Deutscher Studienpreis | 1. Preis Geistes- und Kulturwissenschaften

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Deutscher Studienpreis | 1. Preis Geistes- und Kulturwissenschaften
Deutscher Studienpreis | 1. Preis
       Geistes- und Kulturwissenschaften

        Selbstauferlegte Gedankenlosigkeit der
 algorithmischen Wende? Kriminalwissenschaftliche
     Untersuchung über die Automatisierung der
                  Kriminalprognose
Verbrechen verhindern, bevor sie geschehen? Dieses verlockende
Narrativ ist nicht länger nur Stoff des Science-Fiction-Genres.
Computergestützte Systeme mit dem Ziel, kriminelles Verhalten
vorauszusagen, werden heute auch in Deutschland eingesetzt. Die Arbeit
geht den gesamt-gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Technologie mit
interdisziplinärem Zugang (rechts-wissenschaftlich, kriminologisch,
soziologisch) auf den Grund. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die
Technologie eine Aushöhlung einer Vielzahl verfassungsrechtlicher
Garantien mit sich bringt und selbst bei Einhaltung eines engen
rechtlichen Rahmens Risiken für Rechtsstaat und Gesellschaft bestehen.
Insbesondere droht sich die Kriminalitäts-kontrolle bei unreflektiertem
Einsatz der Technologie in eine – in An-lehnung an Hannah Arendt –
selbstauferlegte algorithmische Gedanken-losigkeit zu begeben. Die
Arbeit schließt mit einem Vorschlag für Mindestanforderungen, an denen
sich computergestützte Kriminal-prognosen in Zukunft orientieren
sollten.

Lucia Sommerer promovierte an der Georg-August-Universität Göttingen
im Fachgebiet Rechtswissenschaften.
Der vorliegende Beitrag wurde beim Deutschen Studienpreis 2020 mit dem
    1. Preis in der Sektion Geistes- und Kulturwissenschaften ausgezeichnet. Er
    beruht auf der 2019 an der Georg-August-Universität Göttingen eingereichten
    Dissertation »Personenbezogenes Predictive Policing: Kriminalwissenschaftli-
    che Untersuchung über die Automatisierung der Kriminalprognose« von Dr.
    Lucia Sommerer.

    Selbstauferlegte Gedankenlosig-             personenbezogenes Predictive Poli-
    keit der algorithmischen Wende?             cing), eine Entwicklung, die angesichts
    Kriminalwissenschaftliche Unter-            ihres transformativen Potentials als »al-
    suchung über die Automatisie-               gorithmische Wende« der Kriminali-
                                                tätskontrolle bezeichnet werden kann.
    rung der Kriminalprognose
                                                Der narrative Rahmen, Verbrechen zu
                                                unterbinden, bevor sie geschehen, ist
     I. Hintergrund
                                                verlockend. Doch darf er Wissenschaft
                                                und Praxis nicht blind machen für die
                    »Scientia potestas est« –
                                                tatsächlichen Beschränkungen prädik-
                        »Wissen ist Macht«
                                                tiver Algorithmen und die Risiken die-
                              Francis Bacon     ser Form der »Unsicherheitsabsorption«
                                                für Gesellschaft und Rechtsstaat.
      Inwieweit ist unsere Zukunft vorbe-         Die rechtliche Zulässigkeit des perso-
    stimmt? Kann Vorbestimmtes auch vo-         nenbezogenen Predictive Policing in
    rausgesagt werden? Dies sind Fragen,        Deutschland ist äußerst kritisch zu be-
    die die Menschheit seit jeher umtrei-       werten (II.). Selbst bei Einhaltung enger
    ben. Von der Konsultation des Delphi-       rechtlicher Grenzen wohnen dem Ein-
    schen Orakels der Antike bis hin zum        satz der neuen Technologien im Inte-
    modernen datengestützten Staat – stets      resse von Effizienz und Neutralität bis-
    wollen wir wissen, was die Zukunft für      her wenig beachtete gesamtgesell-
    uns bereithält. Zur Beantwortung die-       schaftliche Risiken inne, die Kriminali-
    ser Frage in ihrer jüngsten Ausformung      tätskontrolle und Gesellschaft vor
    wird nun seit einiger Zeit auf prädiktive   grundlegend neue Herausforderungen
    Algorithmen zurückgegriffen. Prädik-        stellen (III.). Insbesondere droht die Ge-
    tive Algorithmen, d.h. computerge-          samtheit der Herausforderungen bei
    stützte Systeme mit dem Ziel, mensch-       unreflektiertem Einsatz und Ausdeh-
    liches Verhalten vorauszusagen, sind in     nung der Technologie die Kriminalitäts-
    unserem Alltag allgegenwärtig. Jeder,       kontrolle in eine – in Anlehnung an
    der eine Suchmaschine verwendet, sich       Hannah Arendt – »selbstauferlegte (al-
    um einen Kredit bewirbt oder online         gorithmische) Gedankenlosigkeit« zu
    ein Produkt kauft, setzt sich prädikti-     führen. Um diesen Risiken zu begeg-
    ven Algorithmen aus. Nun werden prä-        nen, hat die vorliegende Arbeit einen
    diktive Algorithmen von der Polizei         Katalog an Mindestanforderungen für
    auch zur Vorhersage individuellen kri-      die Praxis entwickelt, an denen sich
    minellen Verhaltens herangezogen (sog.

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Lucia Sommerer

personenbezogenes Predictive Policing            rechtlich-kriminologischer Erwägun-
in Zukunft orientieren sollte (IV.).             gen getroffen. Einer Überrumpelung
  Die Aktualität der Thematik kann da-           der Gesellschaft, eben ohne wissen-
bei nicht überbewertet werden. Seit              schaftliche Bearbeitung und diskursi-
2017 erlaubt das Fluggastdatengesetz             ven Prozess im Vorfeld, auf dem Gebiet
mit dem sog. Fluggastdatenmusterab-              des personenbezogenen Predictive Poli-
gleich das personenbezogene Predictive           cing möchte diese Arbeit vorbeugen.
Policing in Deutschland. Ebenfalls seit
2017 setzt das Bundeskriminalamt mit               II. Rechtliche Grenzen des perso-
dem System RADAR-iTEeine Vorstufe                  nenbezogenen Predictive Policing
des personenbezogenen Predictive Poli-
cing im Bereich des islamistischen Ter-            Wie so viele erfolgreiche Aphorismen
rorismus ein, und 2018 änderte Hessen            ist auch Bacons Eingangszitat über Wis-
sogar sein Polizeigesetz, um den Einsatz         sen und Macht v.a. Abbreviatur. Wis-
der Software Palantir Gotham zu er-              sensbestände als solche mögen latente
möglichen, die in den USA bereits zum            Machtchancen darstellen, doch die Ver-
personenbezogenen Predictive Policing            bindung von »Imperium und Empirie«
verwendet wurde. Keines der Projekte             ist keine selbstverständliche, sondern
konnte bei seiner Einführung auf eine            beruht auf gezielten Aneignungs-, Ver-
umfängliche       juristisch-kriminologi-        arbeitungs- und Anwendungsprozes-
sche Aufbereitung in der deutschen               sen. Im Sinne einer demokratisch-dis-
Wissenschaftslandschaft        zurückbli-        tributiven Machtorganisation bedürfen
cken. Durch die Einführung einer                 gerade diese konkreten Prozesse recht-
neuen Technologie ohne vorangegange-             licher Begleitung und Einhegung: Aus
nen und begleitenden wissenschaftli-             dem durch die Verfassung garantierten
chen Diskurs können sich in die Tech-            Recht auf informationelle Selbstbestim-
nologie und ihre Verwendung in der               mung folgt dabei, dass personenbezoge-
Praxis jedoch problematische Modalitä-           nes Predictive Policing, das eine Viel-
ten und Grundannahmen einschleifen,              zahl sensibler Daten über Bürger verar-
denen im Nachhinein nur noch schwer              beitet, nur bei Vorliegen einer konkre-
beizukommen ist. Es geht dabei nicht             ten Gefahr und nur zum Schutz hoch-
nur darum, Rechtskonformität der                 rangiger Rechtsgüter eingesetzt werden
Technologie sicherzustellen, sondern             darf, sowie, dass ausreichend Kontrol-
zur demokratischen Diskussion zu stel-           len die Rechts-konformität des Verfah-
len, welche Wertentscheidungen über-             rens sicherzustellen haben.
haupt in einer Technologie verkörpert              Aus dem Rechtsstaatsprinzip und
werden sollen. Ist eine Technologie ein-         dem Menschenwürdekern des Rechts
mal eingeführt, kann eine dann erst              auf informationelle Selbstbestim-
entstehende Diskussion nicht mehr in             mung, der es untersagt, Menschen
gleichem Maße auf die Ausgestaltung              zum bloßen Objekt einer Maschine zu
des Programms Einfluss nehmen. Ent-              machen, fließt zudem ein Verbot der
scheidende Weichenstellungen sind                Verwendung systemimmanent intrans-
dann bereits ohne Berücksichtigung

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parenter Algorithmen zur Krimina-                  III. Gesamtgesellschaftliche Risiken
litätskontrolle, d.h. der Verwendung              der »Algorithmischen Wende«
von Algorithmen, deren innere Zusam-
menhänge selbst von Experten im                    Überblick
Nachhinein nicht mehr im Detail
nachvollzogen werden können. Dies                Selbst bei Einhaltung des rechtlichen
schließt somit z.B. den zukünftigen              Rahmens wohnen personenbezoge-
Einsatz neuronaler Netze, einer beson-           nem Predictive Policing und der
ders intransparenten Form künstlicher            dadurch angestoßenen »algorithmi-
Intelligenz, für personenbezogenes               schen Wende« der Kriminalitätskon-
Predictive Policing aus.                         trolle Risiken für Gesellschaft und
  Personenbezogenes Predictive Poli-             Rechtsstaat inne. Die neuen Herausfor-
cing ist schließlich entgegen weitver-           derungen durchziehen die Krimina-
breiteter Annahmen nicht von Natur               litätskontrolle dabei auf verschiedenen
aus neutraler und objektiver als Ent-            Ebenen. Sie zeigen sich zum einen auf
scheidungen menschlicher Polizeibe-              der Ebene des Strafrechts. Dort kann es
amter, sondern reproduziert beste-               durch die neuen datensammelnden
hende gesellschaftliche Vorurteile, z.B.         und -auswertenden Technologien zu ei-
gegenüber Minderheiten, wenn diese               ner Fokusverschiebung von der kon-
Vorurteile in den Daten, die dem jewei-          kreten Tat einer Person hin auf eine all-
ligen Algorithmus zugrunde liegen,               gemein verwerfliche »Lebensführung«
nicht erkannt und beseitigt werden.              einer Person kommen und zum Wie-
Mit Blick auf eine Verletzung des ver-           deraufleben der im Dritten Reich be-
fassungsrechtlichen Diskriminierungs-            liebten Figur der »Lebensführungs-
verbots besteht angesichts der Komple-           schuld«, d.h. die ausschlaggebende Be-
xität und der Intransparenz der ver-            rücksichtigung des Lebenswandels ei-
wendeten algorithmischen Systeme                 ner Person bei der Bestimmung ihrer
die Gefahr, dass der Überprüfungsmaß-          »Strafwürdigkeit«. Dies droht in eine
stab der Gerichte zu einer bloßen                unzulässige Allgemeinabrechnung mit
Willkürkontrolle verkümmert, ein                der gesamten Lebensführung und ei-
Überprüfungsmaßstab also, der hinter           ner »Durchleuchtung« der Bürger zu
der gegenwärtigen Intensität gerichtli-          münden. Zum anderen manifestiert
cher Kontrollen zurückbleibt.                    sich die »algorithmische Wende« auch
  Insgesamt stellt personenbezogenes             auf der Ebene der gesellschaftlichen
Predictive Policing damit ein Risiko im          Wahrnehmung von Polizeiarbeit. Dort
Sinne einer Aushöhlung einer Vielzahl            kann es – wie erste Studien andeuten –
verfassungsrechtlicher Garantien dar.            durch einen von Bürgern empfunde-
Es kann deshalb in Deutschland nur in            nen Mangel an Verfahrensgerechtig-
engem rechtlichem Rahmen und unter               keit intransparenter prädiktiver Algo-
strenger Einhaltung der in IV. zu skiz-          rithmen zu einem Legitimitätsverlust
zierenden Transparenz- und Kontrol-              der Polizei kommen. Auf Ebene der In-
linfrastrukturen gestattet werden.               stitutionen droht zudem ein Relevanz-
                                                 verlust der Kriminologie gegenüber

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den Computerwissenschaften. Damit                große Gefahr sah Arendt dabei in der
verbunden treten Fragen nach gesell-             Unfähigkeit von Menschen, über die
schaftlichen Ursachen kriminellen                Tragweite ihres eigenen Tuns nachzu-
Verhaltens hinter bloßen statistischen           denken. Diese Unfähigkeit könne un-
Korrelationen zurück. Um die techni-             ter gewissen Umständen nahezu jeden
sche Entwicklung computerwissen-                 durchschnittlichen Menschen befal-
schaftlich fundiert, kritisch und aus            len, worin Arendt gerade die »Banali-
unabhängiger Perspektive begleiten zu            tät« des Bösen sieht.
können, muss die Kriminologie sich               Es soll hier prädiktiven Algorithmen
detailliert mit Prozessen maschinellen           selbstverständlich nicht unterstellt
Lernens auseinandersetzen und eine               werden, dass sie linear zu Verbrechen
neue Subdisziplin der »Digitalen Krimi-          gegen die Menschlichkeit führen. Und
nologie« ausbilden, wozu diese Arbeit            dennoch ist das Konzept der »Gedan-
einen ersten Anstoß leisten möchte.              kenlosigkeit« auch im algorithmischen
Die Verwendung von prädiktiven Algo-             Kontext nützlich, da es zum Ausdruck
rithmen befördert schließlich und am             bringt, wie sich Menschen in einem
zentralsten – in Anlehnung an Hannah             System auf die Entscheidungen ande-
Arendt – eine »selbstauferlegte Gedan-           rer verlassen, diese nicht hinterfragen,
kenlosigkeit« der Kriminalitätskon-              sie schlicht befolgen. Als Rechtferti-
trolle, d.h. eine Situation, in der der          gung wird auf die höhere Autorität und
Mensch das eigene Denken ausblendet              das Bedürfnis der Regelbefolgung im
und sich, eingebunden in ein hierar-             Interesse des Funktionierens des Sys-
chisches System, völlig auf die Ent-             tems verwiesen. Diese Situation ist mit
scheidungen anderer verlässt, ohne               dem Umgang von Menschen mit dem
diese selbst zu hinterfragen oder an ei-         Ergebnis algorithmischer Berechnun-
genen Wertmaßstäben zu messen.                   gen durchaus vergleichbar.
                                                   Obwohl algorithmengestützte Sys-
Insbesondere »selbstauferlegte Gedanken-         teme zunächst nur als ein dem Nutzer
losigkeit«                                       untergeordnetes Werkzeug konzipiert
                                                 wurden, kann ihnen in der Praxis eine
  Mit dem Begriff der »Gedankenlosig-            umfassendere Bedeutung zugemessen
keit« beschrieb Arendt, wie gewöhnli-            werden. Sie können eine Rolle ähnlich
che Menschen im Dritten Reich durch              einer dem Nutzer übergeordneten Au-
das Ausschalten ihres selbständigen              toritätsfigur annehmen, wie die eines
Denkens Kriegsverbrechen begehen                 Vorgesetzten, dessen »Anordnungen«
konnten, ohne dezidiert »böse« Absich-           ohne Hinterfragen ausgeführt werden.
ten zu haben. Wesentlicher Faktor für            Studien zu Entscheidungsunterstüt-
das Zustandekommen einer solchen                 zungssystemen im medizinischen Be-
Haltung war die Einbindung in einen              reich sowie bei Flugzeugpiloten haben
bürokratischen Apparat. Der NS-                  gezeigt, dass es Menschen sehr schwer-
Kriegsverbrecher Eichmann etwa be-               fällt, sich gegen das Ergebnis algorith-
rief sich wiederholt darauf, lediglich           mischer Berechnungen (ähnlich derer
Anweisungen befolgt zu haben. Die

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des personenbezogenen Predictive Po-             Gewissheit, die der Algorithmus zu
licing) zu entscheiden, und zwar selbst          bieten scheint, abnehmen lässt. Je stär-
dann, wenn das Ergebnis des Algorith-            ker ein Prozess automatisiert wird,
mus eigentlich nur einen von mehre-              desto leichter kann es bei Menschen zu
ren Entscheidungsfaktoren darstellen             Gedankenlosigkeit und Gleichgültig-
sollte. Dieses als »Automation Bias« be-         keit gegenüber seinen Ergebnissen
zeichnete und empirisch erforschte               kommen. Je stärker die Kriminalitäts-
Phänomen führt dazu, dass Menschen               kontrolle automatisiert wird, desto
es unterlassen, zusätzlich zu einem al-          leichter ist es für die das System nut-
gorithmischen Ergebnis selbständig In-           zenden Beamten, sich für auf Grund-
formationen einzuholen und zu bewer-             lage des Systems vollzogene Handlun-
ten, ja sogar deutlich gegen das Ergeb-          gen nicht mehr verantwortlich zu füh-
nis des Algorithmus sprechende An-               len.
haltspunkte bewusst ignorieren. Der                Es ist somit festzuhalten, dass algo-
eigenen Expertise wird dabei weniger             rithmengestützte Entscheidungssys-
vertraut als dem Ergebnis des komple-            teme der Logik ihrer Struktur nach
xen, undurchsichtigen algorithmi-                dazu neigen, die Gedankenlosigkeit
schen Prozesses, das dem Menschen                der Nutzer zu fördern, d.h. dazu füh-
mit der gesetzten Selbstverständlich-            ren, dass Nutzer keine umfassende Ab-
keit des Faktischen entgegentritt. Dies          wägung aller Faktoren einer Situation
gilt umso mehr, wenn mit Blick auf               vornehmen und die Folgen ihrer Hand-
Zeitdruck und Rationalisierung die               lungen nicht vollumfänglich beden-
Entscheidung gegen »die Maschine« ei-            ken. Selbstauferlegt ist diese Gedan-
nen erhöhten Zeit- und Rechtferti-               kenlosigkeit insofern zu nennen, als
gungsaufwand mit sich bringt als die             wir uns als Gesellschaft in der »algo-
Entscheidung mit »der Maschine«. Im              rithmischen Wende« durch die Einfüh-
Ergebnis führt dies dazu, dass algorith-         rung von personenbezogenem Predic-
mische Berechnungen, die lediglich als           tive Policing sehenden Auges selbst in
Entscheidungsunterstützung (bloßes               ein System begeben, das Gedankenlo-
Werkzeug) gedacht waren, faktisch die            sigkeit fördert.
Entscheidung des Menschen völlig de-
terminieren und der Mensch die ei-                 IV. Mindestanforderungen: Transpa-
gene Verantwortung an die algorithmi-              renz-Trias
sche Vorgabe auslagert. In dieser Kons-
tellation wird letztendlich der Algo-              Den mit personenbezogenem Predic-
rithmus mit seiner vermeintlich siche-           tive Policing einhergehenden Risiken
ren Wahrscheinlichkeit zur entschei-             für das Recht auf informationelle
denden Autoritätsfigur. Der menschli-            Selbstbestimmung, das Diskriminie-
che Handelnde gibt sich angesichts der           rungsverbot und das Rechtsstaatsprin-
Zumutung einer Entscheidung einer                zip sowie für die Gesellschaft als Gan-
»Gedankenlosigkeit« anheim. Unsicher-            zes muss durch neue Transparenzinfra-
heit fordert vom Menschen normative              strukturen entgegengetreten werden.
Entscheidungen, die er sich durch die            Diese neuen Strukturen müssen dabei

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Entwicklungs- wie auch Einsatzmodali-            Prognosegenauigkeit und Fehlerrate
täten prädiktiver Algorithmen umfas-             (wie viele fälschlich als »hochgefähr-
sen. Es ist von zentraler Bedeutung,             lich« eingestufte Menschen sind akzep-
eine bewusste Ausgestaltung algorith-            tabel, um eine tatsächlich »hochgefähr-
mischer Systeme nicht erst im Stadium            liche« Person durch den Algorithmus
des Einsatzes in Angriff zu nehmen,              aufzuspüren?), festzulegen und deren
sondern bereits das Entwicklungssta-             Einhaltung zu überprüfen.
dium zu lenken. Denn die wichtigsten               Die weitere Entwicklung von perso-
Weichenstellungen eines algorithmi-              nenbezogenen Predictive Policing-Sys-
schen Systems finden im Entwicklungs-            temen in Deutschland sollten erst nach
stadium statt.                                   Schaffung solch einheitlicher Stan-
  Die neuen Transparenzinfrastruktu-             dards vorgenommen werden, denn erst
ren haben dabei eine Transparenz-Trias           die Ausarbeitung von präzisen Quali-
von öffentlichen Registrierungspflich-           tätsstandards macht eine klare Sanktio-
ten, subjektiven Betroffenenrechten              nierung mangelhafter Systeme mög-
und staatlichen Kontrollstellen zu um-           lich. Hersteller von personenbezogenen
fassen. Erstens sind auf dem Wege der            Predictive Policing-Systemen können
Protokollierung festzuhaltende Ent-              ihr Modelltraining nur unter Einhal-
scheidungen der Designphase eines Al-            tung entsprechender Kriterien optimie-
gorithmus sowie seine abstrakten Wirk-           ren, wenn diese zuvor einheitlich fest-
prinzipien noch vor Einsatz des Algo-            gelegt wurden.
rithmus in öffentlich einsehbarer                  Diese zentrale Mindestanforderung ei-
Weise bei einer staatlichen Registrie-           ner Transparenz-Trias sowie zahlreiche
rungsstelle zu hinterlegen. Zweitens ist         weitere Mindestanforderungen – wie
dem einzelnen Betroffenen einer algo-            etwa zu technischen Maßnahmen, um
rithmischen Analyse Zugang zu einer              die Unvoreingenommenheit des Algo-
Begründung seines spezifischen Ergeb-            rithmus sicherzustellen, oder zur Aus-
nisses zu geben. Und Drittens hat, zu-           wahl der Datengrundlage eines Algo-
sätzlich zu diesen Offenlegungspflich-           rithmus – hat meine Arbeit in einer
ten, als Kernstück der neuen Transpa-            kompakten,        rechtlich   fundierten
renzinfrastrukturen eine systematische           »Checkliste« zusammengefasst, die sich
staatliche Kontrolle von personenbezo-           an computerwissenschaftliche Ent-
genem Predictive Policing stattzufin-            wickler, Entscheidungsträger in Polizei
den, sowohl vor seinem ersten Einsatz            und Politik sowie Gerichte richtet. Die
als auch in regelmäßigen Abständen               »Checkliste« kann bei der Entscheidung
während des Einsatzes. Eine neu zu               über Entwicklung, Einsatz sowie Über-
schaffende staatliche Kontrollstelle hat         prüfung der Rechtskonformität von
dabei den Algorithmus systematisch               Predictive Policing-Projekten in der Pra-
u.a. auf Verletzungen des Rechts auf in-         xis unmittelbar herangezogen werden.
formationelle Selbstbestimmung und                 Mit    den       Mindestanforderungen
des Diskriminierungsverbotes zu unter-           möchte meine Arbeit – im Anschluss an
suchen. Darüber hinaus hat die Kon-              die verfassungsrechtlichen und grund-
trollstelle eigene Standards, u.a. für

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Deutscher Studienpreis 2020 | 1. Preis Geistes- und Kulturwissenschaften
Lucia Sommerer

lagenorientierten theoretischen Analy-             Die eben skizzierten Herausforderun-
sen unter (II.) und (III.) – nicht nur Aus-      gen müssen dabei bereits heute adres-
gangspunkt einer Neuorientierung der             siert werden. Es mag zwar sein, dass zu-
Debatte um Polizeitechnologien sein              künftige Generationen oder zumindest
und erstmals umfassend Handlungsop-              deren wohlsituierte Eliten amüsiert
tionen in der komplexen Balance zwi-             schmunzeln werden, wenn sie auf
schen Sicherheit und Freiheit in der »al-        meine kritischen Analysen einer algo-
gorithmischen Wende« aufzeigen, son-             rithmengesteuerten Kriminalitätskon-
dern sie möchte der Praxis durch die             trolle im frühen 21. Jahrhundert zu-
Checkliste unmittelbar ein Hilfsmittel           rückblicken. Möglicherweise empfin-
an die Hand geben, um so den Wissens-            den sie dabei das gleiche Vergnügen,
transfer in die anwendende Kriminalpo-           mit dem wir heute Warnungen Platos
litik zu sichern.                                vor der Technologie des Schreibens o-
                                                 der Trithemius’ vor den Auswirkungen
    V. Ausblick                                  der Druckerpresse lesen. Es plagten die
                                                 Warnenden Sorgen, dass sich der Kon-
  Wie dargelegt, wohnen personenbe-              trollverlust, der mit der systematischen
zogenem Predictive Policing grundle-             und massenweisen Verlagerung von
gend transformative Auswirkungen auf             Wissensproduktion und -speicherung
die Kriminalitätskontrolle und den Um-           von Individuen auf externe Medien ver-
gang der Gesellschaft mit Kriminalität           bunden ist, negativ auf Mensch und Ge-
als Ganzes inne. Eine einmal einge-              sellschaft auswirken würde.
führte und sich bewährende personen-               Ein weniger begünstigtes Segment zu-
bezogene Predictive Policing-Technolo-           künftiger Gesellschaften, das aus Bür-
gie hat das Potential, auch in andere Be-        gern bestehen wird, die nicht in der
reiche der Kriminalitätskontrolle über-          Lage waren, von digitalen Fortschritten
tragen zu werden. Ein einmal zu prä-             zu profitieren, und unter negativen al-
ventiven Zwecken von der Polizei im-             gorithmischen Annahmen über sich zu
plementiertes System könnte etwa                 leiden haben, werden auf die Weichen-
ohne große technische Änderungen zur             stellungen dieses Jahrhunderts jedoch
repressiven Polizeiarbeit zur Aufklä-            möglicherweise vorwurfsvoller zurück-
rung von Straftaten verwendet oder für           blicken und die Frage stellen, warum
Risikoprognosen vor Gericht herange-             keine Sicherungen für Rechtsstaatlich-
zogen werden. Die detaillierte Ausei-            keit und Grundrechtsschutz in die
nandersetzung mit den rechtlichen und            neuen Technologien mit aufgenommen
tatsächlichen Grenzen prädiktiver Al-            wurden. Die vorgestellte Arbeit über al-
gorithmen bei der Polizei, z.B. mit der          gorithmengesteuerte Systeme in der
Frage nach Kontrollinfrastrukturen,              Kriminalitätskontrolle soll einen ersten
verspricht somit Erkenntnisse, die auch          Schritt zur Schaffung solcher (rechtli-
jenseits des Polizeirechts nutzbar sein          cher und technischer) Sicherungen be-
werden.                                          reits im Stadium des Algorithmende-
                                                 signs darstellen.

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