenehm. Der Krebs ist wie der Krieg. «Wir stehen Später kommt noch ein weiterer Bus Noch ist die Solidarität grenzenlos. Täg- erst am Anfang», sagt Yuri, aber was, wenn mit ukrainischen Flüchtlingen an, 120 lich würden sich Freiwillige melden, sagt die Russen noch jahrelang in der Ukraine Mütter und Kinder werden hier in den Lüchinger, die Gemeinde Küsnacht spen- bleiben? Wenn noch viel mehr Menschen nächsten Monaten auf fünf Stockwerken det 100 000 Franken. «Es soll ihnen gut flüchten, nicht nur Kinder, auch Männer leben, während sich ihre Angehörigen in gehen bei uns», sagt auch Gemeindepräsi- und Alte, und sich die Ukraine langsam der Heimat im Bunker vor Streubomben dent Markus Ernst. Er hätte ähnlich ge- entvölkert. «Wird man uns in der Schweiz verstecken. Viele beginnen zu weinen, als handelt, wenn es Menschen aus Syrien noch wollen? Wird man noch von uns sie erfahren, dass sie von der Gemeinde oder Eritrea gewesen wären, «obwohl uns reden, oder werden wir vergessen?» 500 Franken Startgeld erhalten, weil sie das Schicksal der Ukrainer direkter be- Er lacht verlegen, entschuldigt sich und denken, sie müssten es zurückzahlen; an- rührt, sie kommen aus demselben Kultur- hinkt zurück in sein Zimmer. ■ dere haben ein schlechtes Gewissen, ge- kreis, vielleicht sind sie uns deshalb flohen zu sein, «ich schäme mich, an der näher?» Selbst aus St. Moritz meldete sich Wer die ukrainischen Kinder in Küsnacht Sonne zu sitzen, während meine Lands- der Gemeindepräsident und liess fragen, unterstützen will, kann sich beim Autor dieses Noch ist die Solidarität grenzenlos. Die dreijährige Victoria auf der Terrasse des ehemaligen Altersheims in Küsnacht. leute sterben», sagt eine Frau aus einem ob er etwas für die Kinder tun könne? Textes melden: sacha.batthyany@nzz.ch 14 NZZ am Sonntag Magazin 15/2022 15/2022 NZZ am Sonntag Magazin 15
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