DER SCHLAF, EIN BETRIEBSMODUS? - Annäherungen an ein aktuelles Forschungsfeld - De Gruyter
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— DER SCHLAF, EIN BETRIEBSMODUS? Annäherungen an ein aktuelles Forschungsfeld von STEFANIE STALLSCHUS Jonathan Crary: 24 / 7. Schlaflos im Spätkapitalismus, dass der Schlaf seine bisherige Funktion als große Pause Berlin (Wagenbach) 2014 bereits verloren habe.2 Den Auftakt bildete das Gemälde Arkwright’s Cotton Mills (1782) des englischen Malers Matthew Fuller: How to Sleep. The Art, Biology and Culture Joseph Wrights, das mit der Nachtarbeit in einer Baum- of Unconsciousness, London u. a. (Bloomsbury) 2018 (E-Book) wollspinnerei aus den Anfängen der Industrialisierung Fabian Goppelsröder: Aisthetik der Müdigkeit, Zürich die historische Dimension der Ausweitung der Arbeits- (Diaphanes) 2018 zeit aufzeigte. Die eigentliche Ausstellung bestand aus medienkünstlerischen Arbeiten, die dystopische Szena- — Schlafen ist ein physiologisches Grundbedürfnis. Erst rien eines beschleunigten und maximal kontrollierten Lebens ohne Rückzugsmöglichkeiten entwarfen. Schlaf in jüngster Zeit hat es vermehrt als soziale Praxis und ist nur mehr eine andere Art von Betriebszustand. Kulturtechnik Beachtung gefunden. Bezeichnend für Mit diesen Thesen folgen beide Ausstellungen ei- diese veränderte Perspektive sind zwei jüngere Themen- nem Forschungstrend, der vor etwa zwei Jahrzehnten ausstellungen der zeitgenössischen Kunst, die beide eingesetzt hat. Bis dahin war der Schlaf so gut wie kein nach den Auswirkungen einer hyperproduktiven und Thema der Geistes- und Sozialwissenschaften, trotz der technisch vernetzten Lebensweise fragten. Die Ausstel- Hinwendung zur Körpergeschichte in den 1970er Jahren lung Sleeping with a Vengeance, Dreaming of a Life (2019) im und transdisziplinärer Ansätze der Historischen Anthro- Kunstverein Stuttgart widmete sich dem Schlaf und da- pologie in den 1980er Jahren.3 Das änderte sich um die mit verbunden dem Träumen als letzter Barriere gegen Jahrtausendwende durch eine Arbeit des US -amerikani- eine beschleunigte Gesellschaft und ihren Druck, per- schen Historikers A. Roger Ekirch, der bei Quellenstu- manent zu produzieren und zu konsumieren.1 Folglich dien auf einen vom Acht-Stunden-Schlaf abweichenden entwickelten die künstlerischen Arbeiten eine politische Schlafrhythmus aufmerksam geworden war.4 Mit seiner Perspektive auf die konkreten Bedingungen des Schlafs These vom zweiphasigen Nachtschlaf, der eine längere und zeigten sein widerständiges Potenzial auf: etwa als wache Phase mitten in der Nacht beinhaltete und in Tei- passive Verweigerung von Produktivität, als Störfaktor len E uropas vor der Zeit der Industrialisierung verbreitet im öffentlichen Raum oder als Quell der Träume vom war, erschütterte er die normierende Vorstellung eines besseren Leben. Die ebenfalls 2019 im Somerset House ‹natürlichen› Schlafverhaltens. Die Folge war ein rasan- London eröffnete Ausstellung 24 / 7. A Wake-Up Call for tes Wachstum der Forschungsarbeiten zum Schlaf. Aus- Our Non-Stop World dagegen vermittelte den Eindruck, gehend von der Geschichtswissenschaft und Soziologie 206 Zf M 23, 2/2020
entwickelte sich ein interdisziplinärer Diskurs, als Notwendigkeit qua Natur wahrgenommen der den Schlaf, über die Sphäre des Privaten wird. Dies drückt sich etwa in der Bezeichnung hinaus, als ein wissenschaftshistorisches, kul- ‹Schlafmodus› für die temporäre Deaktivie- turelles und politisches Phänomen behandelt.5 rung technischer Geräte aus: «Der Begriff Bis heute wird vor allem der schmale Es- eines energiesparenden Bereitschafts- sayband 24 / 7. Schlaflos im Spätkapitalismus zustands lässt den umfassenderen Sinn rezipiert, den der amerikanische Kunsthisto- von Schlaf zum bloß verzögerten oder riker Jonathan Crary 2013 vorgelegt hat und verminderten Zustand der Funktions- der nach seinem Erscheinen auf Englisch in fähigkeit und Verfügbarkeit werden» zahlreiche weitere Sprachen übersetzt wurde.6 (S. 18). Welche Folgen eine künstliche, total Die beiden eingangs erwähnten Ausstellungen illuminierte Welt hat, erläutert der Autor in einer können in gewisser Weise als praktische Umsetzung faszinierenden Interpretation von Andrej Tarkowskijs von Crarys Thesen aufgefasst werden, auch wenn sie Film Solaris (SU 1972), in dem die Bewohner_innen an eigenständige Schwerpunkte entwickeln und die künst- chronischer Schlaflosigkeit leiden und entsprechend lerischen Arbeiten davon unabhängig betrachtet wer- kognitive Kontrollverluste erfahren (S. 23 f.). den können. Der Erfolg des Buches lässt sich mit dem In dieser beängstigenden Welt ist es die digitale Tech- Anspruch erklären, größere politische Zusammenhänge nik, gepaart mit kapitalistischer Verwertungslogik, wel- aufzuzeigen. Darüber hinaus dürften die scharfe Pole- che die Instrumente zur Kontrolle, Disziplinierung und mik und die kulturkritische Haltung gegenüber der Ge- Regulierung des Individuums bereitstellt. Argumentiert genwart dazu beigetragen haben, dass Schlafprobleme wird mit verschiedenen militärischen Forschungsprojek- über den Gesundheitsbereich hinaus als Symptom eines ten zur Manipulation von Schlafbedürfnissen (S. 9 ff.). beschleunigten Lebens wahrgenommen werden. Expli- Zudem wird ein historischer Bogen geschlagen von der zit spannt der Autor eine Verbindung zur Digitalisierung Nachtarbeit bei künstlichem Licht in den frühkapitalis- der Lebenswelt und zum Wandel der Mediennutzung. tischen Fabriken bis zur massenhaften Verbreitung des Fernsehens und der daraus folgenden Vereinnahmung vormals anders genutzter Zeiten und Räume (S. 69 ff.). Der Schlaf, eine radikale Unterbrechung Schließlich wird nach Auswegen aus der umfassenden Es ist ein düsteres Bild der US -amerikanischen Gesell- inneren Kapitalisierung durch die Social Media gefragt, schaft, das Jonathan Crary in seinem Essay entwirft. in der die Konsumierenden sich selbst zum Konsumob- Seine Kapitalismuskritik zielt auf die Destruktivität ei- jekt werden (S. 87). Die the- nes globalen polit-ökonomischen Systems, das seine oretische Analyse sieht Produktivität nicht nur räumlich, sondern auch zeit- die Gemeinsamkeit die- lich immer weiter ausdehne, um schließlich auch das ser verschiedenartigen Individuum in die ununterbrochene Tätigkeit der Phänomene in Märkte und Informationsnetze einzupassen. Diese neue soziale Realität wird von ihm als «Non-stop- Lebenswelt des 21. Jahrhunderts» (S. 14) oder auch als «24 / 7-Welt» (S. 15) bezeichnet, in der das Ar- beiten, Konsumieren und Kommunizieren ohne Pause und Unterbrechung zum Normalzustand geworden sei. Wie andere Autor_innen vor ihm problematisiert Crary also den Zusammenhang von Zeitstrukturen und ökonomischen Disziplinierungs- techniken sowie die daraus folgende Entfremdung, wenn das eigene Leben zur leeren Betriebsamkeit ohne Geschichte und Zukunft wird (S. 15). Damit verändert sich auch der Stellenwert des Schlafs, der nicht mehr BESPRECHUNGEN 207
STEFANIE STALLSCHUS der ökonomischen Aneignung der persönlichen freien Dem Autor kommt das Verdienst zu, erstmals eine Zeit durch das Kapital. medienwissenschaftlich relevante Perspektive auf den So bedroht der Schlaf aktuell auch erscheinen mag, Schlaf entwickelt zu haben, eine Auseinandersetzung so ist er doch eine der letzten verbleibenden Bastionen mit dem Schlaf als konkretem Phänomen bleibt er al- der Freiheit, so eine der zentralen Thesen des Buches lerdings schuldig. (S. 16). Erstens sei der Schlaf in einer 24 / 7-Welt Inbe- griff einer Beständigkeit des Sozialen, denn als «der privateste, verletzlichste Zustand, der allen gemeinsam Das Unbewusste des Unbewussten ist, ist der Schlaf zu seiner Aufrechterhaltung wesent- Hier setzt der britische Kultur- und Medienwissenschaft- lich abhängig von der Gesellschaft» (S. 27). Und zwei- ler Matthew Fuller mit seinem Buch How to Sleep. The Art, tens, diese Denkfigur erinnert stark an Ernst Bloch, Biology and Culture of Unconsciousness an. In 50 überwie- eröffnet der Schlaf ein Fenster zum Traum, in dem ein gend kurzen, lose miteinander verbundenen Kapiteln anderer Entwurf der Zukunft seinen Anfang nehmen unternimmt er den Versuch, über die übliche defizitäre kann (S. 106 f.). Betrachtung des Schlafs als einer minderen Version des Die Kritik bei Erscheinen des Essays richtete sich Wachzustands hinauszugelangen (Kap. 2, Abs. 3). Die- zumeist gegen den alarmistischen Stil und den kultur- sem Ansatz liegt eine doppelte Kritik zugrunde: Einer- pessimistischen Grundton des Autors. Zudem wurde seits wird die philosophische Tradition bemängelt, die moniert, dass Crary die aktuellen Forschungsarbeiten Sein und bewusstes Denken identisch gesetzt habe, so- zum Schlaf ignoriert habe.7 Warum das so ist, lässt sich dass der Schlaf zur Negativfolie des Wachbewusstseins relativ leicht erklären. Crary interessiert sich nicht in werden musste (Kap. 1). Andererseits stehen aktuellere erster Linie für den Schlaf, denn, wie er in einem Inter- sozialwissenschaftliche Ansätze in der Kritik, sofern sie view formuliert: den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Schlaf gleich einer Einbahnstraße in nur eine Richtung ver- Schlaf ist ja nur ein Bild. Mir geht es grundsätzlich um laufend betrachten. Auf diese Weise fokussierten sie das Wegfallen inaktiver Zeit. Das betrifft auch die Aus- sich auf die Zwänge der Lebenswelt und die sozialen beutung natürlicher Ressourcen oder die Landwirt- Normen in ihren Auswirkungen auf das Schlafverhalten, schaft, wo unablässig ökologische wie menschliche während der Schlaf selbst weiterhin als Zustand reiner Bedürfnisse nach Ruherhythmen aufgehoben und Passivität und primitives körperliches Bedürfnis ge- verletzt werden. Wir erleben eine Bioderegulierung.8 wertet würde (Kap. 10). Hier wird die Kritik des Autors an der Position Jonathan Crarys deutlich, der zwar die zunehmende Instrumentalisierung des Schlafs beklagt, ohne jedoch die kulturellen Vorannah- men und Abwertungen grundsätzlich in Frage zu stellen (Anm. 42). Wie aber kann eine theoreti- sche Auseinandersetzung mit dem Schlafen gelingen? Wie wird das anspruchsvolle und paradox er- scheinende Projekt einer «reflex ive theory of non-thought» (Kap. 3, Abs. 6) bzw. einer Untersuchung des Schlafs als «the unconscious of the unconscious» (Kap. 7, Abs. 2) umsetzbar? Fuller entwickelt in seinem Buch zwei Strategien, um diesem grundsätzlichen Pro blem des Zugriffs auf einen opaken, 208 Zf M 23, 2/2020
DER SCHLAF, EIN BETRIEBSMODUS? der menschlichen Wahrnehmung Arbeiter_innen- bis zur Occupy-Bewegung nicht direkt zugänglichen Unter- erzählt (Kap. 3, 33). Diese vielgestaltigen suchungsgegenstand beizukom- Details fügen sich allmählich zu einem men. Zum einen konzeptuali- schlüssigen Bild zusammen, das die siert er das Phänomen mithilfe These von der gestaltenden Kraft des des kritischen Posthumanis- Schlafens untermauert. Dennoch wird mus. Er löst das Schlafen aus der der große Anspruch, die komplexen binären Logik heraus und definiert Wechselwirkungen zwischen materi- es als einen komplexen Prozess der ellen, sozialen, politischen und tech- Wechselwirkungen zwischen biophysi- nischen Dimensionen des Schlafens kalischen und biochemischen Vorgängen im Sinne einer Ökologie zu verdeut- in den Körpern, sozialen Mustern, Umge- lichen, nicht eingelöst. Auch wären bungen und technischen Entwicklungen genauere und kritischere Einord- (Kap. 5 und 13). Insofern verspricht er, nungen von Forschungsinteressen eine Ökologie des Schlafens zu entwerfen. bisweilen hilfreich, etwa wenn das Bild ei- Die zweite Strategie zielt darauf, die Me- ner «Symphonie der Oszillatoren» aus der diatisierungen und Repräsentationen des neurowissenschaftlichen Schlafforschung Schlafens als Wissensformen auszuwerten. übernommen wird, ohne deren Anwendun- Gerade weil die Schlaferfahrung nur vermit- gen in der pharmazeutischen Industrie zu telt zugänglich ist, lassen die zahlreichen erläutern (Kap. 13). kulturellen Formen der Aufzeichnung, der Gestaltung und der Darstellung des Schlafens Rückschlüsse darauf zu, wie das Zusammen- Erziehung zur Müdigkeit spiel körperlicher, sozialer und technischer Fak- Auch dem Essay Aisthetik der Müdigkeit von Fa- toren konkret abläuft. bian Goppelsröder liegt eine grundsätzliche Auf dieser Grundlage erschließt das Buch Kritik an Crarys Buch zugrunde. Der Philo- eine Fülle von Gegenständen, um anhand dieser soph Goppelsröder greift dessen Eingangsthe- Mediatisierungen das Schlafen als eine produkti- se auf, dass der Schlaf als körperliches Bedürfnis in ve Fähigkeit in den Blick zu nehmen. Dabei liegt die der 24 / 7-Welt unter Druck geraten sei und tendenziell Qualität weniger in den historischen Details, die durch immer stärker manipuliert und unterdrückt werde. Er andere Forschungsarbeiten bekannt sind, sondern in bezweifelt allerdings, dass es deshalb der Schlaf sei, der Auswahl und Zusammenstellung der Beispiele. der zur Disposition stehe. Liegt es doch in der Logik Relativ naheliegend ist die Betrachtung der naturwis- der digitalen Optimierung, wie er am Beispiel medizini- senschaftlichen Schlafforschung mit ihren Schlafla- scher Operationen mithilfe des Da-Vinci-Systems oder boren und Schlafexperimenten von den 1920er Jahren implantierter RFID -Chips darlegt, dass der Mensch bis in die Gegenwart. Erst mit dem technischen Appa- als zentrale Intelligenz des auf ihn bezogenen techno- ratus der Schlafforschung und seinen Aufzeichnungs- ökologischen Systems erhalten bleibt. Es ist der kont- möglichkeiten wird der Rhythmus zum Schlüssel der rollierte Schlaf, der durch Selbstquantifizierung und Erkenntnis, dass Schlafen und Wachen einen einheit- individuelle Anpassung an die Vernetzung angestrebt lichen Prozess bilden (Kap. 5, 6, 9, 13, 16, 17). Schon werde, um die Leistung des Systems zu erhalten und weniger selbstverständlich ist die Beschäftigung mit zu verbessern (S. 24 – 33). Deshalb sei das eigentliche Architektur und Design als Gehäuse des Schlafens Ziel dieser Entwicklung die Abschaffung eines weniger oder die historische Betrachtung nächtlicher Requisi- eindeutigen, eines weniger produktiven Zustands zwi- ten (Kap. 46). Außerdem werden Beispiele unter an- schen Wachen und Schlafen (S. 35). Die quälende und derem aus der Literatur (Kap. 4), dem Film (Kap. 28), lähmende Müdigkeit sei im Unterschied zum Schlaf, der der zeitgenössischen Performancekunst (Kap. 43) so- sich als Körpertechnik durchaus flexibilisieren lasse, so- wie der Geschichte des Schlafs als Protestform von der wohl Reaktion auf die gesellschaftlich aufgezwungene BESPRECHUNGEN 209
STEFANIE STALLSCHUS Dekonstruktion die Passivität als eine alle Aktivi- tät durchziehende Kraft in den Blick zu nehmen (S. 86 f.). Ausführlich hat sich Blanchot vor die- sem Hintergrund der Müdigkeit gewidmet, weil sie das Neutrale prototypisch erfahrbar macht, indem sie als Übergang zwischen Schlafen und Wachen einen Zwischenraum des Weder-noch eröffnet (S. 90 ff.). In Anlehnung an Blanchots Wunsch, dorthin zurückzuwollen, wo eine Erfah- rung der Müdigkeit möglich sei, empfiehlt Gop- pelsröder ein Sensibilisierungstraining für das Dazwischen: eine Erziehung zur Müdigkeit (S. 101 f.). Aus diesem Grund wendet sich der Autor in den abschließenden Kapiteln den ästhetischen Praktiken des Wartens und Gehens bzw. den Erfahrungen der Daueraktivität als auch Langsamkeit, Dehnung und Unschärfe zu. Konkrete ein möglicher Ausweg aus künstlerische Arbeiten, darunter eine urbane Inter- der Überlastung (S. 36 – 39). vention des Hamburger Kollektivs LIGNA (S. 103 f.) Der Autor versucht folglich, die Schlaflosigkeit po- sowie die Zerdehnung des Filmklassikers Psycho (USA sitiv umzudeuten und theoretisch neu zu fassen. Auch 1960) in der viel beachteten Video-Installation (1993) er kritisiert die Oppositionsstruktur in der Vorstellung von Douglas Gordon (S. 121 f.), werden als Einübungen von Tag und Nacht und bezieht sich auf die jüngere in den müden Weltzugang beschrieben. Gegen Ende Traumforschung, die den Übergang zwischen Wachen sind es große Werke der romantischen Tradition, etwa und Schlafen zunehmend fließend auffasst und damit von Caspar David Friedrich und Novalis, die als perfor- auch die Vorstellung eines einheitlichen Wachbewusst- mative Vollzüge der müden Wahrnehmung gedeutet seins in Zweifel zieht (S. 56). Doch wie lassen sich die werden. Diese Rückbesinnung auf die Romantik wirft negativen Konnotationen der Müdigkeit als Erschöp- allerdings die Frage auf, inwiefern es der Aisthetik der fung und Symptom psychischer Krisen abstreifen, wie Müdigkeit tatsächlich gelingen kann, die binäre Logik positive Ansatzpunkte zur Beschreibung gewinnen? Auf zu überwinden. Denn für den romantischen Komplex die Spur bringt ihn Sigmund Freuds methodische Wert- künstlerischer Schlaflosigkeit und Nachtwache in Ab- schätzung der «müden Wahrnehmung», weil sie eine grenzung vom Vernunftdenken des Tages ist das Op- Selbstbeobachtung des Träumens und der Ankunft des positionsdenken zentral, auch die aktuellen Diskurse Unbewussten ermöglicht (S. 67). Von hier aus werden um die ästhetischen Praktiken des Klarträumens, der weitere «müde Weltzugänge» in den Blick genommen Langeweile etc. sind davon geprägt. Hier vermisst (S. 73), wie das gedankliche Umherschweifen und das man eine problematisierende Auseinandersetzung Tagträumen (S. 77 ff.), die schon lange Gegenstände der mit dem Forschungsstand. ästhetischen Debatten um den Traum, die visuelle Kog- Die drei Publikationen verfolgen sehr unterschied- nition und Kreativitätstechniken sind. liche Anliegen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Die theoretische Grundlegung der Müdigkeit erfolgt disziplinären Perspektive. In der Zusammenschau aber in mehreren Kapiteln, die sich mit der Denkfigur des wird deutlich, dass hier ein Forschungsfeld in Bewe- Neutrums im französischen Poststrukturalismus ausei- gung geraten ist und sich erste Konturen eines neuen nandersetzen. Darunter ist die Aufwertung einer radi- Zugriffs auf das Thema Schlaf abzuzeichnen beginnen. kalen, affizierenden Passivität zu verstehen, wie sie von Es ist demnach kein Zufall, dass alle drei Autoren das Gilles Deleuze, Roland Barthes oder Maurice Blanchot freiere Format des Essays wählen. Das begünstigt nicht verfolgt wurde. Allen drei Autoren geht es nicht darum, nur die Lesefreundlichkeit, sondern ermöglicht auch, das alte Verhältnis von Aktivität und Passivität einfach den Schlaf als einen für die Medienwissenschaft rele- umzukehren, sondern in einer doppelten Geste der vanten Gegenstand in der freien Auseinandersetzung 210 Zf M 23, 2/2020
DER SCHLAF, EIN BETRIEBSMODUS? mit Mediatisierungen, künstlerischen Werken und äs- thetischen Praktiken zu entwickeln. Dabei bleibt vorerst offen, wie weit die doppelte Dekonstruktion und die Befreiung des Schlafs bzw. der Müdigkeit von der Nega- tivität zu tragen vermag. — 1 Sleeping with a Vengeance, Dre- 6 In Deutschland nahm die aming of a Life, kuratiert von Ruth Bundeszentrale für politische Noack, 19.10.2019 – 12.01.2020, Bildung das Buch 2015 als Württembergischer Kunstverein Bd. 1550 in ihre Schriftenreihe Stuttgart. auf und sorgte so für eine breite 2 24 / 7. A Wake-Up Call for Our Vermittlung des Themas. Non-Stop World, kuratiert von Sarah 7 Hannah Ahlheim: Rezension Cook, 31.10.2019 – 23.02.2020, zu Jonathan Crary: 24 / 7. Schlaflos Somerset House London, vgl. im Spätkapitalismus, Berlin 2014, Sarah Cook (Hg.): 24 / 7. A Wake-Up in: H-Soz-Kult, 13.01.2015, Call for Our Non-Stop World, Ausst.- www.hsozkult.de/publicationreview/ Kat. Somerset House London, id/reb-21649 (15.12.2019). London 2019. 8 Jonathan Crary im Interview 3 Vgl. die fehlenden Einträge zu mit David Hesse: Schlaf ist ein ‹Schlaf› und ‹Traum› in: Christoph Ärgernis für die Dauerkonsum Wulf (Hg.): Vom Menschen. kultur, in: Tages-Anzeiger, 18.9.2014 Handbuch Historische Anthropologie, www.tagesanzeiger.ch/leben/ Weinheim, Basel 1997. gesellschaft/Schlaf-ist-ein-Aergerni/ 4 A. Roger Ekirch: Sleep We (15.12.2019). Have Lost: Pre-Industrial Slumber in the British Isles, in: The American Historical Review, Bd. 106, Nr. 2, 2001, 343 – 386; ders.: At Day’s Close. Nights in Times Past, New York, London 2005. 5 Einen sehr guten orientie- renden Überblick gibt Hannah Ahlheim: Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert. Wissen, Optimie- rungsphantasien und Widerständig- keit, Göttingen 2018, 10 – 16. BESPRECHUNGEN 211
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