Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert

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Dirk Niefanger

                                    Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert

                                   Die »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« erscheint schon lange
                                   vor Nietzsche als Topos poetologischer Schriften. Die ältere Theaterkunst
                                   sei ein bacchantischer Götzendienst gewesen, bei dem »die Heyden bey Ver-
                                   zehrung ihrer Opfergaben gesprungen und gesungen« hätten. »Bey diesen
                                   Opfern« hätten »sie sich mit Epheu und Wintergrün gekrönet / einen Bock /
                                   als welcher den Weinberg am meisten schadet / aufgeopfert / und sich als
                                   Waldmänner mit räuhen Fellen bedecket«.1 So lautet die Imagination antiker
                                   Theaterursprünge in Harsdörffers Poetischem Trichter, einer der wichtigsten
                                   Poetiken des 17. Jahrhunderts.2 Diese oder ähnliche Imaginationen von ar-
                                   chaischer Theatralität gehen letztlich wohl auf die Poetik des Aristoteles zu-
                                   rück, wo im vierten Kapitel vermerkt ist, dass die ursprünglichen Aufführun-
                                   gen auf Improvisationen des Chorführers und dionysische Umzüge zurück-
                                   zuführen seien.3
                                        Die Imagination eines ursprünglichen antiken Theaters gehörte zum klas-
                                   sischen Repertoire der neuzeitlichen Dramentheorie. Als Momente dieser
                                   Imagination können das bacchantische Gemeinschaftserlebnis, der Tanz und
                                   die Musik als integrale Bestandteile der theatralen Ritualhandlung gelten. So
                                   lesen wir auch im 18. Jahrhundert, bei keinem Geringeren als Gottsched, von
                                   der ›Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹. Die Aufklärung unter-
                                   scheidet sich in dieser Hinsicht allenfalls im Stil der Darstellung vom Barock:

                                   _____________
                                   1    Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. 3 Bände in einem Band. [Reprographi-
                                        scher Nachdruck der Ausgaben: Bd. 1. Nürnberg 1650; Bd. 2. Nürnberg 1648; Bd. 3. Nürn-
                                        berg 1653]. Darmstadt 1969. Bd. 2, S. 70f.
                                   2    Zur Theaterpoetik von Harsdörffer vgl. demnächst Dirk Niefanger: Gebärde und Bühne.
                                        Harsdörffers Schauspieltheorie. In: Stefan Keppler u. Ursula Kocher (Hg.): Georg Philipp
                                        Harsdörffer und die Universalität der Literatur. Berlin, New York 2010.
                                   3    Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart
                                        1982, S. 14 (Kap. 4): »Sie [die Tragödie] hatte ursprünglich aus Improvisationen bestanden
                                        (sie selbst und die Komödie: sie selbst von seiten derer, die den Dithyrambos, die Komö-
                                        die von seiten derer, die die Phallos-Umzüge, wie sie noch jetzt in vielen Städten im Schwan-
                                        ge sind, anführten); sie dehnte sich dann allmählich aus, wobei man verbesserte, was bei ihr
                                        zum Vorschein kam, und machte viele Veränderungen durch. Ihre Entwicklung hörte auf,
                                        sobald sie ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte«.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
326                                     Dirk Niefanger

                                         Wie vorzeiten die ganze Poesie mit der Musik vereinbaret gewesen: also hat
                                         auch die Tragödie ihren Ursprung aus gewissen Liedern, die Bacchus zu Ehren
                                         gesungen worden. Es traten an Festtagen etliche Sänger zusammen, die ein gan-
                                         zes Chor ausmachen, diese spielten, tanzten und sangen nach Art der heidni-
                                         schen Religion, dem Weingotte dadurch seinen Gottesdienst zu leisten.4

                                   Die musikalischen Wurzeln der Tragödie und der dionysische Anfangsgrund
                                   des Theaterspielens sind tatsächlich keine Erfindung der Moderne, sondern
                                   eine sehr alte Vorstellung, die im Grunde zu lesen ist, seit es Poetiken gibt.
                                   Rituale und religiöse Feste, Tanz und Musik seien demnach die eigentlichen
                                   Ursprungsformen des Theaters, nicht aber die naive Nachahmung bezie-
                                   hungsweise eine mimetische Praxis im engeren Sinne. Diese bleibt indes bis
                                   zum Ende der Sattelzeit der zentrale poetische Bezug. Bezeichnend für die
                                   kulturellen Vorstellungen einer Zeit, insbesondere für ihr Verständnis von Re-
                                   präsentation und Mimesis, ist deshalb nicht, ob das antike Ursprungsszena-
                                   rio zitiert wird oder nicht; entscheidender ist, wie es erzählt oder ausgestal-
                                   tet wird und welchen Ort es dadurch in der Theaterpoetik erhält. Zu fragen
                                   ist also, wofür die Imagination des antiken Theaterursprungs steht.
                                        In dieser Hinsicht scheint es nach 1800 einen entscheidenden Wandel ge-
                                   geben zu haben.5 Bis dahin wurde der Spieltrieb zwar als Ursprung des Thea-
                                   ters angenommen, aber poetisch kaum ausgewertet. Dem Nachahmungstrieb
                                   und mit ihm dem Mimesisprinzip ordnete man den zentralen Stellenwert zu.
                                   Mit der historistischen Entidealisierung der Antike im 19. Jahrhundert ver-
                                   schiebt sich nun der Fokus zugunsten des Spieltriebs, der nicht nur für das
                                   imaginierte Ursprungsszenario genutzt wird, sondern immens an dramen-
                                   poetischer Bedeutung gewinnt. Unbedarft und als bloßer Topos ist der Ur-
                                   sprung des antiken Theaters aus dem Geiste des bacchantischen Festes nun
                                   nicht mehr zitierbar; er bietet jetzt vielmehr das historische Material für weit
                                   reichende ästhetische Umwertungen. Dieses macht die neuen Akzente einer
                                   auf sinnlichen Nachvollzug statt auf bloße Anschauung setzenden Theater-
                                   poetik erst evident. Primavesi rückt diesen Aspekt ins Zentrum einer im spä-
                                   ten 18. Jahrhundert einsetzenden Umdeutung der Tragödientheorie des Aris-
                                   toteles:
                                         Dass aber die Tragödie zugleich als eine Kunstform über die Nachahmung hin-
                                         ausgeht und als eine kulturelle, soziale und religiöse Praxis insgesamt über den
                                         Bereich von Dichtung und Kunst, ist der entscheidende Punkt, auf den die Fra-
                                         ge nach ihrem kultischen Ursprung führt.6
                                   _____________
                                   4     Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. [Unveränderter repro-
                                         graphischer Nachdruck der 4., vermehrten Auflage, Leipzig 1751]. Darmstadt 1982, S. 603.
                                   5     So zuletzt Patrick Primavesi: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800. Frank-
                                         furt a. M. 2008, S. 277.
                                   6     Ebenda, S. 279.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert                   327

                                   Diese für die Theatergeschichte letztlich folgenschwere Fokusverschiebung
                                   vom Nachahmungs- zum Spieltrieb findet wohl erst im postdramatischen
                                   Theater ihre vollständige Realisierung. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich,
                                   einige spezifische Imaginationen und narrative Variationen des antiken Über-
                                   gangs vom Ritus zum Drama, vom erlebten Spiel zum geschauten Schau-
                                   spiel, von der theatralen Praxis zum praktischen Theater im hier entscheiden-
                                   den 19. Jahrhundert zu verfolgen. Die Veränderung der Ursprungsimagina-
                                   tion kann zugleich als einschlägiges Beispiel für die Neusichtung und Um-
                                   wertung antiker Kunst in dieser Zeit gelten.

                                                         I. Hinführung: Goethe, Schiller, Solger

                                   Auch wenn Goethe in Bezug auf eine Tragödie von Euripides einmal gefor-
                                   dert hat, man solle »alles aus der Einbildungskraft auslöschen, was in späte-
                                   rer Zeit dieser einfachen großen Fabel angeheftet worden« ist,7 war er, was
                                   die Rekonstruktion des antiken Theaters anbelangt, gewiss kein historischer
                                   Purist. Seine Schrift Nachlese zu Aristoteles’ Poetik enthält nicht nur eine sehr
                                   eigenwillige Deutung der Katharsis-Lehre, sondern natürlich auch Hinweise
                                   auf die musikalisch-bacchantischen Ursprünge der Theaterkunst. Die »heili-
                                   ge[n] Melodien«, berichte Aristoteles, sollten »die in den Orgien erst aufge-
                                   regten Gemüter wieder besänftigen«.8 Anders als bei Harsdörffer und Gott-
                                   sched erregt hier der Chorgesang nicht, sondern beschwichtigt. An dieser we-
                                   niger durch Aristoteles als durch Schiller beeinflussten Imagination ursprüng-
                                   lich antiker Theaterkunst hegt der späte Goethe empirisch belegte Zweifel.
                                   Denn Goethe spricht der Musik im Prinzip eine euphorisierende Wirkung
                                   zu: »Wie wir auf jedem Ball sehen« könnten, bemerkt er, reiße »ein nach sit-
                                   tig-galanter Polonaise aufgespielter Walzer die sämtliche Jugend zu bacchan-
                                   tischem Wahnsinn« hin.9 Die Grenze, nach der der bacchantische Wahnsinn
                                   anfängt, scheint in der Spätphase der deutschen Klassik recht eng gezogen zu
                                   sein. Die Evidenz der Ball-Beobachtung nutzt Goethe aber immerhin, um
                                   der Musik eine moralische Wirkung in der Theaterkunst abzusprechen. Sie
                                   mildere allenfalls etwas die rohen Sitten. Seine Interpretation der Musik im
                                   Theater nähert sich so der Ursprungsmythe vom antiken Theater, wie wir
                                   sie bei Harsdörffer oder Gottsched lesen, wieder an.
                                   _____________
                                   7    Johann Wolfgang Goethe: PHAETON, Tragödie des Euripides. Versuch einer Wiederher-
                                        stellung aus Bruchstücken. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Text-
                                        kritisch durchgesehen u. kommentiert v. Erich Trunz. Hamburg 1948–1964. Bd. 12: Schrif-
                                        ten zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen. Hg. v. Erich Trunz. Mün-
                                        chen 101982, S. 310–320, hier S. 310.
                                   8    Goethes Werke (Anm. 7). Bd. 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen
                                        und Reflexionen. Hg. v. Erich Trunz. München 101982, S. 342–345, hier S. 344.
                                   9    Ebenda.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
328                                     Dirk Niefanger

                                        Schillers Vorrede zur Braut von Messina – Über den Gebrauch des Chors
                                   in der Tragödie – scheint mir hier ein nicht genannter Referenztext zu sein,
                                   der übrigens für das 19. Jahrhundert von einiger Bedeutung sein wird. Schil-
                                   ler betont – ausdrücklich an antike Praktiken anknüpfend – den Auffüh-
                                   rungscharakter tragischer Dichtwerke, die durch »Musik und Tanz« belebt
                                   würden.10 Bei ihm dient der Chor aber gerade nicht der bacchantischen Teil-
                                   habe am Kunstgenuss, sondern der artistischen Differenzierung von Welt und
                                   Bühne. Der Chor mache deutlich, so Schiller, dass eine Theateraufführung
                                   nichts mit banalem Naturalismus zu tun habe: Der Chor »sollte […] uns eine
                                   lebendige Mauer sein, die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der
                                   wirklichen Welt rein abzuschließen und sich ihren idealen Boden, ihre poe-
                                   tische Freiheit zu bewahren«. In dieser ästhetisch differenzierenden Funk-
                                   tion unterscheidet sich der moderne Chor – so Schiller – von seinem anti-
                                   ken Vorbild; in der naiven Welt seien Kunst und Leben noch verbunden ge-
                                   wesen. Und folglich war »der Chor […] in der alten Tragödie mehr ein na-
                                   türliches Organ« als heute, »er folgte schon aus der poetischen Gestalt des
                                   wirklichen Lebens«.11
                                        Auch in der deutschen Romantik wird die Rolle der Musik für den Ur-
                                   sprung des Theaters diskutiert. So erörtert im Jahre 1818 Karl Wilhelm Fer-
                                   dinand Solger in seinem Kommentar zu August Wilhelm Schlegels Vorlesun-
                                   gen über dramatische Kunst und Literatur das Verhältnis von Spiel- und Nach-
                                   ahmungstrieb in der Antike.12
                                         Eben deshalb verdiente es eine besondere Betrachtung, wie und warum die reli-
                                         giöse Ceremonie den ersten historischen Anfang des Drama enthält, nicht aber
                                         die kindische Nachahmung. […] Wie wichtig aber jene Verknüpfung der schaf-
                                         fenden Phantasie mit der ganz ausgebildeten Reflexion und einer bis zur Virtuo-
                                         sität gediehenen Civilisation und politischen Bildung seyn muß, leuchtet wohl
                                         ein. Ohne sie bleibt oder wird das Drama kindisch.13

                                   Anders als bei Gottsched erscheint die Ursprungsszene des antiken Theaters
                                   nicht mehr als historisierendes Ornament der Poetik, sondern ist von struk-
                                   tureller Bedeutung. Sie begründet hier die vollkommenste aller Künste, die
                                   Tragödie, der es gegeben sei, jenseits des Alltäglichen Erkenntnis möglich zu
                                   machen. In der antiken Urszene des Dramas zeige sich – nach Solger – das
                                   göttliche Leben in der Wirklichkeit. Diese Verbindung von religiösem Emp-
                                   _____________
                                   10    Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hg. v. Gerhard Fricke
                                         u. Herbert G. Göpfert. München 1958–1959. Bd. 2: Dramen II. München 61981, S. 815–823,
                                         hier S. 815.
                                   11    Ebenda, S. 819.
                                   12    Vgl. Patrick Primavesi: Das andere Fest (Anm. 5), S. 277.
                                   13    Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel. Hg. v. Ludwig
                                         Tieck u. Friedrich von Raumer (1926). Neu hg. v. Herbert Anton. Heidelberg 1972, S. 506f.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert                    329

                                   finden und Reflexion erscheine als entscheidendes Merkmal der antiken Tra-
                                   gödie. Denn ihr gelinge in der Vernichtung des Menschen, im Furchtbarsten
                                   und Schrecklichsten also, zugleich dessen »tröstlichste Erhebung«,14 weil im
                                   tief erlebten Schicksal das Göttliche sich offenbare.

                                                  II. Gustav Freytag: Die Technik des Dramas (1863)

                                   Es kann keinen Zweifel daran geben, dass nicht Solgers Konzept der Tragö-
                                   die als Medium der »offenbarenden Gottheit«,15 sondern Schiller und seine
                                   Vorstellung des klassizistischen Dramas als moralische Anstalt das große
                                   Vorbild Freytags gewesen sind. Seine Ausführungen beziehen sich zwar auch
                                   auf Lessing und dessen Katharsis-Lehre, auf Shakespeare und zuweilen auch
                                   auf Goethe, insbesondere auf die Iphigenie, doch sind es eben vor allem Schil-
                                   lers Dramen, die als Beispiele für die geschlossene Architektur des Dramas
                                   und die Figurenregie herhalten müssen. Auch die Reformulierung der didak-
                                   tischen Funktion des Dramas im Kapitel über das Wesen des Dramatischen16
                                   scheint unmittelbar Schiller geschuldet zu sein.
                                        Wie bei Solger muss man die Ursprungsszene des Dramas aber nicht als
                                   kontingentes Element der Theorie sehen. Auch steht in Freytags Überlegun-
                                   gen das antike Theater nicht als isolierter Ausgangspunkt einer kontinuier-
                                   lichen Entwicklung der Gattung, sondern wird als poetologisch bemerkens-
                                   werte Parallele zum neuzeitlichen Theater gedacht. Neben der Konzentra-
                                   tion auf den geographischen Kulturraum der europäischen ›alten Welt‹ fällt
                                   die – bezüglich der verfügbaren Belege freilich evidente – Auslassung des
                                   Mittelalters auf. Diese Diskontinuität hätte aber nicht ausdrücklich betont
                                   werden müssen. Die Renaissance feiert Freytag hier tatsächlich als kulturel-
                                   le Wiedergeburt im analogen Geiste, der als Drittes, denkt man jedenfalls die
                                   programmatische Einleitung des Bandes hinzu, die Moderne an die Seite ge-
                                   stellt wird. Denn durch die von Freytag notierten Bühnenregeln soll der Dra-
                                   menproduktion in Deutschland ein Neuanfang ermöglicht werden. Zitiert sei
                                   hier die Parallelisierung von Antike und Renaissance:
                                        Wir unterscheiden zwei Zeiträume, in denen das Dramatische dem Geschlecht
                                        der Erde gekommen ist. Zum erstenmal trat diese Vertiefung der Menschenseele
                                        in die antike Welt etwa um das Jahr 500 v. Chr., als sich das jugendliche Selbst-
                                   _____________
                                   14   Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Vorlesung über Ästhetik (1819). In: Ulrich Profitlich (Hg.):
                                        Tragödientheorie. Texte und Kommentare vom Barock bis zur Gegenwart. Reinbek bei
                                        Hamburg 1999, S. 157–163, hier S. 159.
                                   15   Ebenda.
                                   16   Vgl. Gustav Freytag: Die Technik des Dramas [Unveränderter reprographischer Nach-
                                        druck der 13. Auflage, Leipzig 1922]. Darmstadt 1992, S. 18; im Folgenden zitiert als TD
                                        mit arabischen Seitenzahlen.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
330                                    Dirk Niefanger

                                         gefühl der freien hellenistischen Stadtgemeinden mit der Blüte des Handels, der
                                         öffentlichen Reden und der Teilnahme des Bürgers am Staat erhob. Das zweite-
                                         mal trat das Dramatische in die neuere Völkerfamilie Europas nach der Refor-
                                         mation zugleich mit der Vertiefung des Gemütes und Geistes, welche durch das
                                         sechzehnte Jahrhundert sowohl bei den Germanen als bei den Romanen – in sehr
                                         verschiedener Weise – hervorgebracht wurde. (TD, S. 22f.)

                                   In beiden Fällen setzt das Dramatische mit einer ›Vertiefung‹ der Seele be-
                                   ziehungsweise des Geistes ein, und – vielleicht noch bemerkenswerter – es
                                   scheint vorerst nicht an das Theater als Institution gebunden. Der Neuan-
                                   fang wird also anthropologisch und nicht mit einer Veränderung der Ästhe-
                                   tik begründet. Geschichtsphilosophisch mischen sich in Freytags Ausführung
                                   zwei Konzepte: ein an Herder geschultes Entwicklungsdenken der einzelnen
                                   Völker,17 das einerseits von einer kulturellen und geistigen Höherentwick-
                                   lung und andererseits von einer Interdependenz von sozialem Leben und
                                   Kunst ausgeht, und eine Vorstellung, die das Vergangene als sich Wiederho-
                                   lendes und Typisches mit dem Gegenwärtigen in Beziehung setzt. So hat um
                                   1870 Jacob Burckhardt in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen das Histo-
                                   rische verstanden.18 Analog hierzu legitimiert Friedrich Nietzsche dann in
                                   der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung die ›monumentalische‹ Historie.19
                                        Fast hundert Jahre nach ihrem Erscheinen setzt in Deutschland die Wie-
                                   derentdeckung der Geschichtsphilosophie Herders ein. Dilthey bezieht sich
                                   1863 in seiner bekannten Rezension der Technik des Dramas von Freytag un-
                                   ter der Überschrift »Das griechische und das germanische Drama« ausdrück-
                                   lich auf Herders Shakespear-Rede in Von deutscher Art und Kunst (1773).20
                                   Er zitiert dort jene Stelle, in der Herder nach einem Vergleich von Shake-
                                   speare und Sophokles auf den Ursprung der Tragödie zu sprechen kommt:
                                   »Die Griechische Tragödie entstand gleichsam aus Einem Auftritt, aus den
                                   Impromptus der Dithyramben, des mimischen Tanzes, des Chors«.21
                                        Bei Gustav Freytag steht, wie bei Herder und Dilthey, Shakespeare für
                                   den germanischen Ursprung des Dramas in der Renaissance. Aischylos, So-
                                   phokles und Euripides repräsentieren das griechische Theater, das »aus ly-
                                   rischem Chorgesang hervorwuchs« (TD, S. 23). Bei der Imagination antiker

                                   _____________
                                   17    Vgl. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der
                                         Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts [1774]. Frankfurt a. M. 1967.
                                   18    Vgl. Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Hg. v. Rudolf Marx. Stuttgart
                                         1978, S. 6.
                                   19    Vgl. Friedrich Nietzsche: Werke in 3 Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. München 1954–1956.
                                         Bd. 1. München 61969, S. 223.
                                   20    Vgl. Wilhelm Dilthey: Die Technik des Dramas [1863]. In: TD, S. 317–350, hier S. 342f.
                                   21    Johann Gottfried Herder: Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter [1773].
                                         Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Durchgesehene u. bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stutt-
                                         gart 1977, S. 63–91, hier S. 67.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert                  331

                                   Theatralität bezieht Freytag, wohl nationalistisch inspiriert, die germanischen
                                   Völker mit ein. »Jahrhunderte vor« der Renaissance hätten
                                        sowohl die Hellenen als die Stämme der Völkerwanderung sich die ersten Anfän-
                                        ge einer Redeweise und Kunst des Gebärdenspiels entwickelt, welche das Dra-
                                        matische suchte. Dort wie hier hatten große Götterfeste einen Gesang in feierli-
                                        cher Tracht und das Spiel volkstümlicher Masken veranlaßt. Aber das Eintreten
                                        der dramatischen Kraft in diese lyrischen oder epischen Schaustellungen war doch
                                        beide Mal ein wunderbar schnelles, fast plötzliches. (TD, S. 23)

                                   Den Ursprung theatraler Kunst in der kultischen Praxis sieht Freytag also bei
                                   Hellenen und Germanen als analoge Entwicklung; die Latenzphase habe bei
                                   den germanischen Völkern nur länger gedauert. Bei diesen dominierte noch
                                   lange das Epische, das immer öfter auf die »Vorführung wichtiger Begeben-
                                   heiten« setzte, bei jenen wuchs das Drama »aus dem lyrischen Chorgesang«
                                   heraus (TD, S. 23). Die nationalistische Instrumentalisierung des dramati-
                                   schen Gründungsmythos überhört man bei Freytag nur schwer. Mit dem Mo-
                                   tiv der Völkerwanderung gelingt es zudem, Shakespeare als zentrale Gestalt
                                   des frühen germanischen Dramas zu installieren. Dessen Wurzeln liegen im
                                   Germanien der Völkerwanderung. Mit der Behauptung einer quasi geneti-
                                   schen Affinität der Deutschen zum englischen Drama der Renaissance könn-
                                   te sich Freytag freilich schon auf Lessings berühmten siebzehnten Literatur-
                                   brief beziehen,22 der die Nähe der Deutschen zu Shakespeare über eine an-
                                   thropologische Argumentation einführt.
                                        Shakespeares fehlende Formstrenge – zumal in den Historiendramen –
                                   deutet Freytag als epischen Zug, der durch die deutsche Klassik, der es ge-
                                   lingt, die antike Form mit der spätestens seit Goethes Shakespeare und kein
                                   Ende23 zum Topos gewordenen Shakespeare’schen Fähigkeit zur Charakter-
                                   zeichnung zu verbinden, erst vollständig überwunden wird. Anders als in frü-
                                   heren Imaginationen des theatralen Ursprungs finden sich bei Freytag zwei
                                   räumlich und historisch getrennte Schauplätze, auf denen sich parallele Sze-
                                   nen abspielen: »Beidemal entfaltete sich das Dramatische von dem Augen-
                                   blick, in dem es lebendig wurde, mit großer Kraft zu einer Schönheit, wel-
                                   che durch die späteren Jahrhunderte nicht leicht erreicht wurde« (TD, S. 23).
                                        Der Hinweis auf die Völkerwanderung kaschiert, dass die ›germanische‹
                                   Geburt der Tragödie läppische 2000 Jahre später erfolgte als die antike. Als
                                   ein zentraler Bereich, für welchen antike Spielformen antizipiert und imagi-
                                   niert werden, kristallisiert sich bei Freytag die Ausgestaltung der dramati-
                                   sierten Diegese heraus, an der das Publikum je nach dramaturgischer Tech-
                                   _____________
                                   22   Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Briefe die neueste Literatur betreffend. Hg. v. Wolfgang
                                        Bender. Stuttgart 1972, S. 48–53.
                                   23   Vgl. Goethes Werke (Anm. 7). Bd. 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maxi-
                                        men und Reflexionen. Hg. v. Erich Trunz. München 101982, S. 187–298, hier S. 293f.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
332                                     Dirk Niefanger

                                   nik, historischem Entwicklungsstand und damit einhergehender Dramenform
                                   unterschiedlich gut partizipieren kann. In diesem Zusammenhang diskutiert
                                   Freytag das horazische Verbot der unmittelbaren Gräueldarstellung (das so-
                                   genannte ›Medea-Paradigma‹)24 und damit komplementär zur Gründungs-
                                   legende dramatischer Kunst die ›epischen‹ Möglichkeiten des Dramas. Hier
                                   kommen noch einmal die ›germanischen‹ Urformen des Theatralen ins Spiel.
                                        Die Teichoskopie dient Freytag zufolge der Darstellung eines Gesche-
                                   hens, das nicht auf die Bühne gebracht werden kann. Im Sinne von Horaz
                                   führt er zwei Gründe für die Verwendung dieser Dramentechnik an: die tech-
                                   nische Unfähigkeit zur Mimesis (etwa die Präsentation einer Schlacht) und
                                   ihre moralische Bedenklichkeit (»Furchtbares, Schreckliches, Entsetzliches«
                                   (TD, S. 67)). Während Freytag den ersten Grund des Paradigmas für das mo-
                                   derne Drama akzeptiert, zweifelt er an der Gültigkeit des zweiten in der Mo-
                                   derne: »Überfall, Totschlag, Mord, Gefechte, gewalttätiges Zusammenschla-
                                   gen der Gestalten […] haben wir auf der Bühne nicht zu fürchten« (TD, S. 68).
                                   Das moderne deutsche Theater ist eines der Grausamkeit, und dies hänge
                                   mit dem Ursprung der dramatischen Kunst zusammen, die ja bei Helenen
                                   und Germanen unterschiedlich gewesen sei. Der lyrische Ursprung bei den
                                   Griechen verbiete die Gewalt, während die »deutsche« Theaterkunst, wie es
                                   heißt, »fröhlich war, Balgerei und Gewalttat abzubilden« (TD, S. 68).
                                        Freytag internalisiert hier Nationalstereotypen, die seit der Germania des
                                   Tacitus gängig sind.25 Offensichtlich wird dies, wenn man sich an Tacitus’ Be-
                                   richt erinnert, die germanischen Kampfspiele würden von den jungen Män-
                                   nern nackt in Szene gesetzt. Die »nudi iuvenes«26 der Germanen bieten die
                                   handfeste Alternative zu den Griechen in ihrer zivilisierten, man möchte sa-
                                   gen: überzivilisierten Theatertracht. Diese verhindere nämlich, so Freytag,
                                   die »heftigen Körperbewegungen«. Wegen ihrer beengenden Kleidung wür-
                                   den die griechischen Schauspieler dem »Schlagen, Anfassen, Ringen, Nieder-
                                   werfen aus dem Wege« gehen (TD, S. 68). Aktionsreiches, körperbetontes
                                   Spiel gehörte aber nicht nur zum seit der Antike belegten Volkscharakter der
                                   Germanen, sondern auch zum Repertoire der ›deutschen‹ Theatertradition,
                                   wofür Freytag entsprechende Beispiele von Shakespeare bis Schiller liefert.
                                   Implizit könnte man hieraus eine Rehabilitierung der ›offenen‹ Wanderbühne
                                   gegenüber dem geregelten Illusionstheater ableiten; dies passt freilich nicht
                                   _____________
                                   24    Vgl. Quintus Horatius Flaccus [Horaz]: De arte poetica [ars poetica]. In: Ders.: Sämtliche
                                         Gedichte. Lateinisch/Deutsch. Hg. v. Bernhard Kytzler. Stuttgart 1992, S. 629–661, hier
                                         S. 640f. (V. 182–188). Vgl. hierzu Carsten Zelle: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische
                                         Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987,
                                         S. 1–16. Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit. 1495–1773. Tübingen 2005,
                                         S. 173f.
                                   25    Vgl. Tacitus: Germania. Lateinisch/Deutsch. Hg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart
                                         1972, Kap. 2, 3, 22, 23.
                                   26    Ebenda, Kap. 24, S. 36.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert                    333

                                   in Freytags Gesamtkonzept, das strikt auf eine ›geschlossene‹, pyramidale
                                   Form setzt.27

                                                     III. Jacob Burckhardt: Das Poesie-Kapitel der
                                                       Weltgeschichtlichen Betrachtungen (1868)

                                   Weit ausführlicher als Freytag und Nietzsche hat Jacob Burckhardt die an-
                                   tike Welt in seiner umfangreichen Griechischen Kulturgeschichte (1898–1902)
                                   beschrieben. Doch schon vorher, in den einflussreichen Baseler Grundsatz-
                                   vorlesungen Über das Studium der Geschichte (1868 und 1870/71), die spä-
                                   ter als Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905) bekannt geworden sind und
                                   in hohem Maße auf die Kulturdebatten der Jahrhundertwende gewirkt ha-
                                   ben, befasst er sich mit der dramatischen Kunst der Antike. Die Skripte sind
                                   etwa zeitgleich mit den Texten von Freytag und Nietzsche entstanden. Im
                                   Kapitel »Zur geschichtlichen Betrachtung der Poesie« findet sich Burck-
                                   hardts kulturgeschichtliches Credo,28 das die Hinwendung des Historikers
                                   zur Dichtkunst, mithin die kulturgeschichtliche Historik Burckhardts be-
                                   gründet. »Die Poesie«, heißt es in jener Handschrift, die im Folgenden in der
                                   Regel zitiert wird, »ist für die geschichtliche Betrachtung das Bild des jezu-
                                   weilen Ewigen in den Völkern«.29 Burckhardt geht hier – wie Aristoteles in
                                   seiner Poetik30 – von den unterschiedlichen Objektbereichen der Dichtung
                                   und der Geschichtsschreibung aus: Die erste befasse sich mit der Wahrheit,
                                   hier als ›letzte Dinge‹ benannt, die zweite mit der Wirklichkeit. Liest der His-
                                   toriker in der Poesie, kann er Burckhardt zufolge zwar nicht die Wahrheit
                                   selbst, aber jeweils historisch und räumlich geltende Vorstellungen von ihr
                                   erfassen. Sie bieten den historisch bedingten Gegenentwurf zur materiell ori-
                                   entierten Welt. Mit diesem Konzept sind wesentliche Grundlagen der histo-
                                   rischen Kulturwissenschaft, so wie sich seit 1900 in Deutschland entwickelt,
                                   geschaffen.31
                                   _____________
                                   27   Die Begriffe ›offene‹ und ›geschlossene‹ Form orientieren sich an Volker Klotz: Geschlos-
                                        sene und offene Form im Drama. München 101980.
                                   28   Vgl. Dieter Jähnig: Jacob Burckhardts Bedeutung für die Ästhetik. In: Deutsche Viertel-
                                        jahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53 (1979), S. 173–190. Dieter
                                        Jähnig: Kunst-Erkenntnis bei Jacob Burckhardt. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Lite-
                                        raturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984), S. 16–37. Walther Rehm: Jacob Burck-
                                        hardt und das Dichterische. In: Euphorion 28 (1937), S. 85–107.
                                   29   Jacob Burckhardt: Über das Studium der Geschichte. Der Text der Weltgeschichtlichen
                                        Betrachtungen auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften hg.
                                        v. Peter Ganz. München 1982, S. 285. Im Folgenden nachgewiesen als SG mit arabischen
                                        Seitenzahlen.
                                   30   Vgl. Aristoteles: Poetik (Anm. 3), S. 28–31 (Kap. 9).
                                   31   Vgl. hierzu Otto Gerhard Oexle (Hg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit.
                                        Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932. Göttingen 2007. Christoph König u. Eber-

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
334                                   Dirk Niefanger

                                       Das Theater erscheint hierfür besonders gut geeignet, denn, so Burck-
                                   hardt, es beweise »durch sein Dasein und durch die Art seiner Geltung ei-
                                   nen bestimmten socialen Zustand, meist im Zusammenhang mit dem Cul-
                                   tus« (SG, S. 287). Damit werden spezifische Ausprägungen von Theatralität
                                   als kulturelle Praktiken bestimmt; an anderer Stelle spricht Burckhardt et-
                                   was deutlicher von »einem bestimmten Grad des Cultus« (SG, S. 285). Ein
                                   Klammerzusatz, der das antike, mittelalterliche, frühneuzeitliche und moder-
                                   ne Dramenverständnis auch regional unterscheidet – Griechenland, Spanien,
                                   England, Italien –, unterstützt die Vorstellung, dass Theaterformen zentrale
                                   kulturelle Praktiken einer Zeit seien. Ohne diese kulturgeschichtliche Argu-
                                   mentation ist die Imagination eines kultischen Ursprungs abendländischer
                                   Theatralität in der Antike kaum zu denken, denn sie beruht auf einer ur-
                                   sprünglichen und als Spur weiterhin präsenten Verbindung von »Cultus« und
                                   Kultur.
                                       Schon deshalb denkt Burckhardt das Drama als Form öffentlicher Insze-
                                   nierung, die aber nicht an die illusionstechnische Trennung von Publikum
                                   und Aufführung gebunden ist. Das ›öffentliche‹ und in Texten überlieferte
                                   Schauspiel sei »nach seinem Stoff und Geist eines der größten Zeugnisse für
                                   die betreffenden Völker und Zeiten« (SG, S. 288). Das Theatrale habe seine
                                   »Anlage tief im Menschen« und biete sich insofern als Quelle der histori-
                                   schen Anthropologie an (SG, S. 289). Wenn Burckhardt diese Sonderstellung
                                   theatraler Quellen proklamiert, so denkt er, wie sich aus seiner Griechischen
                                   Kulturgeschichte ableiten lässt, an die Athener Polis:
                                         Hier aber hing alles daran, daß es nicht zu Ergötzung und Zeitvertreib entstan-
                                         den war, wobei es klein und gering geblieben wäre, sondern als Teil eines hoch-
                                         wichtigen Kultus der Polis. […] Es galt als große Angelegenheit für die ganze
                                         festliche Bürgerschaft.32

                                   »Das attische Drama«, so vermerkt er im Poesie-Kapitel der Weltgeschicht-
                                   lichen Betrachtungen, »wirft Ströme von Licht auf das ganze […] griechische
                                   Dasein« (SG, S. 289). Von hier aus interpretiert Burckhardt das Agonale als
                                   Wesenszug des Griechischen, der sich in der Idee von Olympia genauso fin-
                                   det wie im Tragiker-Wettkampf in Athen. Die anthropologische Argumenta-
                                   tion scheint bei Burckhardt regional ausgerichtet zu sein: So habe die ago-
                                   nale Vorstellung des Theatralen bei den Griechen die Kulturform des Dra-
                                   mas im antiken Griechenland erst ermöglicht. Hier sei sie essentielle Lebens-
                                   form, die nicht an die Institution des Theaters gebunden ist.
                                   _____________
                                         hard Lämmert (Hg.): Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um
                                         1900. Frankfurt a. M. 1999.
                                   32    Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte. [Unveränderter Nachdruck der Ausgabe
                                         Basel 1956–57]. München 1977. Bd. 3. München 21982, S. 189.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert                335

                                        Zwar sieht Burckhardt die Geburtsstunde des eigentlichen Dramas in
                                   Griechenland, doch richtet er, um seine anthropologische und kulturgeogra-
                                   phische Argumentation zu stützen, im Poesie-Kapitel der Vorlesung wie in
                                   der Griechischen Kulturgeschichte seinen Blick auch nach China und Indien.
                                   Zwar beurteilt er deren theatrale Praxis eher kritisch, wenn er betont, sie
                                   hätte nicht das mythosstiftende, die Realität des Augenblicks übersteigende
                                   Moment des griechischen Theaters erreicht. Doch zeigt seine Argumenta-
                                   tion, dass er Theatralität – wie die heutige kulturgeschichtliche Theaterwis-
                                   senschaft – jenseits des institutionellen Theaters denkt. Analog zur asiati-
                                   schen Theatralität sieht er die Kulturpraktiken der »Halbculturvölker«, wo
                                   er lediglich »possenhafte Nachahmung des Wirklichen, etwa Pantomime mit
                                   Geheul und Gymnastik sieht« (SG, S. 289). In ihren anthropologischen Ar-
                                   gumenten sind Freytag und Burckhardt hier durchaus vergleichbar; das na-
                                   tionale Interesse differiert freilich. Es bewirkt beim Deutschen die beschrie-
                                   bene Parallelimagination und beim Schweizer die Alleinstellung des Grie-
                                   chischen.
                                        Burckhardts Imagination der Entstehung des griechischen Theaters im
                                   Poesie-Kapitel der Weltgeschichtlichen Betrachtungen stiftet übrigens jene
                                   Formel, mit der Nietzsche wenig später die Neuorientierung des modernen
                                   Theaters fordert: Er sieht im antiken Griechenland die »mysteriöse Entste-
                                   hung der Tragödie ›aus dem Geiste der Musik‹« (SG, S. 289):
                                        Der Protagonist bleibt ein Weiterhall des Dionysos und der ganze Inhalt My-
                                        thos, mit Vermeidung der öfter sich herandrängenden Geschichte; fester Wille,
                                        das Menschliche nur in typischen, nicht in wirklichkeitsgemäßen Gestalten zur
                                        Darstellung zu bringen. (SG, S. 289)

                                   Burckhardts Erzählung der theatralen Urszene bleibt seiner Aristoteles-In-
                                   terpretation verpflichtet. Das ursprüngliche antike Drama verweigere sich
                                   der Geschichte und tradiere mit dem Mythos anthropologische Wahrheiten
                                   jenseits eines aktuellen Wirklichkeitsbezugs; nur so aber gelange es zu sei-
                                   ner überragenden Geltung in der attischen Polis.
                                        In der später erschienenen Griechischen Kulturgeschichte betont Burck-
                                   hardt – wie Freytag – die Plötzlichkeit jenes Umschlags vom Dionysoskult
                                   zum Theater. »Unerwartet, aus der Musik, aus dem Chorgesang geheimnis-
                                   voll mächtiger dionysischer Gottesdienste«, habe sich das »dem ganzen My-
                                   thos geweihte Drama« erhoben. Mit der dramatischen Form sei das »höchste
                                   künstlerische Leben« erschaffen worden (SG, S. 190). Der augenblickliche
                                   Umschlag vom theatralen Kultus zur Kultur des Theaters markiert nicht nur
                                   die Bedeutung dieser Urszene, sondern stellt auch ihre Einzigartigkeit aus.
                                   Sie erhält ein quasi religiöses Moment: Die Epiphanie des Dramas gleicht
                                   einer Beseelung der Kultur; das bloße gottesdienstähnliche Ritual wird zum
                                   geist- und gehaltvollen, mythosstiftenden Theater. Genau hier setzt auch

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
336                                    Dirk Niefanger

                                   Nietzsches Kunstreligion an, nur deutet er den Umschlag als Wende ins bloß
                                   noch Apollinische und eben nicht mehr emphatisch positiv wie Burckhardt.

                                               IV. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (1871)

                                   Bestens bekannt und gut erforscht sind Nietzsches Imaginationen der Ur-
                                   sprungsszene.33 Sie bilden ein wichtiges historisches Argument in seiner zen-
                                   tralen ästhetischen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Mu-
                                   sik,34 wo sie am Ende des zweiten Kapitels zu finden sind. Zuvor befasst sich
                                   Nietzsche mit Grundlegendem zu den ästhetischen Kategorien des Apolli-
                                   nischen und Dionysischen, vor allem mit ihrer anthropologischen Herkunft
                                   aus Traum und Rausch. Das Apollinische, dem Traum zugeordnet, steht für
                                   die bildliche, imaginative, das Dionysische, das Nietzsche auf den Rausch be-
                                   zieht, für die unbildliche, unmittelbar erlebbare Kunst; das eine versteht mit
                                   Schopenhauer die Welt als Vorstellung, das andere als Wille.35
                                        Das hier zur Diskussion stehende zweite Kapitel rekapituliert »das Apol-
                                   linische und seinen Gegensatz, das Dionysische, als künstlerische Mächte
                                   […], die aus der Natur selbst […] hervorbrechen«.36 Die menschliche Kunst
                                   stehe hierzu in einem mimetischen Verhältnis; daraus folgt, dass die kultu-
                                   relle Realisierung dionysischen Rausches unterschiedliche Wege gehen kann.
                                   Nur in Griechenland, nicht jedoch bei den Barbaren, gelinge die ästhetische
                                   Freisetzung des Rauschhaften in der theatralen Kunst. Nietzsche entwickelt
                                   sie in der Ursprungsszene des antiken Theaters, der »Geburt der Tragödie
                                   aus dem Geiste der Musik«.
                                        Weder die Imagination der Ursprungsszene um 1870 erscheint besonders
                                   originell, noch die Formel von der »Geburt der Tragödie« selbst. Originell
                                   war freilich die ästhetische Stoßrichtung der Erzählung Nietzsches, die – hier
                                   strukturell der Idee Freytags gar nicht mal unähnlich – zu einer Renaissance,
                                   einer Wieder-Geburt der antiken Tragödie beitragen sollte. Anders als Frey-
                                   tag bezieht sich Nietzsche allerdings nicht auf die entwickelte attische Tra-
                                   _____________
                                   33    Als kompetenter Zugang eignet sich Barbara v. Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich
                                         Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Kap. 1–12). Stuttgart, Wei-
                                         mar 1992.
                                   34    Vgl. hierzu u. a. Dieter Jähnig: Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von
                                         Vergangenheitserkenntnis und Veränderung. Köln 1975, S. 122–196.
                                   35    Vgl. Arthur Schopenhauer: Zürcher Ausgabe. [Der Text folgt der historisch-kritischen
                                         Ausgabe von Arthur Hübscher, Wiesbaden 31972] Werke in zehn Bänden. Zürich 1977.
                                         Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Vier Bücher, nebst einem Anhange, der die
                                         Kritik der Kantischen Philosophie enthält. Tlbd. 1. Wiesbaden 31972.
                                   36    Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begr. v. Giorgio Colli u. Mazzino
                                         Montinari. Fortgef. v. Volker Gerhardt, Norbert Miller, Wolfgang Müller-Lauter u. Karl
                                         Pestalozzi. Berlin, New York 1967ff. Abt. 3. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitge-
                                         mäße Betrachtungen I–III (1872–1874). Berlin, New York 1972, S. 26.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert                    337

                                   gödie, sondern auf deren dionysischen Urgrund oder das, was man in der
                                   Ausgestaltung der aristotelischen Hinweise dafür hielt.
                                        Nietzsche, so kann man den einschlägigen Kommentaren entnehmen, be-
                                   zieht sich bei seiner Imagination insgesamt auf relativ gängige Forschungs-
                                   meinungen des 19. Jahrhunderts.37 Eine gewisse Besonderheit – insbesonde-
                                   re für seine Vorstellung dionysischer Feste – stellt die Rezeption Bachofens
                                   dar, der in Basel Nietzsches Kollege war. Seit 1871 hielt er nachweisbaren
                                   Kontakt zu ihm.38 Eine andere Quelle waren die Studien des klassischen Phi-
                                   lologen Karl Otfried Müller, für den hier diskutierten Zusammenhang ins-
                                   besondere einige Passagen aus dessen umfangreicher Geschichte der griechi-
                                   schen Literatur bis auf das Zeitalter Alexanders (21857):
                                        Einen befriedigenden Aufschluß über die Entstehung des Drama’s muß die Ver-
                                        bindung geben, in welcher es mit dem Gottesdienste, und zwar des Bacchus, steht.
                                        Der Griechische Gottesdienst enthält überhaupt eine Menge dramatischer Ele-
                                        mente. […] Der Bacchusdienst hat eine Eigenschaft, durch die er mehr als ir-
                                        gend ein andrer geeignet war, die Wiege des Drama’s und insbesondere der Tra-
                                        gödie zu werden: die damit verbundene enthusiastische Begeisterung. […] So
                                        begreift man, nach unserer Meinung, wie sich ohne alle willkürliche Fiction aus
                                        der Begeisterung des Bacchus-Cultus das Drama als ein Stück der festlichen Ver-
                                        ehrung des Gottes hervorbilden konnte.39

                                   Die Entstehung des Dramas aus einer Kulturtechnik, die mit einer religiö-
                                   sen Praxis verbunden war, erscheint bei Müller als nicht an die Nachahmung
                                   gebunden. Ausdrücklich hebt er den nicht-fiktionalen Charakter der kulti-
                                   schen Handlung hervor. Der »Bacchus-Cultus« spielt keine Geschichte, son-
                                   dern setzt sie als naturanalogen Mythos voraus; das Fest reagiert darauf im
                                   Modus des Nachvollzugs. Dabei macht der Chor das Erleben des Mythos
                                   greifbar, indem er »Empfindungen darüber« realisiert. Müllers Klassifikation
                                   nimmt Nietzsche später in seine Ausführungen mit auf: »Dieser Chorgesang
                                   gehörte in die Klasse des Dithyrambos«. Und er »drehte sich um die Leiden
                                   des Dionysos«.40
                                   _____________
                                   37   Vgl. Barbara v. Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche (Anm. 33), S. 90–122.
                                   38   Vgl. Johann Jakob Bachofen: Die Sage von Tanaquil. Eine Untersuchung über den Orien-
                                        talismus in Rom und Italien. Heidelberg 1870. Das Buch befand sich in Richard Wagners
                                        Bibliothek, die Nietzsche benutzte. Zu Nietzsches Quellen und zum Verhältnis Nietzsches
                                        zu Bachofen vgl. auch Max Lorenz Bauemer: Das moderne Phänomen des Dionysischen
                                        und seine ›Entdeckung‹ durch Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 6 (1977), S. 123–153 sowie
                                        Max Lorenz Bauemer: Nietzsche and the Tradition of the Dionysian. In: James C. O’Fla-
                                        herty, Timothy F. Sellner u. Robert M. Helm (Hg.): Studies in Nietzsche and the Classical
                                        Tradition. Chapel Hill 1976, S. 165–189.
                                   39   Karl Otfried Müllers Geschichte der griechischen Literatur bis auf das Zeitalter Alexan-
                                        ders. Nach einer Handschrift des Verf. hg. v. Eduard Müller. 2 Bände. Breslau 1841. Bd. 2.
                                        Breslau 21857, S. 25–30 (im Zitat stark gekürzt).
                                   40   Ebenda, S. 30.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
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                                        Nietzsches Artisten-Metaphysik sieht die zu erstrebende Kunst wie die
                                   konstatierte archaische Tragödie der Griechen wesentlich moralfrei. Der dio-
                                   nysische Künstlergott schafft eine Welt jenseits christlicher Wertvorstellun-
                                   gen und apollinisch-distanzierter Ästhetik. Auch wenn in der Tragödien-
                                   schrift noch eine Vermittlung apollinischen und dionysischen Geistes als
                                   Ideal angesehen wird, zeigt sich in Nietzsches Erzählung vom ursprünglich
                                   dionysischen Theater der Antike der anti-klassizistische Impetus seiner Äs-
                                   thetik. Sie richtet sich gegen die wesentlich von Schiller, dann von Freytag
                                   und anderen auch auf der Bühne etablierte antikisierende Theaterästhetik
                                   des 19. Jahrhunderts. In wesentlichen Punkten kann sie sich aber auf zeit-
                                   genössische akademische Studien stützen, auch wenn sie selbst – die Aus-
                                   einandersetzung mit Wilamowitz-Moellendorff zeigt es41 – keineswegs den
                                   Normen zeitgenössischer Philologie folgt und in der Fachzunft höchst um-
                                   stritten ist. Schon der narrative Modus, in dem Nietzsche die Urszene der
                                   Tragödie hervorbringt, hebt ihn von Müller und den anderen Philologen ab:
                                         Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller
                                         seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur
                                         Äußerung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der
                                         Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrü-
                                         cken; eine neue Welt der Symbole ist nötig, einmal die ganze leibliche Symbolik,
                                         nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die vol-
                                         le, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die ande-
                                         ren symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie
                                         plötzlich ungestüm. Um diese Gesamtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu
                                         fassen, muß der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäußerung angelangt
                                         sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will.42

                                   Als Dithyrambus bezeichnet Nietzsche hier nicht eine poetisch entwickelte
                                   Liedform, sondern Gesänge im Kontext des Dionysos-Kultes. Ein solcher
                                   archaischer Dithyrambus ist offenbar durch ein Fragment des Archilochus
                                   bezeugt.43 Bezugspunkt Nietzsches scheint, wie in diesem Fall üblich, aber
                                   die Poetik des Aristoteles zu sein, wo der Ursprung der Tragödie ausdrück-
                                   lich mit dem Dityhrambus zusammengebracht wird.44
                                        Die hier beschriebene Wandlung referiert zwar auf die Geburt der Gat-
                                   tung Tragödie, wird aber als individuelles Erlebnis, als subjektive Epiphanie
                                   erzählt – dies übrigens obwohl das Dionysische gerade als kollektives Ereig-
                                   nis gedacht ist. Die Anlage der Imagination hat wie der Vorgang selbst eine
                                   _____________
                                   41    Vgl. Karlfried Gründer (Hg.): Der Streit um Nietzsches Geburt der Tragödie. Die Schrif-
                                         ten von E. Rohde, R. Wagner, U. v. Wilamowitz-Moellendorff. Hildesheim 1969.
                                   42    Friedrich Nietzsche: Werke (Anm. 36). Abt. 3. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitge-
                                         mäße Betrachtungen I–III (1872–1874). Berlin, New York 1972, S. 29–30.
                                   43    Vgl. Barbara v. Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche (Anm. 33), S. 120.
                                   44    Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 4, S. 14.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert                 339

                                   symbolische Struktur. Ihre Überlieferung ist hier zudem an die Sprache ge-
                                   bunden, die natürlich selbst apollinischer Gesetzmäßigkeit folgen muss.
                                       Aus dem dionysischen Gemeinschaftserlebnis entsteht Nietzsche zufol-
                                   ge die Tragödie. Den Chor interpretiert er dabei nicht als idealen Zuschauer,
                                   sondern als Modus des körperlichen Miterlebens. Die Kommentare verwei-
                                   sen in diesem Zusammenhang auf Nietzsches Rezeption der Philosophie des
                                   Unbewußten (1869) von Eduard von Hartmann, wo Möglichkeiten der Af-
                                   fektsymbolisierung in der Gebärdensprache erwogen werden.45 Die in die-
                                   ser Passage aufgerufene Semiotik basiert tatsächlich nicht auf allegorischen
                                   Prinzipien, sondern auf symbolischen, die eine tatsächliche Teilhabe am Gan-
                                   zen und einen steten Verweis auf das Ganze implizieren. Entsprechend ist
                                   die Metaphorik der Textstelle gestaltet: Alle Fähigkeiten werden gereizt, alle
                                   Glieder dienen dem Ausdruck, der sich von selbst, quasi ohne leitendes Ge-
                                   hirn steuert. Das Dionysische setzt auf die Gesamtentfesselung des Men-
                                   schen ohne Rücksicht auf eine deutende Außenwelt. Deshalb, so Nietzsche,
                                   wird der dionysische Künstler nur »von seinesgleichen verstanden«.46
                                       Wird das so interpretierte Dionysische als Ausdrucksmöglichkeit des neu-
                                   en Theaters erkannt oder gar reaktiviert, wie Nietzsche es sich bekanntlich
                                   in Hinblick auf Richard Wagner durchaus vorstellte, ebnet sich der Weg zu
                                   Darstellungsformen jenseits der bloßen Nachahmung und damit zu einem
                                   Theater, das sich vom Drama als Textvorlage löst. In Nietzsches Rekurs auf
                                   die vermeintlichen Ursprünge archaischer Spielformen könnte man insofern
                                   die Geburt des postdramatischen Theaters aus dem Geiste der Antike sehen.

                                                                           Resümee

                                   Die Befangenheit der rituellen Tänzer in der eigenen Kultwelt ist ein Aspekt
                                   bei Nietzsche, den auch Burckhardt und andere stark machen. Dort gibt sie
                                   meist Auskunft über die spezielle, als fremd ausgezeichnete Denk- und Le-
                                   bensweise der Antiken; diese Differenz von antikem Kult und moderner His-
                                   toriographie liegt Nietzsches Ästhetik eher fern. Sie verschiebt insofern die
                                   Perspektive von der Rekonstruktion historischer Ursprünge zu einer histo-
                                   risierenden Ausgestaltung seiner Ästhetik. Die radikale Körperlichkeit des
                                   Dionysoskultes bei Nietzsche erinnert an Freytags Beschreibung germani-
                                   scher Theatralität, die bei ihm auch einen Gegensatz zur – wenn man so
                                   will – apollinisch-antiken Welt der gesitteten Tragödie darstellt. Nietzsche
                                   denkt diesen ästhetischen Gegensatz aber nicht als Moment der Volkscha-
                                   _____________
                                   45   Vgl. Barbara v. Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche (Anm. 33), S. 122.
                                   46   Friedrich Nietzsche: Werke (Anm. 36). Abt. 3. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitge-
                                        mäße Betrachtungen I–III (1872–1874). Berlin, New York 1972, S. 30.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
340                                  Dirk Niefanger

                                   raktere, sondern als eine sich historisch entwickelnde Antinomie. Im Grunde
                                   ist das Bekenntnis zum Dionysischen aber durchaus vergleichbar mit Frey-
                                   tags Eintreten für das Grausame auf der Bühne, das er als alten ›germani-
                                   schen‹ Zug interpretiert hatte. Dieser sei gegenüber dem zurückhaltenden
                                   antiken Theater heute jedoch als modernes Theaterelement zu akzeptieren.
                                   Burckhardt setzt hier einen anderen Schwerpunkt, wenn er die Autonomie
                                   der Theaterkunst betont; diese scheint gerade zu Verfeinerung und ästheti-
                                   scher Ausdifferenzierung zu führen. Bei Nietzsche geschieht dies durch die
                                   Überfrachtung mit ethischen Ansprüchen im Kontext des sokratischen Zeit-
                                   alters.
                                        Alle hier referierten Ursprungsimaginationen des 19. Jahrhunderts er-
                                   scheinen innerhalb der Theoriegeschichte des Dramas als zentrale Belege ei-
                                   ner Transformation der Antike im ästhetischen Historismus, weil dort – frei-
                                   lich auf jeweils unterschiedliche Art und Weise – das antike Theater als Aus-
                                   gangspunkt einer sich ausdrücklich modern verstehenden Dramentheorie
                                   genommen wird. Mit Freytag, Burckhardt und Nietzsche beginnt – das ist
                                   vermutlich literaturgeschichtlicher Konsens – so etwas wie die emphatische
                                   Moderne in der Geschichte der dramatischen Kunst. Dabei könnte Freytag
                                   als viel gelesener Protokollant des klassizistischen Status quo gelten, Burck-
                                   hardt als verkannter kulturgeschichtlicher Arrangeur des Neuen und Nietz-
                                   sche als wohlfeile Referenz des Regelbruchs. Die Nähe dieser drei Autoren
                                   sollte mehr betont werden als ihre Differenz.
                                        Anders als bei Schiller, so könnte man etwas pauschal formulieren, er-
                                   scheint nun nicht mehr das ursprüngliche antike Theater in seiner Differenz
                                   zur Moderne (›naiv‹ versus ›sentimentalisch‹), sondern als Orientierungsbe-
                                   leg für diese. Dies gelingt, indem das, was als antik angesehen wird, imagi-
                                   nativ erweitert wird: bei Nietzsche auf das Archaische, bei Freytag auf die
                                   ›germanische‹ Antike der Völkerwanderung und bei Burckhardt durch seine
                                   Seitenblicke auf die »Halbculturvölker«. Erst diese Erweiterung ermöglicht
                                   eine kontrastive Darstellung des antiken Theaters, das in der Bewertung kei-
                                   neswegs einheitlich sein muss, sondern auch bei den einzelnen Autoren selbst
                                   changieren kann. Bei Freytag ergänzt die ›germanische‹ Grausamkeit die an-
                                   tike Formenstrenge, in Nietzsches Tragödienschrift erscheinen im idealen
                                   Kunstwerk apollinische und dionysische Prinzipien vereinigt, und bei Burck-
                                   hardt wird auch den anderen Kulturen ein Bezug zum jeweils Ewigen zu-
                                   gestanden, der für das Verständnis unserer eigenen modernen Kultur aber
                                   nicht unbedingt notwendig ist.
                                        Der historische Bezug tendiert aufgrund seiner Indienstnahme durch die
                                   Moderne zum Überzeitlichen und korrespondiert dadurch mit dem ästheti-
                                   schen Historismus des späten 19. Jahrhunderts, der zu einer Integration des
                                   fremd gewordenen Antiken ins moderne Weltbild neigt. Gerade das archa-
                                   ische Theater der Griechen eignet sich offenbar als fremde Intarsie in einer

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert               341

                                   auf die Moderne zielenden Dramentheorie. Dabei wirkt die phantasieanre-
                                   gende Erzählung der archaischen Gründungsszene der Tragödie in ihren Va-
                                   riationen zwar eigentümlich unhistorisch, aber äußerst evident. Nur deshalb
                                   wirkt sie für eine programmatische Interpretation im Sinne der eigenen Dra-
                                   menästhetik so attraktiv.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Erstpublikation

                Dirk Niefanger: Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert.

                In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen
                der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.

In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
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