Der Sample-Dompteur Christian Marclay

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Der Sample-Dompteur Christian Marclay
Der Sample-Dompteur Christian Marclay | norient.com                       5 Feb 2022 05:17:54

    Der Sample-Dompteur
    Christian Marclay
    by Theresa Beyer

    Seit 35 Jahren dreht der in der Schweiz aufgewachsene
    Amerikaner Christian Marclay Versatzstücke der Popkultur
    durch den Fleischwolf: am Anfang experimentierte er mit
    zerschnittenen und deformierten Schallplatten, später
    arrangiert er Fragmente aus Spielfilmen zu einem
    multimedialen Ganzen. Genüsslich bewegt er sich so in den
    Grauzonen zwischen Kunst, Musik, Film und Performance.
    Ein Streifzug durch sein Werk.

    Der Plattenspieler kann mehr als nur reproduzieren. Der Plattenspieler ist
    auch ein Musikinstrument. Wer hat's erfunden? Die Antwort lautet wie so oft:
    John Cage. 1939 komponiert er «Imaginary Landscape No.1» für Klavier, ein
    Becken und zwei Plattenspieler. Die Partitur erfordert,
    Schallplattenaufnahmen auf einem Plattenspieler mit unterschiedlichen
    Geschwindigkeiten abzuspielen. Diese Beförderung des Plattenspielers von
    der Maschine zum Instrument hat 40 Jahre später Christian Marclay besiegelt
    – bis heute steht er ikonisch für den ersten Turntablisten ausserhalb des Hip
    Hops. Er erzählt, dass hinter seinen Experimenten weniger eine grosse
    Mission, als eine Notwendigekeit steckte:

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Der Sample-Dompteur Christian Marclay
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              «Ich wollte Musik machen, aber konnte kein Instrument
              spielen. Also war ich dazu verdammt, bestehende Klänge
              zu verwenden. Es lag auf der Hand, dass ich mich für
              Plattenspieler zu interessieren begann und mich
              entschied, die Vinylscheiben zu zerschneiden, zu
              manipulieren und umzukrempeln.»

    Die Kompromisslosigkeit mit der er das tut lässt jedem Vinylliebhaber die
    Haar zu Berge stehen. Am eindrücklichsten zeigt das ein Video aus der
    Fernsehshow Night Music. Marclay bedient vier Plattenspieler gleichzeitig:
    die Vinylscheiben, die er auflegt, hat er deformiert, mit Klebestreifen
    überklebt, oder sie wie Kuchensstücke zerschnitten und neu
    zusammengesetzt. Das Ergebnis: ein rhythmisches Quitschen, Klicken,
    Hämmern – zwischendrin ploppen Fetzen von Musik auf. Das Auflegen ist
    eine ganze Performance:

    Marclay teilt seine Experimentierfreude und sein Selbstverständnis mit den
    DJs, die fast zeitgleich in der New Yorker Bronx Melodiefetzen von Platten
    loopen und so den Hip Hop erfinden. Von der aufkeimenden Jugendkultur
    erfuhr Marclay aber erst Anfang der 80er Jahre:

              «Ich habe erst vom Hip Hop Wind bekommen, als
              Grandmaster Flash schon im Radio lief. In der Mentalität
              habe ich mich wiedergefunden: die Platten der Hip Hop-
              Djs waren nicht einfach Aufnahmen, sondern wurden zum
              kreativen Instrument. Das hat die Haltung zur
              Schallplatte radikal verändert.»

    Video not available anymore

    Die Schallplatte – ein vergängliches Objekt
    Marclay wird 1955 in den USA als Sohn eines Schweizers und einer
    Amerikanerin geboren und wächst in einem Vorort von Genf auf, wo er das
    Internat besucht – Platten hören und besitzen ist dort tabu. Später studiert er
    am Ecole Supérieure d'Art de Genève und zieht dann nach Boston. Dort
    taucht er ab in die Clubs, saugt Punk auf, erkundet die Performancekunst in
    New York und deckt sich erstmal ordentlich ein mit Platten:

              «Als ich von der Schweiz in die USA zog war ich
              überrascht, wie unglaublich viele billige Platten es in den
              Brockenhäusern gab. Für gerade mal 10 Cent kaufte ich
              Vinyl, das war einfach Junk, und für mich das
              Rohmaterial, mit dem ich Neues schaffen konnte.»

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    Welche Musik auf den Platten ist – das war Marclay erstmal egal. Denn weil er
    die Vergänglichkeit des Medium liebt, sucht er nicht die Musik, sondern die
    Störgeräusche und Brüche. Er holt die Nebengeräusche in den Vordergrund
    freut sich über jeden Kratzer auf der Platte:

              «Schallplatten sind sehr fragil, man kann ihnen nicht so
              Recht vertrauen. Sie bekommen Kratzer, werden mit der
              Zeit geräuschhafter – ihre Alterung wird zum Sound.
              Durch diese Veränderlichkeit entsteht eine tolle Spannung
              zwischen dem Musiker und dem Objekt.»

    Die recyclete Schallplatte zieht sich nicht nur durch Marclays Musik- und
    Perfomance-Experimente, sondern auch durch seine Installationen, Collagen
    und Objekte. Er durchleuchtet und bemalt die schwarzen Scheiben, collagiert
    Albumcover oder pflastert damit den Fussboden der Museen (2822 Records
    1987-2009) - rohe Musikmaterie, die von den Besucherinnen und Besuchern
    mit den Füssen getreten wird.

    Diese Inszenierung ist ein kritischer Kommentar zur Musikindustrie, sagt
    Christian Marclay. Heute, im Zeitalter von YouTube und MP3, verliert dieser
    Seitenhieb aber an Schlagkraft:

              «Die Schallplatte hat Sound zu einer materiellen
              Erfahrung gemacht und Musik in ein Objekt - auch ein
              kommerzielles – verwandelt. Das Digitale hat die Musik
              vom Medium befreit. Seit dem die Beziehung zum Objekt
              fehlt, ist Musik schwer zu verkaufen. Auch die
              Vergänglichkeit der Schallplatte, die mich so fasziniert,
              finde ich im Digitalen nicht: Bei jeder Wiederholung tönt
              ein Stück gleich. Vielleicht wirkt deswegen Vinyl auf mich
              heute wie aus der Zeit gefallen. Und was dazu kommt: Ich
              habe das ja auch schon so viele Jahre gemacht und
              irgendwann erschöpft sich das.»

    Mit der digitalen Zeit zur Videokunst

    Auch wenn die Digitalisierung der Musik Marclays Kunst die Grundlage
    entzieht, ist das Digitale für ihn alles andere als ein Feind. In den Neunzigern
    entdeckt er den digitalen Videoschnitt: In Programmen wie Final Cut Pro
    findet er ein ideales Werkzeug, um sein künstlerisches Vokabular ins
    Audiovisuelle zu erweitern. Das Prinzip bleibt das gleiche: Versatzstücke der
    Popkultur zerhäkseln, zitieren und remixen. Ein Beispiel: Marclays 24-
    stündiger, audiovisueller Essay über die Zeit «The Clock» (2011) – ohne den
    digitalen Videoschnitt wäre so ein Mammutprojekt kaum realisierbar
    gewesen. In monatelanger Kleinarbeit hat er 70 Jahre Filmgeschichte

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    durchforstet und daraus tausende Sequenzen zusammengetragen, in denen
    Uhrzeiten zu sehen sind. Zu jeder Minute eines 24h-Tages puzzlet er den
    passenden Filmschnipsel. Der Clou: die Installation ist am jeweiligen
    Ausstellungsort mit der Echtzeit synchronisiert. Wer also um 12:04 ins Kino
    geht, sieht auch ein Filmfragment, in der eine Uhr 12:04 schlägt.

    «The Clock» hat keinen politischen Anspruch, sondern ist verspielter,
    lebensbejahender Pop. Der Essay hat Christian Marclay einen Goldenen
    Löwen gebracht – und ihn in die grossen Museen der Welt. Gefeiert wurde er
    dort vor allem als Videokünstler – gerade in den Kunst-Räumen und Gallerien
    ging die akustische Dimension seiner Arbeit oft vergessen. Dabei sind Musik,
    Alltagsgeräusche, Schreie, Dialoge und das Uhrenticken das Grundgerüst
    jeder seiner Videoarbeiten. Besonders virtuos geht er in «Video Quartett»
    (2002) mit den Audiospuren von Filmschnipseln um. Die vierkanalige
    Projektion schaukelt sich hoch zu einer komplexen Komposition - mal
    kakophon, mal polyphon:

    In «The Clock» oder «Video Quartett» ist jedes Sample handverlesen und mit
    Detailliebe an Ort und Stelle gesetzt. Aber im Arbeitsprozess stecken auch
    improvisatorische Momente, nämlich dann, wenn Marclay ausprobiert,
    welcher Schnipsel zu welchem passt, wie lang er sein darf, in welchem
    Verhältnis er zum ganzen steht. Am Ende sind aber beide Installationen
    unveränderliche Werke.

    Outgesourcte Deutungen

    Anders bei seinen Video Scores, wo er die Deutung einem Ensemble
    überlässt, zum Beispiel die Performance «Everyday» (2011): Auf der
    Leinwand klatscht jemand in die Hände, schaut durch ein Schlüsselloch, tippt
    auf der Schreibmaschine, legt eine Platte auf. Die Film-Puzzleteile wechseln
    sich im rasanten Tempo eines Musikvideos ab, mitsamt ihrer Originalsounds.
    Diese rhythmische Choreographie des Alltags stossen die Improvisationen
    der Musikerinnen und Musiker an – sie nehmen Motive aus den Bildern auf
    und spinnen sie weiter, beschleunigen sie und vereinen die Bildlawine zu
    einem multimedialen Ganzen. Das Visuelle entfaltet hier seine Bedeutung in
    seiner Wechselwirkung mit dem Akustischen:

              «Meine Video Scores bringen das Visuelle in die Musik,
              nicht andersherum. Das Visuelle ist die Quelle und
              beeinflusst die Entscheidungen der Musiker. Das
              bestimmt auch die Wahrnehmung des Publikums: es muss
              rausfinden, was genau in den Bildern die Musiker
              stimuliert. Der Sound beeinflusst, wie man das Bild
              wahrnimmt und andersherum. Und wenn es mal nicht
              passt, sorgt schon unser Gehirn für die Verbindung.»

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    In Video Scores wie «Everyday» oder «Screenplay» (2005, siehe Video oben)
    hält Marclay im Hintergrund die Fäden in der Hand. In seinen «Graffiti-
    Compositions» (1996–2002) zieht er sich als Autor fast gänzlich zurück:

              «Ich habe Anfang der Neunziger in der ganzen Stadt
              tausende leere Notenblätter verteilt und abgewartet was
              passiert. Leute haben interveniert, Graffitis darauf
              hinterlassen oder Zeichnungen, andere haben wirklich
              Musik notiert. Aus dieser kollektiven Partitur habe ich 150
              Blätter ausgewählt, über die ich Musikerinnen und
              Musiker frei improvisieren lasse - was sie daraus machen
              ist gänzlich ihnen überlassen. Die Graffiti-Compositions
              sind lebendige Berlin-Porträts, seltsamerweise kommt
              das Chaos und die Energie von Berlin kurz nach der
              Wende auch in der jeweiligen Musik durch.»

    Christian Marclay hüpft als Performer, Musiker und Künstler genüsslich
    zwischen den Räumen und Genres hin und her und bewegt sich in den
    Grauzonen zwischen Popkultur und Kunstszene. Wo fühlt er sich also mehr zu
    Hause, in den cleanen Gallerien oder den verrauchten Clubs?

              «Ich versuche mich in all diesen Räumen wohlzufühlen.
              Wenn ich in einem Kontext bleiben würde, würde ich mich
              viel zu schnell langweilen.»

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    Dieser Post basiert auf Material eines zuvor auf SRF 2 Online erschienen
    Artikels und dem Radiobeitrag auf SRF 2 Kultur über die Biennale Bern vom 12.
    September 2014.

    → Published on May 06, 2015

    → Last updated on October 26, 2020

    Theresa Beyer gehört seit 2011 als Editorin, Kuratorin und Mitherausgeberin des
    Buches «Seismographic Sounds – Visions of a New World» zum Kernteam von
    Norient und beschäftigt sich mit Themen wie Queeren Musikkulturen,
    experimenteller Musik in Städten wie Belgrad oder Neu Delhi, und reflektiert in
    Vorträgen über die Chancen des multilokalen Kuratierens. Neben ihrer Norient-
    Identität ist sie Musikredaktorin bei Radio SRF 2 Kultur.

    → Topics

               Digitization
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