Den Blick weiten - die Kraft des Dialogs - Kultur des Dialogs

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FocusingJournal

Den Blick weiten –
die Kraft des Dialogs
von Martina Hartkemeyer

Im vergangenen Jahr habe ich das hier vorgestellte „Dialogprinzip“ bei einem Workshop mit Martina
Hartkemeyer kennen- und sch‚tzen gelernt. Der philosophische Hintergrund und die praktische, konkrete Um-
setzung in Gestalt der hier postulierten Kernf‚higkeiten hat eine groƒe N‚he zu den Haltungen, die wir auch
im Focusing pflegen. Weil das Dialogprinzip nicht nur f„r die Konfliktmoderation in groƒen Gruppen (z.B.
Israelis und Pal‚stinenser), sondern auch f„r Kleingruppen, Familien, Partnerschaften und auch auf innere
Dialoge anwendbar ist, habe ich Martina gebeten, ihre Arbeit hier im FocusingJournal vorzustellen.
(H. Neidhardt)

Haben Sie sich schon einmal in einer Sackgasse          ten wir wirklich „was ist“: Die typische Haltung des
befunden, in einer Situation, in der Sie €berrascht     Wissenden. Diese Attit€de ist eine nicht selten
feststellten, dass sie mit Ihrer alten, langj•hrig      anzutreffende „Berufskrankheit“ in lehrenden und
bew•hrten Strategie nicht mehr weiter kamen? Wo         leitenden Berufen. Sie liegt nahe, denn ein lehrender
Sie irritiert waren, die Welt nicht mehr verstanden –   oder leitender Mensch hat diese Position doch auf
oder zumindest Ihrem Gegen€ber gedanklich gar           Grund seiner Qualifikation, seines Wissensvor-
nicht mehr folgen konnten? Das Gute an solchen          sprungs, seiner Erkenntnisf•higkeit bekommen –
verfahrenen Situationen: Sie kƒnnen uns ƒffnen f€r      oder? Zumindest ist das eine g•ngige Zuschreibung.
Neues, wenn die alten Konzepte nicht mehr zu dem        Noch problematischer f€r das menschliche Zusam-
gew€nschten Erfolg f€hren.                              menleben wird es, wenn sich Menschen mit ihren
Zielorientiert, schnell, auf Gewinnen orientiert – so   bruchst€ckhaften Erkenntnisvermƒgen so zusammen
argumentieren wir in Diskussionen, wenn es eben         tun, dass sie sich mit ihren begrenzten An-
darum geht, das Gegen€ber zu €berzeugen oder            schauungen in ihren (Vor-)Urteilen best•tigen. So
durch die besseren Argumente vor einem Publikum         entsteht die Dynamik „wir“ gegen die „anderen“, die
zu gewinnen, qualifizierter zu erscheinen, durch        sich darin begr€ndet, dass wir uns mit unseren
Wissen zu €berzeugen. In einer Situation, in der es     Anschauungen identifizieren, so dass wir, wenn
aber gar nicht um Gewinnen oder Verlieren geht,         unsere Meinungen bedroht sind, uns selbst bedroht
sondern in der ein besseres Verstehen des Konfliktes    f€hlen. Gandhi betonte einmal, dass ich vƒllig
notwendig ist, sind grundlegend andere, dialogische     gelassen bleiben kann, wenn ich wei†, dass meine
Qualit•ten gefragt: Dem Gegen„ber zuh…ren, um ein       Meinung richtig ist, wenn ich dagegen im Unrecht
wirkliches, tieferes Verst•ndnis zu ermƒglichen, und    bin, brauche ich erst recht Gelassenheit, um mehr
auch in mich selbst hineinhorchen, mir €ber meine       lernen zu kƒnnen: „Wenn du im Recht bist, kannst
eigenen Gef€hle, Bed€rfnisse und Denkschablonen         du dir leisten, die Ruhe zu bewahren; Und wenn du
klar werden. Also meinen Blick zu weiten, anstatt ihn   im Unrecht bist, kannst du dir nicht leisten, sie zu
zielorientiert zu verengen. Solch ein Dialog bedeutet   verlieren.“
auch Verzicht auf Machtgef•lle und erfordert            Im Dialog vertiefen wir verschiedene Kernf•hig-
gleiche Augenhƒhe zwischen den Beteiligten.             keiten, deren zentrale die lernende Haltung ist, eine
                                                        innere Haltung von Interesse und Neugier am
                                                        anderen, getragen von dem Bewusstsein des eigenen
                                                        Nicht-Wissens.
Warum €berhaupt Dialog?
„Everything you know is wrong“, dieser, f€r mache
vielleicht herausfordernde Kernsatz aus der Erkennt-
nisphilosophie des Konstruktivismus verweist auf das    Wir •ndern die Welt, indem wir unsere Wahr-
bruchst€ckhafte, vorl•ufige, begrenzte Erkenntnis-      nehmung ver•ndern
vermƒgen des Menschen. Aber, und das wird nicht         Kehren wir zur€ck zu der Frage der Wahrnehmung
selten vergessen, auch darauf, dass wir uns in die      und wie sie unsere Welt bestimmt. Meine Wahr-
Falle der Selbstverdummung begeben, wenn wir            nehmungs- und Interpretationskonzepte der Welt
unser begrenztes Vermƒgen so verstehen, als w€ss-       stelle ich gemeinhin nicht in Frage, solange sie sich

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bew•hren, oder solange ich mich mit ihnen wohl                 Die grƒ†te Herausforderung f€r die meisten Dialog-
f€hle. Manchmal f€hren allerdings auch ‡nde-                   prozess-Begleitenden ist die Identifikation mit ihren
rungen •u†erer Umst•nde zu Ver•nderungen meiner                eigenen mentalen Modellen, Urteilen und Bewer-
Wahrnehmung.                                                   tungen, die den Blick eher verengen und dem Dia-
Wann sind Sie das letzte Mal im Wald spazieren                 logprozess nicht fƒrderlich sind. Je mehr die Einsicht
gegangen? Haben Sie das Rauschen des Windes in                 in die eigenen Wahrnehmungsmodelle und deren
den B•umen gehƒrt, das Leuchten der Bl•tter im                 Begrenztheit w•chst, umso hƒher wird die Qualit•t
Sonnenlicht genossen, die Strahlen der Sonne, die              der Pr•senz, die den Dialogprozess unterst€tzt. In der
zwischen dicken Baumst•mmen hervor schien, kurz:               Ausbildung zur Dialogprozess-Begleitung (siehe:
den Wald als Wanderer erlebt? Waren Sie auch                   www.dialogprojekt.de) vertiefen wir anhand von
schon einmal im Wald, um dort Holz f€r Ihre                    ‰bungen, Reflexionen und theoretischen Erƒrterun-
Heizung zu hacken? Um tote B•ume zu f•llen, vom                gen unsere Selbstwahrnehmung.
Sturm abgebrochene St•mme                                                              Es geht in Dialogprozessen
zu zers•gen, zerborstene Kro-                                                          weniger um die Frage von
nen zu zerteilen, sich mit                                                             richtig und falsch, sondern
Brennholz zu versorgen?                                                                um unterschiedliche mentale
Wir leben auf einem land-                                                              Modelle, die wir aus ganz
wirtschaftlichen Betrieb, zu                                                           verschiedenen Gr€nden ent-
dem schon immer einige                                                                 wickelt haben. Wie kƒnnen
Hektar Wald gehƒrten. Durch                                                            wir uns bewusst machen, dass
‡nderungen der Besitzver-                                                              unsere Wahrnehmungsfilter
h•ltnisse in der Nachbarschaft                                                         und solche Modelle exis-
bekamen wir die Gelegenheit,                                                           tieren? Gl€cklicherweise be-
einige Hektar Wald angren-                                                             sitzen wir nicht nur die
zend an unseren Hof zu er-             Wir sehen die Dinge nicht  so, wie sie sind,    F•higkeit, die Welt sensorisch,
werben. Zu dieser Zeit waren                sondern  wie wir sind  (Talmud).           gef€hls- und verstandes-
wir ebenfalls auf der Suche                                                            m•†ig zu erfassen, sondern
nach regenerativen Heizmƒglichkeiten. Zu Zeiten des            auch die F•higkeit, diese Wahrnehmung zu
Golfkrieges wollten wir uns weiter vom ˆl                      ver•ndern. Oder: wir kƒnnen die Welt ver•ndern,
unabh•ngig machen – mein Mann hatte schon 1980                 indem wir unsere Wahrnehmung ver•ndern.
das erste Windrad im Landkreis konstruiert, mit dem            Das allerdings gelingt nur in einem angstfreien
wir das Wasser f€r unsere Fu†bodenheizung                      Raum, f€r dessen Entwicklung jede Gruppe Zeit
erw•rmten – jetzt hatten wir eine Holzhackschnit-              braucht. In einem solchen Vertrauensraum (Dialog-
zel-Heizung installiert und wollten alle Wohnungen             Container) kann Dialog praktiziert werden, kƒnnen
auf dem Hof mit Holz beheizen.                                 generative und thematische Dialoge gef€hrt und
Schon seit vielen Jahren kannte ich das Waldst€ck,             reflektiert werden. Erst im Erleben kann die Qualit•t
das wir gekauft hatten, oft schon war ich dort                 eines Dialogprozesses von Kommunikationsformen
spazieren gegangen und hatte dieses Fleckchen                  wie Diskussion oder Debatte unterschieden werden.
Natur genossen. Nun aber ging ich dort anders                  (In generativen Dialogen entsteht das Thema im
vorbei. Ich war nicht als Erholung suchende                    Verlauf des Prozesses – es wird „generiert“, in
Spazierg•ngerin unterwegs, sondern ich schaute mir             thematischen Dialogen geht es um die dialogische
die B•ume daraufhin an, wie sie gewachsen waren,               Vertiefung eines zu Beginn gesetzten Themas.)
wie und wo sie standen. W€rde diese Kiefer die Eiche
daneben langfristig zu stark beschatten? M€ssten
wir nicht die Birke dort f•llen, damit die Buche
gerade wachsen kƒnnte? Welche w€rde sich besser                Wie sehe ich dich – wie siehst du mich?
entwickeln? Der alten Kiefer war beim letzten Sturm            Erinnerungen an Menschen, die uns lieb und wichtig
die Krone abgebrochen, sie w€rde bald absterben,               sind, tragen wir als Bilder, Szenen, Ger€che, Worte,
und die tote Eiche trug schon l•nger kein einziges             Kl•nge im Ged•chtnis. Wir halten so – durch die
gr€nes Blatt mehr – optimal f€r den Holz-Schnitzler.           Erinnerungen – eine Verbindung aufrecht. Oftmals
Nicht der Wald hatte sich ge•ndert, sondern mein               formen diese Bilder aber eine eigene Wirklichkeit, so
Blick auf ihn, mein „mentales Modell“ vom Wald war             dass sie bisweilen die Begegnung mit dem tat-
ein anderes geworden. Normalerweise bemerken wir               s•chlichen, lebendigen Menschen erschweren.
solche inneren Brillen nicht, mit denen wir die Welt           Gerade in famili•ren Beziehungen halten sich die
betrachten. Wie wir selbst die Welt betrachten,                Bilder €ber Jahre und Jahrzehnte. Auf der Beerdi-
scheint uns der einzig mƒgliche Blickwinkel. Andere            gung ihres 60-j•hrigen j€ngsten Sohnes wendet sich
Perspektiven kƒnnen aber eine ebensolche Berech-               die Mutter, 88 Jahre, an ihre Nachbarin mit den
tigung haben wie die unsere.                                   Worten: „Dat hev ik me oll dacht, dat wi den l„ttken
                                                               nich graut kriget…‡ (Das hatte ich mir schon ge-
                                                               dacht, dass wir den Kleinen nicht gro† kriegen...)

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FocusingJournal

Dialogverst•ndnis eines Physikers                      Was Dialog ist, und was er nicht ist
Das Abrufen von abgespeichertem Wissen, das Leben      Martin Buber, der j€dische Religionsphilosoph und
nach Mustern aus der Vergangenheit, nennt David        „Vater“ des Dialogs (1878 - 1965) befasste sich in
Bohm (1917 – 1992), angloamerikanischer Quanten-       seiner Arbeit intensiv mit Fragen zwischenmensch-
physiker, Leben aus bereits „Gedachtem“. Bohm un-      licher Beziehungen, den Mƒglichkeiten des Ge-
terscheidet zwischen Gespr•chen, in denen lediglich    spr•chs, der Begegnung zwischen „Ich und Du“. Er
Gedachtes ausgetauscht wird, - was in Diskussionen     stellt den Ver-gegnungen oberfl•chlicher Unterhal-
ja meist der Fall ist - und Dialogen, in denen tat-    tungen die Be-gegnungen eines echten Dialogs ge-
s•chlich neues Denken entstehen kann. („Thought-       gen€ber, in dem sich Menschen vom „Scheinen-
ing” und „Thinking”). Dialog kann so ein Weg sein,     wollen“ frei machen. Eine Herausforderung – viel-
von Gedachtem zum kreativen Denken zu kommen.          leicht sogar ein Paradox in unserer Glitzerwelt, wo
David Bohm fordert dazu auf, im Dialog Prozesse        Werbemillionen in das „Outfit“ und die „Erschei-
und Strukturen, die unseren Gedanken und               nung“ gepumpt werden?
Handlungen zugrunde liegen, best•ndig zu hinter-       Eine Reihe von Kern-Kompetenzen lassen sich
fragen.                                                beschreiben und durch praktische ‰bungen bewusst
David Bohm, der zum Entwickler der modernen Dia-       vertiefen, um die Entwicklung dialogischer Kom-
logtheorie f€r Gruppen wurde, verwendet den Be-        petenzen zu unterst€tzen.
griff Dialog im urspr€nglichen Wortsinn: „Dialog“
bedeutet demnach das „Flie†en von
Sinn“, das Suchen und Entwickeln
neuer,     zuvor     nicht    bekannter
Bedeutung in einer Gruppe um und
durch die Menschen (dia: [hin-] durch,
logos: Wort, Sinn, Bedeutung). Der
Dialog      soll   ermƒglichen,      den
Voraussetzungen, Ideen, Annahmen,
‰berzeugungen und Gef€hlen von
Menschen auf den Grund zu gehen, die
unterschwellig die Interaktionen in der
Gruppe beherr-schen.
Er war von der Vorstellung fasziniert,
dass Menschen im Dialog lernen kƒnn-
ten, gemeinsam auf koh•rente Weise zu
denken, w•hrend sich die Gedanken in
den meisten €blichen Gespr•chen
fragmentiert, sprunghaft und gegen-
s•tzlich entwickeln w€rden. Inkoh•renz ist f€r Bohm
                                                       Basiskompetenzen
„als w€rde man eine Uhr nehmen und sie mit einem
Hammer zertr€mmern, anstatt sie auseinander-           Grunds•tzlich basiert dialogische Kommunikation
zunehmen und die Teile zu sortieren. Die Teile sind    darauf, wie wir uns ausdr€cken, sprechen und
Teil eines Ganzen, aber die Fragmente wurden will-     anderen zuhƒren. Dar€ber hinaus betrachten wir es
k€rlich auseinandergebrochen. (S.102)“                 als notwendig, unsere eigenen Meinungen „in der
                                                       Schwebe halten“ zu kƒnnen, zu suspendieren, wie
Koh•renz im dialogischen Gespr•ch, vergleichbar
mit im Laserstrahl geb€ndeltem Licht, kann ein         wir es nennen, und anderen Personen Respekt ent-
gro†es Potential an Kreativit•t freisetzen und neue    gegenzubringen.
Gedanken hervorbringen, vom Gedachten zum              Die Basis dialogischer F•higkeiten liegt auf diesem
Denken f€hren.                                         Viereck von Respektieren, Sprechen, Zuhƒren und
                                                       Suspendieren. 1
Das Wort „Diskussion“ dagegen hat die gleiche
Wurzel wie englisch „percussion“ oder gar „con-        Die Meinung eines Andersdenkenden nicht nur zu
cussion“ (Gehirnersch€tterung). Diskussion hat eine    tolerieren, sondern ihr respektvoll gegen€ber-
enge sprachliche Verwandtschaft mit Debatte (latein.   zutreten bedarf eine radikale Abkehr von einer
„debat(t)uere“, engl. „to beat down“), was so viel     Kultur der eigenen Profilierung auf Kosten anderer.
bedeutet wie „niederschlagen“. Das einer Diskussion    Sprechen und Zuhƒren kƒnnen sich sehr ver•ndern,
zugrundeliegende Motiv ist in der Regel auch nicht,    wenn es nicht mehr in erster Linie um das „In-
voneinander zu lernen, sondern den eigenen Stand-      Erscheinung-Treten“ geht.
punkt durchzusetzen, zu gewinnen.

                                                       1
                                                           (vgl. auch Isaacs 1999)

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Subjektive Bewertungen als Wahrheitsillusion           Eitelkeiten, intellektuelle Spielereien und theore-
Eine neue Qualit•t liegt in dem dialogischen           tische Erg€sse behindern den Dialog und f€hren zu-
Anspruch, seine eigenen Meinungen und Bewer-           r€ck in altbekanntes Fahrwasser.
tungen wahrzunehmen, auszusprechen – und davon         Ohne Maske zu sprechen - wie die Indianer es nann-
innerlich einen Schritt zur€ckzutreten, um sie als     ten: „von Herzen sprechen“ - l•sst den Menschen
mƒgliche Meinungen, als subjektive Bewertungen         hinter dem Wort sichtbar werden.
wahrzunehmen und ihnen die Illusion endg€ltiger        Unser Zuhƒren kann dazu f€hren, Neues entstehen
Wahrheiten zu nehmen – sie zu suspendieren. David      zu lassen, zu generieren – in uns selbst und in der
Bohm spricht davon, seine Meinung „in der Schwebe      Gruppe: wir bezeichnen dies als „Generatives Zu-
zu halten“.                                            hƒren“.
Unser Sprechen sollte nicht belehrend, abstrakt und    Die respektvolle Haltung dem anderen gegen€ber
unpersƒnlich bleiben.                                  bleibt nicht oberfl•chlich, sondern benƒtigt „Radi-
Es sollte stattdessen persƒnlich und in Beziehung zu   kalit•t“, d.h. geht „an die Wurzel“, in dem Sinn, dass
unseren eigenen Anliegen, Erfahrungen stehen.          wir uns um ein tieferes Verst•ndnis bem€hen.

                                                                                  Dialogkarten mit Symbolen
                                                                                  der Kernf•higkeiten

                                                                                              (weiter auf Seite 8 f.)

                                                                                                              7
FocusingJournal

                            Ein tabellarischer ‰berblick „ber die Kernf‚higkeiten.
                  Und, dazu passend, eine kleine zus‚tzliche Anleitung zum Ungl„cklichsein…

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Dialog als gelungene Beziehung                             Diese Verbundenheit r€ckt den „Anderen“ in den
Im Gegensatz zu Bohm, der den Gruppen-Dialog-              Mittelpunkt. Wie kƒnnte ich gut geschlafen haben,
Prozess neu definierte, gilt der j€dische Religions-       oder wie kƒnnte es mir gut gehen, wenn es dem
                                                           anderen schlecht geht?
philosoph Martin Buber (1878 – 1965)– neben grie-
chischen Klassikern wie Sokrates und Plato mehr als        Vielfach wird vom modernen Menschen heute die
“Vater“ des Zwiegespr‚chs. Er beschrieb Dialog als         Reiz€berflutung beklagt, email, sms, Chatrooms, Fo-
echtes Zusammentreffen von Menschen, „die sich             ren jedweder Art. Niemand muss sich jemals einsam
einander in Wahrheit zugewandt haben, sich r€ck-           f€hlen im Internet – oder gerade da? Buber: „Dialo-
haltlos •u†ern und vom Scheinenwollen frei sind“           gisches Leben ist nicht eins, in dem man viel mit
(Buber 1994, S.295).                                       Menschen zu tun hat, sondern eins, in dem man mit
Buber betont, dass sich im Dialog „eine denkw€rdige,       den Menschen, mit denen man zu tun hat, wirklich
nirgendwo sonst sich einstellende gemeinschaftliche        zu tun hat.“
Fruchtbarkeit“ entwickeln kann und so „das Zwi-            „Wirklich zu tun haben“ kann beispielsweise bedeu-
schenmenschliche“, „das sonst Unerschlossene“ zu           ten, miteinander ins Gespr•ch zu kommen. Eine der-
erschlie†en vermag (ebd.).                                 artige Verbundenheit tritt in einem „echten Dialog“
„Wirklich zu tun haben“ kann beispielsweise bedeu-         zu Tage, wenn: „… jeder der Teilnehmer den oder die
ten, miteinander ins Gespr•ch zu kommen. Ein sol-          anderen in ihrem Dasein und Sosein wirklich meint
ches dialogisches Gespr•ch kann uns helfen, ein Be-        und sich ihnen in der Intention zuwendet, „lebendige
wusstsein davon zu entwickeln, wer wir sind, wie wir       Gegenseitigkeit“ zu schaffen“.
gemeint sein kƒnnten. Eine derartige Verbundenheit
tritt in einem „echten Dialog“ zu Tage, wenn: „…
jeder der Teilnehmer den oder die anderen in ihrem         Lebendigkeit in der Kommunikation
Dasein und Sosein wirklich meint und sich ihnen in
der Intention zuwendet, „lebendige Gegenseitigkeit“        hie†e dann f€r mich: Kann ich eine Wahl treffen,
zu schaffen“.                                              mich entscheiden daf€r, wie ich anderen begegnen
                                                           mƒchte, oder bin ich einem einmal entwickelten
Diese Form der Begegnung unterscheidet sich – nach
                                                           Muster so verhaftet, dass nicht ich die Begegnung
Buber - von anderen Gespr•chsformen: dem „...              gestalte, sondern die Situation mich bestimmt? Das
dialogisch verkleideten Monolog, in dem zwei oder          kann dann dazu f€hren, ein mir vertrautes Muster
mehrere im Raum zusammengekommene Menschen                 abzurufen, das ich abh•ngig von dem jeweiligen
auf wunderlich verschlungenen Umwegen jeder mit            Thema variiere. Wodurch es vielleicht zu inter-
sich selber reden und sich doch der Pein des               essanten Beitr•gen, aber weniger zu einer mensch-
Aufsichangewiesenseins entr„ckt d„nken.“ Den               lichen Begegnung in der jeweiligen Situation kom-
technischen, „der lediglich von der Notdurft der           men kann.
sachlichen Verst‚ndigung eingegeben ist“
                                                           Und Sie alle haben sicher schon erlebt, dass wir in
                                                           guten Beziehungen ganz anders lernen kƒnnen. Wie
                                                           es ein Karikaturist augenzwinkernd in einem Garten-
Durch euch zu mir - Ausflug nach Afrika2                   zaun-Gespr•ch zwischen zwei Frauen beschrieb:
                                                           „Gerd hat mir das Segeln beigebracht, Marco hat
Kann es sein, dass ich mich zu dem, wie ich sein           mich an die Kunst herangef„hrt, Peter hat mir alles
kann, erst entwickele, weil ich in Begegnungen mei-        „ber die Geschichte der Azteken und Indianer er-
ne Potentiale entfalte und erlebe? Ein Sprichwort          z‚hlt, und bei Jan habe ich gelernt, einen Motor zu
der Zulu formuliert: Ich bin, weil wir sind. Welch         reparieren“ „ … und ich Idiot belege seit Jahren
anderes Verst•ndnis, als es unser naturwissenschaft-       Volkhochschulkurse.“
lich gepr•gtes Weltbild: Ich denke, also bin ich –
cogito ergo sum - nicht ohne Stolz behauptet.              W•hrend Bohms Augenmerk eher darauf lag, wie in
                                                           einer Gruppe neuer Sinn miteinander geschaffen
„Ubuntu“ ist ebenfalls ein afrikanisches Konzept, das      werden kann, Sicherheiten hinterfragt und Interpre-
der Wertsch•tzung und Pflege der persƒnlichen Be-
                                                           tationsmuster €berpr€ft, liegt Bubers Augenmerk
ziehungen in gesellschaftlichen aber auch in organi-
                                                           eher auf der zwischen-menschlichen Begegnung,
satorischen Feldern eine hohe Priorit•t beimisst. Ein
                                                           dem Ich-Du im Dialog. Wenn diese beiden Perspekti-
Morgengru† der Shona in Zimbabwe dr€ckt dies so
                                                           ven sich treffen – menschliche Begegnung und In-
aus:
                                                           Frage-Stellen eigener ‰berzeugung –, kƒnnen sich
„Mangwani. Marana sei?“ (Guten Morgen, hast du             sowohl dem Individuum als auch der Gruppe ganz
gut geschlafen?) „Maswera sei, kana mararawo.“ (Ich        neue Erfahrungs- und Gedankenwelten erƒffnen. Im
habe gut geschlafen, wenn du gut geschlafen hast.)         Sinne von Erich Fromm bedeutet das allerdings auch
                                                           eine grunds•tzliche Bereitschaft, sich von reiner
2                                                          Zweckorientierung zu verabschieden: „Diese Kunst
 Nach: Barbara Nussbaum, Ubuntu, in: Resurgence, Nov/Dez
2003, No 221, Hartland GB
                                                           der Unterhaltung oder die Freude an der Unter-
                                                           haltung wird erst wieder mƒglich sein, wenn ganz

                                                                                                             9
FocusingJournal

gro†e ‡nderungen in unserer Kultur vor sich gehen,                   Hartkemeyer, Johannes F. & Martina, L. Freeman Dhority,
dann n•mlich, wenn die einseitig zweckorientierte                       "Miteinander Denken - Das Geheimnis des Dialogs", Klett
                                                                        Cotta, 5. Aufl. Stuttgart 2010.
Art des Lebens €berwunden wird. Wir brauchen eine                    Hartkemeyer, Johannes F. & Martina: Die Kunst des Dialogs –
Einstellung, in der der Ausdruck, das Wachstum des                      Kreative Kommunikation entdecken. Erfahrungen, Anregun-
menschlichen Lebens zum einzig anerkennenswerten                        gen, ‰bungen. Klett-Cotta, Stuttgart 2005.
Zweck wird.“                                                         Isaacs, William, Dialogue and the art of thinking together,
                                                                        Currency, New York 1999.

Literatur:
Bohm, David: Der Dialog. Das offene Gespr•ch am Ende der
   Diskussion, Hrsg. Lee Nichols, Klett-Cotta, Stuttgart, 3. Aufl.
   2002.
Buber, Martin: Das dialogische Prinzip. Lambert Schneider,
   Gerlingen 7. Aufl. 1994.
Buber, Martin: ‹Elemente des ZwischenmenschlichenŒ. In:
   Ders.: Das dialogische Prinzip,
Fromm, Erich (1974): Im Namen des Lebens. Ein Portr•t im
   Gespr•ch mit Hans J€rgen Schultz. Zuerst als Gespr•ch im
   S€ddeutschen Rundfunk Stuttgart am 5. Januar 1974 aus-                                      Dr. Martina Hartkemeyer
   gestrahlt. Abgedruckt in. Erich Fromm Gesamtausgabe in                                      Deutsches Institut f„r
   zwƒlf B•nden, M€nchen (Deutsche Verlags-Anstalt und                                         Dialogprozess-Begleitung/Adolf-
   Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band XI, S. 609-630                                     Reichwein-Gesellschaft.
   (Zitat S. 609f.).                                                                           www.dialogprojekt.de

                                                                                                                          Anzeige

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