Didaktischer Leitfaden zum Editionenband Marlen Haushofer "Die Wand"

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Didaktischer Leitfaden zum Editionenband
Marlen Haushofer „Die Wand“

Von Siegfried Herbst

Vorbemerkung

Welchen literarischen Rang eine Autorin oder ein Autor in der Literaturgeschich-
te einnehmen wird, ist bei den meisten zu Lebzeiten ungewiss. Im Hinblick auf
Marlen Haushofer scheint diese Frage 38 Jahre nach ihrem Tod noch nicht ent-
schieden. Gewiss aber ist: Ihr Roman „Die Wand“ hat sich im Bewusstsein des
lesenden Publikums fest etabliert. Und die Autorin selbst scheint als „gespaltene
Persönlichkeit“, die ihre Zerrissenheit auch in ihrer Literatur – natürlich künst-
lerisch verfremdet – abbildet, heute wieder erhöhte Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen. Gerade ist Daniela Strigls eindrucksvolle Biographie als Taschenbuch bei
List unter dem Titel „Wahrscheinlich bin ich verrückt…“ erschienen.

Es hat der „Wand“ geschadet, dass sie eine Zeitlang als „Frauenroman“ gelesen
worden ist. Diese zeitweilige Vereinahmung zumindest durch Teile der Frau-
enbewegung hat der Roman aber schadlos überstanden und auch trotz manch
harscher Kritik eine eigentümliche Zählebigkeit entwickelt, die nicht für andere
Werken der Autorin gilt, auch wenn einige von ihnen noch auf dem Markt sind.
„Die Wand“ ist immer wieder neu aufgelegt worden, auch in populären Editionen
wie die der „Brigitte“. Laut „ZDF Lesen“ ist sie eines der 50 meist gelesenen Bü-
cher der Deutschen. Und laut Edwin Hartl „vermutlich die originellste Utopie der
modernen Weltliteratur: weil sie es wagt, auf alles ‚Originelle’ zu verzichten“. Per-
sönliche Bekenntnisse bedeutender Leserinnen markieren den Weg der „Wand“
vom modischen Kultbuch zum modernen Klassiker. Wenn Elke Heidenreich von
jemandem nach den zehn wichtigsten Büchern in ihrem Leben gefragt würde,
„dann gehört dieses in jedem Fall dazu“. Und für Eva Demski gibt es sehr selten
Bücher, „für deren Existenz man ein Leben lang dankbar ist. Dies kann eins davon
werden.“

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        Von dieser Druckvorlage ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet.
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Kommentar zum Materialienteil

Kapitel I: Zugänge

„Zweimal Robinson“ dokumentiert die Historizität und Modernität des Stoffes. „Life
and Adventures of Robinson Crusoe“ (1719) von Daniel Defoe, basierend auf
Erlebnissen des englischen Seemannes Alexander Selkirk und in Tagebuchform
verfasst (es ist auch die Schreibperspektive der „Wand“-Erzählerin), hat ein Urbild
geschaffen: das fern jedweder Kultur gestrandete und völlig auf sich allein gestell-
te Individuum schafft es aufgrund seiner zivilisatorischen Fertigkeiten, allen Wid-
rigkeiten einer undomestizierten Natur (sog. Wilde eingeschlossen) zu trotzen.
Bei aller Modernisierung von Lebenshintergrund und Staffage hält sich der 20th
Century Fox Film „Cast Away“ recht eng an diese Vorlage. Auch hier kehrt der
FedEX-Angestellte Chuck Noland (dargestellt von Tom Hanks) nach unfreiwilligem
jahrelangem Exil auf einer einsamen Insel physisch intakt nach Hause zurück,
muss aber feststellen, dass eine Rückkehr in sein altes Leben unmöglich gewor-
den ist. – Im Unterschied zu diesen beiden Versionen des Stoffes ist in der „Wand“
die Möglichkeit der Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten Normalität
so gut wie ausgeschlossen. Der Roman endet aber tröstlich: „Wenn sie (d.h. die
schwarzen Krähen) nicht mehr zu sehen sind, werde ich auf die Lichtung gehen
und die weiße Krähe füttern. Sie wartet schon auf mich.“ Ob auch die Erzählerin
als „weiße Krähe“ noch eine Überlebenschance bekommt, bleibt aber völlig offen.
– Die drei Robinson-Gedichte sind modern; bezeichnend, dass die Robinson-Situation
im 20. Jahrhundert nicht mehr als Einzelschicksal, auf Zufälligkeiten basierend,
aufgefasst wird, sondern zu einer Art Normalzustand des sensiblen Menschen
wird. Diese Gedichte eröffnen keine Auswege mehr; ihre Robinson-Figuren keh-
ren nicht zurück. „Verlust der Sprache“ ist eine der thematischen Gemeinsam-
keiten der Texte von Reinig und Ausländer; das rein physische Überleben reicht
nicht für ein menschenwürdiges Dasein aus. Von dem dreistrophigen Gedicht von
Karl Krolow ist nur die erste Strophe abgedruckt. Auch hier erlischt am Ende der
3. Strophe die Hoffnung auf Rettung: „Bis man es leid ist / Und den letzten Wim-
pel / Im Meer versenkt.“ Alle drei Texte variieren die Themen Sprach-, Kommuni-
kations- und Hoffnungslosigkeit – sie lassen Schüler schon vorab die existenzielle
Grundsituation der Roman“heldin“ erfahren.
Zwei Frauenbilder sollen den Blick des Schülers auf eine andere Zugangsmöglich-
keit zur „Wand“ lenken: Autorin und Erzählerin sind – was sonst – feminin. Mit
„weiblichen Robinsonaden“ wurde bald nach Erscheinen des „Robinson Crusoe“
eine Untergattung eröffnet. Mit diesen Bildern hingegen wird der Rollenwandel
der Frau in der Gesellschaft angedeutet. Im 19. Jahrhundert war sie noch ganz an
die häusliche Arbeit innerhalb des Hauses gebunden, hier am Stickrahmen, das
Fenster zwar offen, aber der Blick auf die Arbeit gerichtet. Mit Beginn ihrer Eman-
zipation (das zweite Bild soll dies andeuten) tritt sie aus dem Haus heraus, geblen-
det von der Helligkeit des Lebens und vielleicht deshalb auf der Schwelle noch
zögerlich, ganz hinauszutreten. Wie auf nahezu allen Bildern Hoppers herrscht
Einsamkeit; ein Hinweis auf die Möglichkeit, zu anderen Menschen in Beziehung
zu treten, fehlt.

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Kapitel II: Leben und Werk

Die „Erste Manuskriptseite der handschriftlichen Fassung des Romans“ ist so gut leserlich
wiedergegeben, dass dem Schüler ein Abschreiben, zumindest Vorlesen zuzumu-
ten ist. – Der beigefügte Text von Schmidjell „Zur Entstehung des Romans“ lässt etwas
von der Mühsal dieses Prozesses erkennen, wie ihn die Autorin im Folgenden
selbst thematisiert. Wer viel authentisches Material zum Leben und Schreiben
Marlen Haushofers sucht, dem sei die Ausleihe des von Schmidjell herausgege-
benen Ausstellungskatalogs empfohlen. Darin enthalten sind nicht nur die in
dieser Ausgabe veröffentlichten privaten Bilder der Haushofer-Familie, sondern
verstreut auch die Anmerkungen Haushofers „Über Leben und Schreiben“, die ver-
deutlichen, dass die Autorin noch unter denselben „primitiven“ Verhältnissen
schrieb wie z.B. die erste bedeutende englische Schriftstellerin Jane Austen um
die Wende zum 19. Jahrhundert. – Der von der Entstehung der „Wand“ berichten-
de Ausschnitt aus der oben erwähnten Haushofer-Biographie von Strigl könnte dem
Schüler vor allem eines vor Augen führen: Die Schriftstellerin erscheint in ihrem
Privatleben als „Mensch wie du und ich“, ist überhaupt keine Ausnahmeerschei-
nung, der man sich, hätte man die Möglichkeit einer Begegnung gehabt, nicht zu
nähern gewagt hätte. Als Zahnarzthelferin in der Praxis ihres Mannes war sie ein
Alltags-, ja Durchschnittsmensch, mit denselben Schwierigkeiten der täglichen
Lebensbewältigung ringend und überfordert wie jeder von uns, aber einer, der
ein zweites Leben jenseits der Familienroutine führte, sogar weitgehend uner-
kannt. Es heißt, ihre nach und nach entstehenden Werke seien von ihrer Familie
gar nicht zur Kenntnis genommen worden, d.h. sie wurde in ihrem Umfeld zu-
nächst nur als Hausfrau, Mutter und Berufstätige in einem Allerweltsjob wahr-
genommen. Möglicherweise erleichtert dieses Wissen dem Schüler den Zugang
zum Werk, wenn ihm bewusst ist, dass es nicht von hoher Warte geschrieben,
sondern dem täglichen Leben abgerungen ist. – Sympathie für die Autorin mag
auch das Interview mit Elisabeth Pablé auslösen. Marlen Haushofer blieb in weiteren
Interviews, die in ihren letzten Lebensjahren geführt wurden, stets bescheiden
und formulierte meist mit Understatement. („Die Wand“ hat sie einmal als Kat-
zenroman bezeichnet.) Alle Effekthascherei und jeglicher Selbstdarstellungsdrang
waren ihr fremd. In einem späteren Interview sagt sie bezeichnenderweise:
„Meine Bücher sind alle verstoßene Kinder. Mich interessiert nur der Vorgang
des Schreibens.“ – Haushofers bedeutendster autobiographischer Text wurde von
ihr „Für eine vergessliche Zwillingsschwester“ betitelt. Diese Zwillingsschwester ist
fiktiv; ihre Erfindung gibt der Autorin die Möglichkeit der distanzierenden Sicht
auf sich selbst. Ich empfehle die Lektüre des Gesamttextes, der als weitgehend
authentische Selbstdarstellung gelten kann, weil er sehr viel über die Autorin
verrät. Manches skurrile Detail wirkt auch erheiternd. – Marlen Haushofers an-
rührendster Text ist ihre letzte Tagebucheintragung unter der Überschrift „Mach
dir keine Sorgen“, den sie weniger als einen Monat vor ihrem abzusehenden Tod
und drei Wochen vor ihrem 50. Geburtstag verfasst hat. Es ist ein geradezu nihi-
listisches Credo, weshalb man den bezeichneten Nebensatz glaubte weglassen
zu müssen. Der letzte Absatz ihres „Nachrufs zu Lebzeiten“, Untertitel zum Text

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„Für eine vergessliche Zwillingsschwester“, konnte den damals noch 5 Jahre
entfernten Tod eher ironisch beleuchten, und auch da fehlt jeder Hinweis auf den
Glauben an ein jenseitiges Leben.

Kapitel III: Hausfrauenleben in den fünfziger Jahren

Die hier zusammengestellten Bilder und Texte verlängern in gewisser Weise das
vorige Kapitel, weil sie einen realistischen Einblick auch in Marlen Haushofers ei-
genes Hausfrauendasein geben. Der Text aus „Das andere Geschlecht“ von Simone
de Beauvoir, der Theoretikerin der Frauenemanzipation, bringt Hausfrauenleben
und -arbeit sehr dezidiert auf den Punkt. Aus ihm lässt sich ablesen, warum eine
wache junge Frau wie Marlen Haushofer in ein anderes Leben, in diesem Fall das
literarische, buchstäblich flüchten musste, um zu ihrem Selbst zu finden, dieses
aber nur sehr marginal verwirklichen konnte.

Kapitel IV: Mensch, Natur und Tier

Der Lehrer sollte versuchen, zu den in Schwarz-Weiß-Wiedergaben vorgestellten
Bildern die farbigen Äquivalente zu finden und den Schülern zu präsentieren.
Bei den Marc-Bildern dürfte dies nicht schwer sein; vielleicht finden sich im Bild-
fundus der Fachgruppe Kunst zumindest ähnliche Tiermotive. Der Blick Franz
Marcs und die Sichtweise Marlen Haushofers sind bei aller historischen Differenz
verwandt: Verglichen mit dem Menschen, wird das Tier als die „reinere Natur“
betrachtet. Hund, Katzen und Kühe von Marc sind auch die Haustiere der „Wand“-
Erzählerin; die Bilder bieten eine gute Gelegenheit, ihr Verhältnis zu diesen Tie-
ren von der visuellen Seite her anzusprechen. „Der rote Mäher“ von Campendonk
erinnert an eine wichtige bäuerliche Arbeit, der sich im Verlauf des Romans auch
die Erzählerin unterziehen muss.

Kapitel V: Literarische Kontexte

Sie wären wesentlicher zahlreicher zu präsentieren gewesen, als in diesem
Rahmen möglich war. Die Parallele zwischen dem in eine Arche zwar nicht ver-
bannten, aber in einen eng umschriebenen Raum geflüchteten Noah und der in
einem Glaskäfig von nicht erkennbaren Ausmaßen sich bewegenden Erzählerin
ist offensichtlich. Vor allem die Tiere sind es, für die beide leben. Gott hat die
Sintflut zur Bestrafung der Menschen geschickt, und nur Noah überlebt. Auch
in der „Wand“ ist der Tod außerhalb der gläsernen Wände als Strafaktion deut-
bar, aber ein Gott steht nicht dahinter, eher ist es eine durch Autoaggression des
Menschen erklärbare Katastrophe. Die areligiöse Marlen Haushofer hat auf die bi-
blische Präfiguration nicht ausdrücklich hingewiesen, aber die Vorstellung einer
Textverwandtschaft stellt sich zwangsläufig ein. – Viel nachdrücklicher hat sie die

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Verbindungslinien zum „Robinson Crusoe“ gezogen. Die Botschaft Defoes, dass der
vernunftbegabte Mensch, sofern er nur von dieser Eigenschaft rechten Gebrauch
macht, auch in lebensbedrohlichen Situationen überleben kann, scheint auch für
Haushofers Roman zu gelten. Das zeigt sich z.B. in der buchhalterischen Form,
in der man sich selbst und einer womöglich interessierten Nachwelt Rechen-
schaft abzulegen versucht. Aber die Frau hinter der Wand findet keine Bibel, die
ihr Trost und Anleitung zum rechten Leben gibt, sondern ihr hilft ganz irdisches
Schriftmaterial; da ist von einem Gott nicht die Rede; kein Gebet wird gen Him-
mel geschickt. Andererseits hat auch Robinson einen Hund und zwei Katzen,
eine geradezu gesuchte Parallele. Hinwiederum: Robinson ist immer optimistisch
gemäß seiner aufklärerisch befestigten Grundstimmung; die Erzählerin im Ro-
man quält sich oft mühsam von einem Tag zum nächsten und einer Jahreszeit
zur folgenden. Den Gedanken an ein glückliches Ende ihrer Gefangenschaft nährt
sie nicht lange in sich. – Die beiden folgenden Texte liegen dem „Wand“-Roman
historisch deutlich näher, aber inhaltlich ferner. Kafkas parabolische Erzählung
„Die Verwandlung“ weist zunächst nur eine stoffliche Parallele zur „Wand“ auf: dass
sich die Umstände für ein Individuum von einem Tag auf den anderen radikal än-
dern und es mühsam versucht, mit der neuen, vor allem rational unerklärbaren
Situation zurechtzukommen. Und beide Situationen, so unterschiedlich sie sein
mögen, werden in einer krass realistischen Erzählweise vorgestellt, die keinen
Zweifel an der Echtheit des Erlebten zulässt. – An dieser Stelle können vom Leh-
rer Anfangspassagen aus Albert Camus’ Roman „Die Pest“ herangezogen werden.
Denn die Tod bringende Rattenplage im Oran der 1940er Jahre ist ein weiteres
gutes Beispiel für eine schlagartig eintretende, bisherige Lebensverhältnisse
fundamental in Frage stellende Veränderung. Betroffen ist hier allerdings eine
ganze Stadtgemeinschaft. In dem Arzt Bernard Rieux erwächst eine Widerstands-
figur, die sich erfolgreich gegen das scheinbar ausweglose Schicksal stemmt. Auch
dieser Roman ist nicht historisch, sondern nach Camus’ eigener Aussage allego-
risch zu verstehen. – Der Auszug aus Arno Schmidts „Schwarze Spiegel“, „das Tage-
buch eines postapokalyptischen Robinson“ (Süddeutsche Zeitung, 2006) breitet
in zynischer Sprache und nihilistischer Denkweise ein Endzeitszenario aus, wie
man es sich unschwer nach einem Atomkrieg (genauer Neutronenkrieg, denn die
Häuser sind weitgehend unzerstört) vorstellen kann. Der Ich-Erzähler erscheint
verroht, hat sich dem Überlebenskampf aber mit rabiater Wurschtigkeit gestellt.
Besonders ergiebig dürfte der sprachliche Vergleich mit Haushofers Roman sein.
Das „intakte“ Erzählen der Frau und die „kaputte“ Erzählweise des Mannes bilden
innerhalb eines ähnlichen situativen Rahmens einen starken Gegensatz. – Auf
zwei weitere moderne Romane sei hier verwiesen, die von fast identischen Situa-
tionen ausgehen: Nach dem morgendlichen Aufwachen entdeckt der Romanheld,
dass die Welt menschenleer geworden ist. Aber während Herbert Rosendorfer in
seinem Roman „Großes Solo für Anton“ (1976) der Leere viele komische Seiten abge-
winnt, treibt in Thomas Glavinic’ vielbeachteter „Arbeit der Nacht“ (2006) die Men-
schenlosigkeit der Welt den „Helden“ in den Suizid. Man sieht: Das Thema der
plötzlichen Katastrophe verbunden mit dem unerklärlichen Überleben nur eines
Menschen ist noch nicht erschöpft.

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VI Schreibende Frauen

Dieses Kapitel soll Anstöße bieten zum Thema „Schreibende Frauen“ und lässt
sich ohne weiteres zu einer kleinen Unterrichtsreihe ausbauen, indem man wei-
tere Texte schreibender Frauen heranzieht. – Einer der scharfsinnigsten Analy-
sen der historischen Lage schreibender Frauen, Virginia Woolfs Großessay „Ein
eigenes Zimmer“, ist jene hypothetische Darstellung von Shakespeares Schwester
entnommen, die begründet, warum die Gleichbegabte in der Gosse gelandet wäre
und sich nicht wie ihr Bruder, reich geworden, nach Stratford als Alterssitz hätte
zurückziehen können, – Der Schluss von Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“
erfordert genaue Interpretationsarbeit, ist aber faszinierend, weil auch hier, al-
lerdings anders als bei Haushofer, das Motiv der Wand eine entscheidende Rolle
spielt. Nicht hinter, sondern in der Wand verschwindet die Erzählerin, um sich
den Demütigungen ihres männlichen Partners und damit der von diesem Malina
repräsentierten Männerwelt überhaupt zu entziehen. Die Erzählerin nennt ihr
Verschwinden in der Wand nicht Flucht, sondern Mord, ein schwerwiegender
Vorwurf, da Malina ihr gegenüber nie physisch gewalttätig gewesen ist. – Inge-
borg Bachmanns Aussage zu männlichem und weiblichem Schreiben, dem Roma-
nende hinzugefügt, lässt an ein vergleichbares Bekenntnis von Elfriede Jelinek, der
zornigen Nobelpreisträgerin, denken: „Aber freudianisch argumentiert, müsste
man sagen, dass ich mich, indem ich schreibe, faktisch zum Mann gemacht habe
– vielleicht kommt daraus meine Desorientierung, weil ich eigentlich ein Mann
bin, aber nicht weiß, was ein Mann ist, und daher nicht weiß, was ich bin“ – ein
Vexierspiel mit der Geschlechtsfindung schreibender Frauen. Ursula Krechels
Gedicht mit dem programmatischen Titel “Umsturz“ hingegen, obwohl voller trot-
ziger Absichtserklärungen, wirkt deutlich lyrischer.
Wer den inhaltlichen Bogen dieses Kapitels weiträumiger und historischer anle-
gen will, kann auf eine Schriftstellerin rekurrieren, die Ende des 18. Jahrhunderts
in die Männerdomäne der Literaturproduktion einzudringen versuchte. Sophie
de la Roche hat mit der „Geschichte des Fräulein von Sternheim“ den ersten deutschen
Frauenroman geschrieben, so die landläufige Zuordnung. Aber sie hätte ihn wohl
nicht veröffentlichen können ohne entschiedene Mithilfe ihres seinerzeitigen
Verlobten, Christoph Martin Wieland, der schon in hohem literarischen Ansehen
stand. Der besorgte Verlobte nennt auf der Titelseite nur sich selbst als nament-
lichen Herausgeber, als Verfasserin des Romans „eine Freundin“ und begründet in
seinem Vorwort zum Roman weitschweifig, warum er sich für zahlreiche künst-
lerische Mängel des Werkes entschuldigen müsse. Es gibt keinen besseren Beleg
dafür, wie schreibende Frauen zu dieser Zeit noch um die bloße Anerkennung
ihrer Existenz ringen mussten, als dieses Romanvorwort. Auch Karoline von Gün-
derode kann als zusätzliches Beispiel für die Schwierigkeiten einer Schriftstellerin
um 1800 miteinbezogen werden. – Bessere Bedingungen fand Annette von Droste-
Hülshoff in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. Ihr berühmtes Gedicht „Am
Turme“, das Ruth Klüger als das „erste und vielleicht beste feministische Gedicht
in deutscher Sprache“ bezeichnet, sollte herangezogen werden. Ausgehend von
Bachmann und Krechel lässt sich die feministische Literatur der siebziger und

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achtziger Jahre mit einbeziehen, z.B. Verena Stefans „Häutungen“, der als Proto-
typ dieser Richtung gilt.

VII Rezeption

Positive und negative Reaktionen auf den Roman „Die Wand“ sollten sich hier die
Waage halten. Die Rezensionen von Scheck und Fuld tun dies, zeigen aber auch,
dass sich zwischen ihren Erscheinungsda-
ten 1969 und 1983 ein Wandel zu einer überwiegend positiven Einschätzung des
Romans vollzogen hat. – Was Schülerinnen und Schüler an Lektüreerfahrungen zum
Besten geben, interessiert allemal, weil sie in ihrer Unbefangenheit entwaffnend
sein können. Die Kollegin Annette Kliewer hat solche aus ihrem Unterricht zu-
sammengetragen und nicht wirklich überrascht festgestellt, dass Mädchen sich
mit diesem Roman erheblich leichter anfreunden können als Jungen, die nahezu
einhellig negativ reagierten. Kliewer gesteht sich aber ein, dass sie bei der Be-
handlung dieses Buches womöglich zu viel missionarischen Ehrgeiz an den Tag
gelegt habe und dadurch die Bewertung des Romans durch ihre Schüler nicht
ganz vorurteilsfrei gewesen sei. – Eva Hildermeier ist eine von mehreren weiblichen
Bekannten, die bei Erwähnung des Buches spontan enthusiastisch reagierten. –
Wer Wert legt auf ein literarisches Rezeptionsbeispiel, sei verwiesen auf Elfried
Jelineks „Der Tod und das Mädchen 5 – Die Wand“, ein Theaterstück aus der Reihe
„Prinzessinnendramen“. Während als Protagonistinnen der Stücke I bis IV Schnee-
wittchen, Dornröschen, Rosamunde und Jackie (Kennedy) figurieren, entdecken
im letzten Drama der Reihe Sylvia und Ingeborg die Wand: „Doch als wir sie
sahen, die Wand, da konnten wir sie schon nicht mehr umgehen. Wir konnten
mit ihr nicht umgehen. Sie war durchsichtig, völlig durchsichtig, aber es war kein
Durchkommen bei der. Also nichts wie rauf. Anders geht’s nicht.“ Ein Konterfei
Marlen Haushofers, eingerahmt von Ingeborg Bachmann und der amerikanischen
Autorin Sylvia Plath, ist der Textausgabe des Stücks auf der Homepage von Elfried
Jelinek vorangestellt. Im Stück selbst ist sie unter dem Namen Therese erkennbar.
Was für eine exzeptionelle Hommage!

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