DIE AFD ALS CHANCE FÜR DIE UNION
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Analysen /// Die Union muss sich der politischen Mitte weiter annähern DIE AfD ALS CHANCE FÜR DIE UNION Matthias Jung /// Die Etablierung der AfD geht bisher zu Lasten aller Parteien. Insofern kann ihr Erfolg keineswegs primär als Reaktion von Wählerschichten erklärt werden, die vom Modernisierungskurs der Union verschreckt sind. Eine Etablierung der AfD bietet für die Union sogar eine doppelte Chance: Zum einen wird ihre Fokus- sierung auf die politische Mitte glaubwürdiger, wenn rechtspopulistische Positionen außerhalb der Union ihre Heimat finden. Und zum anderen wird es schwerer für Rot- (Rot-)Grün, zu parlamentarischen Mehrheiten zu kommen. Der vermeintlich unaufhaltsame Auf- Gruppen leicht ein relativ stärkeres Ge- stieg der AfD und ihre Etablierung im wicht an der Wahlurne erreichen kön- Parteiensystem der Bundesrepublik nen. Zusätzlich relativierend ist anzu- wurden vor allem nach den Erfolgen merken, dass die Landtagswahlen im bei der Europawahl und den drei Land- Herbst 2014 alle im Osten stattgefun- tagswahlen 2014 diagnostiziert. Im Ge- den haben und zusammen nur knapp gensatz zur Bundestagswahl waren 12 % der bundesdeutschen Wahlbe- dies allerdings alles Wahlen von sehr rechtigten betrafen. Die Wahl in Ham- nachgeordneter Bedeutung. Die meis- burg wiederum hat eher kommunalen ten Bundesbürger erachten Landtags- Charakter. wahlen und schon gar die Europawahl als unwichtige Wahlen, bei denen auch AfD und die Linke schon in der Vergangenheit öfters „ex- Dennoch lohnt es sich, die Strukturen perimentelles“ Wahlverhalten feststell- der Wählerschaften insbesondere bei bar war. Zudem zeichneten sich alle den Landtagswahlen genauer zu be- vier Wahlen durch eine sehr niedrige trachten. Die AfD erzielte in Sachsen Wahlbeteiligung aus, wodurch beson- und Thüringen Ergebnisse um 10 % ders emotionalisierte und mobilisierte und in Brandenburg sogar mehr als 460 // PoLITISCHE STUDIEN 47
Quelle: Jens Schlueter/Getty Images Hier ist für die Union nichts zu holen: Die Union muss sich eindeutig von der AfD und von PEGIDA abgrenzen.
Analysen 12 %. Entgegen den Erwartungen vieler (Thüringen +2,3 und Brandenburg Kommentatoren, die von einem Wahler- +3,2). Während in Sachsen jeder vierte folg der AfD vor allem zu Lasten der AfD-Wähler angab, davor die CDU ge- Union ausgingen, zeigte die Befragung wählt zu haben, aber nur gut jeder am Wahltag1, bei der die Wähler unmit- Zehnte die Linke, rekrutierte die AfD in telbar nach dem Verlassen des Wahllo- Thüringen etwas mehr Wähler aus dem kals sowohl nach ihrer gerade getätigten ehemaligen Wählerlager der Linken als Wahlentscheidung als auch nach der Er- aus dem der CDU. In Brandenburg, wo innerung an ihr vergangenes Wahlver- die AfD am besten abgeschnitten hat, halten gefragt wurden, keineswegs ein waren 22 % ihrer Wähler ehemalige AfD-Ergebnis, das primär zu Lasten der Wähler der Linken und nur 14 % ehe- Union gegangen ist. Insgesamt kamen malige der CDU. In Hamburg kam der die meisten Wähler der AfD von der größte Anteil der AfD von denjenigen, Linken. Die Union hingegen konnte mit die bei der vorausgegangenen Wahl ent- Ausnahme von Sachsen, wo sie Verluste weder nicht gewählt oder für eine der von 0,8 Prozentpunkten hinnehmen nicht etablierten Parteien gestimmt hat- musste, trotz des guten Abschneidens ten. Lediglich ein Viertel der AfD-Stim- der AfD im Vergleich zur jeweils voraus- men – also insgesamt 1,5 % – stammten gegangenen Landtagswahl zulegen von der CDU. 460 // PoLITISCHE STUDIEN 49
Analysen Partei auch die größte Wirtschaftskom- petenz besitzt. AfD-Wähler sind mehr politisch und ökonomisch frustrierte PROTEST- Unzufriedenheit mit Demokratie WÄHLER und weniger von der CDU Zu diesen Einstellungen im ökonomi- enttäuschte Abweichler. schen Bereich, die ganz ähnlich ausfal- len wie bei den Wählern der Linken, kommt eine auch in bundesweiten Um- fragen feststellbare generelle Unzufrie- denheitsbekundung mit der Demokratie in Deutschland, die ebenfalls eine große Die Daten zeigen, dass es sich beim Ähnlichkeit der Einstellungsmuster Erfolg der AfD bei den zuvor genannten zwischen Linken und AfD auf der einen Wahlen nicht primär um eine Abwen- Seite und den anderen Parteien auf der dung bürgerlich-konservativer Wähler- anderen Seite aufzeigt: Auf die allgemei- schichten handeln kann, die vom Mo- ne Frage, ob die Menschen mit der De- dernisierungskurs der Union verärgert mokratie in Deutschland eher zufrieden sind. Vielmehr deutet dieser Befund da- sind oder eher unzufrieden, äußern je- rauf hin, dass es sich eher um allgemein weils rund drei Viertel der Anhänger politisch und ökonomisch enttäuschte von Union, SPD und Grünen eine Zu- Protestwähler handelt, die in den neuen friedenheit, während nur 45 % der An- Bundesländern früher überwiegend von hänger der Linken und sogar nur 33 % der Linken gebunden worden sind und derjenigen der AfD diese Meinung ver- die jetzt die AfD als Plattform ihrer Un- treten.2 zufriedenheit benutzen, ohne dass sie von der AfD eine Lösung konkreter po- litischer Probleme erwarten. AfD-Wähler sind wie die Linken Zwar ergibt sich in den drei Bundes- mit den DEMOKRATISCHEN Strukturen ländern kein vollkommen einheitliches in Deutschland unzufrieden. Bild, aber in Brandenburg geben unter- durchschnittlich viele AfD-Anhänger an, dass es ihnen wirtschaftlich gut Keine Ähnlichkeiten hingegen las- geht. In Sachsen und vor allem in Thü- sen sich zwischen den Anhängern der ringen sind AfD-Anhänger häufiger der Linken und der AfD finden, wenn es um Meinung, dass sie „weniger haben, als Fragen des Verhältnisses zu Ausländern ihnen gerechterweise zusteht“. Aller- und Positionen beim Thema Euro geht. dings ist die ökonomische Unzufrie- Auf die Frage, ob man glaubt, dass denheit bei AfD-Wählern deutlich die in Deutschland lebenden Ausländer schwächer ausgeprägt als z. B. bei den für Deutschland eher Vorteile bringen, Wählern der NPD, bei denen ein weit eher Nachteile bringen oder ob sich Vor- überdurchschnittlicher Anteil angibt, und Nachteile eher ausgleichen, gehen dass es ihnen wirtschaftlich eher 11 % der Gesamtbevölkerung davon schlecht geht. Unabhängig davon aus, dass die Ausländer in Deutschland glaubt nur eine Minderheit der AfD- unserem Land eher Nachteile bringen. Wähler, dass die von ihnen präferierte In allen Partei-Anhängergruppen außer 50 POLITISCHE STUDIEN // 460
bei der AfD liegen die entsprechenden Für einen Verbleib Griechenlands im Werte zwischen 16 % (Linke-Anhänger) Euro spricht sich eine Mehrheit von 54 % und 2 % (Grüne-Anhänger). Bei den der bundesrepublikanischen Bevölke- Anhängern der AfD hingegen gehen rung aus. Lediglich 36 % sind gegen ei- 43 % eher von Nachteilen aus, womit nen solchen Verbleib (10 % weiß nicht). sich diese Partei-Anhängergruppe mehr In allen Partei-Anhängergruppen außer als deutlich von allen anderen Parteila- der AfD gibt es eine deutliche Mehrheit gern unterscheidet.3 für einen Verbleib Griechenlands im Diese deutliche Distanz der poten- Euro (54 % bis 75 %). Lediglich bei den ziellen AfD-Wähler wird auch bei der Anhängern der AfD will nur eine Min- Bewertung der PEGIDA-Bewegung derheit von 26 % Griechenland im Euro sichtbar: In der Gesamtbevölkerung halten.5 Diese Frage wurde übrigens nach Deutschlands beurteilen die PEGIDA- der Wahl in Griechenland nicht viel an- Bewegung lediglich 18 % eher als gut ders beantwortet als davor. Diese Daten (im Osten sind es immerhin 28 %), ein- auf der Einstellungsebene beschreiben zig unter den AfD-Anhängern gibt es sehr deutlich, dass die Anhänger der AfD eine überdeutliche Mehrheit von 75 %, bei diesen Themen eine Sonderstellung die eine positive Bewertung von PEGIDA in der Gesamtheit der bundesrepublika- abgibt.4 nischen Bevölkerung einnehmen. 460 // PoLITISCHE STUDIEN 51
Analysen Abgrenzung der Union von der AfD keiten am seltensten präferiert wird Bei den bisherigen Wahlen, die jedoch (13 %). 65 % fänden eine solche Koaliti- nur mit Vorsicht auf zukünftige „wichti- on eher schlecht. Noch weniger Unter- ge“ Wahlen wie in Baden-Württemberg, stützung als in der Gesamtbevölkerung Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-West- findet eine mögliche Regierung aus falen übertragen werden können, ist kei- CDU/CSU und AfD bei den Unionsan- ne überdurchschnittliche Beeinträchti- hängern, wo lediglich 9 % ein solches gung des Abschneidens der Union fest- Regierungsmodell als gut bewerten, stellbar. In Hamburg ging das schlechte aber 70 % als schlecht. 8 Abschneiden der CDU ja einher mit ei- nem relativ bescheidenen Ergebnis für die AfD. Dieser Befund wird noch ver- deutlicht, wenn man explizit danach fragt, wie sich die Union gegenüber der Am erfolgreichsten scheinen AfD verhalten sollte: Während in der Parteien zu sein, wenn sie dem Kurs Gesamtbevölkerung 20 % eine Öffnung der MITTE folgen. der CDU/CSU in Hinblick auf eine Zu- sammenarbeit mit der AfD unterstützen und 67 % dagegen sind (13 % weiß nicht), plädieren von den Anhängern der CDU/CSU lediglich 15 % für mehr Zusammenarbeit mit der AfD, aber Strategische Folgerungen 75 % sprechen sich dagegen aus.6 Diese Was folgt aus diesem Befund für die Bewertung ist auch vor dem Hinter- strategische Situation der Union? Un- grund einer weit verbreiteten Stigmati- mittelbar nach dem erfolgreichen Er- sierung der AfD zu sehen: Während nur scheinen der Alternative für Deutsch- 27 % aller Befragten der Meinung sind, land haben viele Kommentatoren und dass man die Linke nicht wie eine nor- Parteifunktionäre den bekannten Satz male Partei behandeln soll, meinen Glei- von Franz Josef Strauß zitiert, dass es ches von der AfD 47 %, und nur 37 % „rechts von der CSU keine demokra- sind der Auffassung, dass man mit der tisch legitimierte Partei geben darf“. AfD umgehen sollte wie mit einer nor- Diese Aussage stammt aus einer Analy- malen Partei.7 se des damaligen CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten nach der Landtagswahl in Bayern 1986. Eine überdeutliche Mehrheit der Damals hatten die Republikaner 3 % AfD-Wähler bewertet die PEGIDA- der Stimmen in Bayern erzielt. Trotz Bewegung als POSITIV. heftigster Bemühungen der CSU, dieser Partei am rechten Rand entgegenzutre- ten, kamen die Republikaner bei der Eu- Entsprechend dieser klaren Ab- ropawahl 1989 in Bayern auf ein Ergeb- grenzung von der AfD ist eine poten- nis von 14,6 %. Strauß blieb es erspart, zielle Koalition aus CDU/CSU und dies noch miterleben zu müssen. AfD dasjenige Koalitionsmodell, das Mit Sicherheit war die Beurteilung im Vergleich zu allen anderen Möglich- des CSU-Vorsitzenden unter den Bedin- 52 POLITISCHE STUDIEN // 460
gungen des damaligen Parteiensystems blierten Parteien deutlich angestiegen. richtig. Das Parteiensystem bis weit in Dadurch haben insbesondere die bei- die 90er-Jahre war durch eine klare La- den großen Volksparteien grundsätz- gerstruktur geprägt. Es war für die je- lich die Chance, auch Wähler in bedeu- weiligen Parteien kaum möglich, in grö- tendem Umfang im jeweils anderen ßerem Umfang Wähler aus dem jeweils Wählerlager dazuzugewinnen. Dass ein anderen politischen Lager dazuzuge- Kurs der Mitte nicht nur für die Union winnen. Insofern stellte das Aufkom- erfolgreich sein kann, zeigt gerade auch men einer neuen Partei im jeweiligen das Wahlergebnis der SPD in Hamburg. Lager eine massive Bedrohung für die Entscheidende Wahlerfolge sind näm- etablierten Parteien des jeweils gleichen lich inzwischen nur noch möglich, Lagers dar. Sehr eindrucksvoll sichtbar wenn sich die Volksparteien in der Mit- wurde dies beim Aufkommen der Grü- te und damit jeweils teilweise im ehe- nen, das weitgehend zu Lasten der SPD mals anderen Wählerlager etablieren ging. Unser heutiges Parteiensystem ist können. Diese deutliche Veränderung jedoch keineswegs mehr durch so eine der Rahmenbedingungen unseres Par- eindeutige Lagerorientierung geprägt. teiensystems wird zum Beispiel sehr Durch die rasante Entideologisierung plastisch, wenn man sich die Koaliti- des Politischen ist die Volatilität im onsbewertungen der Unionsanhänger Wahlverhalten bei gleichzeitiger pro- jeweils vor den letzten drei Bundestags- grammatischer Annäherung der eta wahlen anschaut. 460 // PoLITISCHE STUDIEN 53
Analysen Während bei der Bundestagswahl luste an diese Partei durch Zugewinne 2005 die Unionsanhänger noch ganz in der politischen Mitte mindestens eindeutig eine Koalition mit der FDP ei- kompensieren kann, dann ist die Aussa- ner großen Koalition vorzogen, war vor ge von Franz Josef Strauß unter den heu- der letzten Bundestagswahl bei den Uni- tigen Bedingungen des Parteiensystems onsanhängern fast eine Äquidistanz kein strategisches Muss für die Union. entstanden. Auch bei einer Analyse der Wählerpotenziale, bei der nicht nur die Wählerreservoir der politischen Wahlabsicht berücksichtigt wird, son- Mitte dern auch das, was sich die Wählerin- Entscheidend für den Erfolg der CDU/ nen und Wähler an anderen Parteien CSU ist deshalb in erster Linie, in wel- chem Umfang es ihr gelingt, Wähler in der politischen Mitte zu erreichen. Diese Die Union muss sich der politischen Aufgabe ist von strategisch übergeordne- Mitte annähern, da sie sich nicht mehr auf ter Bedeutung und auch ganz unabhän- ihre Kernklientel wie z. B. im KATHOLISCHEN gig von der Zukunft der AfD. Diese be- Milieu stützen kann. sondere Notwendigkeit, in großem Um- fang Wähler in der politischen Mitte da- zuzugewinnen, ergibt sich aus der noch vorstellen können zu wählen, zeigt Altersstruktur der Wählerschaft der es sich, dass die Schnittmengen zwi- CDU/CSU: Im Gegensatz zu allen ande- schen Union, FDP, SPD und Grünen in- ren Parteien liegen die Schwerpunkte der zwischen ähnlich groß geworden sind: Zustimmung zu den Unionsparteien in So konnten sich unmittelbar vor der den älteren Wählerschichten. Daraus re- letzten Bundestagswahl 17 % aller sultiert aber auch die Tatsache, dass die Wahlberechtigten vorstellen, sowohl die Wähler der Union viel schneller wegster- Unionsparteien als auch die FDP zu ben als die der anderen Parteien. So erlei- wählen, gleichfalls 17 % konnten sich det die CDU/CSU pro Legislaturperiode vorstellen, sowohl die Union als auch allein durch Tod ihrer Wähler Verluste die Sozialdemokraten zu wählen, und von gut einer Million. Insofern muss sie sogar 13 % waren für eine Wahl von von Wahl zu Wahl neue Wähler in dieser Union und Grünen grundsätzlich offen. Größenordnung dazugewinnen, um we- Deutlich isoliert hingegen blieben die nigstens ihr Ergebnis halten zu können. Potenzial-Überschneidungen an den je- Selbst wenn eine Partei wie die AfD aus weiligen Rändern des Parteiensystems: allen Wählerlagern ihre Anhänger re Nur 9 % der Wähler konnten sich je- krutieren kann, bedeutet dies zusätzli- weils vorstellen, Sozialdemokraten oder che Verluste für die CDU/CSU, die eben- Linke zu wählen, und nur für 6 % war falls kompensiert werden müssen. sowohl eine Wahl von CDU/CSU als auch AfD denkbar.9 Schrumpfende Kernklientel Wenn aber das Aufkommen einer der Union neuen Partei rechts von der Union nicht Konservative und traditionelle Kom- zwangsläufig zu einem Nullsummen- mentatoren und Parteivertreter fordern spiel im entsprechenden Lager führt, immer wieder die Rückbesinnung der sondern wenn die Union mögliche Ver- Union auf ihre klassische Kernklientel. 54 POLITISCHE STUDIEN // 460
Dies ist in der Vergangenheit, die jetzt diesem Zugewinn keine wesentliche aber auch schon länger zurückliegt, in Verbesserung des Gesamtergebnisses erster Linie die Gruppe der kirchlich der CDU/CSU zu erreichen. Es ist somit gebundenen Katholiken gewesen. offensichtlich, dass die Rekrutierung Durch die Säkularisierung unserer Ge- neuer Wähler schon aus quantitativen sellschaft und die massive Zurück- Gründen nicht überwiegend aus der al- drängung alles Ideologischen und ten Kernklientel der CDU/CSU erfolgen Konfessionellen hat die Bedeutung die- kann. ser gesellschaftlichen Gruppe in den letzten Jahrzehnten aber erheblich an Zielgruppen der politischen Mitte Bedeutung verloren: So ist der Anteil Entscheidend für die Chancen, neue der Katholiken an der Gesamtbevölke- Wähler für die CDU/CSU zu gewinnen, rung nicht nur durch das Hinzukom- sind somit die Rahmenbedingungen, die men der überwiegend konfessionslo- in der politischen Mitte unserer Gesell- sen neuen Bundesländer eingebrochen, schaft zu finden sind. Dass die politische sondern auch, weil selbst im Westen Mitte für eine solche Strategie der sinn- die Zahl der Kirchenaustritte und To- vollste Bereich ist, ergibt sich schon auf- desfälle die Zahl der Taufen deutlich grund ihrer zahlenmäßigen Stärke. So übersteigt. finden sich in unserer heutigen Gesell- Aber nicht nur der Anteil der Katho- schaft die allermeisten Wählerinnen und liken als solcher ist stark rückläufig, vor Wähler in der politischen Mitte: Bei einer allem ist der Anteil innerhalb der sin- Selbsteinstufung auf der Rechts-Links- kenden Zahl von Katholiken, die sich Skala beispielsweise sortieren sich mehr der katholischen Kirche verbunden füh- als 60 % aller Befragten in einer sehr eng len, massiv zurückgegangen: Während gefassten Mitte ein. Weitere 20 % kom- noch in den 60er-Jahren rund die Hälfte men hinzu, wenn man den Begriff der aller westdeutschen Katholiken sich politischen Mitte etwas weiter fasst. So- stark mit der katholischen Kirche identi- mit sprechen wir von bis zu 80 % der Ge- fiziert hat, beträgt der entsprechende samtbevölkerung, wenn die politische Anteil heute gerade mal 20 %. Bezogen Mitte in den Blick genommen wird. auf die Gesamtheit aller Wahlberechtig- Wenn es um die Bestimmung von ten in Deutschland stellen die Katholi- konkreten Zielgruppen geht, um die ken mit einer starken Kirchenbindung sich die Union zukünftig noch stärker gerade 8 % aller Wahlberechtigten. kümmern muss, um erhebliche Wähler- Während bei der Bundestagswahl 1976 noch 37 % aller Wähler der CDU/CSU aus der Gruppe der Katholiken mit star- ker Kirchenbindung stammten, waren das trotz seither fast unverändertem Bei der Zielgruppendiskussion Wahlverhalten innerhalb dieser Gruppe muss die Union auch unmittelbar bei der letzten Bundestagswahl nur nicht erreichbare demographische noch 9 %. Selbst wenn es gelänge, den Gruppen berücksichtigen. Wahlanteil für die CDU/CSU in dieser Gruppe von zur Zeit über 70 % auf un- realistische 90 % zu steigern, wäre mit 460 // PoLITISCHE STUDIEN 55
Analysen massen dazuzugewinnen, müssen auch Grundlage für seine langjährige Regie- die großen demographischen Gruppen rungstätigkeit war. Es ist dabei weder berücksichtigt werden, in denen sie bis- sinnvoll noch notwendig, die program- her unterdurchschnittliche Ergebnisse matische Modernisierung der Union erzielt hat. Bei der Definition von Ziel- als reine Sozialdemokratisierung zu be- gruppen muss man sich zudem von der treiben. Die Union darf sich aber der Idee befreien, dass es immer nur darum Notwendigkeit nicht verweigern, Ant- geht, Zielgruppen direkt zu bedienen. worten auf die neuen gesellschaftlichen Man kann auch bei bestimmten Ziel- Herausforderungen und der modernen gruppen punkten, wenn man dringende Strukturen in Familie und Wirtschaft gesellschaftliche Probleme löst, auch zu suchen. wenn von diesen Lösungen die ins Auge gefassten Zielgruppen nicht unmittelbar profitieren. So dürfte beispielsweise eine Die Chancen für Rot-Grün werden wirksame Integration von Ausländern sich durch den Einzug der AfD in die und Flüchtlingen in den ökonomischen Parlamente VERRINGERN. Produktionsprozess nur wenig bei den davon unmittelbar Profitierenden zu Bu- che schlagen. Eine moderne aufge- Die Etablierung der AfD kann sich schlossene Mittelschicht wird es aber dabei als hilfreich für die Verbesserung gerne sehen, wenn aus sozialhilfebe- der Glaubwürdigkeit der Union erwei- rechtigten Flüchtlingen und Asylanten sen. Sie kann rechtspopulistische Positi- leistungsorientierte Werktätige werden. onen und Personen außerhalb einer sich Ebenso positiv nehmen es auch Groß- von der AfD entschieden abgrenzenden mütter mit einer eigenen Hausfrauen- Union binden. Die CDU/CSU ist durch karriere auf, wenn sie sehen, dass für die bloße Existenz der AfD vom latenten ihre berufstätige Tochter Rahmenbe- Vorwurf befreit, rechts zu sein, was an- dingungen geschaffen werden, die es ders als in den meisten europäischen dieser erlaubt, Beruf und Familie besser Ländern in Deutschland einen stigmati- vereinbaren zu können. sierenden Charakter hat. Aber auch wenn es die AfD der CDU/CSU erleich- Glaubwürdigkeit der tert, so muss sich die Union dennoch in- Modernisierung tensiv darum bemühen, ihren Moderni- Wenn die Union in der modernen poli- sierungsprozess weiter voranzutreiben tischen Mitte überzeugen will, dann und zukunftsweisende Antworten auf darf sie insbesondere nicht als die Par- gesellschaftliche und soziale Probleme tei der Ewiggestrigen verdächtigt wer- gerade auch angesichts der demographi- den, die versucht, mit den Antworten schen Verwerfungen zu geben. Hier wird von gestern die Probleme der Zukunft mehr Mut als Angst vor dem ein oder an- lösen zu wollen. Diese Herausforde- deren Tabubruch benötigt. rung der programmatischen Moderni- sierung ist heute ähnlich groß wie die Verringerte Mehrheitschance für programmatische Modernisierung, die Rot-(Rot-)Grün der junge Helmut Kohl der CDU in den Neben der unfreiwilligen Unterstützung 70er-Jahren zugemutet hat und die die der AfD für die programmatische Mo- 56 POLITISCHE STUDIEN // 460
dernisierung der Union spricht einiges Positionen zu bedienen, kann sie dank dafür, dass sich durch einen Einzug der der Präsenz der AfD beim Volatilitäts- AfD in wichtige westliche Landtage (Ba- publikum in der politischen Mitte wei- den-Württemberg, Rheinland-Pfalz, ter an Glaubwürdigkeit gewinnen. Aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen) diesen Gründen kann sich das Erschei- die Chancen für parlamentarische nen der AfD im politischen System mehr Mehrheiten von Rot-Grün oder sogar als Segen denn als Fluch für die Union Rot-Rot-Grün deutlich verringern. Dies erweisen. /// ist jedenfalls dann der Fall, wenn weiter- hin wesentliche Teile der AfD-Wähler- schaft nicht nur aus dem Unionswähler- lager kommen. Diese beiden positiven Effekte für die Union kommen aber nur zum Tra- gen, wenn die CDU und die CSU eine geschlossene und eindeutige Abgren- zung von der AfD vornehmen. Dabei würde eine zu intensive Auseinander- /// Matthias Jung setzung mit der AfD nur zu deren Auf- ist Vorstand der Forschungsgruppe Wah- wertung führen. Ein weitgehendes len, Mannheim. „rechts-Liegenlassen“ verspricht den größeren Effekt. Jeder Ansatz einer Kumpanei hingegen (wie zuletzt in Thü- Anmerkungen 1 Forschungsgruppe Wahlen: Befragung am Wahl- ringen) beschädigt die Chancen der tag (exit poll); jeweils gut 15.000 Interviews. 2 Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer Union, sich als die alternativlose Partei 5. KW/2015 – repräsentative Bundesumfrage (hier der politischen Mitte weiter zu etablie- und im Folgenden jeweils gut 1.250 Befragte). 3 Politbarometer 3. KW/2015. ren. 4 Politbarometer 5. KW/2015. Das Wahlergebnis in Hamburg hat 5 Ebd. 6 Politbarometer 50. KW/2014. gezeigt, dass der Aufstieg der AfD im 7 Ebd. Westen auch bei für die AfD günstigen 8 Politbarometer 39. KW/2014. 9 Politbarometer 37. KW/2013. Rahmenbedingungen (Euro-Krise, hohe Relevanz der Ausländerproblema- tik) offensichtlich begrenzt bleibt. Gleichzeitig scheint sich die AfD aber so weit zu stabilisieren, dass mit einer Eta- blierung auch in anderen westlichen Ländern zu rechnen ist, was aus den zu- vor beschriebenen Gründen die Mehr- heitschancen für Rot-(Rot-)Grün in Zu- kunft deutlich reduzieren dürfte. Wenn also die Union in Bezug auf die AfD ei- nen kühlen Kopf bewahrt, sich von ihr klar abgrenzt und sich gleichzeitig in- tensiv um die Lösung der anstehenden Probleme kümmert, ohne populistische 460 // PoLITISCHE STUDIEN 57
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