Der Krieg und der Krebs - Über 40 krebskranke Kinder flohen aus der Ukraine nach Küsnacht an den Zürichsee. Von der Kriegshölle ins Paradies ...

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Der Krieg und der Krebs - Über 40 krebskranke Kinder flohen aus der Ukraine nach Küsnacht an den Zürichsee. Von der Kriegshölle ins Paradies ...
So wie Anhelina, 7, ist jedes zweite Kind in der Ukraine auf der Flucht.    Die dreijährige Anastasia hat die Nacht in einer Turnhalle in Lublin verbracht.       Nikita, 15, mit seiner Grossmutter Larisa: «Putin hat uns alles genommen.»

                                                                                                                            Text: Sacha Batthyany             Fotos: Helmut Wachter

                                                                                                  Der Krieg und
                                                                                                   der Krebs
                                                                                                 Über 40 krebskranke Kinder flohen aus der Ukraine nach
                                                                                                Küsnacht an den Zürichsee. Von der Kriegshölle ins Paradies.
                                                                                                              Finden sie hier ihren Frieden?

                                                                           15/2022                                                                                                                        NZZ am Sonntag Magazin               9
Der Krieg und der Krebs - Über 40 krebskranke Kinder flohen aus der Ukraine nach Küsnacht an den Zürichsee. Von der Kriegshölle ins Paradies ...
A
                                                tomir und trafen ein Trainingszentrum             Innerhalb weniger Tage sammelte er
                                                der ukrainischen Spezialeinheit, Schulen,      Lebensmittel, Kleidung, Handybatterien,
                                                ein Geburtenhaus, Wohnblocks, die städ-        einfache Drohnen, und reiste an die Gren-
                                                tische Wasserversorgung, mehr als hundert      ze. Er gab das Material ab und lud die Men-
                                                Soldaten starben seitdem, neun Zivilisten,     schen ein. Auf dem Rückweg in die Schweiz
                                                sagt der Bürgermeister Serhi Suchomlin.        erreichte ihn die Nachricht des Bürger-
                                                Er dankt allen Menschen aus dem Westen,        meisters von Schitomir, ob er nicht noch
                                                die Kleider spenden, Spielzeug und Medi-       eine Gruppe krebskranker Kinder holen
Als der Bus endlich losfährt, voller            kamente. «Was wir aber wirklich brauchen,      könne. Lüchinger schrieb zurück: «Let’s
krebskranker Kinder aus der kriegsver-          sind Helme, Kevlarwesten, Waffen und           do this.» So kam das.
sehrten Ukraine, ist es plötzlich ganz still.   Busse. Wir müssen einen Krieg gewinnen.»          «Die Erinnerungen an meine militäri-
Sie waren vor Minuten noch so aufgeregt            Suchomlin zeigt seine Kalaschnikow,         sche Ausbildung kommen wieder hoch»,
gewesen, verstauten ihre Taschen, plat-         die neben ihm auf dem Schreibtisch liegt,      sagt er im Bus, wir sind irgendwo in Sach-
zierten ihre Stofftiere, rangelten um die       er sei eigentlich Pazifist, sagt er, bei ihm   sen. In den achtziger Jahren, auf dem Höhe-
Fensterplätze. Aber jetzt, da der Bus an        im Büro hing bis vor wenigen Wochen ein        punkt des Ost-West-Konfliktes, hätten sie
den letzten Wohnhäusern und Tankstel-           Porträt Mahatma Gandhis. Aber als die          in der Armee dauernd darüber diskutiert,
lenshops vorbeischleicht, bevor er auf die      Russen begannen, seine Stadt zu belagern,      wie lange es dauert, bis die Russen am
Autobahn Richtung Westen biegt, halten          nahm er Gandhi von der Wand - und              Bodensee stünden, hätten Karten studiert,
sie sich an ihren Müttern und Geschwis-         hängte Wolodimir Selenski auf.                 Strategien durchgespielt, die Vorwarnzeit
tern fest. Kein Wort ist zu hören, kein            «Wir sind jetzt in der DDR», sagt Lü­       analysiert. «Vierzig Jahre später holt uns
Rascheln, kein Lachen. Nur fröhliche Kin-       chinger, es ist neun Uhr morgens, ein neb-     der Kalte Krieg wieder ein, wer hätte das
der machen Lärm.                                liger Märztag, sechs Stunden schon ist er      gedacht?» Fassungslos klickt er sich durch
   Sie wissen nicht, was sie in der Schweiz     unterwegs Richtung ukrainische Grenze,         die Schlagzeilen einer neuen Welt: Bomben
erwartet. Sie wissen nicht, wie es ihren        blickt auf karge Felder, Hof, Plauen, hier     auf Mariupol, Bomben auf Vororte Kiews,
Vätern zu Hause in der Ukraine geht. Wer-       irgendwo verlief der Eiserne Vorhang. Er       Millionen von Flüchtlingen, steigende
den ihre Spielsachen noch da sein, wenn         habe zwei Tage nach der russischen Inva-       Militärbudgets in Polen und Deutschland,
sie zurückkommen? Werden die Gross-             sion einen Vortrag an der ETH besucht,         drohende Hungersnot in Afrika aufgrund
eltern leben? Wird es ihr Land noch geben?      als er den Entschluss fasste, seine Mit-       explodierender Weizenpreise. «Die Kinder                              Alexander Lüchinger, vom Unternehmer zum Fluchthelfer: «Niemand wird zurückgelassen.»
   Der Krebs und der Krieg, diese Kinder        arbeiter und ihre Familien aus Schitomir,      und Mütter, die wir retten, sind ja doch
tragen beides in sich.                          die er seit Jahren kennt, aus dem Bomben-      nur ein Tropfen auf den heissen Stein.»
                                                hagel in die Schweiz zu holen. Aus Lüchin-     Lüchinger hält seine Emotionen zurück,
Selenski statt Gandhi                           ger, dem Unternehmer, wurde ein Flucht-        an den Zuckungen um seine Mundwinkel
Ein paar Tage zuvor steht Alexander             helfer. «So kam das», sagt er.                 erkennt man sein inneres Beben. Rast in
Lüchinger vor seinem Haus in Küsnacht,             Es ist ein kurzer Satz, der den Kern die-   Chemnitz. Hotdog, Wasser, Weiterfahrt.
Kanton Zürich, es ist drei Uhr morgens,         ses Alexander Lüchinger gut einfängt,
tiefschwarze Nacht. Zufrieden steigt er in      Generalstabsoffizier der Schweizer Armee,      kinder auf der flucht
einen der beiden Busse, die er organisierte,    wetterfeste Hosen mit Klettverschlüssen,       Lublin, 340 000 Einwohner, ist die erste
um die Kinder an der polnisch-ukraini-          misstrauischer, aber gutmütiger Blick: Ein     grosse Stadt nach der ukrainischen Gren-
schen Grenze abzuholen und in die Schweiz       Mann der Tat.                                  ze und seit dem Krieg so etwas wie ein
zu bringen: Es läuft alles nach Plan. Er                                                       Sammelbecken für alle, die vor den russi-
sitzt in der ersten Reihe, das Handy vor                                                       schen Granaten nach Polen fliehen. Täglich
sich, den Laptop, die Funkgeräte, Lüchin-                                                      kommen Hunderte von Flüchtlingen in
ger hat alles bis ins Detail geplant, 1550                                                     Bussen an. Am Bahnhof stapeln sich bunte
                                                       Flucht in die Schweiz
Kilometer, über Nürnberg, Dresden, Lodz,                                                       Kinderrucksäcke, die Mütter laden ihre
er hat den Abendverkehr um Warschau                     Von Schitomir nach Küsnacht            Telefone auf und erhalten warme Suppe.
natürlich mit einberechnet.                                                                    Von hier reisen sie weiter nach Europa,
   Alexander Lüchinger, 69, studierter                                                         aber viele bleiben in der Hoffnung, bald
Maschineningenieur, arbeitet als Unter-                                                        zurückzukehren in die zerbombte Heimat.
nehmer seit 35 Jahren im Energiebereich                                                        Sie übernachten bei Gastfamilien, in Stu-
in verschiedenen osteuropäischen Län-                                                          dentenheimen und Schulen, die in den
                                                                                       Kiew
dern. Meist ging es um Fragen der Ener-                            POLEN                       vergangenen Wochen zu Flüchtlingslagern
                                                                     Lublin   Schitomir
gieeffizienz und des Umweltschutzes,     um
                                     DEUTSCHLAND                                               umfunktioniert wurden. Die Einwohner-
                                                                                UKRAINE
die Sanierung von Fernwärmeanlagen, um                                                         zahl Lublins hat sich in den ersten zwan-
grosse, halbstaatliche Projekte, die er über                                                   zig Tagen des Krieges um zehn Prozent
Jahre gemeinsam mit den Behörden vor                    Küsnacht                               vergrössert. Auch Lüchingers krebskranke
Ort koordinierte. Auch in der Ukraine, in                                                      Kinder aus Schitomir haben die Nacht auf
Schitomir und Winnizja, wenige Auto-                                                           armeegrünen Feldbetten in einer Turnhalle
stunden westlich von Kiew.                                                    500 km           ausserhalb der Stadt verbracht.
   Am 24. Februar, als dieser Krieg begann,                                                       Dass keine Stunde von hier Krieg
flogen auch die ersten Raketen auf Schi-                                                       herrscht, merkt man in Lublin auch an der               Yuri, 18, im polnischen Flüchtlingslager: «Man hat mir lange nicht geglaubt, dass mit meinem Körper etwas nicht stimmt.»

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Der Krieg und der Krebs - Über 40 krebskranke Kinder flohen aus der Ukraine nach Küsnacht an den Zürichsee. Von der Kriegshölle ins Paradies ...
Präsenz der internationalen Hilfswerks-        lich, dass man Helfer von Tätern kaum           aus einer Kleinstadt an der weissrussischen
szene. Die Hotels sind voller NGO-Mit-         unterscheiden könne. Gemäss Unicef ver-         Grenze. Als sie eine Woche zuvor einen
arbeiter, die man an den bunten Logos          schwanden in den ersten drei Wochen des         Anruf vom regionalen Krankenhaus er-
ihrer Faserpelze erkennt und die sich am       Krieges 500 Kinder allein an der rumäni-        hielt, man habe ihre Tochter Karina aus-
Frühstücksbuffet, während sie sich blasses     schen Grenze. Sie reisten ohne ihre Eltern,     erwählt, in die Schweiz zu fahren, wusste
Rührei auf ihre Teller schaufeln, andächtig    sie wollten dem Krieg entfliehen – und          sie erst nicht, ob sie sich freuen soll. Karina,
zunicken. Von hier verteilen sie die Tonnen    gerieten in falsche Hände.                      12, hat Leukämie, sie braucht Medika-
an Hilfsgütern, die aus der ganzen Welt in                                                     mente, braucht regelmässige Therapie,
Lublin eintreffen, in ukrainische Städte       «Niemand wird zurückgelassen»                   erzählt ihre Mutter, der Bus ist bereits
wie Irpin, Tschernihiw oder Slawutitsch,       Voller Tatendrang steht Alexander Lüchin-       irgendwo in Deutschland. «Aber ich wollte
die man im Westen vor Wochen kaum              ger am nächsten Morgen vor der Turnhalle,       meinen Mann nicht verlassen, der an einem
kannte und nun zu Mahnmalen wurden             in der die Kinder übernachteten. Er hat         der Checkpoints steht und unser Land ver-
dieses Krieges, den niemand vorhersah.         Listen in der Hand mit den Namen und            teidigt.» Es gehe nicht nur um die kranke
    «Jedes zweite Kind in der Ukraine ist      Diagnosen und bespricht sich mit Tetiana        Tochter, auch um die Zukunft der anderen
auf der Flucht», sagt James Elder vom Kin-     Samoiliuk, einer Ärztin aus der Ukraine,        beiden mache sie sich Sorgen. Ständig
derhilfswerk Unicef, «seit dem Zweiten         die die jungen Patienten auf ihrer Flucht       werde sie von ihren Kindern mit Fragen
Weltkrieg haben wir so etwas nie mehr          in die Schweiz begleitet. «Der Krebs hat        gelöchert: Warum herrscht Krieg, Mama?
gesehen.» Über 50 Spitäler wurden bereits      das Leben dieser Kinder gezeichnet, jetzt       Wie wird unser Leben in der Schweiz,
getroffen, Schulen, Gebärhäuser, Kinder-       kommt der Krieg hinzu.» Viele seien im          Mama? Wann gehen wir zurück? «Aber
gärten, erzählt Elder, der sich in Lwiw        Schock, deshalb wirkten sie, als seien sie      ich habe keine Antworten.»
befindet, im Westen des Landes. Viele          sediert. «Sie verstehen nicht, was gerade           Ein paar Reihen hinter ihr sitzt Larisa
schwangere Frauen erlitten aus Schock          mit ihnen und ihrem Land passiert.»             mit ihrem Enkel Nikita, 15, der an Hirn-
Frühgeburten und sässen im Bombenhagel            Aber wer tut das schon?                      krebs erkrankt ist. Sie wohnten im fünften
fest, ukrainische Ärzte würden von Russen         Lüchinger verteilt sie alle auf die Busse,   Stock eines alten Sowjetbaus ausserhalb
festgenommen, behauptet Elder. Es mangle       hakt die Namen auf der Liste ab, «niemand       Schitomirs. Sie hatten schon vor dem Krieg
an Sauerstoff, Wasser und Medikamenten.        wird zurückgelassen», sagt er, das alte         ein beschwerliches Leben, weil Nikita nach
An den Bahnhöfen des Landes würden             Militärcredo, und er verteilt Schokolade,       seinen Operationen kaum mehr laufen
sich unfassbare Szenen abspielen: «Eltern      Lollipop, später erhalten sie vom Walliser      könne. «Doch Putin hat uns alles genom-                       Tetiana Samoiliuk, ukrainische Ärztin: «Der Krebs hat das                                    Wird es ihr Land noch geben, wenn sie zurückkehren?
setzen ihre Kinder allein in den Zug, in       Busunternehmen einen Bergkristall, der          men.» Nikitas Mutter kümmere sich zu                         Leben dieser Kinder gezeichnet. Jetzt kommt der Krieg hinzu.»                                  Werden ihre Väter noch leben? Artem, 10 Jahre alt.
der Hoffnung, dass sie es über die Grenze      Kraft spenden soll. 18 Stunden dauert die       Hause um die restlichen Kinder, der Vater
schaffen.»                                     Rückfahrt, Lüchinger will um neun Uhr           habe bereits im Donbass 2014 gegen die
    Erst neulich hat Elder mit einem 15-jäh-   morgens ankommen: aus der zerstörten            Russen gekämpft, erzählt Larissa, die
rigen Jungen gesprochen, der auf eine Mine     Ukraine per Car bis nach Küsnacht an den        Grossmutter. Als es hiess, Nikita dürfe in
getreten war und seine Beine verlor. «Er       Zürichsee, wo die Frühlingsprimeln in den       die Schweiz, habe sie keine Sekunde ge-
lag nach der Explosion unter einem Auto        Vorgärten der Terrassenvillen blühen und        zögert: «Ich will doch nur, dass mein Enkel
und musste zusehen, wie seine Mutter           die Menschen oft nicht wissen, wie gut es       wieder gesund wird.»
­verblutet. Es ist so entsetzlich.»            ihnen geht. Vom Krieg in den Frieden:               So geht das Reihe für Reihe, Lymph-
    Schaffen es die Mütter und Kinder über        Irina sitzt neben ihren drei Kindern         krebs, Knochenkrebs, jedes Kind hat eine
 die Grenze, sind sie zwar vor Bomben ge-      Natalia, Mikhail und Karina. Sie kommen         viel zu dicke Krankheitsakte und Angst
 schützt, aber deswegen nicht in Sicherheit.                                                   vor Metastasen, die sich im Körper aus-
 Polnische Menschenrechtsorganisationen                                                        breiten wie feindliche Soldaten im eigenen
 warnen vor Zuhältern und Menschenhänd-                                                        Land. Und Tetiana Samoiliuk, 68, kennt
 lern, die die Verzweiflung und das Chaos                                                      sie alle.
 ausnutzen und es vor allem auf junge ukrai-                                                       Sie ist seit 44 Jahren Kinderärztin am
 nische Frauen abgesehen hätten. «Wir                                                          Popilnianskaia-Spital in Schitomir. Als
 haben beobachtet, wie sie vor den Flücht-           «Warum                                    der Krieg am 24. Februar ausbrach, arbei-
 lingslagern in Lublin herumlungern, nicht                                                     tete sie in einer Praxis in der Nähe des
 nur Männer, auch Paare aus ganz Europa,            herrscht                                   Militärgeländes und hörte die Detonatio-

                                                  Krieg, Mama?
 und warten, bis sich eine Möglichkeit er-                                                     nen. Sie sah Granatsplitter, Explosionen,
 gibt, sich einer der jungen Frauen zu nä-                                                     Tetiana Samoiliuks erster Gedanke aber

                                                  Wie wird unser
 hern. Sie bieten Mitfahrgelegenheiten an,                                                     galt den Kindern der Onkologie-Abteilung.
 versprechen einen guten Job, eine neue                                                        «Ich rief den Direktor an und sagte ihm,
 Zukunft», sagt Karolina Wierzbińska von
 der Organisation «Homo Faber».
                                                   Leben in der                                wir müssen sie evakuieren. Sie haben hier
                                                                                               keine Zukunft. Wir erstellten eine Liste
    Die Organisation «Missing Children
 Europe» behauptet, dass Kinder auf der
                                                    Schweiz,                                   und riefen die Eltern an. Die Kinder, die
                                                                                               nicht mehr transportfähig sind, mussten
 Flucht aus der Ukraine immer wieder spur-           Mama?»                                    wir leider zurücklassen.»
 los verschwänden. Die Situation an der                                                            Im Bus ist es dunkel, die meisten schla-
 Grenze, nicht nur in Polen, auch in Ungarn                                                    fen schon, Tetiana Samoiliuks Leselicht
 oder der Moldau, sei derart unübersicht-                                                      scheint von oben auf ihre rötlich gefärbten                                                              Panzer auf der polnischen Autobahn Richtung ukrainische Grenze.

 12    NZZ am Sonntag Magazin                                                                                                         15/2022     15/2022                                                                                                                            NZZ am Sonntag Magazin     13
Der Krieg und der Krebs - Über 40 krebskranke Kinder flohen aus der Ukraine nach Küsnacht an den Zürichsee. Von der Kriegshölle ins Paradies ...
Haare. Seit ihr Mann im vergangenen Jahr                                                              Am Sonntag, keine zehn Tage nachdem
                                                                                                                                                                              an Corona gestorben sei, sagt sie, habe sie                                                      die Kinder und Mütter aus Schitomir in
                                                                                                                                                                              keine Familie mehr in der Ukraine. Sie                                                           Küsnacht ankamen, findet in der Kirche
                                                                                                                                                                              habe sich geschworen, die Kinder in Sicher-         «Ich schäme                                  ein Benefizkonzert für ukrainische Kriegs-
                                                                                                                                                                              heit zu bringen und am Ende des Krieges                                                          opfer statt. Der Pfarrer Andrea Marco
                                                                                                                                                                              mit ihnen wieder nach Hause zu fahren.              mich, an der                                 Bianca hält eine bewegende Rede, es gehe

                                                                                                                                                                                                                                    Sonne zu
                                                                                                                                                                              Sie sind alles, was sie hat.                                                                     nicht um Nationen, ruft er den Zuhörern
                                                                                                                                                                                                                                                                               zu, es gehe um Menschen. Der irische Sän-

                                                                                                                                                                                                                                sitzen, während
                                                                                                                                                                              Ein leiser held                                                                                  ger Chris de Burgh tritt mit den Swiss Gos-
                                                                                                                                                                              Serhi Suchomlin, der Bürgermeister aus                                                           pel Singers auf, singt John Lennons be-
                                                                                                                                                                              Schitomir, der Stadt, aus der die meisten
                                                                                                                                                                              dieser Kinder stammen, sagt, er sei der
                                                                                                                                                                                                                                      meine                                    rühmte Zeilen: «Imagine thereʼs no countries
                                                                                                                                                                                                                                                                               / It isnʼt hard to do / Nothing to kill or die for
                                                                                                                                                                              Schweiz und Lüchinger im Speziellen zu
                                                                                                                                                                              «grossem Dank verpflichtet». Seine Stadt
                                                                                                                                                                                                                                   Landsleute                                  / And no religion, too», und erklärt, wie
                                                                                                                                                                                                                                                                               nahe ihm dieser Krieg gehe, auch deshalb,
                                                                                                                                                                              liege an einem wichtigen Verkehrsknoten-              sterben.»                                  weil seine Tochter Rosanna nach 14 Fehl-
                                                                                                                                                                              punkt, sie verbinde die Hauptstadt mit                                                           geburten eine ukrainische Leihmutter auf-
                                                                                                                                                                              dem Westen des Landes. «Es würde mich                                                            gesucht habe, die ihr Kind austrug. «Nas-
                                                                                                                                                                              nicht erstaunen, wenn die Russen versu-                                                          tia, die Leihmutter, fürchtet nun um ihr
                                                                                                                                                                              chen, uns plattzumachen.» Sie seien dabei,                                                       Leben und versteckt sich in einem Bunker
                                                                                                                                                                              einen Abwehrriegel um Schitomir aufzu-                                                           in Odessa.» Es wird getanzt, gesungen
                                                                                                                                                                              bauen, umso wichtiger sei es für die Män-        Vorort Schitomirs. Eine junge Mutter will       und geweint, «ich habe die Küsnachter
                                                                                                                                                                              ner an der Front, zu wissen, dass ihre An-       in wenigen Wochen mit ihrem Sohn zu-            noch nie so emotional und geeint erlebt»,
                                                                                                                                                                              gehörigen in Sicherheit seien. Lüchinger         rück, «mein Arbeitgeber droht, meine neue       sagen zwei Frauen nach dem Konzert. Sie
                                                                                                                                                                              habe bereits vor dem Krieg seiner Stadt          Stelle zu streichen, sollte ich länger fort-    legen das eine oder andere Nötchen in den
                                                                                                                                                                              geholfen, indem er die Energieeffizienz          bleiben». Es sind auch kleine Dramen, die       Spendenkorb, fallen sich in die Arme und
                                                                                                                                                                              erhöhte und die Luftqualität verbesserte.        die Geschichte dieses Krieges erzählen.         feiern auch ein wenig sich selbst.
                                                                                                                                                                              Jetzt rette er auch noch die kranken Kinder.         «Es ist ein Paradies», sagt Alexander
                                                                                                                                                                                 «Er ist einer, der uns hilft, unsere Sicht-   Lüchinger leise. Er sitzt im Esszimmer des      «Wird man an uns denken?»
             Yuri in seinem neuen Zimmer in Küsnacht:                                            Chris de Burgh singt gemeinsam mit den Swiss Gospel Singers in
           «Meine Krankheit hat mich gelehrt zu kämpfen.»                                        der Kirche in Küsnacht für die Opfer des Krieges in der Ukraine.             weise auf das Leben zu verändern», sagt          Altersheims, eine Woche ist vergangen seit      Oben im Sonnenhof, wo die Kinder und
                                                                                                                                                                              Suchomlin, der Bürgermeister mit der             der Busfahrt an die Grenze. Er sieht den        Mütter aus Schitomir leben, keine fünf
                                                                                                                                                                              Kalaschnikow. «Ein leiser Held.»                 Kindern beim Spielen zu, jemand habe            Minuten von der Kirche entfernt, ist es in
                                                                                                                                                                                 Es ist halb acht Uhr morgens, Lüchinger,      einen Pingpongtisch gespendet, bald wür-        den meisten Zimmern dunkel. Yuri, 18, ist
                                                                                                                                                                              der leise Held, nimmt das Mikrofon in            den sie mehrere Playstations erhalten und       eines der ältesten Kinder von Lüchingers
                                                                                                                                                                              seine Hand und sagt: «Willkommen in der          ein Fernsehzimmer einrichten. Lüchinger         Gruppe. Er hält sein Telefon fest in der
                                                                                                                                                                              Schweiz!» Die Mütter klatschen schläfrig,        ist jetzt so etwas wie der Heimleiter dieser    Hand, auf dem er nach englischen Wörtern
                                                                                                                                                                              die Kinder schauen aus dem Fenster, Au,          120 Vertriebenen, «es fühlt sich an wie         sucht, wenn sie ihm nicht einfallen.
                                                                                                                                                                              Kanton St. Gallen, das Erste, was sie sehen,     früher als Kompaniekommandant im Mili-              «Ich leide an Lymphkrebs», sagt er.
                                                                                                                                                                              sind Reklamen für schäbige Bordelle, von         tär». Er habe soeben einen Coiffeur für         Lange habe man ihm nicht geglaubt, dass
                                                                                                                                                                              denen es im Rheintal nur so wimmelt.             seine Flüchtlinge organisiert, noch suche       mit seinem Körper etwas nicht stimme,
                                                                                                                                                                              Pünktlich um neun kommen sie in Küs-             er einen Seelsorger. «Mit ihrem Schutz-         habe gedacht, er würde nur simulieren.
                                                                                                                                                                              nacht an, einer der reichsten Gemeinden          status S dürfen sie gratis mit dem Zug fah-     «Meine Erkrankung hat mich gelehrt zu
                                                                                                                                                                              der Schweiz. Sie werden in der leerstehen-       ren, und sie werden im Kinderspital von         kämpfen. Es braucht Ausdauer und den
                                                                                                                                                                              den Alterssiedlung Sonnenhof unter-              Spezialisten untersucht», sagt er. «Ande-       Glauben daran, wieder gesund zu werden,
                                                                                                                                                                              gebracht, den Blick auf den Zürichsee tei-       ren Flüchtlingen geht es wahrscheinlich         sonst schaffst du es nicht. Und du musst
                                                                                                                                                                              len sie mit Tina Turner, die in der Nähe         weniger gut», fügt er nachdenklich hinzu,       Rückschläge gut wegstecken können.»
                                                                                                                                                                              eine Villa am Ufer besitzt.                      als wäre es ihm unangenehm.                         Der Krebs ist wie der Krieg. «Wir stehen
                                                                                                                                                                                 Später kommt noch ein weiterer Bus                Noch ist die Solidarität grenzenlos. Täg-   erst am Anfang», sagt Yuri, aber was, wenn
                                                                                                                                                                              mit ukrainischen Flüchtlingen an, 120            lich würden sich Freiwillige melden, sagt       die Russen noch jahrelang in der Ukraine
                                                                                                                                                                              Mütter und Kinder werden hier in den             Lüchinger, die Gemeinde Küsnacht spen-          bleiben? Wenn noch viel mehr Menschen
                                                                                                                                                                              nächsten Monaten auf fünf Stockwerken            det 100 000 Franken. «Es soll ihnen gut         flüchten, nicht nur Kinder, auch Männer
                                                                                                                                                                              leben, während sich ihre Angehörigen in          gehen bei uns», sagt auch Gemeindepräsi-        und Alte, und sich die Ukraine langsam
                                                                                                                                                                              der Heimat im Bunker vor Streubomben             dent Markus Ernst. Er hätte ähnlich ge-         entvölkert. «Wird man uns in der Schweiz
                                                                                                                                                                              verstecken. Viele beginnen zu weinen, als        handelt, wenn es Menschen aus Syrien            noch wollen? Wird man noch von uns
                                                                                                                                                                              sie erfahren, dass sie von der Gemeinde          oder Eritrea gewesen wären, «obwohl uns         ­reden, oder werden wir vergessen?»
                                                                                                                                                                              500 Franken Startgeld erhalten, weil sie         das Schicksal der Ukrainer direkter be-             Er lacht verlegen, entschuldigt sich und
                                                                                                                                                                              denken, sie müssten es zurückzahlen; an-         rührt, sie kommen aus demselben Kultur-          hinkt zurück in sein Zimmer. ■
                                                                                                                                                                              dere haben ein schlechtes Gewissen, ge-          kreis, vielleicht sind sie uns deshalb
                                                                                                                                                                              flohen zu sein, «ich schäme mich, an der         näher?» Selbst aus St. Moritz meldete sich
                                                                                                                                                                                                                                                                                  Wer die ukrainischen Kinder in Küsnacht
                                                                                                                                                                              Sonne zu sitzen, während meine Lands-            der Gemeindepräsident und liess fragen,          unterstützen will, kann sich beim Autor dieses
                       Noch ist die Solidarität grenzenlos. Die dreijährige Victoria auf der Terrasse des ehemaligen Altersheims in Küsnacht.                                 leute sterben», sagt eine Frau aus einem         ob er etwas für die Kinder tun könne?              Textes melden: sacha.batthyany@nzz.ch

14   NZZ am Sonntag Magazin                                                                                                                                         15/2022    15/2022                                                                                                       NZZ am Sonntag Magazin          15
Der Krieg und der Krebs - Über 40 krebskranke Kinder flohen aus der Ukraine nach Küsnacht an den Zürichsee. Von der Kriegshölle ins Paradies ... Der Krieg und der Krebs - Über 40 krebskranke Kinder flohen aus der Ukraine nach Küsnacht an den Zürichsee. Von der Kriegshölle ins Paradies ... Der Krieg und der Krebs - Über 40 krebskranke Kinder flohen aus der Ukraine nach Küsnacht an den Zürichsee. Von der Kriegshölle ins Paradies ... Der Krieg und der Krebs - Über 40 krebskranke Kinder flohen aus der Ukraine nach Küsnacht an den Zürichsee. Von der Kriegshölle ins Paradies ...
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