DIE AFD ALS CHANCE FÜR DIE UNION

 
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DIE AFD ALS CHANCE FÜR DIE UNION
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/// Die Union muss sich der politischen Mitte weiter annähern

DIE AfD ALS CHANCE FÜR DIE UNION
Matthias Jung /// Die Etablierung der AfD geht bisher zu Lasten aller Parteien.
Insofern kann ihr Erfolg keineswegs primär als Reaktion von Wählerschichten erklärt
werden, die vom Modernisierungskurs der Union verschreckt sind. Eine Etablierung
der AfD bietet für die Union sogar eine doppelte Chance: Zum einen wird ihre Fokus-
sierung auf die politische Mitte glaubwürdiger, wenn rechtspopulistische Positionen
außerhalb der Union ihre Heimat finden. Und zum anderen wird es schwerer für Rot-
(Rot-)Grün, zu parlamentarischen Mehrheiten zu kommen.

Der vermeintlich unaufhaltsame Auf-       Gruppen leicht ein relativ stärkeres Ge-
stieg der AfD und ihre Etablierung im     wicht an der Wahlurne erreichen kön-
Parteiensystem der Bundesrepublik         nen. Zusätzlich relativierend ist anzu-
wurden vor allem nach den Erfolgen        merken, dass die Landtagswahlen im
bei der Europawahl und den drei Land-     Herbst 2014 alle im Osten stattgefun-
tagswahlen 2014 diagnostiziert. Im Ge-    den haben und zusammen nur knapp
gensatz zur Bundestagswahl waren          12 % der bundesdeutschen Wahlbe-
dies allerdings alles Wahlen von sehr     rechtigten betrafen. Die Wahl in Ham-
nachgeordneter Bedeutung. Die meis-       burg wiederum hat eher kommunalen
ten Bundesbürger erachten Landtags-       Charakter.
wahlen und schon gar die Europawahl
als unwichtige Wahlen, bei denen auch         AfD und die Linke
schon in der Vergangenheit öfters „ex-    Dennoch lohnt es sich, die Strukturen
perimentelles“ Wahlverhalten feststell-   der Wählerschaften insbesondere bei
bar war. Zudem zeichneten sich alle       den Landtagswahlen genauer zu be-
vier Wahlen durch eine sehr niedrige      trachten. Die AfD erzielte in Sachsen
Wahlbeteiligung aus, wodurch beson-       und Thüringen Ergebnisse um 10 %
ders emotionalisierte und mobilisierte    und in Brandenburg sogar mehr als
                                                                 460 // PoLITISCHE STUDIEN   47
Quelle: Jens Schlueter/Getty Images

                                      Hier ist für die Union nichts zu holen:
                                      Die Union muss sich eindeutig von der
                                      AfD und von PEGIDA abgrenzen.
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12 %. Entgegen den Erwartungen vieler      (Thüringen +2,3 und Brandenburg
Kommentatoren, die von einem Wahler-       +3,2). Während in Sachsen jeder vierte
folg der AfD vor allem zu Lasten der       AfD-Wähler angab, davor die CDU ge-
Union ausgingen, zeigte die Befragung      wählt zu haben, aber nur gut jeder
am Wahltag1, bei der die Wähler unmit-     Zehnte die Linke, rekrutierte die AfD in
telbar nach dem Verlassen des Wahllo-      Thüringen etwas mehr Wähler aus dem
kals sowohl nach ihrer gerade getätigten   ehemaligen Wählerlager der Linken als
Wahlentscheidung als auch nach der Er-     aus dem der CDU. In Brandenburg, wo
innerung an ihr vergangenes Wahlver-       die AfD am besten abgeschnitten hat,
halten gefragt wurden, keineswegs ein      waren 22 % ihrer Wähler ehemalige
AfD-Ergebnis, das primär zu Lasten der     Wähler der Linken und nur 14 % ehe-
Union gegangen ist. Insgesamt kamen        malige der CDU. In Hamburg kam der
die meisten Wähler der AfD von der         größte Anteil der AfD von denjenigen,
Linken. Die Union hingegen konnte mit      die bei der vorausgegangenen Wahl ent-
Ausnahme von Sachsen, wo sie Verluste      weder nicht gewählt oder für eine der
von 0,8 Prozentpunkten hinnehmen           nicht etablierten Parteien gestimmt hat-
musste, trotz des guten Abschneidens       ten. Lediglich ein Viertel der AfD-Stim-
der AfD im Vergleich zur jeweils voraus-   men – also insgesamt 1,5 % – stammten
gegangenen Landtagswahl zulegen            von der CDU.

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                                                      Partei auch die größte Wirtschaftskom-
                                                      petenz besitzt.
       AfD-Wähler sind mehr politisch
       und ökonomisch frustrierte PROTEST-                Unzufriedenheit mit Demokratie
       WÄHLER und weniger von der CDU                 Zu diesen Einstellungen im ökonomi-
       enttäuschte Abweichler.                        schen Bereich, die ganz ähnlich ausfal-
                                                      len wie bei den Wählern der Linken,
                                                      kommt eine auch in bundesweiten Um-
                                                      fragen feststellbare generelle Unzufrie-
                                                      denheitsbekundung mit der Demokratie
                                                      in Deutschland, die ebenfalls eine große
               Die Daten zeigen, dass es sich beim    Ähnlichkeit der Einstellungsmuster
          Erfolg der AfD bei den zuvor genannten      zwischen Linken und AfD auf der einen
          Wahlen nicht primär um eine Abwen-          Seite und den anderen Parteien auf der
          dung bürgerlich-konservativer Wähler-       anderen Seite aufzeigt: Auf die allgemei-
          schichten handeln kann, die vom Mo-         ne Frage, ob die Menschen mit der De-
          dernisierungskurs der Union verärgert       mokratie in Deutschland eher zufrieden
          sind. Vielmehr deutet dieser Befund da-     sind oder eher unzufrieden, äußern je-
          rauf hin, dass es sich eher um allgemein    weils rund drei Viertel der Anhänger
          politisch und ökonomisch enttäuschte        von Union, SPD und Grünen eine Zu-
          Protestwähler handelt, die in den neuen     friedenheit, während nur 45 % der An-
          Bundesländern früher überwiegend von        hänger der Linken und sogar nur 33 %
          der Linken gebunden worden sind und         derjenigen der AfD diese Meinung ver-
          die jetzt die AfD als Plattform ihrer Un-   treten.2
          zufriedenheit benutzen, ohne dass sie
          von der AfD eine Lösung konkreter po-
          litischer Probleme erwarten.                AfD-Wähler sind wie die Linken
               Zwar ergibt sich in den drei Bundes-   mit den DEMOKRATISCHEN Strukturen
          ländern kein vollkommen einheitliches       in Deutschland unzufrieden.
          Bild, aber in Brandenburg geben unter-
          durchschnittlich viele AfD-Anhänger
          an, dass es ihnen wirtschaftlich gut            Keine Ähnlichkeiten hingegen las-
          geht. In Sachsen und vor allem in Thü-      sen sich zwischen den Anhängern der
          ringen sind AfD-Anhänger häufiger der       Linken und der AfD finden, wenn es um
          Meinung, dass sie „weniger haben, als       Fragen des Verhältnisses zu Ausländern
          ihnen gerechterweise zusteht“. Aller-       und Positionen beim Thema Euro geht.
          dings ist die ökonomische Unzufrie-             Auf die Frage, ob man glaubt, dass
          denheit bei AfD-Wählern deutlich            die in Deutschland lebenden Ausländer
          schwächer ausgeprägt als z. B. bei den      für Deutschland eher Vorteile bringen,
          Wählern der NPD, bei denen ein weit         eher Nachteile bringen oder ob sich Vor-
          überdurchschnittlicher Anteil angibt,       und Nachteile eher ausgleichen, gehen
          dass es ihnen wirtschaftlich eher           11 % der Gesamtbevölkerung davon
          schlecht geht. Unabhängig davon             aus, dass die Ausländer in Deutschland
          glaubt nur eine Minderheit der AfD-         unserem Land eher Nachteile bringen.
          Wähler, dass die von ihnen präferierte      In allen Partei-Anhängergruppen außer
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bei der AfD liegen die entsprechenden          Für einen Verbleib Griechenlands im
Werte zwischen 16 % (Linke-Anhänger)       Euro spricht sich eine Mehrheit von 54 %
und 2 % (Grüne-Anhänger). Bei den          der bundesrepublikanischen Bevölke-
Anhängern der AfD hingegen gehen           rung aus. Lediglich 36 % sind gegen ei-
43 % eher von Nachteilen aus, womit        nen solchen Verbleib (10 % weiß nicht).
sich diese Partei-Anhängergruppe mehr      In allen Partei-Anhängergruppen außer
als deutlich von allen anderen Parteila-   der AfD gibt es eine deutliche Mehrheit
gern unterscheidet.3                       für einen Verbleib Griechenlands im
    Diese deutliche Distanz der poten-     Euro (54 % bis 75 %). Lediglich bei den
ziellen AfD-Wähler wird auch bei der       Anhängern der AfD will nur eine Min-
Bewertung der PEGIDA-Bewegung              derheit von 26 % Griechenland im Euro
sichtbar: In der Gesamtbevölkerung         halten.5 Diese Frage wurde übrigens nach
Deutschlands beurteilen die PEGIDA-        der Wahl in Griechenland nicht viel an-
Bewegung lediglich 18 % eher als gut       ders beantwortet als davor. Diese Daten
(im Osten sind es immerhin 28 %), ein-     auf der Einstellungsebene beschreiben
zig unter den AfD-Anhängern gibt es        sehr deutlich, dass die Anhänger der AfD
eine überdeutliche Mehrheit von 75 %,      bei diesen Themen eine Sonderstellung
die eine positive Bewertung von PEGIDA     in der Gesamtheit der bundesrepublika-
abgibt.4                                   nischen Bevölkerung einnehmen.
                                                                  460 // PoLITISCHE STUDIEN   51
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              Abgrenzung der Union von der AfD       keiten am seltensten präferiert wird
          Bei den bisherigen Wahlen, die jedoch      (13 %). 65 % fänden eine solche Koaliti-
          nur mit Vorsicht auf zukünftige „wichti-   on eher schlecht. Noch weniger Unter-
          ge“ Wahlen wie in Baden-Württemberg,       stützung als in der Gesamtbevölkerung
          Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-West-       findet eine mögliche Regierung aus
          falen übertragen werden können, ist kei-   CDU/CSU und AfD bei den Unionsan-
          ne überdurchschnittliche Beeinträchti-     hängern, wo lediglich 9 % ein solches
          gung des Abschneidens der Union fest-      Regierungsmodell als gut bewerten,
          stellbar. In Hamburg ging das schlechte    aber 70 % als schlecht. 8
          Abschneiden der CDU ja einher mit ei-
          nem relativ bescheidenen Ergebnis für
          die AfD. Dieser Befund wird noch ver-
          deutlicht, wenn man explizit danach
          fragt, wie sich die Union gegenüber der      Am erfolgreichsten scheinen
          AfD verhalten sollte: Während in der         Parteien zu sein, wenn sie dem Kurs
          Gesamtbevölkerung 20 % eine Öffnung          der MITTE folgen.
          der CDU/CSU in Hinblick auf eine Zu-
          sammenarbeit mit der AfD unterstützen
          und 67 % dagegen sind (13 % weiß
          nicht), plädieren von den Anhängern
          der CDU/CSU lediglich 15 % für mehr
          Zusammenarbeit mit der AfD, aber               Strategische Folgerungen
          75 % sprechen sich dagegen aus.6 Diese     Was folgt aus diesem Befund für die
          Bewertung ist auch vor dem Hinter-         strategische Situation der Union? Un-
          grund einer weit verbreiteten Stigmati-    mittelbar nach dem erfolgreichen Er-
          sierung der AfD zu sehen: Während nur      scheinen der Alternative für Deutsch-
          27 % aller Befragten der Meinung sind,     land haben viele Kommentatoren und
          dass man die Linke nicht wie eine nor-     Parteifunktionäre den bekannten Satz
          male Partei behandeln soll, meinen Glei-   von Franz Josef Strauß zitiert, dass es
          ches von der AfD 47 %, und nur 37 %        „rechts von der CSU keine demokra-
          sind der Auffassung, dass man mit der      tisch legitimierte Partei geben darf“.
          AfD umgehen sollte wie mit einer nor-      Diese Aussage stammt aus einer Analy-
          malen Partei.7                             se des damaligen CSU-Vorsitzenden
                                                     und bayerischen Ministerpräsidenten
                                                     nach der Landtagswahl in Bayern 1986.
Eine überdeutliche Mehrheit der                      Damals hatten die Republikaner 3 %
AfD-Wähler bewertet die PEGIDA-                      der Stimmen in Bayern erzielt. Trotz
Bewegung als POSITIV.                                heftigster Bemühungen der CSU, dieser
                                                     Partei am rechten Rand entgegenzutre-
                                                     ten, kamen die Republikaner bei der Eu-
              Entsprechend dieser klaren Ab-         ropawahl 1989 in Bayern auf ein Ergeb-
          grenzung von der AfD ist eine poten-       nis von 14,6 %. Strauß blieb es erspart,
          zielle Koalition aus CDU/CSU und           dies noch miterleben zu müssen.
          AfD dasjenige Koalitionsmodell, das            Mit Sicherheit war die Beurteilung
          im Vergleich zu allen anderen Möglich-     des CSU-Vorsitzenden unter den Bedin-
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gungen des damaligen Parteiensystems        blierten Parteien deutlich angestiegen.
richtig. Das Parteiensystem bis weit in     Dadurch haben insbesondere die bei-
die 90er-Jahre war durch eine klare La-     den großen Volksparteien grundsätz-
gerstruktur geprägt. Es war für die je-     lich die Chance, auch Wähler in bedeu-
weiligen Parteien kaum möglich, in grö-     tendem Umfang im jeweils anderen
ßerem Umfang Wähler aus dem jeweils         Wählerlager dazuzugewinnen. Dass ein
anderen politischen Lager dazuzuge-         Kurs der Mitte nicht nur für die Union
winnen. Insofern stellte das Aufkom-        erfolgreich sein kann, zeigt gerade auch
men einer neuen Partei im jeweiligen        das Wahlergebnis der SPD in Hamburg.
Lager eine massive Bedrohung für die        Entscheidende Wahlerfolge sind näm-
etablierten Parteien des jeweils gleichen   lich inzwischen nur noch möglich,
Lagers dar. Sehr eindrucksvoll sichtbar     wenn sich die Volksparteien in der Mit-
wurde dies beim Aufkommen der Grü-          te und damit jeweils teilweise im ehe-
nen, das weitgehend zu Lasten der SPD       mals anderen Wählerlager etablieren
ging. Unser heutiges Parteiensystem ist     können. Diese deutliche Veränderung
jedoch keineswegs mehr durch so eine        der Rahmenbedingungen unseres Par-
eindeutige Lagerorientierung geprägt.       teiensystems wird zum Beispiel sehr
Durch die rasante Entideologisierung        plastisch, wenn man sich die Koaliti-
des Politischen ist die Volatilität im      onsbewertungen der Unionsanhänger
Wahlverhalten bei gleichzeitiger pro-       jeweils vor den letzten drei Bundestags-
grammatischer Annäherung der eta­           wahlen anschaut.

                                                                   460 // PoLITISCHE STUDIEN   53
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              Während bei der Bundestagswahl         luste an diese Partei durch Zugewinne
          2005 die Unionsanhänger noch ganz          in der politischen Mitte mindestens
          eindeutig eine Koalition mit der FDP ei-   kompensieren kann, dann ist die Aussa-
          ner großen Koalition vorzogen, war vor     ge von Franz Josef Strauß unter den heu-
          der letzten Bundestagswahl bei den Uni-    tigen Bedingungen des Parteiensystems
          onsanhängern fast eine Äquidistanz         kein strategisches Muss für die Union.
          entstanden. Auch bei einer Analyse der
          Wählerpotenziale, bei der nicht nur die        Wählerreservoir der politischen
          Wahlabsicht berücksichtigt wird, son-          Mitte
          dern auch das, was sich die Wählerin-      Entscheidend für den Erfolg der CDU/
          nen und Wähler an anderen Parteien         CSU ist deshalb in erster Linie, in wel-
                                                     chem Umfang es ihr gelingt, Wähler in
                                                     der politischen Mitte zu erreichen. Diese
Die Union muss sich der politischen                  Aufgabe ist von strategisch übergeordne-
Mitte annähern, da sie sich nicht mehr auf           ter Bedeutung und auch ganz unabhän-
ihre Kernklientel wie z. B. im KATHOLISCHEN          gig von der Zukunft der AfD. Diese be-
Milieu stützen kann.                                 sondere Notwendigkeit, in großem Um-
                                                     fang Wähler in der politischen Mitte da-
                                                     zuzugewinnen, ergibt sich aus der
          noch vorstellen können zu wählen, zeigt    Altersstruktur der Wählerschaft der
          es sich, dass die Schnittmengen zwi-       CDU/CSU: Im Gegensatz zu allen ande-
          schen Union, FDP, SPD und Grünen in-       ren Parteien liegen die Schwerpunkte der
          zwischen ähnlich groß geworden sind:       Zustimmung zu den Unionsparteien in
          So konnten sich unmittelbar vor der        den älteren Wählerschichten. Daraus re-
          letzten Bundestagswahl 17 % aller          sultiert aber auch die Tatsache, dass die
          Wahlberechtigten vorstellen, sowohl die    Wähler der Union viel schneller wegster-
          Unionsparteien als auch die FDP zu         ben als die der anderen Parteien. So erlei-
          wählen, gleichfalls 17 % konnten sich      det die CDU/CSU pro Legislaturperiode
          vorstellen, sowohl die Union als auch      allein durch Tod ihrer Wähler Verluste
          die Sozialdemokraten zu wählen, und        von gut einer Million. Insofern muss sie
          sogar 13 % waren für eine Wahl von         von Wahl zu Wahl neue Wähler in dieser
          Union und Grünen grundsätzlich offen.      Größenordnung dazugewinnen, um we-
          Deutlich isoliert hingegen blieben die     nigstens ihr Ergebnis halten zu können.
          Potenzial-Überschneidungen an den je-      Selbst wenn eine Partei wie die AfD aus
          weiligen Rändern des Parteiensystems:      allen Wählerlagern ihre Anhänger re­
          Nur 9 % der Wähler konnten sich je-        krutieren kann, bedeutet dies zusätzli-
          weils vorstellen, Sozialdemokraten oder    che Verluste für die CDU/CSU, die eben-
          Linke zu wählen, und nur für 6 % war       falls kompensiert werden müssen.
          sowohl eine Wahl von CDU/CSU als
          auch AfD denkbar.9                           Schrumpfende Kernklientel
              Wenn aber das Aufkommen einer            der Union
          neuen Partei rechts von der Union nicht    Konservative und traditionelle Kom-
          zwangsläufig zu einem Nullsummen-          mentatoren und Parteivertreter fordern
          spiel im entsprechenden Lager führt,       immer wieder die Rückbesinnung der
          sondern wenn die Union mögliche Ver-       Union auf ihre klassische Kernklientel.
54   POLITISCHE STUDIEN // 460
Dies ist in der Vergangenheit, die jetzt      diesem Zugewinn keine wesentliche
aber auch schon länger zurückliegt, in        Verbesserung des Gesamtergebnisses
erster Linie die Gruppe der kirchlich         der CDU/CSU zu erreichen. Es ist somit
gebundenen Katholiken gewesen.                offensichtlich, dass die Rekrutierung
Durch die Säkularisierung unserer Ge-         neuer Wähler schon aus quantitativen
sellschaft und die massive Zurück-            Gründen nicht überwiegend aus der al-
drängung alles Ideologischen und              ten Kernklientel der CDU/CSU erfolgen
Konfessionellen hat die Bedeutung die-        kann.
ser gesellschaftlichen Gruppe in den
letzten Jahrzehnten aber erheblich an             Zielgruppen der politischen Mitte
Bedeutung verloren: So ist der Anteil         Entscheidend für die Chancen, neue
der Katholiken an der Gesamtbevölke-          Wähler für die CDU/CSU zu gewinnen,
rung nicht nur durch das Hinzukom-            sind somit die Rahmenbedingungen, die
men der überwiegend konfessionslo-            in der politischen Mitte unserer Gesell-
sen neuen Bundesländer eingebrochen,          schaft zu finden sind. Dass die politische
sondern auch, weil selbst im Westen           Mitte für eine solche Strategie der sinn-
die Zahl der Kirchenaustritte und To-         vollste Bereich ist, ergibt sich schon auf-
desfälle die Zahl der Taufen deutlich         grund ihrer zahlenmäßigen Stärke. So
übersteigt.                                   finden sich in unserer heutigen Gesell-
    Aber nicht nur der Anteil der Katho-      schaft die allermeisten Wählerinnen und
liken als solcher ist stark rückläufig, vor   Wähler in der politischen Mitte: Bei einer
allem ist der Anteil innerhalb der sin-       Selbsteinstufung auf der Rechts-Links-
kenden Zahl von Katholiken, die sich          Skala beispielsweise sortieren sich mehr
der katholischen Kirche verbunden füh-        als 60 % aller Befragten in einer sehr eng
len, massiv zurückgegangen: Während           gefassten Mitte ein. Weitere 20 % kom-
noch in den 60er-Jahren rund die Hälfte       men hinzu, wenn man den Begriff der
aller westdeutschen Katholiken sich           politischen Mitte etwas weiter fasst. So-
stark mit der katholischen Kirche identi-     mit sprechen wir von bis zu 80 % der Ge-
fiziert hat, beträgt der entsprechende        samtbevölkerung, wenn die politische
Anteil heute gerade mal 20 %. Bezogen         Mitte in den Blick genommen wird.
auf die Gesamtheit aller Wahlberechtig-           Wenn es um die Bestimmung von
ten in Deutschland stellen die Katholi-       konkreten Zielgruppen geht, um die
ken mit einer starken Kirchenbindung          sich die Union zukünftig noch stärker
gerade 8 % aller Wahlberechtigten.            kümmern muss, um erhebliche Wähler-
Während bei der Bundestagswahl 1976
noch 37 % aller Wähler der CDU/CSU
aus der Gruppe der Katholiken mit star-
ker Kirchenbindung stammten, waren
das trotz seither fast unverändertem            Bei der Zielgruppendiskussion
Wahlverhalten innerhalb dieser Gruppe           muss die Union auch unmittelbar
bei der letzten Bundestagswahl nur              nicht erreichbare demographische
noch 9 %. Selbst wenn es gelänge, den           Gruppen berücksichtigen.
Wahlanteil für die CDU/CSU in dieser
Gruppe von zur Zeit über 70 % auf un-
realistische 90 % zu steigern, wäre mit
                                                                       460 // PoLITISCHE STUDIEN   55
Analysen

          massen dazuzugewinnen, müssen auch           Grundlage für seine langjährige Regie-
          die großen demographischen Gruppen           rungstätigkeit war. Es ist dabei weder
          berücksichtigt werden, in denen sie bis-     sinnvoll noch notwendig, die program-
          her unterdurchschnittliche Ergebnisse        matische Modernisierung der Union
          erzielt hat. Bei der Definition von Ziel-    als reine Sozialdemokratisierung zu be-
          gruppen muss man sich zudem von der          treiben. Die Union darf sich aber der
          Idee befreien, dass es immer nur darum       Notwendigkeit nicht verweigern, Ant-
          geht, Zielgruppen direkt zu bedienen.        worten auf die neuen gesellschaftlichen
          Man kann auch bei bestimmten Ziel-           Herausforderungen und der modernen
          gruppen punkten, wenn man dringende          Strukturen in Familie und Wirtschaft
          gesellschaftliche Probleme löst, auch        zu suchen.
          wenn von diesen Lösungen die ins Auge
          gefassten Zielgruppen nicht unmittelbar
          profitieren. So dürfte beispielsweise eine   Die Chancen für Rot-Grün werden
          wirksame Integration von Ausländern          sich durch den Einzug der AfD in die
          und Flüchtlingen in den ökonomischen         Parlamente VERRINGERN.
          Produktionsprozess nur wenig bei den
          davon unmittelbar Profitierenden zu Bu-
          che schlagen. Eine moderne aufge-                Die Etablierung der AfD kann sich
          schlossene Mittelschicht wird es aber        dabei als hilfreich für die Verbesserung
          gerne sehen, wenn aus sozialhilfebe-         der Glaubwürdigkeit der Union erwei-
          rechtigten Flüchtlingen und Asylanten        sen. Sie kann rechtspopulistische Positi-
          leistungsorientierte Werktätige werden.      onen und Personen außerhalb einer sich
          Ebenso positiv nehmen es auch Groß-          von der AfD entschieden abgrenzenden
          mütter mit einer eigenen Hausfrauen-         Union binden. Die CDU/CSU ist durch
          karriere auf, wenn sie sehen, dass für       die bloße Existenz der AfD vom latenten
          ihre berufstätige Tochter Rahmenbe-          Vorwurf befreit, rechts zu sein, was an-
          dingungen geschaffen werden, die es          ders als in den meisten europäischen
          dieser erlaubt, Beruf und Familie besser     Ländern in Deutschland einen stigmati-
          vereinbaren zu können.                       sierenden Charakter hat. Aber auch
                                                       wenn es die AfD der CDU/CSU erleich-
              Glaubwürdigkeit der                      tert, so muss sich die Union dennoch in-
              Modernisierung                           tensiv darum bemühen, ihren Moderni-
          Wenn die Union in der modernen poli-         sierungsprozess weiter voranzutreiben
          tischen Mitte überzeugen will, dann          und zukunftsweisende Antworten auf
          darf sie insbesondere nicht als die Par-     gesellschaftliche und soziale Probleme
          tei der Ewiggestrigen verdächtigt wer-       gerade auch angesichts der demographi-
          den, die versucht, mit den Antworten         schen Verwerfungen zu geben. Hier wird
          von gestern die Probleme der Zukunft         mehr Mut als Angst vor dem ein oder an-
          lösen zu wollen. Diese Herausforde-          deren Tabubruch benötigt.
          rung der programmatischen Moderni-
          sierung ist heute ähnlich groß wie die          Verringerte Mehrheitschance für
          programmatische Modernisierung, die             Rot-(Rot-)Grün
          der junge Helmut Kohl der CDU in den         Neben der unfreiwilligen Unterstützung
          70er-Jahren zugemutet hat und die die        der AfD für die programmatische Mo-
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dernisierung der Union spricht einiges       Positionen zu bedienen, kann sie dank
dafür, dass sich durch einen Einzug der      der Präsenz der AfD beim Volatilitäts-
AfD in wichtige westliche Landtage (Ba-      publikum in der politischen Mitte wei-
den-Württemberg,         Rheinland-Pfalz,    ter an Glaubwürdigkeit gewinnen. Aus
Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen)          diesen Gründen kann sich das Erschei-
die Chancen für parlamentarische             nen der AfD im politischen System mehr
Mehrheiten von Rot-Grün oder sogar           als Segen denn als Fluch für die Union
Rot-Rot-Grün deutlich verringern. Dies       erweisen. ///
ist jedenfalls dann der Fall, wenn weiter-
hin wesentliche Teile der AfD-Wähler-
schaft nicht nur aus dem Unionswähler-
lager kommen.
     Diese beiden positiven Effekte für
die Union kommen aber nur zum Tra-
gen, wenn die CDU und die CSU eine
geschlossene und eindeutige Abgren-
zung von der AfD vornehmen. Dabei
würde eine zu intensive Auseinander-             /// Matthias Jung
setzung mit der AfD nur zu deren Auf-            ist Vorstand der Forschungsgruppe Wah-
wertung führen. Ein weitgehendes                 len, Mannheim.
„rechts-Liegenlassen“ verspricht den
größeren Effekt. Jeder Ansatz einer
Kumpanei hingegen (wie zuletzt in Thü-       Anmerkungen
                                              1 Forschungsgruppe Wahlen: Befragung am Wahl-
ringen) beschädigt die Chancen der               tag (exit poll); jeweils gut 15.000 Interviews.
                                              2 Forschungsgruppe         Wahlen: Politbarometer
Union, sich als die alternativlose Partei        5. KW/2015 – repräsentative Bundesumfrage (hier
der politischen Mitte weiter zu etablie-         und im Folgenden jeweils gut 1.250 Befragte).
                                              3 Politbarometer 3. KW/2015.
ren.                                          4 Politbarometer 5. KW/2015.
     Das Wahlergebnis in Hamburg hat          5 Ebd.
                                              6 Politbarometer 50. KW/2014.
gezeigt, dass der Aufstieg der AfD im         7 Ebd.
Westen auch bei für die AfD günstigen         8 Politbarometer 39. KW/2014.
                                              9 Politbarometer 37. KW/2013.
Rahmenbedingungen             (Euro-Krise,
hohe Relevanz der Ausländerproblema-
tik) offensichtlich begrenzt bleibt.
Gleichzeitig scheint sich die AfD aber so
weit zu stabilisieren, dass mit einer Eta-
blierung auch in anderen westlichen
Ländern zu rechnen ist, was aus den zu-
vor beschriebenen Gründen die Mehr-
heitschancen für Rot-(Rot-)Grün in Zu-
kunft deutlich reduzieren dürfte. Wenn
also die Union in Bezug auf die AfD ei-
nen kühlen Kopf bewahrt, sich von ihr
klar abgrenzt und sich gleichzeitig in-
tensiv um die Lösung der anstehenden
Probleme kümmert, ohne populistische
                                                                           460 // PoLITISCHE STUDIEN   57
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