DES LANDES BERLIN VERFASS U NGSG ERIGHTSHOF

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                          VERFASS     U   NGSG ERIGHTSHOF
                               DES LANDES BERLIN

                                    lm Namen des Volkes
                                         Beschluss

VerfGH 107 Al21

ln dem Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

des Herrn    L   B.
Berlin,

                                                             - Antragsteller -

Ve rfa h re n sbevo I m ächti gte
                      I

1. Rechtsanwalt P.,
     Berlin,
2.   Rechtsanwältin W.,
     Brüssel,

gegen

das Land Berlin,
vertreten durch den Senat von Berlin,
Jüdenstraße 1, 10178 Berlin
                                                             - Antragsgegner -
-2-
Au ßerungsberechtigte

1. Der Senat von Berlin,
   vertreten durch den Regierenden Bürgermeister,
   Jüdenstraße 1, 10178 Berlin,

2. Die Landeswahlleiterin von Berlin,
   Klosterstraße 47, 10827 Berlin,

3. Die Bezirkswahlleiterin des Bezirks Pankow von Berlin,
   Breite Straße 24 a - 26, 13187 Berlin ,

4. Der Vorsteher der Bezirksverordnetenversammlung Pankow von Berlin,
   Fröbelstraße 17 , 10405 Berlin,

hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin durch die Präsidentin Selting,
den Vizepräsidenten Dr. Seegmüller und die Richterinnen und Richter Alagün,
Dr. Burholt, Dr. Gräfin von Galen, Hilbrans, Kipp und Prof. Dr. Schönrock

am 15. September 2021 beschlossen

      Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt

      Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.

      Auslagen werden nicht erstattet.

                                         Gründe

Der Antragsteller ist britischer Staatsangehöriger, Er begehrt die Zulassung als Be-
werber für die Partei Volt Deutschland auf der Bezirksliste für die Wahlen zur Be-
zirksverordnetenversammlung Pankow von Berlin am 26. September 2021. Darüber
hinaus möchte er für diese Wahl in das Wahlverzeichnis eingetragen werden.

Der Landesverband der Partei Volt Deutschland stellte den Antragsteller am 7. März
2021 auf dem Listenplatz 4 des Bezirkswahlvorschlages für die Bezirksverordneten-
-3-
versammlung Pankow von Berlin auf. Am 28. Juli 2021 entschied der Wahlaus-
schuss des Bezirks Pankow, die Bewerbung des Antragstellers nicht zur Wahl für die
Bezirksverordnetenversammlung zuzulassen. Zur Begründung führte der Bezirks-
wahlausschuss aus, dass der Antragsteller als britischer Staatsangehöriger nicht
wahlberechtigt sei. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies der Landeswahlaus-
schuss am 5. August 2021 zurück.

Am 9. August 2021 teilte die Bezirkswaltlleiterin dem Antragsteller auf Nachfrage
telefonisch mit, dass er als britischer Staatsangehöriger nicht in das Wahlverzeichnis
für die Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung Pankow von Berlin aufgenom-
men werden könne. Am 30. August 2021 legte der Antragsteller Einspruch gegen die
Nichteintragung ein, der am 2. September 2021 zurückgewiesen wurde. Über die
Beschwerde dagegen ist noch nicht entschieden.

Der Antragsteller macht geltend, dass er auch nach dem Austritt Großbritanniens
aus der Europäischen Union die Unionsbürgerschaft nicht verloren habe und daher
berechtigt sei, sein aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen aus-
zuüben.

Der Antragstel ler beantragt,

   ihn im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig

   1. als Bewerber auf der Bezirksliste der Partei Volt Deutschland für die Wahl    zur
        Bezirksverordnetensammlung Pankow von Berlin zuzulassen,
   2.   in das Wahlverzeichnis für die Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung
        Pankow von Berlin einzutragen.

Dem Senat von Berlin, der Landeswahlleiterin, der Bezirkswahlleiterin und dem Vor-
steher der Bezirksverordnetenversammlung Pankow von Berlin wurde Gelegenheit
zur Stellungnahme gegeben.
-4-

Der Antrag hat keinen Erfolg

1. Soweit der Antragsteller die Zulassung als Bewerber zu den Wahlen zur Bezirks-
verordnetenversammlung begehrt, ist der Antrag nach $ 42a des Gesetzes über den
Verfassungsgerichtshof - VerfGHG - zulässig. Der Antragsteller rügt einen Rechts-
verstoß, der unter $ 42a VerfGHG fällt. Danach kann der Verfassungsgerichtshof auf
Antrag schon vor der Durchführung der Wahlen eine Entscheidung durch einstweili-
ge Anordnung treffen, wenn wegen des geltend gemachten Verstoßes zu erwarten
ist, dass die Wahle n ganz oder teilweise für ungültig erklärt werden und der Verstoß
noch vor den Wahlen beseitigt werden kann. Der Antrag auf Erlass einer einstweili-
gen Anordnung nach $ 42a VerfGHG ist mithin immer dann statthaft, wenn der An-
tragsteller einen Rechtsverstoß rügt, der einem späteren Einspruch gegen die Gül-
tigkeit der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversamm-
lungen nach $ 14 Nr. 2 VerfGHG in Verbindung mit $ 40 Abs. 2 VerfGHG zum Erfolg
verhelfen und noch vor der Wahl beseitigt werden kann (vgl. Beschluss vom 16. Au-
gust 2021 - VerfGH 96 Al21 -, juris Rn. 12). Nach $ 40 Abs. 2 Nr. 1 VerfGHG kann
der Einspruch darauf gestützt werden, dass ein Wahlvorschlag oder ein Bewerber zu
Unrecht nicht zugelassen worden sei. Dies macht der Antragsteller geltend.

Soweit der Antragsteller darüber hinaus die Eintragung in das Wahlverzeichnis bean-
tragt, kann die Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
gemäß $ 42a VerfGHG dahinstehen. Nach $ 40 Abs, 2 Nr. 7 VerfGHG kann der Ein-
spruch nur darauf gestützt werden, dass Personen zu Unrecht in das Wahlverzeich-
nis eingetragen oder nicht eingetragen worden seien oder zu Unrecht einen Wahl-
schein erhalten oder keinen Wahlschein erhalten hätten und dadurch die Verteilung
der Sitze beeinflusst worden sei. Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob der
Antragsteller das Vorliegen der letztgenannten Voraussetzung hinreichend dargelegt
hat.

2. Der Antrag ist jedenfalls insgesamt unbegründet

Es ist nicht zu erwarten, dass die Wahlen wegen der gerügten Verstöße ganz oder
teilweise für ungültig erklärt werden. Ein Verstoß gegen Wahlrechtsvorschriften liegt
-5-
darin nicht. Der Antragsteller wurde zu Recht weder als Bewerber zugelassen noch
in das Wahlverzeichnis eingetragen.

Nach Art. 28 Abs. 1 Satz 3 des Grundgesetzes - GG - sind bei Wahlen in den Krei-
sen und Gemeinden auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaa-
tes der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von dessen Recht
wahlberechtigt und wählbar. Art. 20 Abs. 2 Buchstabe b) des Vertrages über die Ar-
beitsweise der Europäischen Union - AEUV - und Art. 40 der Grundrechte-Charta
bestimmen, dass alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger in dem Mitgliedstaat, in
dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommu-
nalwahlen unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mit-
gliedstaates besitzen. $ 22a Satz 1 des Landeswahlgesetzes - LWahlG - sieht vor,
dass wahlberechtigt und wählbar zu den Bezirksverordnetenversammlungen unter
den gleichen Voraussetzungen wie Deutsche auch Personen sind, die die Staatsan-
gehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union besitzen (Unionsbürger),
Nach $ 40a Abs. 1 Satz 1 der Landeswahlordnung sind Personen, die ohne Deut-
sche zu sein, die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union
besitzen (Unionsbürger), wenn ihnen das Wahlrecht zu einer Bezirksverordnetenver-
sammlung zusteht, in das Wahlverzeichnis einzutragen.

Die danach für sein aktives und passives Wahlrecht bestehenden Voraussetzungen
erfüllt der Beschwerdeführer nicht. Die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der
Europäischen Union besitzt der Beschwerdeführer nicht, nachdem das Vereinigte
Königreich die Union verlassen hat. Zwar hat er während der Mitgliedschaft des Ver-
einigten Königreichs zur Europäischen Union die Unionsbürgerschaft erworben, doch
hat er diesen Status wegen des nach Art. 50 des Vertrags über die Europäische Uni-
on - EUV - vollzogenen Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union wieder
verloren. Maßgeblich dafür ist die Akzessorietät der Unionsbürgerschaft zu der
Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates. Diese ergibt sich aus Art. 9 Salz2 und   3

EUV. Danach ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates
besitzt (Satz 2). Dies kann bereits nach dem Wortlaut nur dahin verstanden werden,
dass die Unionsbürgerschaft nicht nur bei ihrem Erwerb, sondern fortlaufend an zwei
Voraussetzungen geknüpft ist. Nämlich an die Staatsangehörigkeit eines Staates
und an die Mitgliedschaft dieses Staates in der Union, Liegen die Voraussetzungen
vor, so tritt die Unionsbürgerschaft zur nationalen Staatsangehörigkeit hinzu, ersetzt
-6-
sie aber nicht (Satz 3). Die Unionsbürgerschaft ist damit keine Staatsbürgerschaft,
sondern ein gesonderter europarechtlicher Status, den die Union den Staatsbürgern
ihrer Mitgliedstaaten einräumt (vgl. Streinz, Europarecht, 11. Auf. 2019, Rn. 1025).
Auch wenn die Regelung des Austritts aus der Union in Art. 50 EUV keine Bestim-
mung über das rechtliche Schicksal der Unionsbürgerschaft der Staatsangehörigen
des austretenden Mitgliedstaates enthält, folgt aus dieser Anknüpfung der automati-
sche Verlust der Unionsbürgerschaft im Falle des Austritts.

Mit seinem Vortrag, die Unionsbürgerschaft sei nach ihrem Erwerb eine von der
Staatsangehörigkeit getrennte und unabhängige Rechtsposition, kann der Antrag-
steller nicht durchd ringen.

Eine Regelung, die das Fortbestehen der Unionsbürgerschaft nach dem Austritt
Großbritanniens aus der Europäischen Union vorsieht, besteht nicht. Auch der Wort-
laut des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien
und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemein-
schaft vom 24. Januar    2O2O   (Abl. EU L2gt7 vom 31. Januar   2O2O)   widerspricht der
Ansicht des Antragstellers. Denn das Austrittsabkommen unterscheidet ausd rücklich
zwischen Unionsbürgern, Art.2 Buchstabe c) des Abkommens, und britischen
Staatsangehörigen, Art. 2 Buchstabe d) des Abkommens.

Darüber hinaus widerspricht das System der Unionsbürgerschaft der Annahme einer
von der Staatsangehörigkeit unabhängigen Rechtsposition. Die Unionsbürgerschaft
ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs der grundlegende Sta-
tus der Angehörigen der Mitgliedstaaten (EuGH, Urteil vom 20. September 2001
Grzelzcyk - C-1841g9 -, juris Rn. 31). Hiervon ausgehend nimmt der Europäische
Gerichtshof als selbstverständlich an, dass die Unionsbürgerschaft an die Staatsan-
gehörigkeit eines Mitgliedstaates gekoppelt ist und bei Verlust dieser Staatsangehö-
rigkeit erlischt (EuGH, Urteile vom 2. Mär22010 Rottmann - C 135/08 -, juris Rn.42,
und vom 12. März 2O1g Tjebbes - C 221117 -,juris Rn. 42). Diese Einschätzung wird
von der überwiegenden Auffassung in der Literatur geteilt, die eine Ausdehnung der
U   nionsbürgerschaft auf Drittstaatsangehörige als systemwidrig ansieht (Schönber-
ger, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 72. EL Februar
2021, Art.20 AEUV, Rn.48; Hatje, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU Kommen-
tar, 4. Aufl, 2019, Art. 20 AEUV, Rn. 1 1; Haag, in: von der Groeben/Schwarzel{atle,
-7   -

Europäisches Unionsrecht, T. Auf|.2015, Art.20AEUV, Rn. 15; Kainer, in: Kram-
me/Baldus/Schmidt-Kessel, Brexit, 2. Aufl. 2020, Seite 325; Streinz, in: Kram-
me/Baldus/Schmidt-Kessel, Brexit, 2. Aufl. 2020,Seite 52).

Sch ließlich würde ein Weiterbestehen der Unionsbürgerschaft den unionsrechtlichen
Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zu-
widerlaufen. Die Unionsbürgerschaft vermittelt den Unionsbürgerinnen und Unions-
bürgern nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 AEUV die in den Verträgen vorgesehenen Rechte
und Pflichten und beruht auf der gegenseitigen Verpflichtung, das jeweilige politische
Gemeinwesen den anderen europäischen Bürgern zu öffnen (Schlussanträge des
Generalanwalts vom 30. September 2009 Rottmann - C 135/08 -, juris Rn. 23). Der
Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union hat dieses der Unionsbürger-
schaft zugrunde liegende Prinzip der Gegenseitigkeit für die Staatsangehörigen des
Vereinigten Königreichs außer Kraft gesetzt. Überlegungen, den Austritt des Verei-
nigten Königreichs als Chance für die Einführung einer assoziierten Unionsbürger-
schaft entsprechend einem Vorstoß des luxemburgischen       Eu   ropaabgeordneten
Charles Goerens zu nutzen, haben sich - jedenfalls bisher - schon auf der Ebene
des Europäischen Parlaments nicht durchsetzen können (vgl. Schwarz, And Justice
for All, Der Brexit als Chance für eine assoziierte Unionsbürgerschaft,
https://regierungsforschung.de/and-justice-for-all-der-brexit-als-chance-fuer-eine-
assoziierte-unionsbuergerschaft/). Dies macht deutlich, dass auch das Europäische
Parlament den Verlust der Unionsbürgerschaft der Staatsangehörigen des früheren
Mitgliedstaates Vereinigtes Königreich zugrunde legt.

Dass damit diejenigen Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die zunächst
die Unionsbürgerschaft erworben haben und für einen Verbleib ihres Heimatstaates
in der Union eingetreten sind, ungewollt die Unionsbürgerschaft verloren haben, ist
eine unvermeidliche Folge der im Vereinigten Königreich getroffenen Mehrheitsent-
scheidung für den Austritt aus der Union.
-8-

Die Kostenentscheidung beruht auf den SS 33, 34 VerfGHG

Selting                       Dr. Seegmüller               Alagün

Dr. Burholt                Dr. Gräfin von Galen           Hilbrans

Kipp                                                 Prof. Dr. Schönrock
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