Essay zu Skinners "Walden Two" im Verhältnis zu Thoreaus "Walden"
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Universität Bremen Fachbereich 10: Germanistik B.A. SS 2011 Seminar: Utopien im deutschsprachigen Roman des 18. Jahrhunderts [NL] (10-79-4-4a-07) Dozent: Christian Schienke Essay zu Skinners „Walden Two“ im Verhältnis zu Thoreaus „Walden“ Gibt es ein richtiges Leben im Falschen? Die Verneinung dieser Frage durch Adorno wird immer wieder gerne aufgegriffen. Allerdings sollte, nicht nur, weil die Unzulänglichkeiten der adornoschen Theorie in den vergangenen Jahrzehnten hinreichend diskutiert wurden, sondern da jedes Argument, das seinen Wahrheitsanspruch allein aus der vermeintlichen Autorität des referierten Urhebers schöpft, zwangsläufig ein ungültiges bleiben muss, diese Verneinung nicht unhinterfragt hingenommen werden. In der Geschichte hat es immer wieder Menschen gegeben, die aus der Erkenntnis eines sie umgebenden falschen Lebens die Konsequenz zogen, etwas anderes zu wagen. Henry David Thoreaus Versuch etwa, sich durch den bewussten Verzicht auf bestimmte zivilisatorische Standards seiner Zeit – wie etwa eine Erwerbstätigkeit – mehr mit sich selbst und seiner unmittelbaren Umwelt auseinander zu setzen, verfolgte das Ziel eines bewussteren Lebens und somit eines Lebens, das es überhaupt verdient, so genannt zu werden. In „Walden“ schreibt Thoreau über die Erlebnisse seines zweijährigen Aufenthalts in einer selbsterrichteten Blockhütte in Walden, drei Meilen von der nächsten Stadt entfernt in den Jahren 1845 -1847. Wie Wezels Robinson erzielt er Erfolg durch schlichtes Ausprobieren, wenn er z.B. die Hütte baut oder seine eigene Bohnenzucht anlegt. Die Beobachtungen, die Thoreau im Laufe dieser zwei Jahre macht, nimmt er als Ausgangspunkt für allgemeine Betrachtungen über das Leben. Häufig setzt er hierbei Mikro- und Makrokosmos miteinander in Bezug und zieht bestimmte Naturphänomene als Allegorien für das menschliche Leben heran. Am Ende läuft der Text auf eine Art Appell an die Menschen heraus, ein bewussteres Leben zu führen, was eine Rückbesinnung auf die Natur und eine Abwendung von Konsum- und Konkurrenzgedanken beinhaltet. Knapp hundert Jahre später verfasste der Psychologe Burrhus Frederic Skinner einen utopischen Roman, dessen Titel sich in einer an Explizität nicht mehr zu überbietenden Weise auf Thoreaus Buch bezieht: „Walden Two“1. Wie in utopischen Romanen üblich, wird eine alternative Gesellschaftsordnung entworfen, die aber weder auf einer entlegenen Insel, in einer anderen Zeit noch an etwaigen anderen schwer erreichbaren Orten wie etwa fremden Planeten, sondern mitten in den Vereinigten Staaten der skinnerschen Gegenwart situiert wird. So wird klar, dass Skinner von der relativ unmittelbaren Realisierbarkeit seiner Überlegungen überzeugt war. Kernpunkt dieser 1 Unbegreiflicherweise wurde trotz mehrmaliger expliziter Bezugnahme auf Thoreau innerhalb des Textes (am Ende kauft sich der Erzähler ein Exemplar von „Walden“) der Titel und somit auch der Haupthandlungsort der Geschichte in der deutschen Übersetzung in „Futurum 2“ geändert. Dies scheint besonders grotesk, wenn die Frage auftaucht, ob die in Futurum Zwei angewandten Praktiken denn mit den Prinzipien aus „Walden eins“ vereinbar seien.
Überlegungen war die Verhaltensforschung, genauer: das Konzept der „positiven Verstärkung“. Skinner, der als einer der prominentesten Vertreter des „Behaviorismus“ gelten darf, vertrat auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten die Ansicht, dass durch eine systematische Belohnung das Verhalten von Menschen in bestimmte Bahnen zu lenken sei. Die Erkenntnisse der Verhaltensforschung sind es nun, die aus dem Dilemma anderer Utopie-Fantasien, nämlich der Veranlagung des Menschen zur Lasterhaftigkeit und dem Scheitern des alternativen Gesellschaftsentwurfes daran, herausführen. „Walden Two“ ist als gigantisches Laboratorium für Verhaltensforschung angelegt – ein Gelände auf dem mehrere tausend Menschen gemeinsam das bestmögliche Leben führen; unter der ständigen Beobachtung geschulter Psychologen und Verhaltensforscher, die an der permanenten Optimierung des Systems arbeiten. Durch die Methoden der „positiven Verstärkung“, sowie einer kommunistisch anmutenden Verteilungslogik ist es innerhalb weniger Jahre gelungen, den Menschen alle negativen Emotionen, wie Aggression, Depression oder Neid zu nehmen. Der entscheidende Unterschied zu Thoreau besteht in dem Versuch der Übertragung der für den einzelnen Menschen geltenden Erkenntnisse auf ein Gemeinschaftswesen, durch die Skinner versucht, eine Kohärenz zwischen seinem Werk und „Walden“ zu konstruieren. Viele der Vorwürfe, die sich gegen Skinners Entwurf erheben ließen, werden in dem Buch selbst reflektiert. Eine der nur rudimentär ausgearbeiteten, da ausschließlich als Staffage für die Ausbreitung der Gesellschaftsideen fungierenden Figuren hat Skinner von vorneherein als notorischen Nörgelkopf konzipiert. So überzeugend, ja geradezu zwingend die Argumente des „Walden Two“-Masterminds Frazier auch daher kommen, in fast manisch zu nennender Weise verweigert sich Castle 2 der Einsicht, dass es keine bessere Gesellschaftsform als die ihm hier vorgeführte geben kann und beharrt auf seinem im Kontext der Geschichte absurd wirkenden Vorwurf, dass das Fehlen von Demokratie zu einer moralisch verwerflichen Form der Unfreiheit führe. Er ist es auch, der einen Vergleich mit Huxleys „Brave New World“ vornimmt und Frazier, der sich selbst an anderer Stelle unumwunden mit Gott vergleicht, als Faschisten bezeichnet. Offensichtlich war Skinner klar, dass ihm der antidemokratische Impetus und die Idee des „guten Führers“ Vorwürfe von einer Gesellschaft einbringen musste, in der sich das Volk pro forma selbst regiert. Deswegen versucht er nachzuweisen, dass seine stets um die Zufriedenheit der Einwohner bemühten Experten letztlich mehr Mitbestimmung garantieren, als es eine parlamentarische Demokratie jemals könnte. Im Vorwort der Neuauflage von 1969 – also lange nachdem sein „Verbal Behavior“ durch die harsche Kritik Noam Chomskys und anderer nicht mehr als Standartwerk, sondern vielmehr als von veralteten und unzureichenden Ansichten über die menschliche Kognition geprägt betrachtet wurde – schreibt Skinner, dass er, würde er „Walden Two“ später geschrieben haben, „abweichende Verhaltens-weisen“ stärker berücksichtigt hätte. Tatsächlich liegt hier eine der größten Schwächen seines Romans: Es gibt keinerlei menschliche Störfaktoren. Natürlich liegt es nahe eine ideelle Gemeinschaftsfantasie als komplett reibungslos zu konzipieren, nur ist der eindeutige Appell Skinners, „Walden Two“ Wirklichkeit werden zu lassen, auf eine realistische Darstellung angewiesen. Gerade bei neuen, durch ein Aufwachsen in der Außenwelt vorbelasteten Mitgliedern scheint es unwahrscheinlich, dass sie ohne weiteres auf das neue System anspringen, dass sie sich problemlos von Konkurrenz- und Besitzdenken freimachen können. Tatsächlich liegt in dem Umgang mit Konkurrenz- und Besitzdenken bei Skinner und vielleicht auch schon bei Thoreau ein Problem, das aufzulösen nicht 2 Es liegt nahe, „Castle“ als sprechenden Namen zu lesen, der mit seiner an monarchisch regierte Gesellschaften gemahnenden Konnotation auf ein hoffnungslos rückständiges und überholtes Weltbild verweist.
ganz einfach anmutet. Trotz ihrer Befürwortung dessen, was sie jeweils unter einem „einfachen Leben“ verstehen, sind beide vernarrt in den Gedanken, welch großartigen künstlerischen Leistungen der Mensch zu vollbringen in der Lage wäre, wäre sein Geist erst vollkommen erwacht. Nun dürfte jedoch zumindest Skinner - in Bezug auf die von ihm am ausführlichsten gepriesene Kunstform, die Literatur, aber eigentlich auch Thoreau – bewusst gewesen sein, dass durch seine technische Reproduzierbarkeit das Kunstwerk zum reinen Konsumgut verkommt 3. Es stellt sich also die Frage, weshalb Kunst und Kultur im „einfachen Leben“ ein so hoher Stellenwert zukommen sollte, wenn auf der anderen Seite der sogenannte Konsum auf ein „Minimum“ zu reduzieren sei. Was unterscheidet die Filme, die in den Kinosälen von „Walden Two“ vorgeführt werden, damit die Mitglieder über die abstruse Affektbeladenheit von Liebesbeziehungen in der Außenwelt und ähnliches informiert werden, von „unnötigen“ Luxusgütern, die Skinner anzuprangern offenbar bemüht ist und über deren genaue Beschaffenheit wir nur Mutmaßungen anstellen können? Sind es importierte Lebensmittel? Automobile? Eindeutig bleibt bloß: Der „gute“ Konsum von Kultur wird hier unreflektiert dem „bösen“ Konsum von materiellen Gütern unbestimmter Art gegenüber gestellt. Was die Herkunft dieser Kultur angeht, so stellt sich aber vor allem die Frage, ob es nicht ein wenig blauäugig von beiden Autoren ist, anzunehmen, dass ihre perfekt ausgeglichenen Idealtypen zu dieser fähig sind. In Skinners Utopie wird zwar eine Respektbekundung gegenüber Leistungen im kulturellen Bereich aufrecht erhalten, individuelle Dankbarkeit hingegen ist komplett abgeschafft und ebenso – was für die folgende Argumentation wesentlich wichtiger ist – die Möglichkeit der Profilierung durch Konkurrenz. Auch wenn es schwierig ist in dieser Hinsicht ohne umfassende Kenntnisse der menschlichen Psychologie zu argumentieren, stellt sich doch die Frage, in wie fern für ein Individuum der Anreiz besteht, künstlerisch aktiv zu werden, wenn es keinen Ausblick auf einen Lohn gibt, der über Beifall hinaus geht. In Bezug auf Thoreau lässt sich das eventuell noch radikaler formulieren: Würde ein Mensch, der zur perfekten Symbiose mit der Natur (zurück)gefunden hat, es für nötig halten, wie Thoreau ein Buch zu schreiben? Oder noch mehr: Wären Bücher, in einer Gesellschaft die nur aus solchen Menschen besteht, noch von Nöten, wenn es niemanden mehr gäbe, den es, wie das ja bei und durch Thoreaus Buch (noch) der Fall ist, zu bekehren gelte? Welchen Zweck hätte eine Dichtung in einer Welt, in der es nicht mehr nötig ist, den Sinn der Menschen zu heben, ihnen einen Halt zu geben, sie gar zu irgendetwas zu bekehren? Letztlich drückt sich die Antwort auf diese Frage bereits in dem Holzfäller aus, den Thoreau im Kapitel „Besuch“ beschreibt und dessen einzigen Makel er in seinem Mangel an Bewusstsein, das er an dieser Stelle mit intellektueller Tätigkeit gleichsetzt, zu erkennen glaubt. Auf der anderen Seite gibt er sich beeindruckt von den weltanschaulichen Betrachtungsweisen, zu denen der Holzfäller offenbar allein aus selbstständigen Überlegungen heraus gelangt ist. Es ist offensichtlich, dass der Mangel an Kultur von Thoreau nur deshalb attestiert werden kann, weil er als Gebildeter daran gewöhnt und von ihrer Wichtigkeit überzeugt ist. Dass es dem Holzfäller darum tatsächlich an etwas fehlt, geht an keiner Stelle hervor. Thoreaus Bedürfnis selbst Kultur zu schaffen, indem er ein Buch schreibt, geht einzig und allein aus dem Wunsch hervor, seine Erkenntnisse mitzuteilen, Anhänger zu finden, zu bekehren, letztlich: einen Lohn für seine dichterische wie philosophische Leistung zu ernten, der sich nicht allein auf die Anerkennung seines Könnens beschränkt. Es ist bezeichnend, dass „Walden“ erst in späteren Jahren entstand, als Thoreau das durchaus nicht als Eremiten-Dasein zu verstehende Leben in den Wäldern wieder aufgegeben hatte. Wenn Skinners (oder Fraziers) „Walden Two“ für sich in Anspruch nimmt, in mannigfacher Hinsicht die Realisierung von Thoreaus Erkenntnissen in Form eines Gemeinwesens zu sein, so fragt sich, wie gesagt, welches Bestreben zur Kunst bestehen kann, wenn es keinen Erfolg in dieser erweiterten 3 Es erscheint mir notwendig zu dieser Phrase die Namen Benjamin und – abermals – Adorno anzuführen, ohne dass ich dies weiter würde vertiefen wollen.
Fassung des Begriffes mehr geben kann, da es kein Bewusstsein mehr gibt, das erweitert werden könnte. Eine ähnliche Frage nach Motivation ergibt sich bezüglich Sexualität in „Walden Two“. Diese wurde dort nämlich formalisiert. Die Menschen sind frei in ihrer Partnerwahl, nur in Einzelfällen kommt es vor, dass die Experten von einer Verbindung abraten. In erster Linie aber sind Liebe und Sex von ihrem spielerischen Anteil befreit worden, was im Klartext zu bedeuten scheint: Es gibt kein Flirten, keine Unsicherheit, keine sexuelle Spannung mehr. Dies wurde unter anderem dadurch bewirkt, dass freundschaftliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern nicht mehr verpönt sind. Abseits dieses inzwischen in großen Teilen der westlichen Welt Wirklichkeit gewordenen Ideals, gibt es noch andere, im Weiteren zu erörternde Aspekte des Komplexes Liebe und Sexualität, die aus der Perspektive des einundzwanzigsten Jahrhunderts in „Walden Two“ als Anachronismen erscheinen. Diese stehen teils in direktem Bezug zu der aufzuwerfenden Frage, in wie weit eine Entspannung der Geschlechterverhältnisse nicht letztlich das Funktionieren von sexuellen Beziehungen behindern muss. Trotz einem angeblich zwangsläufig aus der Entwicklung der Zivilisation resultierendem Zerfall klassischer Familienstrukturen, der dazu führt, dass Kinder nicht bei ihren Eltern, sondern in der Gemeinschaft, sozusagen als Gemeingut aufwachsen, wird die monogame Beziehung zwischen Mann und Frau als die denkbar beste und somit einzig existente in „Walden Two“ gesetzt. Durch den veränderten Umgang der Geschlechter miteinander komme es angeblich viel seltener als in der Außenwelt zu Seitensprüngen und wenn, dann wäre das nicht so dramatisch und bringe manchmal die Partner auch wieder enger zusammen. Es scheint absurd, dass in einer Welt, in der Eifersucht abgeschafft und Kindererziehung zur Aufgabe der Gemeinschaft geworden ist, die monogame Ehe weiterbesteht. Wird allerdings bedacht, dass Frazier seinen Gästen gegenüber bereits das Kinderkriegen vor der Eheschließung verteidigen muss, da dieses ihnen wohlmöglich barbarisch erscheine, so erklärt sich möglicherweise, gegen welche Diskurse Skinner sich nicht zu sehr auflehnen konnte oder wollte. Auch die angedeutete Bewertung von Onanie und homosexueller Aktivität als „krankhafte Verirrungen“ sind aus heutiger Sicht hochgradig problematisch, wenngleich sie die Frage aufwerfen, in wie weit durch die in „Walden Two“ betriebene Verhaltensoptimierung, die ja zwangsläufig eine kulturelle ist, auch die Heteronormativität zu ihrer Perfektion getrieben werden könnte. Schließlich begreift auch die postfeministische Theorie in Anknüpfung an Freud „abweichende“ sexuelle Präferenzen und Identitäten als Unfähigkeit zur Anpassung an die kulturelle, gesellschaftliche Norm, wenn auch bzw. gerade deshalb nicht als krankhaft oder „unnatürlich“. An dieser Stelle sollte vielleicht eingeschoben werden, dass wer in „Walden Two“ sich partout nicht mit einem der ganz im Sinne klassischer sozialistischer Forderungen auf vier Stunden pro Tag begrenzten Arbeitsangebote anfreunden kann, damit zu einem Fall für die allgegenwärtigen Psychologen wird. Abweichendes Verhalten wird also in verschiedener Hinsicht pathologisiert. Alle gesunden Menschen hätten demnach ein und dasselbe Ziel und das sei das Wohl der Gemeinschaft. Skinner gibt 1969 zu, einen Fehler begangen zu haben, als er diesen Grundsatz kritiklos von Marx übernahm. Dies ist wohl auch der Punkt, in dem Thoreau und Skinner am fundamentalsten divergieren. Denn in der Konklusion seines Buches fordert Thoreau dazu auf, einen Mann, der aus dem Takt tanzt, dies tun zu lassen, da er wohlmöglich schlicht einen anderen Takt höre und es das Beste sei, wenn jeder seinem eigenen Takt folge. In dieser Formulierung ist zumindest theoretisch die Möglichkeit für eine von der Norm abweichende sexuelle Identität angelegt, wenn auch bezweifelt werden muss, dass Thoreau diese befürwortet hätte. 4 4 Eine Ausnahme stellt hier vielleicht die Asexualität dar, denn Thoreaus Leben in Walden war ja von sehr asketischer Natur. Auch wenn wir von einer praktizierten Autoerotik nicht gänzlich absehen können, darf doch vermutet werden, dass Thoreau, den Diskursen seiner Zeit entsprechend, diese nicht für gut befinden konnte.
In „Walden Two“ ist dafür kein Platz. Da Menschen in „Walden Two“ grundsätzlich seltener krank werden als anderswo, da hier die Bedingungen einfach von vorneherein viel optimaler sind, treten „Verirrungen“ sexueller Vorlieben nicht auf. Können wir aber wirklich annehmen, dass Begehren sich über Erziehung in diesem Maße und Sinne steuern lässt? Auch wenn Freuds Ideen wie etwa der Ödipus-Komplex in den letzten Dekaden durchaus nicht kritiklos übernommen wurden, so wurde doch der Zusammenhang zwischen sexuellem Begehren und kulturellem Verbot nie gänzlich verworfen. Und auch wenn, wie in der Außenwelt ja auch, in „Walden Two“ die Heteronormativität nicht als ein komplexes System von Verboten, sondern als „natürliche Ordnung“ betrachtet wird, so ist sie natürlich nichts anderes. Frazier weist selbst in Bezug auf die Aufteilung der Bevölkerung auf mehrere „Waldens“ darauf hin, dass ja Vorsicht geboten sei, da bei den verwischenden Verwandtschafts- strukturen Inzest drohe. In „Walden Two“ wünscht man sich nämlich auch genetisch perfekte Menschen. Ein weiterer Aspekt, der Castle möglicherweise zu seinem Faschismus-Vorwurf führt. Ob eine auf der einen Seite so stark reglementierte, auf der anderen Seite so sehr von Spannungen befreite Sexualität in dem Sinne funktionieren könnte, wie Skinner es sich ausmalt, ist fraglich. Letztlich führen uns die obigen Ausführungen zu der allgemeinen abschließenden Frage, ob denn die menschliche Kultur nicht in erster Linie von den Unterschieden der Individuen, darüber hinausgehend aber auch von den Ungerechtigkeiten und Hierarchien die diese hervorbringen, lebt. Wahrscheinlich ist Geschichte nicht im Geringsten auf den Sozialismus als endgültiges Ziel ausgelegt. Wahrscheinlich ist das entscheidende Merkmal von Zivilisation, Ungerechtigkeiten bzw. Ungleichheiten zu manifestieren. Vor diesem Hintergrund scheint ein Individualismus, wie Thoreau ihn propagiert ein weit praktikablerer Weg zu einem „guten Leben“ als Skinners Gleichschaltungs-Phantasie. Dennoch sollte die Diskussion über den Begriff der „Freiheit“, die Skinner zum Ende seines Buches aufmacht, nicht unterschätzt werden. Ist eine Gesellschaft, in der alle durch psychologische Verhaltenssteuerung „das Richtige“ wollen, tatsächlich unfreier, als eine, in der die Interessen des Individuums sich stets mit gesetzlichen Vorgaben reiben? Natürlich kann man davon ausgehen, dass der Mensch im Prinzip in seinem Wollen frei ist und sich somit jeder immer wieder aufs Neue entschließt ein braver Bürger zu sein und nicht bei Rot über die Ampel zu gehen, unbezahlte Überstunden zu machen oder ähnliches. Nur sind all diese Entscheidungen an Angst gebunden. Wer beständig um seine Position in der Gesellschaft (was als eine Art Äquivalent zum „Überleben“ in früheren Zeiten oder an anderen Orten betrachtet werden darf) fürchten muss, mag weniger frei sein, als jemand, dessen Wollen sich allein auf das beschränkt, was zu erreichen ihm möglich ist. Fraziers Tiraden gegen das Konzept des sozialen Aufstiegs, den die Außenwelt propagiere und der zwangsläufig den Abstieg anderer bedinge, sind bestechend in einer Zeit, in der jede Partei diesen in ihre Wahlversprechen aufnimmt. Zu den Diskursen über Masturbation siehe ausführlich: Laqueur 2003.
Verwendete Literatur: Alexander, Ph.D. Charlotte A.: Thoreau’s Walden And Other Writings. New York 1965. Skinner, Burrhus Frederic: Futurum Zwei. Übersetzt von Martin Beheim-Schwarzbach, Reinbek bei Hamburg 1971. Thoreau, Henry David: Walden. Übersetzt von Friedrich Lang, Zürich 1945.
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