Die Berliner Polizei Die Berliner Polizei im 19. Jahrhundert - JENS DOBLER
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BERLINER GESCHICHTE | AUSGABE 21 Die Berliner Polizei Die Berliner Polizei im 19. Jahrhundert JENS DOBLER 6–17 Der Buddha vom Alexanderplatz REGINA STÜRICKOW 18-27 4 BeGe Ausgabe 21
INHALT Zwischen Systemkonformität und Massenmord STEFAN HÖRDLER 28–37 Die Berliner Polizei nach dem Zweiten Weltkrieg HILMAR KRÜGER 38–49 EDITORIAL 3 REZENSIONEN 50 IMPRESSUM/ZULETZT ERSCHIENENE HEFTE/VORSCHAU 51 WWW.BERLINER-GESCHICHTE.NET BeGe Ausgabe 21 5
Die Uniform eines Berliner Polizei-Sergeanten zwischen 1796 und 1809 Jens Dobler Die Berliner Polizei im 19. Jahrhundert Die Polizei entwickelte sich erst relativ spät als Idee, als Exekutiv-Säule des Rechtsstaates und dann auch als Behörde. 1809 gilt zwar als Gründungsjahr des Berliner Polizeipräsidiums, aber die Berliner Polizei ist älter. Sie entstand zu einer Zeit, als Polizei und Justiz noch eng verflochten waren. Sicherheits-, kriminal- und ordnungspolizeiliche Aufgaben standen im Vordergrund, Tor- und Nachtwächter übernahmen erste schutzpolizeiliche Aufgaben. Für die innere Sicherheit war zunächst noch das Militär zuständig, im ländlichen Raum bildete sich eine Gendarmerie unter militärischem Befehl, aber mit polizeilichen Aufgaben. DIE ANFÄNGE DES BERLINER POLIZEIPRÄSIDIUMS Polizeihoheit für die gesamte Stadt auf den Magistrat über, was zu einer Rivalität mit dem Militär führte. 1742 wurde mit Die Anfänge der Berliner Polizei kann man auf die Entste- Karl David Kircheisen ein erster Polizeidirektor eingesetzt, hung Preußens unter Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640–88) der ab 1746 zugleich Stadtpräsident war. In der sich unter datieren. Diese Phase ist von Uneinheitlichkeit und ständiger ihm bildenden Polizeiorganisation kristallisierten sich jene Reorganisation des Sicherheitswesens gekennzeichnet. Als Arbeitsgebiete heraus, die für die Polizei bestimmend werden erstes Sicherheitsorgan fungierte das Militär. Regional lag die sollten: Markt- und Lebensmittelsachen, Veterinär-, Frem- Rechts- und Polizeigewalt bei den Burg- und Markgrafen, den- und Sittenwesen, Gewerbeaufsicht, Straßenreinigung, Vögten, Dorfschulzen und Schultheißen. Mit der Errichtung Nachtwachen, Meldewesen, Verbrechensbekämpfung, Zensur von Provinzialbehörden entstanden Vorformen von Lan- und politische Überwachung. Nach dem Vorbild der Pariser despolizeibehörden. Stadt- und Polizeibehörde bildeten eine Polizei wurde unter seinem Nachfolger Johann Albrecht Phi Einheit. In Berlin wurde 1693 ein erster Versuch unternom- lippi ab 1770 die Berliner Polizeiorganisation verstetigt. Unter men, ein staatliches Polizeidirektorium einzuführen, aber Johann Friedrich von Eisenhart wurden ab 1791 angesichts erst 1710 ging mit dem Zusammenschluss der Städte Berlin, der Revolution in Frankreich v. a. die polizeiliche Überwa- Cölln, Friedrichswerder, Dorotheenstadt und Friedrich- chung des Fremdenwesens und die Zensur ausgebaut. In stadt zur Königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin die seine Zeit fiel der Neubau der Stadtvogtei als Stadtgefängnis BeGe Ausgabe 21 7
DIE BERLINER POLIZEI IM 19. JAHRHUNDERT und der Umbau des Gebäudes am ordnung vom 19. November 1808 nahm. Er übergab es im Molkenmarkt 1 zum Polizeipräsi- wurde das Polizeiwesen neu struk- Juli 1847 an Julius von dium, das sich rasch auf die umlie- turiert. Es kam zu einer Trennung Minutoli. genden Gebäude und Hintergehöfte von Magistrat und Polizei, die Polizei ausdehnte und hier fast 100 Jahre re- wurde staatlich. Im September 1809 sidierte. Eisenhart bezog auch privat trat die entsprechende Kabinettsor- DIE DRITTE Wohnung im Gebäude. Seither war der in Kraft. Dieser Tag gilt in der PHASE DER es üblich, dass die Polizeipräsidenten Berliner Geschichtsschreibung als ENTWICKLUNG im Polizeipräsidium wohnten. Geburtsstunde des Polizeipräsidi- DER BERLINER In die Zeit seines Nachfolgers ums. Neuer Polizeipräsident wurde POLIZEI Friedrich Philipp Eisenberg (1794– Justus Gruner. Er organisierte 1804) fiel die Einführung des All- die Polizei nach französischem Die dritte gemeinen Preußischen Landrechts, Vorbild und schuf vier Abteilun- Phase beginnt das die Aufgaben der Polizei deutlich gen: das allgemeine Geschäftsbüro, im Drei-Polizei- formulierte und den vorherigen „wil- das Polizeiamt, das Fremdenbüro präsidentenjahr den“ Zustand in rechtsverbindliche und das Sicherheitsbüro, aus dem 1848. Wesentli- Bahnen lenkte. In der Amtszeit von später die Kriminalpolizei wurde. che Neuerungen Johann Stephan Gottfried Büsching Zur Verfügung standen eine etwa waren die Gründung (1804–08) wurde die Zahl der 100 Mann starke Gendarmerie, vier der Schutzmannschaft Polizeireviere in der Stadt von 19 auf Polizeiinspektoren, 23 Revierpo- (der späteren Schutzpolizei) 23 erhöht. In diese Zeit fiel auch die lizeileiter, drei Marktmeister und Justus Gruner (1777- und wenig später die Installierung Besetzung Berlins durch französische 20 Polizeisergeanten. Die Torwachen 1820) wurde 1809 erster der reformierten Kriminalpolizei. Truppen (1806–08). Nach deren Ab- und Nachtwächter blieben zunächst Polizeipräsident von Berlin. Diese Polizeiorganisation in Berlin, zug wurde Büsching Bürgermeister beim Magistrat, für den allgemeinen mit einem Polizeipräsidenten an Berlins, allerdings ohne die vorheri- Sicherheitszustand sorgte noch das der Spitze und einer Schutz- und gen Polizeibefugnisse. Militär. Gruner wurde 1811 zum Kriminalpolizei als Exekutive sowie Leiter der preußischen Staatspolizei einer Verwaltungspolizei, bestehend ernannt und baute in dieser Stel- aus Gewerbe-, Lebensmittel-, Ve- GRÜNDUNG DES lung die Politische Polizei aus. Sein terinär- und Baupolizei sowie dem POLIZEIPRÄSIDIUMS Nachfolger im Berliner Polizeipräsi- Meldeamt, bestand trotz ständiger dium wurde Dietrich Friedrich Carl Umorganisierungen sowie staatli- Die zweite Phase der Entwicklung von Schlechtendal. Ihm folgten vier cher und politischer Veränderungen der Polizei dauerte von 1809 bis weitere Polizeipräsidenten, bis 1839 bis 1933 und ist in ihrem Grundge- 1848. Mit der preußischen Städte- Eugen von Puttkamer das Amt über- Das Polizeipräsidium am rüst bis heute erhalten. Die Verwal- Molkenmarkt 1, 1886 tungspolizei ist weitgehend in den Senatsverwaltungen aufgegangen, als letzte große Einheit wurde das Einwohnermeldeamt an die zivilen Behörden abgegeben. Zurück zur revolutionären Stim- mung im März 1848: Das Militär hatte wiederholt auf Aufständische geschossen, was Polizeipräsident von Minutoli dazu bewog, eine Bürgerliche Schutzkommission zu gründen, die zwischen Militär und Revolutionären vermitteln sollte. Das Vorhaben war erfolglos, die Situation eskalierte am 18. März, allerorten wurden Barrikaden errichtet. Der König musste nachgeben und zog das Militär zwei Tage später aus der Stadt ab. Das Sicherheitsvaku- um füllte zunächst eine bewaffnete Bürgergarde unter Führung des Polizeipräsidenten, konnte jedoch die Stürmung des Zeughauses am 14. Juni nicht verhindern. Minu- toli musste sein Amt verlassen. 8 BeGe Ausgabe 21
Die Uniformen der Sein Nachfolger wurde Moritz von Königlichen Schutz- eingeführte Begriff „System Hinckel- Suppenküchen sowie die Verminde- Bardeleben, in dessen Amtszeit die mannschaft 1848 dey“ zu harmlos sei und „monar- rung gesundheitsgefährdeter Woh- Gründung der „Königlichen Schutz- chistischer Kryptoabsolutismus“ die nungen), des Hebammenwesens, der mannschaft zu Berlin“ im Juni 1848 richtige Bezeichnung wäre. Bekämpfung ansteckender Krank- fiel. Sie bestand aus einem Oberst Es stellt sich die Frage, ob heiten, des Baupolizei- und Abwas- als Kommandeur, fünf Haupt- Hinckeldey ausschließlich dem Wohl serwesens, der Straßenbeleuchtung, leuten, 200 Wachtmeistern und des Absolutismus diente, oder der Lebensmittelversorgung und 1800 Schutzmännern. Als „Uniform“ ob er nicht vielmehr ein nicht zuletzt des Straßen- dienten ein einheitlicher dunkel- geschickter Taktierer baus – all dies sind blauer Gehrock und ein Zylinder mit war. Seine wohl- Errungenschaften, schwarz-rot-goldener Kokarde. Die fahrtspolizeili- die Hinckeldey Männer waren bewaffnet. Die neue chen Verdienste oft gegen den Schutzpolizei bezog die Hinterhöfe in der Stadt- Willen des und Stallungen am Molkenmarkt. entwicklung Magistrats Bardeleben übergab bereits im No- Berlins sind einführte. vember das Amt des Polizeipräsiden- bis heute Sicherlich ten an Karl Ludwig von Hinckeldey, unbestritten. wurde jede der das neue Polizeipräsidium in den Sei es die Maßnahme nächsten Jahren wesentlich prägte. Organisation mit der Ver- An der nach der Revolution des Feuer hinderung unter Hinckeldey errichteten Poli- löschwesens, künftiger 8/9: © Polizeihistorische Sammlung zeibehörde scheiden sich bis heute des Armen Revolutionen die Geister. Die einen sprechen von wesens (ins- begründet. einer Diktatur der Polizeibürokratie, besondere die So war es z. B. andere meinen, dass selbst noch Errichtung von taktisch klüger, der von zeitgenössischen Kritikern Polizeipräsident Karl Ludwig Badeanstalten und zur Bewilligung von von Hinckeldey (1805–56) BeGe Ausgabe 21 9
DIE BERLINER POLIZEI IM 19. JAHRHUNDERT Geldern für Straßenbeleuchtung zu argumentieren, dass sich so „Gesin- del“ weniger verstecken konnte, als zu sagen, es diene dem allgemeinen Wohlstand. Auch die Einrichtung der Schutzpolizei wird widersprüchlich bewertet. So stand sie unter dem Verdacht, nicht die Funktion einer kommunalen Polizei zu haben, sondern als verlängerter Arm des preußischen Staates in der Stadt zu agieren, aus der sich das Militär hatte zurückziehen müssen. DIE ENTWICKLUNG DER BERLINER KRIMINALPOLIZEI Zu den polizeilichen Aufgaben gehörte die Verbrechensbekämp- fung. In der Amtszeit von Eisenberg war dieses kriminalpolizeiliche Arbeitsgebiet jedoch aus der Polizeiverwaltung ausgegliedert und dem Berliner Kammergericht unterstellt worden. Die Gründe hierfür waren vielfältig. Zum einen kam Eisenberg aus dem Kammer- gericht, zum anderen schien es in dieser Zeit eine Zunahme v. a. von Diebstahlsdelikten in der Stadt gegeben zu haben, gleichzeitig wird aber auch von vielen Verfehlungen seitens der Polizeibeamten berich- tet. Zudem war die Personaldecke äußerst dünn. Beim Kammergericht wurde eine „Immediat-Kriminal- Ab 1866 wurden in Berlin kommission“ geschaffen, die fortan der Polizeibehörde zurückbefehligt. Gefangene mit der Grünen Polizeipräsidiums scheiterte. Erst “ für die Verfolgung strafrechtlicher Die Integration der Kriminalpo- Minna” zum Polizei- 1840 wurde dem Gericht eine ge- Delikte zuständig war. 1804 wurde lizei in die Polizei wurde von der präsidium gebracht. richtliche Kriminalpolizei zugestan- die Kommission aufgelöst und Justiz heftig beklagt. Zunächst ging den. Dieser Konflikt in der Frage, eine „Kriminaldeputation“ am es dabei um reines Kompetenzge- wohin die Kriminalpolizei eigent- Stadtgericht unter der Leitung von rangel. Dann aber blockierte der lich gehöre, also in den Bereich der Schlechtendals geschaffen. Personell bürokratische Apparat sich verstärkt Justiz oder der Polizei, begleitete die bestand sie aus einem Kriminalin selbst. Ein gerichtlicher Auftrag Polizei mehr als 100 Jahre. spektor, zwei Kriminalkommissaren ging über den Polizeipräsidenten Im Vormärz 1847 war die und zwei Kriminalsekretären. an das Sicherheitsbüro, dieses setzte Berliner Polizei in fünf Abteilungen Nach der Gründung des Po- seine Kriminalkommissare davon in organisiert. Die erste, die Präsidial- lizeipräsidiums 1809 ging Polizei- Kenntnis und verteilte die Aufträge. Abteilung, umfasste u. a. die Poli- präsident Gruner daran, diesen Da es noch keine Staatsanwaltschaft tische Polizei, die Sittenpolizei und Aufgabenbereich zurückzuholen, gab, konnten so Aufträge einige das statistische Büro. Über sie liefen und gründete das „Sicherheitsbü- Tage lang unterwegs sein, was gera- alle Personal- und Etatsachen, die ro“. Als von Schlechtendal 1811 de bei der Verbrechensaufklärung Kontrolle über Zensur und Theater, Nachfolger Gruners wurde, stand zu Ineffektivität führte. Aufgrund Auswanderungen, Stiftungen und das der Rückführung nichts mehr im dieser Erfahrungen beantragte das Armenwesen. Zur zweiten Abteilung Weg. Mit einer Kabinettsorder im Stadtgericht 1832 die direkte Unter- gehörten v. a. die Gewerbe- und Februar 1811 wurde die „Criminal- stellung einiger Kriminalkommissa- Baupolizei. Ferner war sie für Aufent- polizei“ in den Aufgabenbereich re, was zunächst am Widerstand des haltsermittlungen, Studenten, das Me- 10 BeGe Ausgabe 21
dizinalwesen, den Schifffahrtsverkehr, Wie zuvor der komplizierte HINCKELDEYS TOD die Feuerwehr und die Straßen und Geschäftsgang der Kriminalabtei- Wege zuständig. Die dritte Abteilung lung zu Ineffektivität geführt hatte, Der sukzessive Zusammenbruch befasste sich mit allen Justizsachen konnten auch durch das Vorhan- des „Systems Hinckeldey“ begann ohne strafrechtlichen Charakter. Die densein zweier Kriminalpolizeien mit Hinckeldeys Duelltod. Sosehr vierte Abteilung war die Kriminalab- Reibungsverluste nicht vermieden Hinckeldey für sein konsequentes teilung. Dieser war als Exekutive die werden. Bereits im Februar 1848 Durchgreifen gegen die 1848er- „Criminal-Polizei“ unterstellt. Die forderte das Polizeipräsidium offizi- Oppositionellen gelobt worden fünfte Abteilung schließlich bildete ell die Auflösung der gerichtlichen war und sosehr er wegen seiner das Einwohnermeldeamt, es war Kriminalpolizei. Zwei Jahre später, sozialpolitischen kommunalen zuständig für alle Aufenthalts- und Das Grab von Hinckel- am 20. Mai 1850, wurde dies umge- Maßnahmen bei der Bevölkerung Passangelegenheiten und die Kont- deys auf dem Friedhof setzt und die betreffenden Beamten beliebt war, so sehr blies ihm ein rolle der Gasthäuser. Ferner gab es zu der St. Nikolai- und St. der polizeilichen Kriminalpolizei scharfer Gegenwind aus dem Lager dieser Zeit 29 Polizeireviere innerhalb Mariengemeinde an eingegliedert. der Adeligen, Militärs und Kon- Berlins und weitere sieben in den der Prenzlauer Allee servativen ins Gesicht. Hinckeldey umliegenden Städten und Gemeinden ging nicht nur rücksichtslos gegen (z. B. Schöneberg und Charlotten- die linke Opposition vor, sondern burg), darüber hinaus eine eigenstän- legte sich auch mit den Konserva- dige Marktpolizei. tiven an. Wenig Freunde machte Dabei führte die Polizei natür- sich Hinckeldey auch beim Militär, lich ein Innenleben, vielleicht auch das der offensichtliche Verlierer ein Eigenleben, das sich jenseits von der Revolution war, weil es in der etatmäßig beschreibbaren Stellen Stadt seine Befugnisse eingebüßt abspielte. Eines der von der Polizei hatte. Die Spannungen zwischen immer wieder angeführten Haupt- adeligen Militärs und Hinckeldey argumente, warum die Kriminal- nahmen zu, als dieser anordnete, polizei am zweckmäßigsten bei ihr dass seine Schutzmänner die Offi- angesiedelt wäre, war der Vorteil, ziere nicht mehr grüßen durften. dass sie gegebenenfalls auf das Die Situation spitzte sich in der gesamte vorhandene Polizeipersonal Glücksspielaffäre des privaten zurückgreifen konnte. Der Polizei- Clubs des Herrenhausmitgliedes apparat war ein streng hierarchi- Hans von Rochow zu. Hinckeldey sches Gebilde und unterstand direkt hatte auf Anordnung des Königs dem König. Es wird berichtet, dass diesen Spielclub ausheben und insbesondere Kriminaldirektor zwei Glücksspieler aus angesehe- Friedrich Wilhelm August Dun- nen Familien aus Berlin ausweisen cker immer wieder mit politischen lassen. Es kam zu Beschwerden, Aufträgen betraut wurde und über Hinckeldey berief sich dabei längere Zeiträume von Berlin abwe- auf den königlichen Befehl, den send war. Gerade die Überschnei- Friedrich Wilhelm IV. aber bestritt, dung mit solchen Aufträgen hatte weswegen Rochow Hinckeldey als der Kriminalpolizei den Verdacht einen „amtlichen Lügner“ bezeich- eingebracht, die Exekutive der nete. Da Hinckeldey den König Politischen Polizei zu sein. Insge- nicht bloßstellen konnte, forderte samt stand die Kriminalpolizei in er Rochow zum Duell. Es war all- keinem guten Ruf. Sie konnte noch gemein bekannt, dass Hinckeldey selbst Prügelstrafen festsetzen, und stark kurzsichtig und im Umgang obwohl die Folter abgeschafft war, mit Schusswaffen ungeübt war. Das waren Übergriffe häufig. Ein weite- Duell hätte vom König jederzeit 10: © Polizeihistorische Sammlung, 11: © picture-alliance/schroewig rer Kritikpunkt war der Einsatz von unterbunden werden können. Vigilanten oder Spitzeln, also in der Rochow war sogar zeitweise unter Regel von vorbestraften oder noch Bewachung gestellt worden, aber aktiven Straftätern. Das Personal der als der Termin herannahte, wurde Kriminalpolizei war in der damals der überwachende Beamte abgezo- noch überschaubaren Stadt bestens gen. Das Duell endete am 10. März bekannt. Um an Informationen zu 1856 für Hinckeldey tödlich. Es gelangen, so argumentierte jeden- war ein bequemer Weg, einen falls die Polizei, musste sie auf derlei unbequem gewordenen Polizeiprä- Quellen zurückgreifen. sidenten loszuwerden. BeGe Ausgabe 21 11
DIE BERLINER POLIZEI IM 19. JAHRHUNDERT Die Uniformen der SKANDAL BEI POLIZEI UND JUSTIZ vorgeworfen. Auf seine Inhaftie- Schutzpolizei 1854 räumte die grundsätzlichen Vor- rung folgte die Suspendierung; würfe, nicht immer gesetzeskon- Aufgrund der zunehmenden geisti- eine Kaution wurde abgelehnt. Im form gehandelt zu haben, freimütig gen Erkrankung Friedrich Wil- Prozess im November 1861 wurde ein, machte dafür aber das System helms übernahm ab Oktober 1857 er zwar in den meisten Anklage verantwortlich. Stieber wurde in Kronprinz Wilhelm die Regierungs- punkten freigesprochen, aber beiden Prozessen freigesprochen, geschäfte. Bereits vor dem Tod des in einigen doch zu vier Wochen während Tichy zu einer geringen Königs 1861 begann der Kronprinz, Gefängnis verurteilt. Zeitgleich Strafe verurteilt wurde. Regierungsverantwortliche auszu- stürzte auch Stieber. Zwei Prozesse Trotzdem mussten in den tauschen und die Ministerien mit und zwei Berufungsverhandlun- nächsten Wochen und Monaten gemäßigten Vertretern zu beset- gen wurden auf Veranlassung der auch die Staatsanwälte Schwarck zen, tastete Justiz und Polizei aber Staatsanwaltschaft zwischen Mai und Nörner suspendiert werden, zunächst nicht an. In dieser Phase 1860 und Februar 1861 gegen ihn und Justizminister Simons bat erblickte die Justiz in Person von und seinen Mitangeklagten, Krimi- um seine Entlassung, die ihm im Oberstaatsanwalt August Schwarck nalkommissar Henri Tichy, geführt. Dezember 1860 gewährt wurde. Im mit Billigung von Justizminister Im April 1860 wurde Stieber wegen Zuge der Ereignisse trat auch der Ludwig Simons ihre Chance, sich Verdunkelungsgefahr für drei Tage Nachfolger Hinckeldeys, Polizei- zu rehabilitieren, indem sie gegen in der Stadtvogtei inhaftiert. Er ließ präsident Constantin von Zedlitz- das Polizeisystem vorging. Sowohl sich zunächst beurlauben, um die Neukirch, im Juni 1861 zurück; er Johann Patzke, Kommandeur der Ermittlungen nicht zu gefährden, wurde erst in einem von ihm selbst Schutzpolizei, als auch Wilhelm und verlegte sich auf eine weitge- angestrengten Disziplinarverfahren Stieber, Leiter der Kriminalpolizei, hende Vorwegverteidigung in den im Januar 1863 freigesprochen. In- wurden festgenommen. Patzke Prozessen. Wenn es um Details und nerhalb von zwölf Monaten wurden wurden Veruntreuung von Staats- konkrete Vorwürfe ging, wusste er alle führenden Vertreter der preußi- geldern, kriminelle Vermögens- sich perfekt zu entlasten, insgesamt schen Justiz und Polizei ausgewech- und Grundstücksspekulationen aber erkannte er in dem Verfah- selt – ein in der Staatsgeschichte und Gefangenenmisshandlung ren einen politischen Prozess und Preußens einmaliger Vorgang. 12 BeGe Ausgabe 21
REORGANISATION DER POLIZEI polizei im Präsidium absprach. Diebstähle wie Taschen-, Laden-, In dieser Zeit verschmolzen auch Markt- oder Schlafstellendiebstähle Zwischen 1860 und 1880 über- sittenpolizeiliche und kriminalpoli- wurden nun von dazu geeigneten schnitten sich mehrere bedeutsa- zeiliche Tätigkeiten miteinander, so Kriminalkommissaren bearbei- me Ereignisse, die Auswirkungen war der Kriminalschutzmann auch tet. Viele dieser Straftaten setzten auf die Polizeiarbeit hatten. Der für die Kontrolle der registrierten besondere technische Vorkenntnisse Deutsch-Österreichische und Prostituierten in seinem Bezirk zu- und Spezialwissen voraus, das nicht der Deutsch-Französische Krieg ständig. Die Kriminalschutzmänner mehr von jedem Kommissar erwar- beschleunigten die Gründung des rekrutierten sich aus der Schutz- tet werden konnte. Deutschen Reichs. Berlin hatte 1860 polizei und waren ihr verwaltungs- etwa eine halbe Million Einwohner rechtlich zugeordnet, verrichteten und verzeichnete von da an einen ihren Dienst jedoch in Zivil. Ab ERKENNUNGSDIENST UND jährlichen Zuwachs im Hunderttau- 1879 wurde die Dienstaufsicht der FAHNDUNGSWESEN senderbereich. Die Berliner Polizei, Kriminalpolizei übertragen. Die zunächst geschwächt durch die Reinstallierung der Revierkrimi- Zunächst stand den Kriminalbe- Skandale um das Hinckeldey-Sys- nalpolizei war v. a. nötig geworden, amten als Fahndungsmittel nur tem von 1860, ging gestärkt aus der weil sich Berlin ab 1860 durch die der Steckbrief zur Verfügung. Auf Krise hervor und begann mit der Eingemeindungen von Wedding, diesem stand der Name der gesuch- Umgestaltung der Kriminalpolizei Moabit, Tempelhof und Schöneberg ten Person, Geburtsdatum oder und dem Ausbau des Erkennungs- und später mit der Erlangung des Alter, Geburtsort, Beruf, Wohnort, dienstes. Man arbeitete an Plänen Hauptstadtstatus 1871 zur Metro- Art, Zeitpunkt und Ort der Tat oder für ein neues Polizeipräsidium. Das pole entwickelte. Angesichts von auch der Fahndungsgrund, z. B. Gebäude am Molkenmarkt war end- Pressekampagnen über den man- die Suche nach einer unbekannten, gültig zu klein geworden; außerdem gelnden Sicherheitszustand und den flüchtigen oder aus der Haft ausge- verschob sich das Zentrum Berlins sittlichen Verfall der Stadt erhielt die brochenen Person oder eine schlichte zum Alexanderplatz hin. Die Zeiten Kriminalpolizei Kompetenzen, die Aufenthaltsermittlung. Es folgte drohten politisch wieder konfliktrei- ihr ein knappes Jahrzehnt zuvor eine Personenbeschreibung: Größe, cher zu werden, Attentate im Mai noch nicht zugestanden Haare, Augen, Nase, Gesichtsform 1866 auf Bismarck und im Juni 1878 worden waren. und -farbe sowie Gestalt. Ferner auf Wilhelm I. rückten politische 1877 wurden wurden besondere Kennzeichen wie Verbrechen in den Vordergrund. analog zu den Eigenheiten in der Sprache oder Aus- Der Ausbau der Politischen Polizei Schutzmann- sprache, Gewohnheiten, Gebrechen war die Folge. Mit Guido von Madai schaftsbezir- und Behinderungen, Narben und kam 1872 schließlich wieder ein ken sechs Tätowierungen angegeben. Bis unge- Polizeipräsident an die Spitze der Kriminalpo- fähr zur Mitte des 19. Jahrhunderts Behörde, der sie für lange Zeit lizeibezirke wurde regelmäßig noch die Art der prägen sollte. eingerich- Bekleidung genannt. Als Konsequenz aus den Prozessen tet. Jedem Neben dem Steckbrief dienten 1860 wurde zunächst die Eigen- Bezirk stand den Kriminalbeamten noch Abbil- ständigkeit der Kriminalpolizei ein Bezirks- dungen als erkennungsdienstliches aufgehoben. Auch die Zuteilung von kommissar Mittel. Im preußischen Centralpo- Kriminalschutzmännern an die Poli- vor, quasi lizeiblatt wurden ab 1855 erstmals zeireviere wurde zurückgenommen. als Zwischen Stiche von Personen abgedruckt. 1865 unterbreitete Kriminaldirektor ebene zwischen 1837 machte der Franzose Louis Waldemar von Drygalski Vorschläge Polizeirevier und Jacques Daguerre eine Erfindung, die für umfangreiche Neuerungen in Präsidium. Die auch das Fahndungswesen revoluti- der Kriminalpolizei. Diese schei- Bezirkskommissare onieren sollte: die erste fotografische terten zunächst an den Bedenken kümmerten sich selbststän- Abbildung. der Ministerialbürokratie, wurden Guido von Madai (1810–92) dig um alle Verbrechen und Verge- Der für Berlin wohl erste Fall dann aber im Laufe der 1870er-Jahre war von 1872 bis 1885 hen, die keine zentrale Bearbeitung einer Fahndung mittels Daguerreo- weitgehend umgesetzt. Polizeipräsident in Berlin. erforderten. Die Kriminalpolizei typie kann auf August 1854 datiert Als erstes wurde die Revier- im Präsidium bestand zu diesem werden. Die Berliner Gerichtszeitung kriminalpolizei ab 1872 wieder Zeitpunkt aus 20 Kriminalkommis- berichtete über einen Verbrecher, der installiert. Jedem Polizeirevier wurde saren, die sich nun verstärkt Spezi- seine wahre Identität verschwiegen 12/13: © Polizeihistorische Sammlung ein Kriminalschutzmann zugeteilt, alaufgaben widmen konnten. Damit hatte. Durch Versenden des Fotos an der zwar dem jeweiligen Revierleiter wurden die späteren Dezernate verschiedene Polizeibehörden gelang formal unterstand, aber kriminal- vorweggenommen. Häufige Delikte die Überführung. 1871 gelang der polizeiliche Aufgaben zu erledigen wie Falschgeldsachen, Einbrüche, Durchbruch zur Massenfotografie. hatte und diese mit der Kriminal- „Bauernfängerei“ und spezielle Aus dieser Zeit stammen die ersten BeGe Ausgabe 21 13
DIE BERLINER POLIZEI IM 19. JAHRHUNDERT 14 BeGe Ausgabe 21
Passanten vor einem Verbrecheralben in Polizeibehörden. Steckbrief an einer Litfaß- wurde deutlich: Wäre der erste Fall Bezirkskommissariaten bearbeitet Das Fahndungsfoto konnte beliebig säule. Kolorierter Holzstich konsequent aufgearbeitet worden, wurden, sie bildete praktisch die Sum- oft vervielfältigt werden. Die ersten nach einer Zeichnung von hätte der zweite verhindert werden me der Bezirkskriminalpolizeireviere. Fotos im Centralpolizeiblatt wurden Friedrich Stahl, 1886 können. Unklare Kompetenzen und Inspektion B war für „gewerbs- oder ab 1868 noch manuell eingeklebt, ab mangelnde Kommunikation zwi- gewohnheitsmäßige“ Verbrechen zu- 1892 gab es die ersten gedruckten schen Revier- und Kriminalpolizei ständig und Inspektion C für Delikte, Fotos. 1876 wurde das Berliner Ver- waren die Ursache. Die Polizei wies die besondere juristische, kaufmänni- brecheralbum eingeführt. Von jeder Ermittlungspannen weit von sich. sche oder technische Kenntnisse der aufzunehmenden Person wurden vier Der Neuordnungsvorschlag Kommissare verlangten. Es handelte Bilder angefertigt. Je nach Verbrechen wurde von Polizeipräsident Madai im sich dabei v. a. um Wirtschaftsde- wurde das Foto in einen entsprechen- April 1884 vorgelegt und mit einer likte. Das hieß, dass Inspektion A den Band des Albums geklebt. Es ministeriellen Verfügung im Februar für die Bearbeitung von Delikten diente dazu, dass Tatzeuginnen und 1885 formal eingeleitet. Die Kriminal- wie Beleidigung, Körperverletzung, -zeugen darin Täter oder Täterinnen polizei wurde jetzt in drei Inspektio- Brandstiftung, Drohung, fahrlässige identifizieren konnten. Ein zweites nen unterteilt, die von jeweils einem Tötung, Aufruhr, Nötigung, Bigamie, Foto wurde auf eine Karteikarte zur Kriminalinspektor geleitet wurden Unglücksfälle und auch Diebstahl, alphabetischen Suche geklebt. Ein (die Sittenpolizei erhielt eine vierte Unterschlagung und Hehlerei, wenn drittes wurde einer laufend geführten Inspektorenstelle). Inspektion A es nicht in gewerbs- oder gewohn- Personenakte beigefügt, in der alle Das Verbrecheralbum wur- war für Fälle zuständig, die in den heitsmäßiger Manier erfolgte, Angaben zur Person und alle Hin- de in Berlin 1876 eingeführt. weise zu den zur Last gelegten Taten sowie Verurteilungen und dergleichen verzeichnet waren. Das vierte Bild wurde ebenfalls auf eine Karte geklebt und dort die Personenbeschreibung sowie die verschiedenen Strafen auf der Rückseite vermerkt. Diese Karteikarte wurde zum Versand an auswärtige Dienststellen verwendet. Jedes dieser vier Systeme – Album, Kartei, Akte, Personenbeschreibung – kann für sich gesehen werden und entwickelte eine Eigendynamik, aber nur in dieser Einheit waren sie Be- standteil effektiver Polizeiarbeit. Das Album entwickelte sich von anfangs zehn Bänden und zehn Kategorien von Verbrechen zu einem Werk mit 70 Bänden und 48 Kategorien (1926). Die Einzigartigkeit des Finger- abdrucks war zwar schon bekannt, wurde aber von den Verantwortli- chen nicht wahrgenommen. DIE BERLINER POLIZEI NACH 1880 Ein aufsehenerregender Prozess im Jahr 1883 offenbarte kriminalpolizei- liche Schwachstellen, die schließlich zu einer Umorganisation führten: 14: © akg-images, 15: © Polizeihistorische Sammlung 1876 wurde der Händler Dickhoff in Berlin verdächtigt, die Witwe Lis- sauer ermordet zu haben. Dickhoff wurde überwacht, festgenommen, schließlich aber mangels Beweisen freigelassen. Sechs Jahre später ermordete er wieder eine Frau und konnte überführt werden. Im Prozess BeGe Ausgabe 21 15
DIE BERLINER POLIZEI IM 19. JAHRHUNDERT www.elsengold.de Die Uniformen der verantwortlich war. Inspektion B war deten Mordinspektion. Tötungsde- Schutzpolizei 1888 Fällen auf, in denen die Ermittlun- für gewaltsamen Einbruch, Laden-, likte wurden in der Regel nicht als gen nicht nur schlampig geführt, Boden- oder Taschendiebstahl, Mord gewohnheits- oder berufsmäßige sondern durch das unprofessionelle (auch Abtreibung), Raub, Glücks- Verbrechen gewertet, da es sich Einwirken der Beamten, indem spiel, unerlaubten „Billethandel“ beim Großteil der Fälle um Spon- sie Tatorte veränderten, Spuren sowie Vergehen und Verbrechen tan-, Beziehungs- oder Eifersuchts- verwischten oder Beweisstücke ver- wider die Sittlichkeit (u. a. Homose- taten handelte. Insofern war für ihre schwinden ließen oder verschlamp- xualität, Kuppelei, Vergewaltigung) Bearbeitung Inspektion A, also die ten, verzögert oder unmöglich zuständig. Außerdem wurde ihr der Revierkriminalpolizei, zuständig. gemacht wurden. Meerscheidt- Erkennungsdienst zugeordnet. Das Meerscheidt-Hüllessem betonte Hüllessem schlug eine komplette war sinnvoll, denn dessen Leiter, in einer Ausarbeitung über „Die Neuorganisation vor, auch, um Leopold von Meerscheidt-Hüllessem, Vorbereitung auf Kapitalsachen und den Ruf der Kriminalpolizei zu wurde auch zum Leiter der Inspek- deren Bearbeitung“ (1899), dass In verbessern, weil die Öffentlichkeit tion B befördert. Das Personal der spektion B nur diejenigen Tötungs- den Erfolg der Polizeiarbeit gerade Kriminalpolizei bestand 1885 aus delikte bearbeitete, die schwierig an der Aufklärung der Kapitalver- einem Polizeirat als Leiter, den drei und aussichtslos – genannt werden brechen messe. Kriminalpolizeiinspektoren, 30 Kri- Lustmorde – waren. Den Zustand minalkommissaren und 132 Krimi- der Mordermittlungen nennt er 16/17: © Polizeihistorische Sammlung nalschutzmännern. „zufällig“ und beschreibt ihn als WIE WEITER MIT DEM PRÄSIDIUM? Die wohl umfassendste Reform sehr defizitär. So ermittelten alle war die Einrichtung des Mordbe- Beamten, die sich gerade am Tatort Seit der Neustrukturierung der Po- reitschaftsdienstes, die Vorform der befanden, ohne Systematik vor sich lizeibehörde unter von Hinckeldey erst in den 1920er-Jahren gegrün- hin. Er zählt eine ganze Reihe von 16 BeGe Ausgabe 21
AN ZEI G E Förderkreis der Polizeihistorischen Sammlung e.V. Wir unterstützen die Polizeihistorische Sammlung im Polizeipräsidium. Platz der Luftbrücke 6 12101 Berlin Telefon: (030) 4664 761 450 Öffnungszeiten: Montag bis Mittwoch 9 bis 15 Uhr E-Mail: phs@polizei.berlin.de www.phs-berlin.de waren die Räume am Molkenmarkt zu klein. Auslagerung von Abtei- Und zum anderen: Wo hätte das Präsidium während der Bauzeit lungen wie das Meldeamt in das Ephraimpalais lösten das Problem unterkommen sollen? Es war ja mehr als sinnvoll, die berittene immer nur kurzfristig. Spätestens aber in den 1870er-Jahren, als sich Schutzpolizei so zentral postiert zu haben. Schließlich einigte man Berlin zur Millionenmetropole entwickelte, kollabierte die Situation. sich darauf, das Gelände am Alexanderplatz, auf dem das Arbeits- Lange verfolgte der Magistrat Pläne, das ganze Areal am Mol- haus „Ochsenkopf “ stand, zu verwenden. Dieses wurde abgerissen kenmarkt abreißen zu lassen und dort ein komplett neues Polizeiprä- und 1886 mit dem Neubau begonnen. Aber schon vor dem Einzug sidium zu errichten. Das scheiterte zum einen daran, dass nicht alle in das neue Gebäude 1890 war klar, dass auch hier der Platz nicht Grundstücke dem Fiskus gehörten, sondern Privateigentum waren. ausreichen würde. ■ DER AUTOR: LITERATUR: Dr. Jens Dobler ist Historiker der Neu ■ Auerbach, Leopold: Denkwürdigkeiten des Geheimen Re- eren Geschichte mit dem Schwerpunkt gierungsrathes Dr. Stieber. Aus den hinterlassenen Papieren Polizei und Leiter der Polizeihistorischen bearbeitet, Berlin 1883. Sammlung im Polizeipräsidium. Zahl ■ Funk, Albrecht: Polizei und Rechtsstaat. Die Entwicklung des reiche Veröffentlichungen zur Berliner staatlichen Gewaltmonopols in Preußen 1848–1914, Frankfurt Polizeigeschichte, zuletzt: Das Polizei- (Main) 1986. präsidium am Molkenmarkt (2019). ■ Obenaus, Walter: Die Entwicklung der preußischen Sicherheits- polizei, Berlin 1940. ■ Poschinger, Heinrich von (Hg.): Unter Friedrich Wilhelm IV. Denk- würdigkeiten des Ministers Otto Freiherrn v. Manteuffel. Erster Band 1848–1851, Berlin 1901. ■ Poschinger, Heinrich von (Hg.): Unter Friedrich Wilhelm IV. Denk- würdigkeiten des Ministers Otto Freiherrn v. Manteuffel. Zweiter Band 1851–1854, Berlin 1901. BeGe Ausgabe 21 17
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Ernst Gennat (Mitte) im Kreise seiner Kollegen bei einer Feier, um 1930 Regina Stürickow Der Buddha vom Alexanderplatz Ernst Gennat war der erfolgreichste deutsche Kriminalist der Weimarer Zeit. Ob Sprengstoffan- schläge auf Eisenbahnen oder grausame Morde aus Not oder Habgier: Der Berliner Kriminalkom- missar löste in Berlin und anderswo Fälle, an denen sich andere die Zähne ausbissen. Dabei entwi- ckelte er revolutionäre kriminalistische Methoden und Techniken, die bis heute genutzt werden. Versetzen wir uns zurück in das Jahr 1921, in die feuchtkalte ler und Journalist Joseph Roth, „die grausame Ausstellung der Nacht vom 6. auf den 7. Dezember. Ein Taxi hat uns soeben grausamen Stadt, in deren asphaltierten Straßen, graubeschat- zu dem gewaltigen roten Backsteinbau des Polizeipräsidiums teten Parks und blauen Kanälen der Tod lauert, mit Revolver, am Alexanderplatz gebracht, zur Gruner-/Ecke Dircksenstra- Knebel und betäubendem Chloroform.“ ße, dem einzigen für das Publikum geöffneten Eingang. Wir Obwohl uns der Portier den Weg zum zuständigen wollen Anzeige erstatten. Hat man uns doch, während wir im Dezernat genau beschrieben hat, verirren wir uns in den „Kindl-Bräu“ am Kurfürstendamm zu Abend gespeist haben, scheinbar endlosen, grau getünchten Gängen. Verunsichert unsere funkelnagelneue Horch-Limousine, die wir in der blicken wir uns um. Wir stehen vor einer gläsernen Flügeltür Joachimsthaler Straße geparkt hatten, geklaut. Seit einiger Zeit mit der Aufschrift „Morddezernat“. Unvermittelt fällt unser sind die Autoschieberbanden zu einer wahren Plage geworden! Blick in einen langen Gang. Ein wohlbeleibter Mann im Zum ersten Mal betreten wir die „Zwingburg der Gerech- grauen Raglanmantel und mit schwarzer Melone kommt uns tigkeit“, unseren Berliner „Scotland Yard“. Wir passieren eine stampfenden Schrittes entgegen. Unter dem offenen Mantel Reihe von Schaukästen, die eine grausige Fotoausstellung ein zerknitterter Anzug, von dem man annehmen könnte, präsentieren: Unbekannte Tote, aufgespürt im Gestrüpp dass sein Träger ihn auch im Bett nicht ablegt. Eine Hand irgendeiner Parkanlage, in verwahrlosten Abrisshäusern, aus tief in der Hosentasche vergraben, in der anderen ein kleiner der Spree oder einem Kanal gefischt – erschossen, erdrosselt, Koffer. Seinem Begleiter brummt er kurz etwas zu. Wir vergiftet, manchmal bestialisch zerstückelt –, darunter unzäh- schnappen nur die Worte auf: „Wielandstraße 12 … wohl ’n lige, die niemand vermisst. „Das ist“, schreibt der Schriftstel- Raubmord …“ BeGe Ausgabe 21 19
DER BUDDHA VOM ALEXANDERPLATZ Dieser Koloss von einem sähen sie nicht, welche Mengen DER STAR DER MORDKOMMISSION Mann ist Kriminalkommissar Ernst an Kuchen und Schlagsahne Gennat. er sich so nebenbei heimlich Eben jener geniale Dicke war es, Schon zu Lebzeiten Legende und aus der Schublade angelte der der Berliner Mordkommission Original gleichermaßen, entsprach und in seinem Amtszimmer, in den Zwanzigerjahren zu Weltruf er mitnichten dem Klischee des seiner wahren Heimat, verhalf. Die Presse jedweder Couleur engstirnigen preußischen Beamten. zusammenaß. Damals hatte lobte ihn in den höchsten Tönen, Gennat war vielmehr eine „Type“ mit der Dicke schon mindestens und für das Publikum verkörperte ausgeprägten Marotten und der voll- ein Doppelkinn, später waren er das Idealbild des Kriminalisten kommenste Berliner, den man sich es derer drei oder vier.“ schlechthin. In den Jahren der Wei- denken konnte. Der Journalist und marer Republik war er der allseits Hobbykriminalist Franz von Schmidt Gennat war die unumstrittene bewunderte „Star“ der Mordkom- beschrieb ihn wie folgt: Nummer eins unter den Kriminalis- mission. Dabei fehlte ihm alles, was ten. Er hatte, wie ihm seine Kollegen einen für die damalige Öffentlichkeit „Er sah die Welt nur vom anerkennend bescheinigten, die „un- interessanten Kommissar ausmachte: kriminalistischen Standpunkt bestechliche Spürnase des geborenen Mit gutem Aussehen, imposanter aus an, misstraute jedem – war Kriminalisten“, verfügte über eine Männlichkeit oder extravaganter deshalb auch Junggeselle –, geradezu schon „unheimliche Kennt- Kleidung konnte er beim besten Wil- kam aber auch jedem, ob nis jedweder Mörderpsychologie“ len nicht aufwarten. In den späten Raubmörder oder Innenminis- und galt als genialer Beobachter, der Jahren seiner Karriere war er wegen ter, mit der gleichen Jovialität in jeder Situation die Ruhe bewahrte, seines beträchtlichen Übergewichts entgegen. Seine Kollegen nie aus der Fassung geriet und zu- nicht einmal mehr in der Lage, behandelte er gern mit der vä- dem, was seine Kollegen besonders Treppen zu steigen, und ermittelte terlichen Güte, die man leicht schätzten, „bildhaft und launig“ er- demzufolge ausschließlich aus sei- schwachsinnigen Kindern zählen konnte. Von den einen wurde nem Dienstzimmer heraus. gegenüber anwendet. Und er liebevoll „Papa Gennat“ genannt, Seine überaus profane Schwäche doch war er ein phantastischer Das Polizeipräsidium am von den anderen ehrfurchtsvoll für Kuchen blieb niemandem – auch Kamerad besonders denen Alexanderplatz wurde wegen „Buddha der Kriminalisten“, oder nicht seinen „Kunden“ – verborgen. gegenüber, die so taten, als seiner Farbe auch Die Rote scherzhaft „der volle Ernst“. So passierte es mehr als einmal, dass “ Burg” genannt. 20 BeGe Ausgabe 21
weshalb er als Kriminalkommissar seine „Kundschaft“ stets fair behan- delte. Oft bildete sich zwischen ihm und seinen „Kunden“ ein geradezu vertrauliches Verhältnis. „Krimina- listik ist zu einem großen Teil Kunst der Menschenbehandlung“, pflegte er zu sagen, und diesem Grundsatz blieb er stets treu. Nachdem er einige Semester Jura studiert hatte, trat Gennat 1904 mit 24 Jahren in den Polizeidienst ein. Ein Jahr darauf legte er als Kriminalan- wärter seine Prüfung zum Kommissar ab und wurde zum Hilfskommissar ernannt. 1906 folgte die Ernennung zum Kriminalkommissar. Im Berliner Polizeipräsidium fand sich der junge Gennat unver- sehens in einer illustren Gesell- Ernst Gennat in seinem Büro schaft, nannte man doch den roten Gennat auf der Fahrt zum Tatort Haushalt führte – bis zu seinem Tode im Polizeipräsidium Backsteinkoloss am Alexanderplatz den schwarzen Wagen der Krimi- wohnen bleiben. spöttisch „Adelsklub“. In der Kaiser- nalpolizei, „Mordauto“ genannt, vor Schon früh erwachte Gennats zeit gab es kaum einen Kriminalbe- einer Konditorei halten ließ und Interesse an allem Kriminalistischen amten, der nicht von Adel war. Die sich erst einmal verproviantierte. und Juristischen. Bereits als Prima- überwiegende Mehrheit der Beam- Der bereits erwähnte Franz von ner besuchte er Gerichtsverhandlun- ten im höheren Dienst rekrutierte Schmidt erinnert sich in seinem gen, wann immer sich die Gelegen- sich zum einen aus Offizieren, die in 1955 erschienenen Buch „Vorgeführt heit bot. Zudem wurde er in jungen der Regel aus finanziellen Gründen erscheint. Erlebte Kriminalistik“: Jahren durch die Tätigkeit seines den Militärdienst quittiert hatten, „Unser schwarzer Wagen sah wohl Vaters in der Strafanstalt mit der sowie aus Abkömmlingen mehr etwas unheimlich aus, aber als wir sozialen und wirtschaftlichen Misere oder weniger verarmter Adelsfami- drei – der Chauffeur war auch in der untersten Bevölkerungsschich- Kriminalkommissar Hans lien, die aufgrund ihrer misslichen Zivil – jetzt friedlich Kuchen essend ten vertraut, mit den armseligen von Tresckow, einer von wirtschaftlichen Lage ebenfalls eine und die Finger leckend im Schne- Lebensbedingungen in den Arbei- Gennats Lehrmeistern in der Karriere im Staatsdienst anstrebten. ckentempo weiterfuhren, hat wohl ter- und Arme-Leute-Vierteln im Kaiserzeit, veröffentlichte Wenn auch das Gehalt eines Krimi- keiner der uns nachgrinsenden Norden und Osten der Stadt. Jenes 1922 seine Erinnerungen. nalkommissars relativ bescheiden Passanten Wesen und Ziel unserer Wissen um die Not in der ständig ausfiel, garantierte Fahrt erraten.“ wachsenden Metropole schärfte sein die Beamtenstel- Über Ernst Gennats Kindheit soziales Gewissen und war lung wenigstens und Jugend sind keine Einzelheiten zweifelsohne einer finanzielle überliefert. Bekannt ist nur, dass er der Gründe, Sicherheit. 1880 als Sohn des Gefängnisdirek- tors August Gennat in Plötzensee geboren wurde. Nach der Volks- schule besuchte er das Königliche 20: © akg-images, 21 (oben): © Polizeihistorische Sammlung, (unten): © Elsengold Verlag Luisen-Gymnasium in der Turm- straße 87 in Moabit – eine für ihre Zeit fortschrittliche Lehranstalt, die zu den ersten in Preußen gehörte, an der ab 1896 auch Frauen das Abitur ablegen konnten. Gennat legte hier im September 1898 sein Abitur ab. Noch im selben Jahr zog die Familie nach Charlottenburg in die Schloß- straße 35. In der Wohnung im ersten Stock wird Gennat – versorgt von Mariechen, der spindeldürren Haus- hälterin, die schon seinen Eltern den BeGe Ausgabe 21 21
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