Der Stumme tritt ab - Stiftung Wissenschaft und Politik
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Internationale Presse Internationale Presse Der Stumme tritt ab Algeriens Medien sehen die Protestbewegung vor einer ungewissen Zukunft Luca Miehe | Algerien erlebt seit Mit- te Amtszeit kandidieren würde. Bis te Februar 2019 eine landesweite Mo- zum f rühen Februar bestimmten da- bilisierungswelle gegen die machtha- her Spekulationen die öffentliche De- bende Elite um den bisherigen Dau- batte. Die Online-Nachrichtenagen- erpräsidenten Abdelaziz Bouteflika tur Tout sur L’Algérie (TSA) schrieb – und staunt über sich selbst. Der von einer „seltsamen Haltung der Verzicht Bouteflikas auf eine fünfte Parteien der Präsidentschaftsallianz. Amtszeit am 11. März und sein dann Kein Wort mehr von FLN, RND, TAJ doch plötzlicher Rücktritt am 2. Ap- und MPA, seit ihre jeweiligen Partei- ril haben die Proteste eher noch ver- führer vor fünf Tagen bekannt gaben, stärkt. Zielscheibe sind nun alle (al- dass sie Abdelaziz Bouteflika als ih- ten) politischen Eliten und das Sys- ren Kandidaten für die nächste Präsi- tem selbst geworden. Während der dentschaftswahl vorgesehen haben.“ Ausgang noch völlig offen ist, dis- Das führte die Agentur zu der Frage, kutiert Algeriens unabhängige und ob dies „nur eine weitere Unschlüs- staatsnahe Presse ungewohnt of- sigkeit an der Spitze“ sei (7. Februar). fen über Mittel und Motive dieses Bereits 2018 wurde die Lähmung Protests. des politischen Systems wiederholt Bereits zum Jahreswechsel gab deutlich. Die Blockade des Parlaments die private französischsprachige Ta- von September bis Oktober 2018 und geszeitung El Watan (28. Dezem- die Auseinandersetzung um die Neu- ber 2018) einen Ausblick unter dem besetzung des Senats im Dezember Titel „Was uns 2019 erwartet“ und zeugten von inneren Kämpfen um die wagte die Voraussage: „Eine Präsi- Ausrichtung der Präsidentenpartei dentschaftswahl oder vielleicht auch Front de libération nationale (FLN). nicht!“ Das Schachern um die wichtigen © REUTERS/Zohra Bensemra Zu Jahresbeginn war noch offen, Staatsorgane – der Senatspräsident ist ob Bouteflika, der seit 20 Jahren im zugleich die Nummer zwei im Staat – Amt und seit 2013 aufgrund der Fol- beschädigte das ohnehin geringe Ver- gen eines Schlaganfalls der Öffent- trauen der Bevölkerung in die politi- lichkeit entrückt ist, für eine fünf- sche Elite wohl weiter. 130 IP • Mai / Juni 2019
Der Stumme tritt ab Nach der offiziellen Bekanntgabe Die Journalistin Ghania Mouffok Bouteflikas, für eine weitere Amts- bilanzierte in einem Blog für Kultur zeit kandidieren zu wollen, schrieb und Politik, NEDJMA, die freitägli- El Khabar, eine der meistgelesenen, chen Märsche stimmten arabischsprachigen Tageszeitungen: mit ihren „silmya“-Ru- Die Demonstrationen „Bouteflika bricht die Spannung“ fen (arabisch für „fried- sind „neu, historisch, (11. Februar). Flankiert wurde die lich“) „das neue Freitags- Schlagzeile von einem Bild des unver- gebet“ an. Bei den ersten unvergleichbar“ kennbar schwerkranken Präsidenten. beiden Massendemonstra- tionen, in Algier seit 2001 gesetzlich Eine Bewegung findet sich selbst verboten, sei keinesfalls eine Mauer Bei ersten lokalen Protesten in Kher- der Angst gefallen. Gebrochen sei ein rata, das in der Provinz Béjaïa im Os- „Pakt des Schweigens“. ten des Landes liegt, wurde schnell Die Demonstrationen seien „neu ein Ende der „mörderischen Macht“ und historisch, unvergleichlich mit beziehungsweise von „Le Pouvoir“ allen anderen, und wenn es keine gefordert, ein gängiger Begriff für Revolution ist, ist es in der Tat eine die Machtclique um Präsident Bou- kollektive und massive Befreiung von teflika. Ein Protestmarsch in Khen- einer unsichtbaren Last“, so Mouffok chela gegen die Blockade des opposi- weiter (28. Februar). Die Soziologin tionellen Präsidentschaftskandidaten Fatma Oussedik fragte in El Watan: Rachid Nekkaz, in dessen Verlauf es „Drei Millionen Menschen auf den zur Demontage eines Bouteflika-Pla- Straßen der Städte des Landes: Wer kats kam, schlug große Wellen in den sind wir?“ Ihre Antwort: „In erster sozialen Medien. Linie eine städtische Bevölkerung, Die regimenahen Medien schwie- die die Mehrheit der algerischen Be- gen dazu. Stattdessen veröffentlich- völkerung ausmacht.“ Altersgruppen- te die regierungseigene, arabisch- und geschlechterübergreifend seien sprachige Zeitung El Massa noch ei- die Proteste gewesen, und „bemer- nen Tag vor der ersten Großdemons- kenswert ist die starke Präsenz der tration in Algier eine lobpreisende meist schweigenden Mittelschicht“ Biografie mit dem Titel „Bouteflika: (7. März). Mensch, Vision und Herangehens- Die am 3. März verkündeten Kon- weise im Dienste des Friedens“; auf zessionen Bouteflikas – eine verkürz- dem Coverbild hält der „Friedens- te fünfte Amtszeit und eine Über- botschafter“ eine weiße Taube in der gangsphase – stießen schnell auf Ab- Hand (21. Februar). Schon einen Tag lehnung. Am 11. März folgten die später befand sich die Hauptstadt im Ankündigung eines Verzichts auf ein Lichte der ersten Großdemonstration weiteres Mandat, die Etablierung ei- laut Online-Plattform Observ’Algérie ner „Nationalen Konferenz“ und die im „Belagerungszustand“ (22. Febru- Verschiebung der angesetzten Wah- ar). Regierungszeitungen wie El Mas- len: anstelle eines fünften bedeutete sa blendeten die Massendemonstrati- dies praktisch eine Verlängerung des onen jedoch weiterhin aus und be- vierten Mandats. richteten stattdessen über eine Tou- Mit dem offiziellen Verzicht Bou- rismusmesse (23. Februar). teflikas auf eine fünfte Amtszeit ging IP • Mai / Juni 2019 131
Internationale Presse eine – unvollständige – Regierungs- Großdemonstrationen: „Millionen umbildung einher. Der neue Premier- [Menschen] zur Förderung nationa- minister Noureddine Bedoui hatte ler Einheit und Beschleunigung des laut der unabhängigen Online-Platt- Wandels“ (23. März). form Maghreb Emergent „große Schwierigkeiten, ein Regierungsteam Sammelbecken für Ideen zu bilden, das nicht in der Kontinuität Algeriens Medien verwandelten sich der Bouteflika-Ära steht“ (22. März). seitdem zum Sammelbecken von Ide- Gleichzeitig eröffnet der neu be- en für die Zukunft des Landes. Al- stimmte Stellvertreter Bedouis, Ram len voran in den sozialen Netzwer- tane Lamamra, eine bereits schwe- ken, aber auch auf den Titelseiten lende Debatte über die Rolle exter- und in den Kommentarspalten sämt- ner Akteure. Kritik an sei- licher Zeitungen werden täglich neue Die Demonstranten nen Auslandsreisen und Vorschläge und Entwicklungen re- seiner Werbung für den flektiert. Während die Präsidialelite befürchten Ein- Übergangsplan Boutefli- weiter für die Nationale Konferenz mischung von außen kas in Moskau, Rom und und eine Übergangsphase wirbt, kam Berlin dominierte den öf- vonseiten der alten Opposition bei- fentlichen Diskurs. „Lamamra will spielsweise der Vorschlag eines neu die politische Krise internationalisie- zu gründenden kollegialen „Präsidi- ren“, konstatierte die Nachrichten- alorgans“ auf. Diese Idee habe, so El agentur TSA. Demonstranten werfen Khabar, „keine verfassungsrechtliche ihm vor, selbst „die Hand des Frem- Grundlage“. Da Algerien aktuell „in den in Algerien“ zu sein (22. März). einem Stadium außerhalb der verfas- El Khabar schrieb dazu: „Es ist sungsrechtlichen Legitimität“ lebe, kein Geheimnis, dass die Unterstüt- sei dies jedoch denkbar (25. März). zung der großen Hauptstädte für den Zum alles überragenden Thema Fahrplan zur Macht, der vom Volk ab- wurde derweil die Rolle des Militärs. gelehnt wird, nicht kostenlos ist, son- Die weitgehend unabhängige Tages- dern dass diesen Ländern im Gegen- zeitung Quotidien d’Oran gab auf die zug für ihr Schweigen Zugeständnisse Frage „Was wird die Armee tun?“ fol- und Vorteile angeboten werden müs- gende Antwort: „Die Opposition be- sen“ (19. März). Die staatliche Nach- schuldigt den Bouteflika-Clan, die richtenagentur APS versuchte of- Verfassung mit Füßen zu treten, und fenbar, die Wogen zu glätten: „Nie- die Opposition ist nicht besser. Sie mand bat Russland um Hilfe. Algier fördert die Verletzung der Gesetze der und Moskau wollen in ihrer Zusam- Republik und fordert das Militär auf, menarbeit gute Beziehungen pflegen“ (wieder) im politischen Terrain zu in- (21. März). vestieren“ (25. März). Die Frage über Mittel und Wege Ohne Zweifel stehe die Armee zur Überbrückung der Zerwürfnis- unter Druck, berichtete El Khabar. se bestimmte seitdem auch die Ta- Dass sich Armeechef Gaïd Salah am gespresse: Tauwetter in der bis dahin 26. März dafür aussprach, Artikel starren Medienlandschaft. Selbst die 102 der Verfassung zur Bestimmung regierungseigene Zeitung El Massa der Amtsunfähigkeit des Präsiden- titelte nach dem fünften Freitag der ten anzuwenden und damit den Ab- 132 IP • Mai / Juni 2019
Der Stumme tritt ab gang Bouteflikas beschleunigte, galt tierte Protestbewegung den Aushand- der Zeitung als deutliches Zeichen. lungsprozesses über ihre eigene Zu- Dieser Paukenschlag löste eine hit- kunft fort. zige Debatte aus, doch laut der On- Von der zeitintensiven Debatte line-Plattform Observ’Algérie blieben wird sie selbst vermutlich nicht pro- die Reaktionen der Opposition ver- fitieren. El Khabar konstatierte be- halten bis skeptisch. So lehnten Füh- reits, die Herrschenden rer aus dem islamistischen Spektrum hätten auf den „Zeitfaktor Erlaubt die Armee wie Abdallah Djaballah oder Abder- gesetzt, um die Bewegung „die Fortsetzung des razak Makri ein Eingreifen der Ar- zu schwächen“ (23. März). mee ebenso ab wie die Oppositionel- Ob sich nun der von der Systems“? len Mustapha Bouchachi und Rachid Tageszeitung L’Éxpressi- Nekkaz. Dies würde „die Fortset- on beschriebene „Dritte Weg“ zwi- zung des Systems“ erlauben, so Nek- schen den Plänen der Elite und der kaz (26. März). Opposition anbahnen wird, ist frag- Am sechsten Freitag seit Beginn lich. „Kein Volk der Welt kann akzep- der Proteste dominierte laut El Wa- tieren, dass ein Präsident, der nicht tan die Kritik am Militär die Mas- spricht, an seiner Stelle gewählt wird“, senbewegung (2. April). In einem bilanzierte Ghania Mouffok auf dem anonymen Leitartikel auf der Titel- N EDJMA-Blog. seite von El Moudjahid wurden „An- Die Demonstranten fordern des- griffe auf die Glaubwürdigkeit“ der halb schon länger „einen neuen po- Armee dennoch als „rote Linie“ be- litischen Vertrag zwischen der Regie- zeichnet (1. April). Auf die unmittel- rung und den Regierten. Ein Vertrag, bar folgende Rückzugsankündigung der noch geschrieben und unterzeich- des Präsidenten reagierten die unab- net werden muss. Der Weg wird hart hängige Presse und die Protestbewe- und lang sein“, so N EDJMA. El Kha- gung skeptisch. „Bouteflikas Rück- bar brachte einen Monat später am tritt könnte sich in eine Verschwö- 28. März die Situation auf den Punkt: rung gegen das Volk verwandeln“, „Die kommenden Wochen werden zitierte TSA die Oppositionspartei für die Volksbewegung entscheidend MSP (2. April). El Watan zufolge sei sein.“ Was TSA am 3. April als ein es „nicht sicher, ob die Straße mit den „Ende ohne Ruhm“ für Bouteflika be- Konzessionen des Regimes zufrieden zeichnet, ist sogleich der Beginn ei- ist“ (2. April). ner ungewissen Zukunft für Algeri- en und seine Protestbewegung. Euphorie und Spaltungsängste Schon vorher oszillierte die Stimmung zwischen Euphorie und Spaltungs- Luca Miehe ängsten. Erinnerungen an die kolo- ist Forschungsassis- niale Vergangenheit und die Grauen tent in der Forschungs- gruppe Naher/Mittlerer der „Schwarzen Dekade“, des Bür- Osten und Afrika der gerkriegs von 1992 bis 1999, befeuer- Stiftung Wissenschaft ten viele Ängste vor äußerer Einmi- und Politik (SWP) in Berlin. schung. Und doch setzte die bislang führungslose, friedliche und fragmen- IP • Mai / Juni 2019 133
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