BTHG-Umsetzung: Eine Mammut-Aufgabe für alle Akteure
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IM FOKUS NDV 5/2021 Birgitta Neumann und Marie Kramp: BTHG-Umsetzung: Eine Mammut- Aufgabe für alle Akteure Das Bundesteilhabegesetz stellt die Eingliederungshilfe vor nie dagewesene Herausforde- rungen struktureller und kultureller Art. Träger der Eingliederungshilfe und Leistungser- bringer sehen sich gezwungen, einerseits Prozesse und Strukturen anzupassen, und ande- rerseits eine Wertekultur der gelebten Teilhabe in ihre Organisationen zu transportieren. Wie dieser gewaltige Changeprozess gelingen kann, erläutern wir in diesem Beitrag unter Berücksichtigung guter Beispiele aus der Praxis. Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist ein Paradigmenwechsel im System der Eingliederungshilfe. Nicht nur, weil es bei richti- ger Umsetzung zu mehr Teilhabe für Menschen mit Be- Birgitta Neumann hinderung führen kann, sondern auch, weil es Prozesse und ist Marktfeldleiterin für Unternehmen der Verantwortlichkeiten neu definiert und so eine ganze Branche Eingliederungs- und der Kinder- und auf den Kopf stellt – nach wie vor. Bei der gesetzlich ge- Jugendhilfe bei der contec GmbH, b.neumann@contec.de forderten Umsetzung des personenzentrierten Ansatzes sind alle Akteure des Sozialrechtlichen Dreiecks zu einem Um- denken gezwungen. Denn zu Ende gedacht geht es bei der Marie Kramp Umsetzung des BTHG um mehr als die Erfüllung rechtlicher ist Referentin für Presse- und Öffentlich- Vorgaben. Es geht um eine veränderte Haltung in den Köpfen keitsarbeit bei der contec GmbH, der Beteiligten und letztlich der ganzen Gesellschaft im Um- m.kramp@contec.de gang mit Menschen mit Behinderung. Aber wie kann die Mammut-Aufgabe gelingen, neben der gesetzeskonformen Anpassung von Prozessen und Strukturen auch noch einen kulturellen Change zu bewältigen? Sicher ist eins: Sowohl Trä- ger der Eingliederungshilfe als auch Leistungserbringer müs- führung immer noch vor Herausforderungen stellt. Schauen sen zunächst ihre eigenen Hausaufgaben machen und dann wir uns zunächst die strukturellen Veränderungen an, die das die zukünftige Zusammenarbeit ausloten. Wir wollen einen Gesamtplanverfahren für die Leistungsträger bedeutet, um näheren Blick auf den kulturellen Change werfen und gute die daraus resultierenden kulturellen, heißt werteorientierten Beispiele zeigen, wie diese Mammut-Aufgabe gelingen kann. Herausforderungen zu beleuchten. Ein Ziel des Gesetzgebers mit Verabschiedung des BTHG war 1. Hausaufgaben für Träger der Eingliede- es, den Trägern der Eingliederungshilfe mehr Steuerungs- fähigkeit zu geben. Außerdem soll das Teilhabe- bzw. Gesamt- rungshilfe: Beispiel Gesamtplanverfahren planverfahren das Prinzip der „Leistungen wie aus einer Hand“ sicherstellen. Die neuen Regelungen zum Gesamtplanver- Die strukturellen und kulturellen Veränderungen durch das fahren gelten seit dem 1. Januar 2018 und die Verantwortlich- BTHG sind für alle Akteure enorm. Ein Beispiel dafür, wie das keit dafür liegt immer beim Träger der Eingliederungshilfe, BTHG die Arbeit der Träger der Eingliederungshilfe beeinflusst, während bei einem Teilhabeplanverfahren auch ein anderer ist das Gesamtplanverfahren, das die Träger der Ein- Rehabilitationsträger sogenannter „leistender Rehabilitations- gliederungshilfe auch knapp drei Jahre nach seiner Ein- 262
NDV 5/2021 IM FOKUS träger“ sein kann, also derjenige, der das Teilhabeplanver- persönlichen Ziele einer leistungsberechtigen Person. Weite- fahren koordiniert und bündelt. res Ziel ist die Sicherung der gesetzlichen Anforderungen auf Bundes- und Landesebene. Kurz: Das Gesamtplanverfahren dient einem ideellen Ziel, dem Ziel der echten Teilhabe und Es geht um eine veränderte Haltung in Mitbestimmung des Menschen, sowie einem rechtlichen Ziel, der gesetzeskonformen Umsetzung des BTHG. Es reicht nicht, den Köpfen der Beteiligten und letzt- das eine Ziel zu verfolgen und das andere aus den Augen zu lich der ganzen Gesellschaft im Um- verlieren – Träger müssen erstens Prozessarbeit leisten, um gang mit Menschen mit Behinderung. dem gesetzlichen Anspruch zu genügen, und zweitens Werte- arbeit betreiben, um den Gedanken der personenzentrierten Leistungsgewährung zu leben. Für viele Träger der Eingliederungshilfe bedeutete die Um- stellung auf das Gesamtplanverfahren massive strukturelle und organisationale Veränderungen. Der Landschaftsverband 2. Prozesse und Strukturen a npassen Rheinland (LVR), größter überörtlicher Leistungsträger in Deutschland, hatte hingegen schon vor dem 1. Januar 2018 Nicht alle Träger der Eingliederungshilfe sind so weit wie die ein sehr ähnliches Verfahren zur Hilfeplanung, was ihm jetzt beiden großen Landschaftsverbände in NRW, die heute von zugute kommt. „Besonders viel hat sich an dem Prozess, ins- dem Verfahren von vorher profitieren. Möchten sich Träger besondere für unsere Leistungsberechtigten, seit der Um- professionell aufstellen, sollte in einem ersten Schritt eine stellung nicht verändert“, sagt Heike Brüning-Tyrell, Stabs- Auseinandersetzung mit den aktuell vorherrschenden Struk- stellenleiterin für die Umsetzung des BTHG im Dezernat turen und Prozessen erfolgen, personelle und organisatori- Soziales beim LVR. „Die größten Veränderungen liegen zum sche Rahmenbedingungen genau unter die Lupe genommen einen in dem neuen Bedarfsermittlungsinstrument, dem BEI_ werden. Dann gilt es, neue Soll-Prozesse zu definieren (und NRW, der Ablösung der Hilfeplankonferenz durch die Gesamt- umzusetzen) sowie die notwendigen Rahmenbedingungen zu plankonferenz sowie dem neuen Formular des Gesamtplans schaffen, die es braucht, um die oben genannten Ziele zu er- selbst.“ Was allerdings auch für den LVR neu ist bzw. sukzessi- reichen. ve zu weiteren Veränderungen führen wird, ist die alleinige Verantwortlichkeit für die Bedarfsermittlung der leistungsbe- Eine Orientierung bietet der Blick auf die notwendigen Kern- rechtigten Personen im Rahmen des Gesamtplanverfahrens. prozesse. Der Auftrag des Leistungsträgers laut BTHG ist es: „Das können wir realistisch gesehen natürlich nicht von heute auf morgen abbilden, deshalb unterscheiden wir aktuell noch den Bedarf zu ermitteln, zwischen der Bedarfserhebung und der Bedarfsermittlung. den Bedarf zu bewerten und Die Bedarfserhebung, also das Ausfüllen des BEI_NRW, über- die notwendigen Leistungen anzustoßen, lassen wir nach wie vor den Leistungserbringern. Das dient die Leistungserfüllung sowie deren Wirksamkeit zu über- uns dann als Grundlage, die Bedarfe im Detail zu ermitteln prüfen. und Leistungen festzustellen“, so Heike Brüning-Tyrell. „Für den Bereich der Kinder und Jugendlichen übernehmen wir Um diese Aufgaben in Prozesse mit klaren Verantwortlich- aber bereits alle Erst- und Folgeanträge. Für die Bereiche der keiten zu überführen, hilft eine IST-Analyse und darauf basie- Frühförderung sowie für Leistungen der Eingliederungshilfe in rend die Erstellung der Soll-Prozesse. Anhand der in Abbil Kitas haben wir auch Personal eingestellt, denn diese Zu- dung 1 aufgezeigten Meilensteine können die Soll-Prozesse ständigkeit wurde uns neu zugewiesen.“ Mittelfristig werden erarbeitet werden. dann zunächst die Erstanträge der Erwachsenen umgestellt und langfristig alle Bedarfserhebungen mit BEI_NRW, sowohl Fragen, die während der Prozesserstellung Berücksichtigung im Kinder- und Jugend- als auch im Erwachsenen-Bereich, finden sollten, sind: komplett beim Träger verortet werden. Wie wird die Zugehörigkeit zum Personenkreis (wesent- Schaut man sich die beiden Ziele des Gesamtplanverfahrens liche Behinderung) festgestellt? (ICD 10, UN-BRK tauglich?) an, wird schnell deutlich, dass es sich um zwei Seiten einer Wie soll die Einbindung der Menschen mit Behinderung im Medaille handelt: Erstes Ziel ist die Erfüllung des rechtlichen Verfahren konkret aussehen? Anspruchs durch standardisierte Prozesse in der Bedarfs- Wie werden die Gesamt- oder Teilhabeplankonferenzen ermittlung, durch eine partizipative Vorgehensweise im ge- gestaltet? samten Verfahren sowie durch die Einführung von pass- Wie erfolgt nach Ermittlung die Anstoßung der Leistungen? genauen Unterstützungsleistungen unter Beachtung der 263
IM FOKUS NDV 5/2021 Abb. 1: Vom IST zum SOLL Wie erfolgt die Klärung der Bedarfe außerhalb der Ein- Für die Zusammenarbeit und Verantwortungsverteilung zwi- gliederungshilfe (Teilhabeplanverfahren)? schen diesen Rollen gibt es drei mögliche Konstellationen. In Wie werden weitere Leistungsträger einbezogen? der ersten steht die Sachbearbeitung am Kopf des Prozesses Wie soll künftig die Zusammenarbeit mit den Leistungser- als diejenige Rolle, die am Ende über die Leistungsgewährung bringern aussehen? entscheidet. Das Fallmanagement arbeitet der Sachbe- Wie stellen Sie sich Ergebnis- und Qualitätssicherung vor? arbeitung in der Entscheidungsfindung gewissermaßen zu. Wie soll ein entwickeltes Verfahren zu Sanktionierung aus- Die zweite Konstellation sieht das Fallmanagement an der sehen? obersten Position des Prozesses als diejenige Rolle, die fach- Welche Rolle spielt die Schiedsstelle? Wie gestaltet sich die lich-pädagogisch am nächsten an der leistungsberechtigten Zusammenarbeit? Person dran ist. Die Sachbearbeitung arbeitet entsprechend hier dem Fallmanagement zu, indem die empfohlenen Leis- Nachdem das Soll-Modell steht, gilt es abzuwägen, welche tungen gewährt werden. Die dritte Konstellation sieht Fall- fachlichen, strukturellen und personellen Veränderungen not- management und Sachbearbeitung auf einer Ebene. wendig sind, um in diesem Modell arbeiten zu können und entsprechende personelle und strukturelle Rahmenbedin gungen zu schaffen. Mindestens genauso wichtig wie die strukturellen Anpassungen der Arbeit 3. Kultur schaffen, Teilhabe leben von Trägern der Eingliederungshilfe im Rahmen des Gesamtplanverfah- Mindestens genauso wichtig wie die strukturellen An- passungen der Arbeit von Trägern der Eingliederungshilfe im rens ist aber die Auseinandersetzung Rahmen des Gesamtplanverfahrens ist aber die Auseinander- mit der Wertekultur. setzung mit der Wertekultur, die das BTHG bzw. die UN-BRK als dessen Grundlage vorsehen, kurz gesagt: eine Kultur der Warum sind diese Konstellationen nun wichtig für eine ge- Personenzentrierung und der Teilhabe innerhalb des Trägers lebte Kultur der Teilhabe beim Träger der Eingliederungshilfe? schaffen. Warum das schwierig sein kann, lässt sich ebenfalls Weil Konstellationen wie die erste oder die zweite künstliche am Beispiel des Gesamtplanverfahrens, speziell der Bedarfs- Barrieren zwischen den Teams aufbauen, die zu Konflikten ermittlung, illustrieren. innerhalb des Trägers führen können und damit den Soll-Pro- zess und die personenzentrierte Teilhabe der leistungsbe- Zwei Rollen, die in der Verwaltung bei der Gesamtplanung rechtigten Person gefährden. zentral sind, sind das Fallmanagement und die Sachbe- arbeitung. Vereinfacht gesagt sind Fallmanager/innen die- jenigen, die die Bedarfsermittlung durchführen und Leistun- gen empfehlen, und die Sachbearbeiter/innen bewerten und In den ersten beiden Varianten wird die künstliche Barriere gewähren die Leistungen, sie erlassen den Verwaltungsakt. zwischen Fallmanagement und Sachbearbeitung aufgebaut, 264
NDV 5/2021 IM FOKUS Abb. 2: Mögliche Modelle der Zusammenarbeit von Fallmanagement und Sachbearbeitung indem einer der beiden Rollen innerhalb der Verwaltung eine Die Begebenheiten sind von Träger zu Träger unterschiedlich. Art Hoheit über die andere zugesprochen wird. Das allein birgt Sollten kulturelle Differenzen zwischen den an der Gesamt- schon Konfliktpotenzial. Wenn dann auch noch ohnehin vor- planung beteiligten Teams bestehen, sollten diese an der Wur- handene Barrieren verstärkt werden, die beispielsweise durch zel beseitigt werden. Nicht immer besteht die Möglichkeit, die unterschiedlichen Qualifikationen in den Rollen (Sozialpä- über strukturelle bzw. organisationale Lösungen, wie der LVR dagog/innen versus Verwaltungsfachangestellte o. ä.) vor- sie gewählt hat, zu einem guten Teamzusammenhalt zu ge- handen sind, dann kann das zu einer Art kultureller Irritation langen. In den Fällen können gezieltes Team-Building und zwischen zwei Teams führen, die dringend im Sinne der Workshops helfen, dass die Mitarbeitenden unterschiedlicher leistungsberechtigen Person zusammenarbeiten müssten. Teams einander besser verstehen und zusammen im Sinne der leistungsberechtigten Person entscheiden können. Bei Für die dritte Konstellation, also die Rollen von Fall- solchen Coachings gilt es, z.B. durch gezielte Befragungen, management und Sachbearbeitung auf einer Ebene zu ver- herauszufinden: orten, hat sich der LVR entschieden. Anders als bei vielen anderen Trägern sieht die Rollenbeschreibung des Fall- Welche Herausforderungen erkennen die Mitarbeitenden managements hier auch nicht vor, dass dort ausschließlich beider Gruppen durch das BTHG für sich? Sozialarbeitende und –pädagog/innen arbeiten können. „Wir Welche fachlichen Voraussetzungen erachten sie für sich arbeiten mit gemischten Teams“, so Heike Brüning-Tyrell. wie auch für die je andere Gruppe als notwendig? „Unser Fallmanagement besteht sowohl aus Sozial- Wie wünschen bzw. stellen sie sich die Zusammenarbeit arbeitenden als auch aus Verwaltungsmitarbeitenden mit zwischen Fallmanagement und Sachbearbeitung vor? Ausbildung bei einer öffentlichen Behörde. Denn die Rollen- Was beinhaltet der Begriff Personenzentrierung für sie? beschreibung des Fallmanagements sieht ganz klar beides Wie stellen sie sich die Einbindung der leistungsbe- vor: Die Kenntnisse über den Umgang mit Menschen mit Be- rechtigten Personen in den Prozess vor? hinderung und die verschiedenen Behinderungsbilder, aber eben auch und durch das BTHG umso mehr weitreichendes In diesen Coachings muss ein einheitliches Verständnis und Wissen über das Leistungssystem der sozialen Teilhabe.“ Die eine gemeinsame Haltung aller Mitarbeitenden für das Recht Mitarbeitenden, die beim LVR im Fallmanagement arbeiten, auf Teilhabe im Sinne des Bundesteilhabegesetzes geschaffen werden deshalb in den Bereichen geschult, in denen ihnen werden. Dahinter steht ein Wertegefüge der Teilhabe, das Ver- qua Qualifikation noch Kenntnisse fehlen. „Die einen werden bindlichkeit haben sollte, um zu gelingen. Ein kultureller in die eine Richtung geschult und die anderen in die andere Change ist schwierig, aber möglich. Richtung und am Ende ergänzen sich die Kolleg/innen im Team wunderbar“, so die Juristin. Und die Sachbearbeiter/ Unabhängig vom Teamklima ist es zwingend notwendig, die innen? „Die arbeiten direkt an der Seite des Fallmanagements. Mitarbeitenden, die an der Gesamtplanung beteiligt sind, hin- Wir haben Regionalabteilungen, die aus jeweils drei Teams sichtlich der Werte zu schulen, die die Basis für eine gelingende bestehen, die sich wiederum aus Fallmanager/innen und Teilhabe sind. Personenzentrierung, Teilhabe, Individualität Sachbearbeiter/innen zusammensetzen. So ist ein permanen- dürfen für die Mitarbeitenden nicht nur leere Hüllen sein. Das ter Dialog gewährleistet und jeder bringt seine Expertise dort sehen auch Heike Brüning-Tyrell und der LVR so und schulen ein, wo sie gebraucht wird“, ergänzt Heike Brüning-Tyrell. deshalb ihre Mitarbeitenden regelmäßig nicht nur fachlich, sondern auch hinsichtlich der mit dem BTHG verbundenen Werte. „Eine Grundlagenschulung zum BTHG muss meines Er- 265
IM FOKUS NDV 5/2021 achtens die menschenrechtliche Sicht auf Teilhabe themati- sieren und die Mitarbeitenden dazu anregen, selbst einmal zu reflektieren, was für sie Personenzentrierung bedeutet“, so Heike Brüning-Tyrell. „Und das gilt für die Mitarbeitenden mit Verwaltungsausbildung genauso wie für sozialpädagogisch vorgeschulte Mitarbeitende.“ Um ein echtes Teilhabesystem zu schaffen, wie es das BTHG Abb. 3: Organisationsentwicklung im Rahmen des BTHG - betroffene Ebenen vorsieht, müssen also – erstens – die notwendigen Prozesse und Strukturen geschaffen werden und – zweitens – der Ge- danke der Personenzentrierung bei jedem einzelnen an der Doch der Weg dorthin ist weit, und es braucht Fleiß und einen Gesamtplanung beteiligten Mitarbeitenden ankommen und langen Atem. Das weiß auch Pfarrer Michael Werner, Vorstand von ihnen gelebt werden. Dann hat der strukturelle und kultu- des Sonnenhof e. V. in Schwäbisch-Hall, einem diakonischen relle Change – zumindest auf Seiten der Leistungsträger – Träger für Leistungen der Eingliederungshilfe in Baden-Würt- stattgefunden. Dass das gelingen kann, sieht man nicht nur temberg. „Wie viele andere stecken wir mitten in der Um- am LVR, sondern auch bei diversen laufenden Beratungs- setzung und gleichzeitig wissen wir – bei all dem, was noch auf projekten der contec in Kreis- und Kommunalverwaltungen, uns zukommt –, dass wir erst ganz am Anfang stehen“, so Pfar- die den Bedarf der strukturellen und kulturellen Neu- rer Werner. Der Landesrahmenvertrag in Baden-Württemberg orientierung erkannt haben. Heike Brüning-Tyrell ist sich aller- ist, anders als in NRW, noch nicht final verabschiedet, aber der dings sicher: „Die notwendigen Rahmenbedingungen zu Entwurf liegt seit dem Sommer vor und so bereitet sich die Or- schaffen, wird nicht ausreichen. Die sind zwar Grundlage für ganisation nun auf die bevorstehenden neuen Leistungsver- das Gelingen des Vorhabens, aber es wird einige Jahre und si- einbarungen vor. „Die größte Unsicherheit für uns liegt derzeit cher noch Justierungen am Gesetz brauchen, bis die leistungs- noch in der Überführung der in der neuen Bedarfsermittlung berechtigten Personen dies auch als Gewinn ansehen.“ festgestellten Bedarfe in refinanzierte Leistungen. Die bis- herigen Gesamtpläne und auch der Vertragsentwurf sind dahingehend noch nicht scharf genug.“ Pfarrer Werner betont 4. BTHG-Umsetzung bei Leistungserbrin- aber: „Wir wissen, dass das alles nicht von heute auf morgen geht, aber die Übergangsphase bis Ende 2021 ist sehr knapp.“ gern: „Stehen erst am Anfang“ Zweifelsohne sind die Herausforderungen, die das BTHG mit 5. Leistungsdefinition: Bestandsaufnah- sich bringt, nicht nur für Leistungsträger groß. Leistungser- bringer sehen sich vielfach mit noch tiefgreifenderen Ver- me, Bewertung, Beschreibung änderungen konfrontiert, die – wenn man es genau nimmt – nur über einen Organisationsentwicklungsprozess bewältigt Im Sonnenhof e. V. wurde für die Umsetzung des BTHG schon werden können. Die Trennung der Leistungen, die Neu- früh eine interne Arbeitsgruppe damit beauftragt, Handlungs- definition des Leistungsangebots insbesondere in besonderen bedarfe zu identifizieren und Arbeitspakete an die zuständigen Wohnformen für Menschen mit Behinderung und die Er- Bereiche zu verteilen. „Für die Definition der Leistungen wur- stellung des Fachkonzepts als Grundlage für die bevor- den alle Bereichsleitungen damit beauftragt, eine Bestands- stehenden Leistungsvergütungsverhandlungen greifen tief in aufnahme zu machen, sich genau anzuschauen, welche Leis- die Organisationsstruktur und das Prozesswesen vieler Träger tungen es gibt, welche es geben muss und wie diese nicht nur ein. Die Änderungen durch das BTHG beeinflussen alle Ebe- auf dem Papier personenzentriert beschrieben, sondern auch nen der Organisation: Die Verwaltung, die Leistungserbringung in der Praxis personenzentriert erbracht werden können“, er- und die Unternehmenskultur. All das muss hinterfragt und klärt Pfarrer Werner. Und genau darauf kommt es an. zum Teil neu aufgestellt werden, um nicht nur einem gesetz- lichen Anspruch, sondern dem Gedanken der Personen- Für die formelle Leistungsdefinition bietet sich ein drei- zentrierung Rechnung zu tragen. schrittiges Verfahren an, hier am Beispiel der Besonderen Wohnform: 1) Aktuell vereinbarte Leistungen unter die Lupe nehmen/ Bestandsaufnahme I (Basis: bestehende Leistungsver- einbarung, bestehende Teilhabeplanungen und Bedarfs- ermittlung der Bewohner/innen). 266
NDV 5/2021 IM FOKUS 2) Tatsächlich erbrachte Leistungen herausarbeiten/Be- 6. „Quartiere für die Menschen, Menschen standsaufnahme II (Basis: Tätigkeiten der Mitarbeitenden durch Interviews und „Tagebücher“, Kompetenzen der fürs Quartier“ – Organisationsentwick- Mitarbeitenden). lung im Sonnenhof 3) Neudefinition unter Berücksichtigung der Vorgaben aus dem entsprechenden Landesrahmenvertrag (Basis: Der Sonnenhof e. V. verfolgt mit Unterstützung der contec Vorarbeiten aus Schritt 1 und 2, Landesrahmenvertrag, be- GmbH ein Organisationsentwicklungsprojekt, das als weg- stehende Konzeption und Ziel des Trägers als Basis für die weisend für eine gelebte Teilhabe-Kultur angesehen werden Weiterentwicklung). kann. „Um personenzentrierte Teilhabe zu ermöglichen, set- zen wir gezielt auf Regionalisierung und Quartiersentwicklung. Doch die personenzentrierte Leistungserbringung, gerade in Die stationären Settings der besonderen Wohnformen müs- besonderen Wohnformen, deren stationäres Setting durch sen in ihren Grenzen zu anderen Angeboten sowie zum Leben eine Art ambulanten Charakter abgelöst werden muss, ist in der Gesellschaft durchlässiger werden“, so Pfarrer Werner nicht damit getan, dass das Angebot neu formuliert wird. Leis- über das Projekt. „Die eigentliche Schwierigkeit bei der Um- tungen nicht mehr einrichtungsorientiert zu erbringen be- setzung des BTHG ist es, die strukturellen Anforderungen par- deutet auch: Neue Arbeitszeit- und Schichtmodelle auf Basis allel zu den kulturellen Veränderungen anzugehen.“ In der einer Personalbedarfsplanung zu entwickeln, einen passen- Entwicklung von Quartieren und der stärkeren Regionalisie- den Qualifikationsmix bei der Belegschaft herzustellen und rung der Angebote sieht der diakonische Träger die ideale Konzepte für ein Schnittstellenmanagement zu etablieren. Möglichkeit, diese beiden Herausforderungen gemeinsam zu Das alles sind Aufgaben, die sowohl die organisationale als meistern. Äußere Strukturen sowie ein inneres Mindset der auch die kulturelle Ebene eines Trägers beeinflussen und die Mitarbeitenden können sich so gemeinsam entwickeln. Des- deshalb immer unter diesen beiden Blickwinkeln angegangen halb werden nicht nur die begleiteten Menschen des Sonnen- werden sollten. hofs durch Einrichtungen im Stadtgebiet in das Quartier gebracht, sondern es werden aktiv Quartiere um die Ein- richtungen herum entwickelt, sodass städtische Angebote Der Spagat von organisationaler, und damit das Gemeinwesen auch zum Sonnenhof kommen. „So wird eine Durchlässigkeit in beide Richtungen geschaffen“, struktureller Neuordnung und kultu- betont Vorstand Michael Werner. Anhand des Lebens in der reller Weiterentwicklung der Werte in Gesellschaft kann der Träger besser einschätzen, welche Unternehmen der Eingliederungshilfe Assistenzbedarfe ein Mensch wirklich hat und welche über das Leben und die Nachbarschaft im Quartier auch anders ab- ist wohl eine der größten Herausfor- gedeckt werden können. „So kommen wir der personen- derungen, vor denen die Branche je zentrierten und individuellen Teilhabe immer näher.“ stand. 7. Aktive Weiterentwicklung der Werte- „Nach der Trennung der Leistungen ist nun die große Heraus- forderung, unser gesamtes Leistungsangebot personen- kultur bleibt nicht aus zentriert und ICF-konform aufzustellen“, berichtet Pfarrer Mi- chael Werner. „Mitarbeitende brauchen Schulungen und Gleichwohl betreibt auch der Sonnenhof eine gezielte Weiter- müssen auf die Veränderungen in der Leistungserbringung entwicklung der Wertekultur mit den Mitarbeitenden durch vorbereitet werden.“ Die Auseinandersetzung mit dem bio- Schulungen und Reflexionen über das Konzept der Personen- psycho-sozialen Modell der WHO erfordert eine Veränderung zentrierung und der Teilhabe. „Mir ist aber wichtig, bei aller be- in der Grundhaltung der ganzen Organisation, insbesondere rechtigten Kritik an dem Fürsorgegedanken im Sinne einer Be- bei Führung und pädagogischen Fachkräften. Mit einer ICF- vormundung, den Sorge-Begriff im Sinne der Caring Schulung allein ist das nicht getan, die Wechselwirkungen zwi- Community nicht völlig auszuklammern“, so Pfarrer Werner. schen den einzelnen Komponenten der ICF sind komplex, und „Wir leben nicht nur den Gedanken der selbstbestimmten Teil- Mitarbeitende müssen verstehen, dass die Leistungen, die sie habe, sondern wollen auch aktiv dafür einstehen, einander für die Menschen mit Assistenzbedarf erbringen, direkt unter nicht egal zu sein. Gerade Menschen mit sehr hohem und die Umweltfaktoren des Modells fallen. Es bedarf neben Schu- komplexem Unterstützungsbedarf, von denen einige zu dem lungen also regelmäßige Reflexionen über das Konzept der von uns begleiteten Personenkreis zählen, sollen spüren, dass Personenzentrierung und im Idealfall werden Mitarbeitende sie nicht auf sich alleingestellt sind.“ bei der Umstellung des Leistungsangebots einbezogen. 267
IM FOKUS NDV 5/2021 8. Gemeinsam stark: Zukünftige Zusam- dass abgestimmte Verfahren immer zum Wohle des Menschen mit Behinderung sind“, sagt Pfarrer Michael Werner. „Wir alle menarbeit von Leistungsträgern und haben ein gemeinsames Interesse daran, die individuellen Be- -erbringern darfe einer Person vollständig und richtig zu ermitteln und auf die Ziele des Gesamtplans hinzuarbeiten. Ich finde es ver- Eine weitere Ebene kultureller Anstrengungen betrifft die künf- ständlich, dass wir nicht im Lead sind bei der Bedarfs- tige Zusammenarbeit von Leistungsträgern und -erbringern. ermittlung, würde mich aber freuen, wenn wir nicht ganz Vorurteile, die – sicherlich nicht überall, aber in einigen Fällen außen vorgelassen würden. Ich bin sicher, dass wir hier gut – vorhanden sind, müssen im Sinne der leistungsberechtigten zusammenarbeiten werden“, ergänzt der Vorstand des Person über Bord geworfen werden und sind in aller Regel Sonnenhofs. Auch Heike Brüning-Tyrell vom LVR setzt auf gute auch nicht haltbar. Weder sind Leistungserbringer darauf be- Kooperationen: „Die Umsetzung des BTHG und deren Erfolg dacht, so viele Leistungen wie möglich zu verhandeln, noch hängen maßgeblich davon ab, wie gut unser Dialog ist, auch kann man pauschal Leistungsträgern vorwerfen, immerzu die jenseits des Verhandlungstischs.“ Hand aufs Portemonnaie zu halten. Beide Parteien brauchen gegenseitig die Expertise der jeweils anderen, sei es bei der Bedarfserhebung und -ermittlung oder bei der Umsetzung der vertraglichen Anforderungen an die Leistungsdefinition und der Darstellbarkeit der Qualität, um schlussendlich im Sinne der leistungsberechtigten Person zu handeln. „Die jüngere Vergangenheit hat uns gezeigt, dass gute Kooperationen zu den Trägern der Eingliederungshilfe durchaus möglich und Anzeige ! Soziale arbeit GrafikBüro 4/2021 Die Fachzeitschrift für Soziale arbeit alle peer reviewed einzelbeiträge auch online Print-, e-abo, Campuslizenz issenschaf recherchier- und rW t 11x jährlich 70 bestellbar 51-2021 - Fü &P raxis Jahrhreift itsc Fachzee arbeit Deutsches 19 al Sozi 5. 2021 zentralinstitut für soziale Fragen bernadottestr. 94 14195 berlin ältigung und Ungewissheitsbew sionalität | 162 verlag@dzi.de akademische Profes www.dzi.de hrungskräfte- Selbstführung im Fü arbeit | 170 en Coaching der Sozial htanwendung eingeschätzte Mac dagogik | 177 in der Kindheitspä und erwerbsverhältnisse der intersektionalität in 268
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