Der "Tabak-Indianer" als transnationaler Werbeträger

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Zeitschrift für Weltgeschichte — Interdisziplinäre Perspektiven
     pen                           Jahrgang 21 - Heft 02 - Herbst 2020, Peter Lang, Berlin, S. 315–331

Frank Usbeck

Der „Tabak-Indianer“ als transnationaler Werbeträger

Einleitung
Im Sommer 1936 präsentierte sich Berlin den internationalen Besuchern der
Olympischen Spiele als die Hauptstadt des wiedererstarkten und florierenden
Deutschen Reichs. Die NS-Führung inszenierte pompöse Propagandaaktionen,
die diesen Status demonstrieren sollten. Gleichzeitig ergingen Anweisungen an
die Medien, Land und Regime als weltoffen, modern und friedliebend zu prä-
sentieren und damit von der politischen Repression, der Rassenverfolgung und
der Aufrüstung durch die Nationalsozialisten abzulenken.1 Für Wirtschaft und
Handel im Reich war dieses weltweit beachtete Großereignis eine hervorragende
Gelegenheit, ihre Produkte zur Schau zu stellen. So richtete das in der Textil-
und Tabakindustrie verankerte Herrnhuter Unternehmen Abraham Dürninger
& Co. sein Berliner Geschäft für den Anlass neu ein. Eine Attraktion dieser
Schaudekoration war die hölzerne Skulptur eines „Indianers“ mit integriertem
mechanischem Feuerzeug für Zigarren. Mit dieser Skulptur stellt sich der deut-
sche Tabakfabrikant Dürninger in die internationale Tradition exotisierender
Bilder im Kolonialwarenhandel.
  Der vorliegende Aufsatz nimmt diese Plastik als Ausgangspunkt, um die inter-
nationale Verbreitung exotisierender Bilder in der Tabakwerbung zu diskutieren.
Er wird insbesondere die Zusammenhänge zwischen Werbestrategien, der zu
dieser Zeit auf einem Höhepunkt stehenden deutschen Indianerbegeisterung
und deren Ausprägungen in der Populärkultur untersuchen. Dabei werden wirt-
schaftliche und kulturelle Globalisierungsprozesse beispielhaft an traditionellen
Indianerdarstellungen wie den sogenannten „Cigar Store Indians“ beleuchtet.
Dürningers Berliner Skulptur bildet dabei ein Amalgam aus weltweit verbreiteten
Vorstellungen über kolonisierte Ethnien, einer sich globalisierenden Wirtschaft
mit global wirksamen Kommerzialisierungs- und Werbestrategien, und regio-
nalen Traditionen in Kulturpraxen und (Kunst-)Handwerk.

1     Frank Eckhardt: Olympia im Zeichen der Propaganda. Wie das NS-Regime 1936 die
      ersten Medienspiele inszenierte, in: Sönke Neitzel, Bernd Heidenreich (Hg.): Medien
      im Nationalsozialismus, Paderborn 2010, S. 232-252.

© 2020 Frank Usbeck - http://doi.org/10.3726/ZWG0220205 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons
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   Der Aufsatz wird zunächst die deutsche Indianerbegeisterung kontextualisie-
ren, um vor diesem Hintergrund die internationale Wirksamkeit exotisierender
Bilder in der Tabakwerbung des frühen 20. Jahrhunderts zu beleuchten. Dabei
wird auch die Strategie der Tabakfirmen näher betrachtet, durch Begleitprodukte
wie Zigarettensammelbildalben von zeitgenössischen kulturellen Interessen und
Modeerscheinungen zu profitieren. Dies wird mit einer Betrachtung der seit 2004
in Brandenburg ansässigen indigenen Tabakfirma Grand River Enterprises (GRE)
kontrastiert. Deren Werbestrategien greifen traditionelle westliche Stereotype
und Kulturpraxen auf und setzen sie spielerisch ein. Im Sinne postkolonialer
Perspektiven konstruiert diese indigene Werbung einen Gegenentwurf zur Ste-
reotypisierung und Ausbeutung der eigenen Gruppe, indem sie solche Stereotype
spielerisch vermarktet und so die populäre Kommodifizierung ihrer Ethnizität
zum Vertrieb der eigenen Produkte wie auch ihrer ethnischen ‚Marke‘ ausnutzt.

Indianerbegeisterung in Deutschland
Nachrichten und bildliche Darstellungen indigener Gruppen der Amerikas
kursierten im deutschsprachigen Raum schon seit dem Zeitalter der kolonialen
Expansion, da sich hier ein Zentrum des frühen Buchdrucks befand und die
Berichte und Literatur der Kolonialmächte hier übersetzt und weiter verbreitet
wurden.2 Im späten 18. Jahrhundert entwickelte sich jedoch eine besondere
Faszination für und Vorstellung über „Indianer“, die in Kunst und Literatur, wie
auch diversen kulturellen Praktiken Widerhall fanden. Dies ist in erster Linie
auf die hiesigen soziokulturellen Verhältnisse zurückzuführen. Die deutsche
Indianerbegeisterung speiste sich aus in Europa verbreiteten Ideen der Aufklä-
rung, nach denen Vertreter ‚primitiver‘ Kulturen näher am imaginierten idealen
Urzustand der Menschheit verblieben und damit den zerstörerischen Auswir-
kungen der Zivilisation noch nicht ausgesetzt seien.3 Die emotional-nostalgische
Betrachtung der Natur während der Romantik trug weiterhin dazu bei, indigene
Menschen als ‚Naturkinder‘ zu idealisieren, deren Verschwinden im Zuge von
Industrialisierung und Urbanisierung vorbestimmt schien.
  Dieser Exotismus und Primitivismus entwickelte zunehmend eine spezifisch

2   Alfred Vagts: The Germans and the Red Man, in: American German Review 24,
    1957, S. 13-17; Lothar Dräger: Der Leipziger Traum vom Indianer, in: Claus Deimel,
    Sebastian Lenz, Bernd Streck (Hg.): Auf der Suche nach Vielfalt. Ethnographie und
    Geographie in Leipzig, Leipzig 2009, S. 449-472, hier S. 450.
3		 Karl-Heinz Kohl: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung
    der Zivilisation, Berlin 1981, S. 29, 40.
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deutsche Perspektive. Wie H. Glenn Penny ausführt, wuchs die Indianerbe-
geisterung „direkt aus dem deutschen Polyzentrismus, aus Vorstellungen von
Stammestum, aus einem Hang zum Widerstand, einem Verlangen nach Freiheit,
und der melancholischen Idee eines gemeinsamen Schicksals“.4 In einem Drei-
ecksverhältnis aus Idealisierungen, historischen Vergleichen und Rollenvorbil-
dern zwischen antiken germanischen Stämmen, indigenen Amerikanern und
modernen Deutschen diente letzteren die Vorstellung von „Indianern“, um eine
nationale Identität und damit verbundene inhärente Charaktereigenschaften zu
konstruieren. Der „Indianer“ wurde zu einem extrem flexiblen und formbaren
Symbol für Ideen wie Gemeinschaft, Widerstand, Freiheit und Naturverbun-
denheit. Er war somit als Referenzrahmen akzeptabel für heterogene soziale
Schichten wie auch für verschiedene politische Bewegungen und Regime der
modernen deutschen Geschichte.5
   Die Indianerbegeisterung in Deutschland wurde gegen Ende des 19. Jahr-
hunderts zur Massenbewegung und drückte sich in vielfältigen Formen zeit-
genössischer Populärkultur aus: Völkerschauen und Wildwest-Shows zogen in
Deutschland zwischen den 1880er und den 1930er Jahren hunderttausende
Zuschauer an. Karl May nutzte moderne Medienformate wie Fortsetzungsro-
mane in Zeitungen, und wurde mit seinen Fantasien über den Wilden Westen
(und den Orient) zum meistgelesenen deutschen Schriftsteller. Das Indianerspiel
gehörte zum festen Bestandteil der Kindheit vieler Deutscher, und Erwach-
sene gründeten Hobbyklubs, von denen viele auch heute noch aktiv sind.6

4   H. Glenn Penny: Kindred by Choice. Germans and American Indians Since 1800,
    Chapel Hill 2013, S. xi. Deutsche Übersetzungen englischer Originalzitate in diesem
    Beitrag von Frank Usbeck.
5		 Penny: Kindred wie Anm. 4), S. xii; Frank Usbeck: Fellow Tribesmen. The Image of
    Native Americans, National Identity, and Nazi Ideology in Germany, New York 2015,
    S. 55-122.
6		 Julia Simone Stetler: Buffalo Bill’s Wild West in Germany. A Transnational History,
    Ph.D. Diss., Las Vegas, University of Nevada 2012; Rudolf Conrad: Mutual Fascina-
    tion. Indians in Dresden and Leipzig, in: Christian F. Feest (Hg.): Indians and Europe.
    An Interdisciplinary Collection of Essays, Lincoln 1999, S. 455-473; Karl Markus
    Kreis: Indians Playing, Indians Praying. Native Americans in Wild West Shows and
    Catholic Missions, in: Colin G. Calloway, Gerd Gemünden, Susanne Zantop (Hg.):
    Germans and Indians. Fantasies, Encounters, Projections, Lincoln 2002, S. 195-212;
    Eric Ames: Seeing the Imaginary. On the Popular Reception of Wild West Shows in
    Germany, 1885-1910, in: Pamela Kort, Max Hollein (Hg.): I Like America. Fictions
    of the Wild West, New York 2006, S. 212-229.
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Völkerkundemuseen verzeichneten mit Nordamerika-Ausstellungen enorme
Besucherzahlen. Sie distanzierten sich von der Wildwestromantik der Literatur
und strebten danach, ‚die wahre Geschichte über die Indianer‘ zu erzählen.7
Es ist unter diesen Umständen also nicht verwunderlich, dass Indianermotive
auch in der Werbung Einzug hielten, weil man damit breite Bevölkerungs-
schichten erreichen konnte. So wirbt z.B. die Firma Emil Seelig 1938 für ihren
„kandierten Kornkaffee“ mit dem Bild dreier vom Indianerspiel heimkehrender
durstiger Kinder, die eine findige Mutter versorgen muss.8 Dies setzt sich bis in
die Gegenwart fort, etwa bei der Fernsehwerbung für Kytta Schmerzsalbe („Ein
Indianer kennt keinen Schmerz“), Audi Quattro (Inuit-Großvater und Enkel
beim ‚Spurenlesen‘), oder im Fall der unten beschriebenen Werbung für „Mo-
hawk“-Tabak der Firma Grand River Enterprises.9 Bei der historischen Werbung
mit Indianermotiven fielen Werbestrategien aus dem angelsächsischen Raum,
die seit den frühesten Tagen der Vermarktung von Tabak in Europa „Indianer“
dargestellt hatten, auf fruchtbaren Boden.

Indianermotive in der Tabakwerbung
Indigene Personen erscheinen bereits in den frühesten bildlichen Darstellungen
des 17. Jahrhunderts auf Werbematerial britischer Tabakhändler und -fabri-
kanten.10 Sie traten hier vornehmlich als die Ursprungsgesellschaft auf, die den
Tabak kultiviert hatte. Dabei wurden deutliche Dichotomien zwischen Natur
und Zivilisation konstruiert: „Indianer“ waren diejenigen, die Europa mit
Tabak bekannt gemacht hatten, das heißt, indigene Personen wurden mit der
Pflanze, und daher mit der Natur der ‚Neuen Welt‘ assoziiert. Tabak wird in
diesem Zusammenhang häufig als „Geschenk des Roten Mannes“ an die Welt
der Genießer bezeichnet.11 Weiße Personen repräsentierten demnach auf diesen
Werbebildern die Zivilisation, das heißt, diejenigen, die den Tabak konsumierten

 7 Penny: Kindred (wie Anm. 4), S. 11 f.
 8 Nix Wie Ran, Werbeanzeige, in: Leipziger Neueste Nachrichten, 29. Mai 1938, S. 47.
 9 Kytta-Salbe Werbung, 2011, https://www.youtube.com/watch?v=O5-Of9Fmt0E (Stand
   23.07.2019); Audi Quattro Werbung, 1997, https://www.youtube.com/watch?v=
   2sdSUNhoLRE (Stand 23.07.2019).
10 Catherine Molineux: Pleasures of the Smoke. ‚Black Virginians‘ in Georgian London’s
   Tobacco Shops, in: The William and Mary Quarterly 64 (2), 2007, S. 327-376, hier
   S. 335, 339; Dolores Mitchell: The Commodified African American in Nineteenth-
   Century Tobacco Art, in: Sander L. Gilman, Xun Zhou (Hg.): Smoke, A Global History
   of Smoking, London 2004, S. 286-293, hier S. 289.
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und vom Reichtum der Kolonien profitierten. Alsbald wurde der Kanon erweitert
um Afrikaner, die den Tabak auf Plantagen anbauten (deren Versklavung man
jedoch nicht explizit thematisierte). Die frühe Tabakwerbung präsentiert daher
oft hybride afrikanisch-indigene Figuren mit dunkler Haut und Schmuck aus
Federn oder Tabakblättern. Nacktheit und derart aus Naturalien gefertigte leichte
Kleidung heben umso deutlicher die Verschmelzung von ‚primitiver‘ Kultur mit
der Natur hervor, und kontrastieren sie mit den eigenen Vorstellungen über die
Zivilisiertheit der Europäer und ihre Rolle in der Welt.12 Solche Verweise auf
das exotische Produkt und seine Produzenten erscheinen im 17. Jahrhundert
auf Werbeblättern, auf sogenannten „trade cards“, aber auch auf der Heraldik
britischer Handelshäuser.13 Die frühen Dichotomien von primitiv und zivili-
siert, von Natur und Kultur, mit denen Europäer ihr Verhältnis zum indigenen
Amerika definierten, bildeten also auch die Basis für kulturelle Repräsentationen
von Ethnizität in der US-Werbung des 19. Jahrhunderts.
    In der US-Tabakwerbung treten allerdings auch Unterschiede in den
Darstellungen von Afrikanern und indigenen Personen auf: Letztere finden
sich auf US-Zigarrenkisten des 19. Jahrhunderts häufig als Figur des oder der
edlen, freien und nomadischen Wilden, während Afroamerikaner zunehmend als
groteske, unterwürfige und komisch überzeichnete Figuren dargestellt werden,
was deren angeblich inhärenten Mangel an Intelligenz und ihre vorbestimmte
Rolle als Bedienstete betonen sollte.14 Besonders im späten 19. Jahrhundert be-
dient die Figur des edlen Wilden in ihrer Exotik eine Mischung aus Sehnsucht
und dem Drang nach einer Art historischem ‚Sicherheitsabstand‘: Man assoziiert
„Indianer“ mit Natürlichkeit, sie gelten als ‚authentisch‘. Gleichzeitig stehen sie
für die Vergangenheit – es war vermeintlich ihr unaufhaltsames Schicksal, der zivi-
lisierten, modernen Welt weichen zu müssen. Bereits in den 1820er Jahren reprä-
sentierten literarische Figuren wie der „Letzte Mohikaner“ diese Idee. Spätestens
ab 1890, als die Siedlungsgrenze als geschlossen galt, weil nun der gesamte Konti-
nent erobert und ‚zivilisiert‘ war, intensivierte sich die Verklärung in Literatur und
Kunst, die die Grenze erst zum „Wilden Westen“ machte. Dabei wurde die Rolle
weißer Amerikaner auf eine Art beschrieben, die über Jahrzehnte das Selbstbild

11 Brian D. Behnken, Gregory D. Smithers: Racism in American Popular Media: From
   Aunt Jemima to the Frito Bandito, Santa Barbara u.a. 2015, S. 36.
12 Molineux: Pleasures (wie Anm. 10), S. 347; Mitchell: Commodified (wie Anm.
   10), S. 289.
13 Molineux: Pleasures (wie Anm. 10), S. 344.
14 Mitchell: Commodified (wie Anm. 10), S. 289 f.
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und die Vorstellungen über den amerikanischen Nationalcharakter prägte.
Unter primitiven Bedingungen haben demnach Euroamerikaner mit harter
Arbeit, Erfindergeist und individualistischer Abenteuerlust der Natur (und damit
auch den „Indianern“) das Land abgerungen. Die zyklische Wiederholung dieser
Entwicklung vom Vordringen einzelner Pfadfinder über Farmen und kleine
Siedlungen hin zu modernen Städten auf dem Weg nach Westen habe dabei
den amerikanischen Charakter geformt und frisch gehalten, wie es Historiker
Frederick Jackson Turner in seiner wegweisenden „Frontier-These“ darlegt.15
   Diese Verklärung der eigenen Kolonialgeschichte führte um 1900 allerdings
bereits zu paradoxen Selbstzweifeln, die sich auch in der Tabakwerbung nieder-
schlagen. Wenn die Frontier geschlossen war und es kein neues Land mehr zu
erobern und zu besiedeln gab, konnte sich dann der Charakter der Amerikaner
noch selbst erhalten und kontinuierlich verjüngen? Führende Persönlichkei-
ten wie Präsident Theodore Roosevelt fürchteten, dass nun eine Phase der
„Verweichlichung“ und imperialen Dekadenz anbrechen könne.16 In dieser Zeit
entstehen viele Nationalparks, um die ‚wilde‘ Schönheit des Landes zu erhalten;
gleichzeitig aber bildet sich ein nostalgischer Blick auf die ‚guten alten Zeiten‘
heraus. Dabei repräsentieren „Indianer“ die Vergangenheit des ungezähmten
Landes, sie erinnern die weißen Amerikaner aber auch an deren ‚heroische‘
Eroberer-Tradition, ohne dass dabei konkret auf die Auswirkungen dieser Er-
oberung (z.B. Kriege, Massaker, Vertreibung, Zwangsassimilation der indigenen
Bevölkerung) eingegangen wird.
   Im Zeitalter der Industrialisierung und Technisierung wird dem modernen
Menschen also mittels der Figur des edlen Wilden versprochen, durch Konsum
des Tabakprodukts sein Bedürfnis nach Authentizität, Natürlichkeit und einer
verklärten Vergangenheit zu befriedigen. Gleichzeitig vermittelt der Bezug zur
Vergangenheit das Gefühl der Sicherheit, denn Vergangenheit schafft Distanz —
interethnische Konflikte an der amerikanischen Siedlungsgrenze haben keine
direkte Relevanz mehr für die Raucher, man kann sich nostalgisch nach der
Schönheit des unberührten Landes und den Abenteuern der Vergangenheit
sehnen, ohne das moderne Leben aufgeben und die historischen Hintergründe
der aktuellen Lebenssituation hinterfragen zu müssen.17

15 Frederick Jackson Turner: Frontier and Section, Englewood Cliffs 1961, S. 38 f.
16 Matthew Frye Jacobson: Barbarian Virtues. The United States Encounters Foreign
   Peoples at Home and Abroad, 1876-1917, New York 2000, S. 3.
17 Rosemary J. Coombe: Embodied Trademarks. Mimesis and Alterity on American Com-
   mercial Frontiers, in: Cultural Anthropology 11 (2), 1996, S. 202-224, hier S. 204 f.
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   In diesem Kontext ist die Popularität sogenannter „Cigar Store Indians“ zu
verstehen, die sich im 19. Jahrhundert von den USA aus im angelsächsischen
Raum ausbreiteten. Aus Holz geschnitzte, lebensgroße Skulpturen neben der
Eingangstür waren ein fester Bestandteil der Werbung von Tabakgeschäften.
Die rotbraune Farbe des Holzes verfestigte Vorstellungen über die Hautfarbe
indigener Personen. Männliche Figuren, meist mit der „wallenden“ Federhaube
der Plains-Kulturen18 ausgestattet, strahlten Würde und Ernst aus und trugen
so zur Verbreitung des stereotypen Bildes vom stoischen Indianer bei, der sein
Schicksal kommen sieht und dabei ‚Haltung bewahrt‘. Zum Teil trugen die
männlichen „Tabakindianer“ auch Waffen (z.B. Speere) und untermalten so
die kriegerische Vergangenheit des Westens, wie auch die Eroberungsleistung
der Kolonialmacht.19
   Das Gegenstück zu diesen Statuen waren Poster und Trade Cards mit Abbil-
dungen lächelnder barbusiger indigener Frauen, die männliche Konsumenten
mit ihrer Exotik und Nacktheit locken sollten, dabei aber auch den Eindruck
von natürlicher Jungfräulichkeit vermittelten und so den vorherrschenden
Moralvorstellungen zu entsprechen suchten.20 Mit diesen die industrielle Mas-
sengesellschaft saturierenden Bildern, so einige Kulturhistoriker, transferierten
Amerikaner die weltweit populäre Exotik des Orientalismus in die heimatliche
Umgebung und Vergangenheit und hielten so nicht nur das Schicksal der indi-
genen Amerikaner, sondern auch den als überaus fremd empfundenen ‚Orient‘
auf Abstand.21
   Die Gleichsetzung indigener Amerikaner mit Vorstellungen von Natur,
Natürlichkeit, und Historizität intensivierte sich mit der systematischen Ent-
wicklung von Marketing und Marktforschung seit dem späten 19. Jahrhun-
dert, was auch die Rolle indigener Darstellungen in der Tabakwerbung weiter
erhöhte. Der Wiedererkennungswert eines Produkts sollte über Popularität
und Distinktion erreicht werden. Dafür hielten Handbücher für Marketing in

18 Bei der sogenannten „wallenden“ Haube weisen die Federn von der Stirn und den
   Schläfen nach hinten, oft ist am Hinterkopf noch eine Federschleppe angebracht, die
   über den Rücken hinabhängt. Vgl. Markus Lindner: Die Aneignung der Plainsfeder-
   haube als Provokation, in: Hans Peter Hahn, Friedemann Neumann (Hg): Dinge als
   Herausforderung. Umgangsweisen und Umwertungen von Objekten, Bielefeld 2018,
   S. 217-242, hier S. 226.
19 Behnken: Racism (wie Anm. 11), S. 37.
20 Ebd.
21 Ebd., S. 38.
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den USA Produzenten an, ihre Waren über exotische Alleinstellungsmerkmale
wie Fremdwörter, Wörter aus alten Sprachen, sowie Begriffen und Bildern
aus empirisch nicht erfahrbaren, aber dennoch bekannten Lebenswelten (z.B.
historische Bezüge oder Fantasiewelten) zu bewerben.22 Auch hier boten sich
wieder historische indigene Charaktere oder generisch-stereotype „Indianer“ als
Referenzpunkte an. Handbücher wiesen explizit darauf hin, dass Betrachter bild-
licher Darstellungen unwillkürlich „Indianer“ mit „Zigarre“ assoziieren würden.23
   Nicht zuletzt erlaubte die romantische Verklärung des „Wilden Westens“,
die westlichen Regionen der USA als „Ort“, als „Geschichte“, wie auch als
„Stil“ wahrzunehmen und zu verkaufen.24 Die Prärien, Wüsten und Gebirge
des amerikanischen Westens werden in Populärkultur und Werbung bis heute
als Sehnsuchtsorte präsentiert. Mit ihnen lassen sich Geschichten erzählen über
Entdeckung, Abenteuer und Flucht aus dem Alltag. Daher assoziiert man mit
dem Westen – und seinen historischen Bewohnern, d.h. „Indianern“ wie auch
„Cowboys“ – Ideen wie Freiheit, Widerstand, Selbstbewusstsein und Eigenver-
antwortung. Mit dem Westen lassen sich sowohl Reisen in die Region als auch
Geländewagen verkaufen. Darüber hinaus bewirbt das Bild des Westens aber
auch Produkte, die mit der Region nichts zu tun haben, die die Konsumenten
aber mit eben diesen Ideen assoziieren sollen, z.B. Tabak, Alkohol, Motorräder,
Kosmetik oder Kleidung.25
   Unter diesen Umständen und vor dem Hintergrund der zunehmenden In-
ternationalisierung und Verflechtung der Märkte im frühen 20. Jahrhundert
ist es nicht verwunderlich, dass Vermarktungsstrategien, Marktforschung und
typische Werbebilder aus den USA, den englischsprachigen Ländern, aber auch
Zentraleuropa sich gegenseitig beeinflussten. Gerade die Assoziation von Tabak
mit den populären Vorstellungen von „Indianern“ wurde in Deutschland wegen
der hier zur Massenbewegung ausgeweiteten Indianerbegeisterung zur wirksamen
Werbestrategie, und so fanden auch ursprünglich US-amerikanische Werbemittel
wie „Cigar Store Indians“ ihren Einzug in deutsche Tabakgeschäfte.
   Dies fügte sich nahtlos in die in deutschen Staaten seit dem 19. Jahrhundert
populären Orient-bezogenen Werbestrategien ein. Hierbei verwoben sich lokale

22 Coombe: Trademarks (wie Anm. 17), S. 211.
23 Ebd.
24 Elliot West: Selling the Myth. Western Images in Advertising, in: Montana. The Ma-
   gazine of Western History 46 (2), 1996, S. 36-49.
25 Ebd. S. 45-47.
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Wirtschaftsfaktoren (z.B. der Zuzug von Tabakarbeitern und -experten aus dem
Osmanischen Südosteuropa nach Sachsen ab 1883)26 mit der Exotik des Orien-
talismus, die bereits seit Jahrhunderten die bildende Kunst und Architektur in
Europa beeinflusst hatte. So trugen in Deutschland bis zum Beginn der nationa-
listischen Welle in Kultur und Medien kurz vor dem Ersten Weltkrieg nur etwa
ein Drittel aller Tabakprodukte deutsche Markennamen, und man verwies wie
in den englischsprachigen Ländern bevorzugt auf fremd und daher anziehend
wirkende Länder, Kulturen, und Sprachen.27 Auch in Deutschland zeigten Wer-
bebilder und Produktverpackungen exotische Tiere, Pflanzen und Architektur
(z.B. Kamele, Palmen, Moscheen). In Darstellungen von Markt- und Kaffee-
hausszenen bedienten wie in der englischsprachigen Werbung farbige Personen
weiße Konsumenten. „Das Motiv des ‚servilen Subalternen‘“, kommentiert Swen
Steinberg am Beispiel des „Tabak-Mohr“ und des „Sarotti-Mohr“, entwickelte
sich „zu einer regelrechten Werbeikone“.28 In Phasen wechselnder Beliebtheit
wurden Abbildungen von Personen kolonisierter Ethnien aus Afrika und Asien
austauschbar mit Bildern von „Indianern“.
   Diese Exotisierungen in der Produktwerbung wurden zudem seit den 1920er
Jahren durch die Einführung von Sammelbildern und Sammelbildalben beflügelt.
Als Beilage von Zigarettenpackungen lösten die Bilder eine regelrechte „Sammel-
wut“ aus.29 Neben Themen wie Kunst, Geografie und Sport spielten die im Ersten
Weltkrieg verlorenen Kolonien, historische Ereignisse (Kriege, Entdeckungsreisen
des Kolonialzeitalters) sowie die Völkerschauen und Wildwest-Shows eine große
Rolle, wie der Beitrag von Felicity Jensz zu diesem Themenheft zeigt (vgl. Abb
1).30 Auch wenn die dargestellten Szenen auf den Sammelbildern nichts mit dem
Konsum von Tabak zu tun haben, verdeutlichen Auflagenzahlen und Verbreitung
der Sammelbilder, wie prominent exotisierende Darstellungen fremder Kulturen
und Interaktionen weißer Akteure mit Vertretern kolonisierter Ethnien in der

26 Swen Steinberg: Mohammed aus Sachsen. Die Vermarktung von ‚orientalischer Fremd-
   heit‘, Regionalität, Nationalismus und Ideologie in der Dresdner Zigarettenindustrie
   (1860-1960), in: Frank Jacob, Gerrit Dworok (Hg.): Tabak und Gesellschaft. Vom
   braunen Gold zum sozialen Stigma, Baden-Baden, 2015, S. 183-212, hier S. 190.
27 Ebd., S. 195-97.
28 Ebd., S. 201.
29 Hiram Kümper: Bevor Panini kam. Zigarettensammelbilder und das kollektive Bild-
   gedächtnis des 20. Jahrhunderts, in: Jacob, Tabak (wie Anm. 26), S. 347-374, hier S.
   350 f.
30 Walter Krickeberg (Hg.): Die Völkerschau in Bildern, Sammelalbum, Dresden 1932.
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Tabakwerbung waren. Exotismus, gleich ob in Gestalt von Orientalismus oder
der Indianerbegeisterung, förderte die Kundenbindung. In diesem heterogenen
Kontext von kulturellen Praktiken und Werbestrategien erscheint die Gestaltung
von Dürningers Schaugeschäft in Berlin 1936 als eine Maßnahme, die aufgrund
des hohen nationalen und globalen Wiedererkennungswerts einer Assoziation
von Tabak mit „Indianern“ viel Erfolg versprach.

Abb. 1: Zigarettensammelalbum „Die Völkerschau in Bildern“ (1932) und Werbeaufsteller für
„Mohawk“ Tabak der Firma Grand River Enterprises (Foto: Johanna Funke)

Der ‚Tabakindianer‘, den das Unternehmen Dürninger 1936 herstellen ließ,
entspricht in Teilen dem gängigen Klischee und folgt darin seinen Vorbildern
aus Läden in den USA. Er ist eine von zwei ähnlich gestalteten Skulpturen.
Beide wurden nach Entwürfen des Südtiroler Bildhauers Cirillo dell’Antonio
in Warmbrunn im schlesischen Riesengebirge (Uzdrowisko Cieplice, Ortsteil
von Jelenia Gora) hergestellt. Dell’Antonio war seit 1922 Direktor der dortigen
Holzschnitzschule.31 Interessanterweise wurde der „Indianer“ in zeitgenössischen
Unternehmensunterlagen und in Erinnerungen der Mitarbeiter manchmal auch
als „Irokese“ bezeichnet, während die andere Figur wechselnd als „Brasilianer“

31 Archiv der Evangelischen Brüderunität Herrnhut, ADC 100, Jahresbericht 1936, S. 6.
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und als „Samoaner“ erwähnt wird.32 Dies zeigt bereits den nivellierenden Ein-
fluss exotischer Werbebilder auf die Vorstellungen über fremde Kulturen. Die
Geschichte dieser Skulpturen – besonders des „Indianers“ – zeigt aber auch
eindringlich die Verflechtung globaler Marketingstrategien und globalen Handels
mit international verbreiteten Kulturpraxen und kulturellen Ideen wie der Indi-
anerbegeisterung, bis hin zu lokalen und regionalen Kunsthandwerkstraditionen
wie der Holzschnitzkunst im sächsisch-schlesischen Raum.

Abb. 2: „Tabakindianer“-Skulptur der Firma Abraham Dürninger & Co GmbH, 1936 (Foto:
Johanna Funke)

32 Persönliches Gespräch mit Albrecht Kittler, Geschäftsführer der Abraham Dürninger
   & Co., Herrnhut, 23.03.2018.
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Die Skulptur des „Indianers“ stellt einen auf einem Bein knienden Mann dar
(Abb. 2). Er ruht auf einem Sockel und ist mit diesem 76 cm hoch. Im Sockel
befindet sich ein Mechanismus zum Abschneiden einer Zigarrenspitze. Der Mann
hält Betrachtern ein Rohr entgegen, auf dessen Ende ein becherförmiges Gefäß
sitzt. Aus diesem schlägt bei Betätigung einer am Sockel befestigten Kurbel eine
Flamme zum Anzünden von Zigarren. Dieses dem Betrachter entgegen gehalte-
ne Gerät erinnert in der Form stark an die nordamerikanische „Friedenspfeife“
(Kalumet), mit langem Rohr und im rechten Winkel dazu stehenden Pfeifenkopf,
obwohl der zylindrische Kopf bei klassischen Kalumets einen wesentlich klei-
neren Durchmesser hat. Die Gesichtszüge des Mannes sind von einer schmalen
Adlernase, hohen und hervortretenden Wangenknochen, sowie einem kantigen
Kinn geprägt. Auf dem Kopf sitzt die wallende Kriegshaube aus Adlerfedern, die
unter den Kulturen der Great Plains üblich war; am Körper trägt der Mann einen
lose hängenden Umhang. Mit diesen körperlichen Merkmalen, der Federhaube
und der Friedenspfeife, die sich jeweils in bestimmten regionalen indigenen
Kulturen herausgebildet haben, aber inzwischen gemeinsam mit Tipi und
Totempfahl stellvertretend für alles „Indianische“ stehen, bedient die Skulptur
automatisch essentialistische Vorstellungen, wie ein „Indianer“ auszusehen hat.33
Dies wird noch durch die rotbraune Farbe des Holzes unterstützt. Mit all diesen
Gestaltungselementen setzt die Skulptur also die amerikanische Tradition des
stereotypen Tabakindianers fort.
   Allerdings scheint die Skulptur insgesamt aus der traditionellen Rolle der ame-
rikanischen Tabakindianer auszubrechen. Zum einen ist sie keine lebensgroße
Figur. Auch steht der Mann nicht wie üblich aufrecht, sondern kniet auf einem
Bein. Dies ist vermutlich auf die praktische Funktion des Anzündemechanismus
zurückzuführen: Die Figuren sollten im Geschäft, nicht davor neben der Tür,
stehen. Damit Kunden sich zur Bedienung der Kurbel nicht umständlich bücken
mussten, konnten die Figuren nur in erhöhter Position, etwa auf der Ladentheke
oder einer Schaufensterbank, platziert werden. Die Körperhaltung mag als servil
interpretiert werden, und in der Tat sind Afroamerikaner ja mit Kniefall und
Verbeugung in der Tabakwerbung immer wieder als unterwürfig und liebediene-
risch dargestellt worden. Die hier beschriebene Figur strahlt allerdings die für die
populäre Darstellung indigener Menschen typische Würde aus. Es ist jedoch nicht
der übliche ‚stoische Indianer‘, der die Betrachter voll traurigen Ernstes anblickt,
und hier liegt ein wesentlicher Unterschied zum amerikanischen „Cigar Store

33 Z.B. der Verbreitung der Federhaube, siehe Lindner: Aneignung (wie Anm. 18).
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Indian“: Der Mann verzieht die Mundwinkel zu einem Lächeln. Dies ist nicht
das überzogene Grinsen, mit dem Afroamerikaner als intellektuell minderwertig
dargestellt wurden. Das Gesicht scheint vielmehr eine leise Ironie auszudrücken,
als mache sich die Figur über die weißen Geschäftskunden, aber auch selbstreflexiv
über ihre eigene Rolle lustig. In dieser auffällig anderen, fast offensiven Darstellung
des „Indianers“ durch den Bildhauer scheint auch eine unterschwellige Kritik der
US-Indianerpolitik impliziert zu sein, diente doch die Indianerbegeisterung im
deutschsprachigen Raum immer auch als Ventil für antiamerikanische Ressenti-
ments (mit denen man die eigene Verantwortung als Kolonialmacht in Afrika und
Ozeanien geflissentlich ignorierte).34 Dass der Figur des Tabakindianers ein Sinn
für Humor oder möglicherweise gar für intellektuell erhabene Ironie zugestan-
den und damit zu Interpretationen über die ethnischen Beziehungen zwischen
indigenen Amerikanern und Euroamerikanern bzw. Europäern angeregt wird,
bricht mit der traditionellen Darstellung von „Indianern“ in der angelsächsischen
Tabakwerbung. Jedenfalls erlangt die Figur durch ihr feinsinniges Lächeln eine
Individualität und Handlungsfähigkeit, welche direkt auf die Betrachter einwirken.
Indem der „Indianer“ derart vom Objekt zum Subjekt zu werden scheint, da er
quasi auf die Betrachter ‚zurückschaut‘, nimmt die Figur postkoloniale Strategi-
en der Selbstermächtigung vorweg, mit denen seit den 1970er Jahren indigene
Aktivisten und Wissenschaftler auf vielfältige Weise die Darstellung ‚subalterner‘
Ethnien zu revolutionieren suchen.35 Dies wird in den folgenden Betrachtungen
zum indigenen Tabakunternehmen Grand River Enterprises noch deutlicher.

„The Indian Sells Back“: Selbstermächtigung in indigener Tabakwer-
bung in Deutschland
Die Firma Grand River Enterprises wurde 1992 von sieben Vertretern der
Mohawk, einer Abteilung der Konföderation der Six Nations, im Deutschen
auch als Irokesenliga bekannt, gegründet. Das Unternehmen expandierte 2004
nach Deutschland und produziert und vertreibt seitdem Zigaretten aus der
eigenen Fabrik in Brandenburg.36 In der Selbstdarstellung auf der Webseite des

34 Usbeck: Fellow Tribesmen (wie Anm. 5), S. 154-161.
35 Gerade in Bezug auf Gayatri Chakravorty Spivaks Werk sind in den letzten Jahren zahl-
   reiche Studien entstanden, die untersuchen, auf welche Weise das ethnische „Subalterne“
   zurückschaut, -schreibt, oder -spricht. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern
   Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008.
36 Grand River Enterprises (Deutschland), Homepage, http://www.mohawkgre.net/
   (Stand 26.6.2019).
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Unternehmens, wie auch auf den zahlreichen Merchandise-Artikeln stellt GRE
den indigenen Kontext der Eigner in den Vordergrund und bedient damit offen-
sichtlich die deutsche Indianerbegeisterung. Dies wird bereits in der Erläuterung
der Standortwahl deutlich, denn „Indianisches Tabak-Know-How“ werde hier
„gepaart mit modernsten Produktionsmethoden – Made in Germany“.37 Ähnlich
explizit operiert die Kontaktseite, wenn sie Besucher*Innen auffordert: „Geben
Sie uns ein Rauchzeichen!“38
   Die Werbung für die hauseigene Marke „Mohawk“ setzt diesen Bezug
zur Indianerbegeisterung fort. Merchandiseartikel spielen offensiv mit dem
Klischee. Auch hier entsteht wieder der Eindruck, die Produzenten benutzten
solche stereotypen Vorstellungen und Bilder, um einerseits das Produkt durch
Wiedererkennung zu popularisieren, sich aber andererseits sowohl über diese
Fremddarstellungen der Europäer, wie auch über sich selbst lustig zu machen.
Dies fällt bei Merchandiseartikeln wie etwa einem Aschenbecher in Form eines
Tipis auf. Die Six Nations haben nicht Tipis, sondern Langhäuser aus Holz
als Behausung genutzt. Zudem wäre den Bewohnern von Tipis auf den Plains
nicht eingefallen, ihr Tipi mit Asche (d.h. Abfall) zu assoziieren. Da aber wegen
der Stereotype aus Westernfilmen und -romanen viele nicht-indigene Personen
weltweit glauben, dass „Indianer“ in Tipis gelebt haben, bietet sich das Tipi als
kurioses Symbol für Indigenität an.39 Der Wiedererkennungswert des Symbols
steigert den Wert des an sich profanen Merchandiseartikels.
   Ein weiteres spielerisches Element ist ein Aufsteller für Ladentheken aus
Karton. Darauf ist der Eigner des Unternehmens, Kenneth Hill, in vermeint-
lich traditioneller „indianischer“ Tracht abgebildet (siehe Abb. 1). Er trägt
eine Federhaube, Halsschmuck aus Röhrenknochen, eine Bärenkrallenkette,
ein hirschledernes Hemd mit Fransen und hält einen Fächer aus Adlerfedern
in der Hand. Diese Accessoires bilden ein Sammelsurium von Symbolen des

37 Grand River Enterprises (Deutschland), Unternehmensgeschichte, https://www.
   mohawkgre.net/unternehmen/ (Stand 26.06.2019).
38 Grand River Enterprises (Deutschland), Kontaktformular, https://www.mohawkgre.
   net/kontakt/ (Stand 26.06.2019).
39 Grand River Enterprises (Deutschland), Produktangebote, https://www.mohawkgre.
   net/service/ (Stand 26.06.2019). Das Tipi wurde vor 2018 aus dem Merchandise-
   Sortiment genommen, wie ein Vertreter der Marketingabteilung dem Autor telefonisch
   bestätigte. Allerdings wurde bei dem Gespräch der Grund für die Entscheidung nicht
   deutlich. Auf der Webseite ist das Tipi aber nach wie vor noch zu sehen.
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stereotypen, generischen „Indianers“. Die Federhaube entspricht zwar der
traditionellen Kriegsmütze der Six Nations und nicht der vielfach imitierten
Adlerfederhaube der Plains. Jedoch sind die anderen Elemente ethnographisch
nicht unbedingt mit den Six Nations in Verbindung zu bringen. Hill macht also
ganz eindeutig vom Indianerstereotyp Gebrauch, um sein Produkt und seine
ethnische Gruppe, die Mohawk, welche Namensgeber für die hier angebotene
Zigarettenmarke sind, zu bewerben.
   Diese Aneignung und Zurschaustellung stereotyper Bilder, um den Erwar-
tungen des europäischen bzw. euroamerikanischen Gegenübers zu entsprechen,
sind allerdings für indigene Amerikaner schon seit Jahrhunderten gängige Praxis.
Indigene Gruppen passten schon früh Kleidung, Kunsthandwerk und andere
kulturelle Attribute gezielt an europäische Vorstellungen an, etwa wenn es um
den Verkauf von Souvenirs an durchreisende Touristen, Händler und Sammler
ging, oder um auf Wildwest-Shows als ‚authentische Indianer‘ wahrgenommen
zu werden.40 So trug der erbliche Häuptling der Six Nations Deskaheh (Levi
General, 1873-1925) unter anderem auch die Federhaube der Plains, als er
1923 beim Völkerbund in Genf im Kampf um die internationale Anerkennung
der Six Nations als souveräne Nationen vorsprach, um gegenüber europäischen
Diplomaten seine Herkunft und kulturelle Identität zu verdeutlichen.41 Fremd-
bestimmte Darstellungen indigener Kultur dienten indigenen Personen immer
wieder als Inspiration für eigene kulturelle Praktiken, aber auch als strategisch
eingesetztes Mittel in der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Gegenüber.42
   Der Aufsteller mit dem Foto des Firmeneigners greift also spielerisch die
stereotype Darstellung indigener Personen auf und wandelt sie durch den Ein-
satz populärer Bilder und Symbole in einen Akt bewusster Selbstdarstellung
um. Die Wahl von Kleidung und Accessoires für das Foto zeigt das Bedürfnis
nach ethnographischer Distinktion (z.B. die kulturtypische Kriegsmütze). Sie
repräsentiert darüber hinaus sowohl die Bereitschaft, die generische Darstel-
lung eines typischen ‚Indianers‘ für Ethno-Marketing in einem dem Thema

40 Ruth B. Phillips: Trading Identities. The Souvenir in Native North American Art from
   the Northeast, 1700-1900, Hongkong 1998.
41 Indigenous peoples’ centre for documentation, research and information:
   Historical process at the United Nations, 1923-2021, https://www.docip.org/en/
   oral-history-and-memory/historical-process/ (Stand 26.06.2019).
42 Lothar Dräger: Indianerspiel. Auch Indianer spielen Indianer, Wyk auf Föhr 2006.
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aufgeschlossenen Markt einzusetzen, wie auch die bewusste Anwendung des
Stereotyps als ironische, antikoloniale Geste.43
   Seit dem späten 20. Jahrhundert gehen ethnische Minderheiten in den USA
gegen Fremddarstellungen ihrer Gruppe in Handelsmarken und Firmenmaskott-
chen vor, weil deren Außenperspektive auf das Selbst häufig als herabwürdigend
empfunden wird.44 Allein die klischeehafte Darstellung indigener Gruppen,
obwohl kontrovers diskutiert (z.B. Sportmarken wie die Washington Redskins),45
hält sich nach wie vor hartnäckig. Wie die Anthropologin Rosemary Coombe
betont, scheint betroffenen Gruppen oft keine Alternative zu bleiben, als sich
diese stereotypen Fremddarstellungen anzueignen und zum eigenen Nutzen
einzusetzen.46 Diesem Credo scheint der Aufsteller von GRE zu folgen – ähnlich
wie Dürningers Skulptur des „Tabakindianers“ bedient er gängige Stereotype,
bricht diese aber durch subtilen Humor wieder auf. So scheint Kenneth Hill im
Aufstellerfoto ein freundliches, für Werbebilder übliches Lächeln zu präsentieren.
Wenn man aber den Aufsteller im Kontext der anderen Merchandiseartikel des
Unternehmens (etwa dem Tipi-Aschenbecher) betrachtet, so drängt sich der
Eindruck auf, dass Hill mit diesem Lächeln und dem wie beim Aschenbecher
überzogenen Spiel mit generischen Attributen von ‚authentischer Indigenität‘
augenzwinkernd die deutsche Indianerbegeisterung persifliert.47 Damit scheint
er auch die eigene Marketingkampagne ironisch zu kommentieren. Hier macht
sich das subalterne Subjekt die Fremddarstellung und Ausgrenzung der eigenen

43 Zum kulturell-ökonomischen Kontext von Ethno-Marketing vgl. Marie-Christine
   Pauwels: Marketers as Innovators. How Ethnic Marketing Revisits Ethnicity, in: Re-
   vue LISA/LISA e-Journal. Littératures, Histoire des idées, images, sociétés du monde
   Anglophone – Literature, History of Ideas, Images and Societies of the English-Speaking
   World IV (1), 2006, S. 234-254; John L. Comaroff, Jean Comaroff: Ethnicity, Inc.,
   Chicago 2009.
44 Als Beispiele wären hier u.a. die Aunt-Jemima Sammelfiguren (Afroamerikaner_Innen)
   oder das Lebensmittelmaskottchen Frito Bandito (Latinas) zu nennen. Behnken:
   Racism (wie Anm. 11).
45 C. Richard King: Redskins. Insult and Brand, Lincoln 2016. Nach jahrzehntelangen
   Protesten hat das Team den Namen 2020 abgelegt.
46 Coombe: Trademarks (wie Anm. 17), S. 217.
47 Auf ähnliche Weise agiert im Film „Harold of Orange“ ein „Cigar Store Indian“ als
   überzeichneter stereotyper Trickster-Charakter, der nichtsahnenden Weißen vermeint-
   liche ‚alte indianische Weisheiten‘ verkauft vgl. Gerald Vizenor, Buffy Sainte-Marie:
   Harold of Orange: A Screenplay, in: Studies in American Indian Literatures 5 (3), 1993,
   S. 53-88, hier S. 69 f.
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Gruppe zu eigen, um damit die eigene Identität selbstbestimmt zu repräsentieren
und für die Durchsetzung eigener ökonomischer Interessen zu aktivieren.

Zusammenfassung
Werbemittel der Tabakindustrie, wie Dürningers Tabakindianer-Skulptur oder
der Aufsteller von Grand River Enterprises, stehen in einer jahrhundertelangen
Tradition der bildlichen Darstellung indigener Personen. Diese Darstellungen
reflektieren zum Teil bis heute aus dem Kolonialismus entstandene Dichotomien
zwischen fremd und selbst, primitiv und zivilisiert, sowie Natur und Kultur. An
den hier diskutierten Beispielen zeigt sich, dass solche Vorstellungen des ‚An-
deren‘ über nationale Grenzen hinweg in Europa und Nordamerika verbreitet
waren und jeweilige nationale und regionale kulturelle Praktiken wechselseitig
beeinflusst haben. Dies wirkte sich entsprechend auch auf Wirtschaftspraktiken
und Vermarktungsstrategien nationaler und global agierender Unternehmen, wie
etwa Tabakhändler und -produzenten aus.
   Das Beispiel der verschiedenen historischen ‚Tabakindianer‘ zeigt zudem, dass
solche globalen Prozesse regionale Phänomene und Praktiken reflektiert und auf-
gegriffen haben – zum einen fand die angelsächsische Tradition der „Cigar Store
Indians“ aufgrund der hiesigen Indianerbegeisterung in Dürningers Skulptur
Eingang und verband sich mit der lokalen sächsisch-schlesischen Tradition der
Holzschnitzkunst. Zum anderen haben die in Nordamerika seit Mitte des 20.
Jahrhunderts in Erscheinung getretenen sozialen Bewegungen immer wieder
fremdbestimmte Darstellungen der eigenen Gruppe an- und aufgegriffen, um
ihre kulturelle Identität und Souveränität zu stärken. Dies schlug sich auch in
den Marketingstrategien indigener Unternehmen nieder. Wenn, wie im Fall von
Grand River Enterprises, solche Firmen in internationale Märkte expandieren,
wenden sie auch dort folgerichtig diese kulturpolitisch-ökonomischen Strategien
an. Wenn sie dabei lokale Traditionen wie die deutsche Indianerbegeisterung
aufgreifen können, lassen sich mittels Wiedererkennungswert ihre Produkte, wie
auch ihre ethnische ‚Marke‘ umso besser platzieren und bewerben.
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