Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert
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Dirk Niefanger Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert Die »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« erscheint schon lange vor Nietzsche als Topos poetologischer Schriften. Die ältere Theaterkunst sei ein bacchantischer Götzendienst gewesen, bei dem »die Heyden bey Ver- zehrung ihrer Opfergaben gesprungen und gesungen« hätten. »Bey diesen Opfern« hätten »sie sich mit Epheu und Wintergrün gekrönet / einen Bock / als welcher den Weinberg am meisten schadet / aufgeopfert / und sich als Waldmänner mit räuhen Fellen bedecket«.1 So lautet die Imagination antiker Theaterursprünge in Harsdörffers Poetischem Trichter, einer der wichtigsten Poetiken des 17. Jahrhunderts.2 Diese oder ähnliche Imaginationen von ar- chaischer Theatralität gehen letztlich wohl auf die Poetik des Aristoteles zu- rück, wo im vierten Kapitel vermerkt ist, dass die ursprünglichen Aufführun- gen auf Improvisationen des Chorführers und dionysische Umzüge zurück- zuführen seien.3 Die Imagination eines ursprünglichen antiken Theaters gehörte zum klas- sischen Repertoire der neuzeitlichen Dramentheorie. Als Momente dieser Imagination können das bacchantische Gemeinschaftserlebnis, der Tanz und die Musik als integrale Bestandteile der theatralen Ritualhandlung gelten. So lesen wir auch im 18. Jahrhundert, bei keinem Geringeren als Gottsched, von der ›Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹. Die Aufklärung unter- scheidet sich in dieser Hinsicht allenfalls im Stil der Darstellung vom Barock: _____________ 1 Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. 3 Bände in einem Band. [Reprographi- scher Nachdruck der Ausgaben: Bd. 1. Nürnberg 1650; Bd. 2. Nürnberg 1648; Bd. 3. Nürn- berg 1653]. Darmstadt 1969. Bd. 2, S. 70f. 2 Zur Theaterpoetik von Harsdörffer vgl. demnächst Dirk Niefanger: Gebärde und Bühne. Harsdörffers Schauspieltheorie. In: Stefan Keppler u. Ursula Kocher (Hg.): Georg Philipp Harsdörffer und die Universalität der Literatur. Berlin, New York 2010. 3 Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 14 (Kap. 4): »Sie [die Tragödie] hatte ursprünglich aus Improvisationen bestanden (sie selbst und die Komödie: sie selbst von seiten derer, die den Dithyrambos, die Komö- die von seiten derer, die die Phallos-Umzüge, wie sie noch jetzt in vielen Städten im Schwan- ge sind, anführten); sie dehnte sich dann allmählich aus, wobei man verbesserte, was bei ihr zum Vorschein kam, und machte viele Veränderungen durch. Ihre Entwicklung hörte auf, sobald sie ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte«. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
326 Dirk Niefanger Wie vorzeiten die ganze Poesie mit der Musik vereinbaret gewesen: also hat auch die Tragödie ihren Ursprung aus gewissen Liedern, die Bacchus zu Ehren gesungen worden. Es traten an Festtagen etliche Sänger zusammen, die ein gan- zes Chor ausmachen, diese spielten, tanzten und sangen nach Art der heidni- schen Religion, dem Weingotte dadurch seinen Gottesdienst zu leisten.4 Die musikalischen Wurzeln der Tragödie und der dionysische Anfangsgrund des Theaterspielens sind tatsächlich keine Erfindung der Moderne, sondern eine sehr alte Vorstellung, die im Grunde zu lesen ist, seit es Poetiken gibt. Rituale und religiöse Feste, Tanz und Musik seien demnach die eigentlichen Ursprungsformen des Theaters, nicht aber die naive Nachahmung bezie- hungsweise eine mimetische Praxis im engeren Sinne. Diese bleibt indes bis zum Ende der Sattelzeit der zentrale poetische Bezug. Bezeichnend für die kulturellen Vorstellungen einer Zeit, insbesondere für ihr Verständnis von Re- präsentation und Mimesis, ist deshalb nicht, ob das antike Ursprungsszena- rio zitiert wird oder nicht; entscheidender ist, wie es erzählt oder ausgestal- tet wird und welchen Ort es dadurch in der Theaterpoetik erhält. Zu fragen ist also, wofür die Imagination des antiken Theaterursprungs steht. In dieser Hinsicht scheint es nach 1800 einen entscheidenden Wandel ge- geben zu haben.5 Bis dahin wurde der Spieltrieb zwar als Ursprung des Thea- ters angenommen, aber poetisch kaum ausgewertet. Dem Nachahmungstrieb und mit ihm dem Mimesisprinzip ordnete man den zentralen Stellenwert zu. Mit der historistischen Entidealisierung der Antike im 19. Jahrhundert ver- schiebt sich nun der Fokus zugunsten des Spieltriebs, der nicht nur für das imaginierte Ursprungsszenario genutzt wird, sondern immens an dramen- poetischer Bedeutung gewinnt. Unbedarft und als bloßer Topos ist der Ur- sprung des antiken Theaters aus dem Geiste des bacchantischen Festes nun nicht mehr zitierbar; er bietet jetzt vielmehr das historische Material für weit reichende ästhetische Umwertungen. Dieses macht die neuen Akzente einer auf sinnlichen Nachvollzug statt auf bloße Anschauung setzenden Theater- poetik erst evident. Primavesi rückt diesen Aspekt ins Zentrum einer im spä- ten 18. Jahrhundert einsetzenden Umdeutung der Tragödientheorie des Aris- toteles: Dass aber die Tragödie zugleich als eine Kunstform über die Nachahmung hin- ausgeht und als eine kulturelle, soziale und religiöse Praxis insgesamt über den Bereich von Dichtung und Kunst, ist der entscheidende Punkt, auf den die Fra- ge nach ihrem kultischen Ursprung führt.6 _____________ 4 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. [Unveränderter repro- graphischer Nachdruck der 4., vermehrten Auflage, Leipzig 1751]. Darmstadt 1982, S. 603. 5 So zuletzt Patrick Primavesi: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800. Frank- furt a. M. 2008, S. 277. 6 Ebenda, S. 279. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert 327 Diese für die Theatergeschichte letztlich folgenschwere Fokusverschiebung vom Nachahmungs- zum Spieltrieb findet wohl erst im postdramatischen Theater ihre vollständige Realisierung. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, einige spezifische Imaginationen und narrative Variationen des antiken Über- gangs vom Ritus zum Drama, vom erlebten Spiel zum geschauten Schau- spiel, von der theatralen Praxis zum praktischen Theater im hier entscheiden- den 19. Jahrhundert zu verfolgen. Die Veränderung der Ursprungsimagina- tion kann zugleich als einschlägiges Beispiel für die Neusichtung und Um- wertung antiker Kunst in dieser Zeit gelten. I. Hinführung: Goethe, Schiller, Solger Auch wenn Goethe in Bezug auf eine Tragödie von Euripides einmal gefor- dert hat, man solle »alles aus der Einbildungskraft auslöschen, was in späte- rer Zeit dieser einfachen großen Fabel angeheftet worden« ist,7 war er, was die Rekonstruktion des antiken Theaters anbelangt, gewiss kein historischer Purist. Seine Schrift Nachlese zu Aristoteles’ Poetik enthält nicht nur eine sehr eigenwillige Deutung der Katharsis-Lehre, sondern natürlich auch Hinweise auf die musikalisch-bacchantischen Ursprünge der Theaterkunst. Die »heili- ge[n] Melodien«, berichte Aristoteles, sollten »die in den Orgien erst aufge- regten Gemüter wieder besänftigen«.8 Anders als bei Harsdörffer und Gott- sched erregt hier der Chorgesang nicht, sondern beschwichtigt. An dieser we- niger durch Aristoteles als durch Schiller beeinflussten Imagination ursprüng- lich antiker Theaterkunst hegt der späte Goethe empirisch belegte Zweifel. Denn Goethe spricht der Musik im Prinzip eine euphorisierende Wirkung zu: »Wie wir auf jedem Ball sehen« könnten, bemerkt er, reiße »ein nach sit- tig-galanter Polonaise aufgespielter Walzer die sämtliche Jugend zu bacchan- tischem Wahnsinn« hin.9 Die Grenze, nach der der bacchantische Wahnsinn anfängt, scheint in der Spätphase der deutschen Klassik recht eng gezogen zu sein. Die Evidenz der Ball-Beobachtung nutzt Goethe aber immerhin, um der Musik eine moralische Wirkung in der Theaterkunst abzusprechen. Sie mildere allenfalls etwas die rohen Sitten. Seine Interpretation der Musik im Theater nähert sich so der Ursprungsmythe vom antiken Theater, wie wir sie bei Harsdörffer oder Gottsched lesen, wieder an. _____________ 7 Johann Wolfgang Goethe: PHAETON, Tragödie des Euripides. Versuch einer Wiederher- stellung aus Bruchstücken. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Text- kritisch durchgesehen u. kommentiert v. Erich Trunz. Hamburg 1948–1964. Bd. 12: Schrif- ten zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen. Hg. v. Erich Trunz. Mün- chen 101982, S. 310–320, hier S. 310. 8 Goethes Werke (Anm. 7). Bd. 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen. Hg. v. Erich Trunz. München 101982, S. 342–345, hier S. 344. 9 Ebenda. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
328 Dirk Niefanger Schillers Vorrede zur Braut von Messina – Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie – scheint mir hier ein nicht genannter Referenztext zu sein, der übrigens für das 19. Jahrhundert von einiger Bedeutung sein wird. Schil- ler betont – ausdrücklich an antike Praktiken anknüpfend – den Auffüh- rungscharakter tragischer Dichtwerke, die durch »Musik und Tanz« belebt würden.10 Bei ihm dient der Chor aber gerade nicht der bacchantischen Teil- habe am Kunstgenuss, sondern der artistischen Differenzierung von Welt und Bühne. Der Chor mache deutlich, so Schiller, dass eine Theateraufführung nichts mit banalem Naturalismus zu tun habe: Der Chor »sollte […] uns eine lebendige Mauer sein, die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen und sich ihren idealen Boden, ihre poe- tische Freiheit zu bewahren«. In dieser ästhetisch differenzierenden Funk- tion unterscheidet sich der moderne Chor – so Schiller – von seinem anti- ken Vorbild; in der naiven Welt seien Kunst und Leben noch verbunden ge- wesen. Und folglich war »der Chor […] in der alten Tragödie mehr ein na- türliches Organ« als heute, »er folgte schon aus der poetischen Gestalt des wirklichen Lebens«.11 Auch in der deutschen Romantik wird die Rolle der Musik für den Ur- sprung des Theaters diskutiert. So erörtert im Jahre 1818 Karl Wilhelm Fer- dinand Solger in seinem Kommentar zu August Wilhelm Schlegels Vorlesun- gen über dramatische Kunst und Literatur das Verhältnis von Spiel- und Nach- ahmungstrieb in der Antike.12 Eben deshalb verdiente es eine besondere Betrachtung, wie und warum die reli- giöse Ceremonie den ersten historischen Anfang des Drama enthält, nicht aber die kindische Nachahmung. […] Wie wichtig aber jene Verknüpfung der schaf- fenden Phantasie mit der ganz ausgebildeten Reflexion und einer bis zur Virtuo- sität gediehenen Civilisation und politischen Bildung seyn muß, leuchtet wohl ein. Ohne sie bleibt oder wird das Drama kindisch.13 Anders als bei Gottsched erscheint die Ursprungsszene des antiken Theaters nicht mehr als historisierendes Ornament der Poetik, sondern ist von struk- tureller Bedeutung. Sie begründet hier die vollkommenste aller Künste, die Tragödie, der es gegeben sei, jenseits des Alltäglichen Erkenntnis möglich zu machen. In der antiken Urszene des Dramas zeige sich – nach Solger – das göttliche Leben in der Wirklichkeit. Diese Verbindung von religiösem Emp- _____________ 10 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. München 1958–1959. Bd. 2: Dramen II. München 61981, S. 815–823, hier S. 815. 11 Ebenda, S. 819. 12 Vgl. Patrick Primavesi: Das andere Fest (Anm. 5), S. 277. 13 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel. Hg. v. Ludwig Tieck u. Friedrich von Raumer (1926). Neu hg. v. Herbert Anton. Heidelberg 1972, S. 506f. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert 329 finden und Reflexion erscheine als entscheidendes Merkmal der antiken Tra- gödie. Denn ihr gelinge in der Vernichtung des Menschen, im Furchtbarsten und Schrecklichsten also, zugleich dessen »tröstlichste Erhebung«,14 weil im tief erlebten Schicksal das Göttliche sich offenbare. II. Gustav Freytag: Die Technik des Dramas (1863) Es kann keinen Zweifel daran geben, dass nicht Solgers Konzept der Tragö- die als Medium der »offenbarenden Gottheit«,15 sondern Schiller und seine Vorstellung des klassizistischen Dramas als moralische Anstalt das große Vorbild Freytags gewesen sind. Seine Ausführungen beziehen sich zwar auch auf Lessing und dessen Katharsis-Lehre, auf Shakespeare und zuweilen auch auf Goethe, insbesondere auf die Iphigenie, doch sind es eben vor allem Schil- lers Dramen, die als Beispiele für die geschlossene Architektur des Dramas und die Figurenregie herhalten müssen. Auch die Reformulierung der didak- tischen Funktion des Dramas im Kapitel über das Wesen des Dramatischen16 scheint unmittelbar Schiller geschuldet zu sein. Wie bei Solger muss man die Ursprungsszene des Dramas aber nicht als kontingentes Element der Theorie sehen. Auch steht in Freytags Überlegun- gen das antike Theater nicht als isolierter Ausgangspunkt einer kontinuier- lichen Entwicklung der Gattung, sondern wird als poetologisch bemerkens- werte Parallele zum neuzeitlichen Theater gedacht. Neben der Konzentra- tion auf den geographischen Kulturraum der europäischen ›alten Welt‹ fällt die – bezüglich der verfügbaren Belege freilich evidente – Auslassung des Mittelalters auf. Diese Diskontinuität hätte aber nicht ausdrücklich betont werden müssen. Die Renaissance feiert Freytag hier tatsächlich als kulturel- le Wiedergeburt im analogen Geiste, der als Drittes, denkt man jedenfalls die programmatische Einleitung des Bandes hinzu, die Moderne an die Seite ge- stellt wird. Denn durch die von Freytag notierten Bühnenregeln soll der Dra- menproduktion in Deutschland ein Neuanfang ermöglicht werden. Zitiert sei hier die Parallelisierung von Antike und Renaissance: Wir unterscheiden zwei Zeiträume, in denen das Dramatische dem Geschlecht der Erde gekommen ist. Zum erstenmal trat diese Vertiefung der Menschenseele in die antike Welt etwa um das Jahr 500 v. Chr., als sich das jugendliche Selbst- _____________ 14 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Vorlesung über Ästhetik (1819). In: Ulrich Profitlich (Hg.): Tragödientheorie. Texte und Kommentare vom Barock bis zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 157–163, hier S. 159. 15 Ebenda. 16 Vgl. Gustav Freytag: Die Technik des Dramas [Unveränderter reprographischer Nach- druck der 13. Auflage, Leipzig 1922]. Darmstadt 1992, S. 18; im Folgenden zitiert als TD mit arabischen Seitenzahlen. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
330 Dirk Niefanger gefühl der freien hellenistischen Stadtgemeinden mit der Blüte des Handels, der öffentlichen Reden und der Teilnahme des Bürgers am Staat erhob. Das zweite- mal trat das Dramatische in die neuere Völkerfamilie Europas nach der Refor- mation zugleich mit der Vertiefung des Gemütes und Geistes, welche durch das sechzehnte Jahrhundert sowohl bei den Germanen als bei den Romanen – in sehr verschiedener Weise – hervorgebracht wurde. (TD, S. 22f.) In beiden Fällen setzt das Dramatische mit einer ›Vertiefung‹ der Seele be- ziehungsweise des Geistes ein, und – vielleicht noch bemerkenswerter – es scheint vorerst nicht an das Theater als Institution gebunden. Der Neuan- fang wird also anthropologisch und nicht mit einer Veränderung der Ästhe- tik begründet. Geschichtsphilosophisch mischen sich in Freytags Ausführung zwei Konzepte: ein an Herder geschultes Entwicklungsdenken der einzelnen Völker,17 das einerseits von einer kulturellen und geistigen Höherentwick- lung und andererseits von einer Interdependenz von sozialem Leben und Kunst ausgeht, und eine Vorstellung, die das Vergangene als sich Wiederho- lendes und Typisches mit dem Gegenwärtigen in Beziehung setzt. So hat um 1870 Jacob Burckhardt in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen das Histo- rische verstanden.18 Analog hierzu legitimiert Friedrich Nietzsche dann in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung die ›monumentalische‹ Historie.19 Fast hundert Jahre nach ihrem Erscheinen setzt in Deutschland die Wie- derentdeckung der Geschichtsphilosophie Herders ein. Dilthey bezieht sich 1863 in seiner bekannten Rezension der Technik des Dramas von Freytag un- ter der Überschrift »Das griechische und das germanische Drama« ausdrück- lich auf Herders Shakespear-Rede in Von deutscher Art und Kunst (1773).20 Er zitiert dort jene Stelle, in der Herder nach einem Vergleich von Shake- speare und Sophokles auf den Ursprung der Tragödie zu sprechen kommt: »Die Griechische Tragödie entstand gleichsam aus Einem Auftritt, aus den Impromptus der Dithyramben, des mimischen Tanzes, des Chors«.21 Bei Gustav Freytag steht, wie bei Herder und Dilthey, Shakespeare für den germanischen Ursprung des Dramas in der Renaissance. Aischylos, So- phokles und Euripides repräsentieren das griechische Theater, das »aus ly- rischem Chorgesang hervorwuchs« (TD, S. 23). Bei der Imagination antiker _____________ 17 Vgl. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts [1774]. Frankfurt a. M. 1967. 18 Vgl. Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Hg. v. Rudolf Marx. Stuttgart 1978, S. 6. 19 Vgl. Friedrich Nietzsche: Werke in 3 Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. München 1954–1956. Bd. 1. München 61969, S. 223. 20 Vgl. Wilhelm Dilthey: Die Technik des Dramas [1863]. In: TD, S. 317–350, hier S. 342f. 21 Johann Gottfried Herder: Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter [1773]. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Durchgesehene u. bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stutt- gart 1977, S. 63–91, hier S. 67. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert 331 Theatralität bezieht Freytag, wohl nationalistisch inspiriert, die germanischen Völker mit ein. »Jahrhunderte vor« der Renaissance hätten sowohl die Hellenen als die Stämme der Völkerwanderung sich die ersten Anfän- ge einer Redeweise und Kunst des Gebärdenspiels entwickelt, welche das Dra- matische suchte. Dort wie hier hatten große Götterfeste einen Gesang in feierli- cher Tracht und das Spiel volkstümlicher Masken veranlaßt. Aber das Eintreten der dramatischen Kraft in diese lyrischen oder epischen Schaustellungen war doch beide Mal ein wunderbar schnelles, fast plötzliches. (TD, S. 23) Den Ursprung theatraler Kunst in der kultischen Praxis sieht Freytag also bei Hellenen und Germanen als analoge Entwicklung; die Latenzphase habe bei den germanischen Völkern nur länger gedauert. Bei diesen dominierte noch lange das Epische, das immer öfter auf die »Vorführung wichtiger Begeben- heiten« setzte, bei jenen wuchs das Drama »aus dem lyrischen Chorgesang« heraus (TD, S. 23). Die nationalistische Instrumentalisierung des dramati- schen Gründungsmythos überhört man bei Freytag nur schwer. Mit dem Mo- tiv der Völkerwanderung gelingt es zudem, Shakespeare als zentrale Gestalt des frühen germanischen Dramas zu installieren. Dessen Wurzeln liegen im Germanien der Völkerwanderung. Mit der Behauptung einer quasi geneti- schen Affinität der Deutschen zum englischen Drama der Renaissance könn- te sich Freytag freilich schon auf Lessings berühmten siebzehnten Literatur- brief beziehen,22 der die Nähe der Deutschen zu Shakespeare über eine an- thropologische Argumentation einführt. Shakespeares fehlende Formstrenge – zumal in den Historiendramen – deutet Freytag als epischen Zug, der durch die deutsche Klassik, der es ge- lingt, die antike Form mit der spätestens seit Goethes Shakespeare und kein Ende23 zum Topos gewordenen Shakespeare’schen Fähigkeit zur Charakter- zeichnung zu verbinden, erst vollständig überwunden wird. Anders als in frü- heren Imaginationen des theatralen Ursprungs finden sich bei Freytag zwei räumlich und historisch getrennte Schauplätze, auf denen sich parallele Sze- nen abspielen: »Beidemal entfaltete sich das Dramatische von dem Augen- blick, in dem es lebendig wurde, mit großer Kraft zu einer Schönheit, wel- che durch die späteren Jahrhunderte nicht leicht erreicht wurde« (TD, S. 23). Der Hinweis auf die Völkerwanderung kaschiert, dass die ›germanische‹ Geburt der Tragödie läppische 2000 Jahre später erfolgte als die antike. Als ein zentraler Bereich, für welchen antike Spielformen antizipiert und imagi- niert werden, kristallisiert sich bei Freytag die Ausgestaltung der dramati- sierten Diegese heraus, an der das Publikum je nach dramaturgischer Tech- _____________ 22 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Briefe die neueste Literatur betreffend. Hg. v. Wolfgang Bender. Stuttgart 1972, S. 48–53. 23 Vgl. Goethes Werke (Anm. 7). Bd. 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maxi- men und Reflexionen. Hg. v. Erich Trunz. München 101982, S. 187–298, hier S. 293f. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
332 Dirk Niefanger nik, historischem Entwicklungsstand und damit einhergehender Dramenform unterschiedlich gut partizipieren kann. In diesem Zusammenhang diskutiert Freytag das horazische Verbot der unmittelbaren Gräueldarstellung (das so- genannte ›Medea-Paradigma‹)24 und damit komplementär zur Gründungs- legende dramatischer Kunst die ›epischen‹ Möglichkeiten des Dramas. Hier kommen noch einmal die ›germanischen‹ Urformen des Theatralen ins Spiel. Die Teichoskopie dient Freytag zufolge der Darstellung eines Gesche- hens, das nicht auf die Bühne gebracht werden kann. Im Sinne von Horaz führt er zwei Gründe für die Verwendung dieser Dramentechnik an: die tech- nische Unfähigkeit zur Mimesis (etwa die Präsentation einer Schlacht) und ihre moralische Bedenklichkeit (»Furchtbares, Schreckliches, Entsetzliches« (TD, S. 67)). Während Freytag den ersten Grund des Paradigmas für das mo- derne Drama akzeptiert, zweifelt er an der Gültigkeit des zweiten in der Mo- derne: »Überfall, Totschlag, Mord, Gefechte, gewalttätiges Zusammenschla- gen der Gestalten […] haben wir auf der Bühne nicht zu fürchten« (TD, S. 68). Das moderne deutsche Theater ist eines der Grausamkeit, und dies hänge mit dem Ursprung der dramatischen Kunst zusammen, die ja bei Helenen und Germanen unterschiedlich gewesen sei. Der lyrische Ursprung bei den Griechen verbiete die Gewalt, während die »deutsche« Theaterkunst, wie es heißt, »fröhlich war, Balgerei und Gewalttat abzubilden« (TD, S. 68). Freytag internalisiert hier Nationalstereotypen, die seit der Germania des Tacitus gängig sind.25 Offensichtlich wird dies, wenn man sich an Tacitus’ Be- richt erinnert, die germanischen Kampfspiele würden von den jungen Män- nern nackt in Szene gesetzt. Die »nudi iuvenes«26 der Germanen bieten die handfeste Alternative zu den Griechen in ihrer zivilisierten, man möchte sa- gen: überzivilisierten Theatertracht. Diese verhindere nämlich, so Freytag, die »heftigen Körperbewegungen«. Wegen ihrer beengenden Kleidung wür- den die griechischen Schauspieler dem »Schlagen, Anfassen, Ringen, Nieder- werfen aus dem Wege« gehen (TD, S. 68). Aktionsreiches, körperbetontes Spiel gehörte aber nicht nur zum seit der Antike belegten Volkscharakter der Germanen, sondern auch zum Repertoire der ›deutschen‹ Theatertradition, wofür Freytag entsprechende Beispiele von Shakespeare bis Schiller liefert. Implizit könnte man hieraus eine Rehabilitierung der ›offenen‹ Wanderbühne gegenüber dem geregelten Illusionstheater ableiten; dies passt freilich nicht _____________ 24 Vgl. Quintus Horatius Flaccus [Horaz]: De arte poetica [ars poetica]. In: Ders.: Sämtliche Gedichte. Lateinisch/Deutsch. Hg. v. Bernhard Kytzler. Stuttgart 1992, S. 629–661, hier S. 640f. (V. 182–188). Vgl. hierzu Carsten Zelle: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987, S. 1–16. Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit. 1495–1773. Tübingen 2005, S. 173f. 25 Vgl. Tacitus: Germania. Lateinisch/Deutsch. Hg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1972, Kap. 2, 3, 22, 23. 26 Ebenda, Kap. 24, S. 36. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert 333 in Freytags Gesamtkonzept, das strikt auf eine ›geschlossene‹, pyramidale Form setzt.27 III. Jacob Burckhardt: Das Poesie-Kapitel der Weltgeschichtlichen Betrachtungen (1868) Weit ausführlicher als Freytag und Nietzsche hat Jacob Burckhardt die an- tike Welt in seiner umfangreichen Griechischen Kulturgeschichte (1898–1902) beschrieben. Doch schon vorher, in den einflussreichen Baseler Grundsatz- vorlesungen Über das Studium der Geschichte (1868 und 1870/71), die spä- ter als Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905) bekannt geworden sind und in hohem Maße auf die Kulturdebatten der Jahrhundertwende gewirkt ha- ben, befasst er sich mit der dramatischen Kunst der Antike. Die Skripte sind etwa zeitgleich mit den Texten von Freytag und Nietzsche entstanden. Im Kapitel »Zur geschichtlichen Betrachtung der Poesie« findet sich Burck- hardts kulturgeschichtliches Credo,28 das die Hinwendung des Historikers zur Dichtkunst, mithin die kulturgeschichtliche Historik Burckhardts be- gründet. »Die Poesie«, heißt es in jener Handschrift, die im Folgenden in der Regel zitiert wird, »ist für die geschichtliche Betrachtung das Bild des jezu- weilen Ewigen in den Völkern«.29 Burckhardt geht hier – wie Aristoteles in seiner Poetik30 – von den unterschiedlichen Objektbereichen der Dichtung und der Geschichtsschreibung aus: Die erste befasse sich mit der Wahrheit, hier als ›letzte Dinge‹ benannt, die zweite mit der Wirklichkeit. Liest der His- toriker in der Poesie, kann er Burckhardt zufolge zwar nicht die Wahrheit selbst, aber jeweils historisch und räumlich geltende Vorstellungen von ihr erfassen. Sie bieten den historisch bedingten Gegenentwurf zur materiell ori- entierten Welt. Mit diesem Konzept sind wesentliche Grundlagen der histo- rischen Kulturwissenschaft, so wie sich seit 1900 in Deutschland entwickelt, geschaffen.31 _____________ 27 Die Begriffe ›offene‹ und ›geschlossene‹ Form orientieren sich an Volker Klotz: Geschlos- sene und offene Form im Drama. München 101980. 28 Vgl. Dieter Jähnig: Jacob Burckhardts Bedeutung für die Ästhetik. In: Deutsche Viertel- jahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53 (1979), S. 173–190. Dieter Jähnig: Kunst-Erkenntnis bei Jacob Burckhardt. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Lite- raturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984), S. 16–37. Walther Rehm: Jacob Burck- hardt und das Dichterische. In: Euphorion 28 (1937), S. 85–107. 29 Jacob Burckhardt: Über das Studium der Geschichte. Der Text der Weltgeschichtlichen Betrachtungen auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften hg. v. Peter Ganz. München 1982, S. 285. Im Folgenden nachgewiesen als SG mit arabischen Seitenzahlen. 30 Vgl. Aristoteles: Poetik (Anm. 3), S. 28–31 (Kap. 9). 31 Vgl. hierzu Otto Gerhard Oexle (Hg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932. Göttingen 2007. Christoph König u. Eber- In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
334 Dirk Niefanger Das Theater erscheint hierfür besonders gut geeignet, denn, so Burck- hardt, es beweise »durch sein Dasein und durch die Art seiner Geltung ei- nen bestimmten socialen Zustand, meist im Zusammenhang mit dem Cul- tus« (SG, S. 287). Damit werden spezifische Ausprägungen von Theatralität als kulturelle Praktiken bestimmt; an anderer Stelle spricht Burckhardt et- was deutlicher von »einem bestimmten Grad des Cultus« (SG, S. 285). Ein Klammerzusatz, der das antike, mittelalterliche, frühneuzeitliche und moder- ne Dramenverständnis auch regional unterscheidet – Griechenland, Spanien, England, Italien –, unterstützt die Vorstellung, dass Theaterformen zentrale kulturelle Praktiken einer Zeit seien. Ohne diese kulturgeschichtliche Argu- mentation ist die Imagination eines kultischen Ursprungs abendländischer Theatralität in der Antike kaum zu denken, denn sie beruht auf einer ur- sprünglichen und als Spur weiterhin präsenten Verbindung von »Cultus« und Kultur. Schon deshalb denkt Burckhardt das Drama als Form öffentlicher Insze- nierung, die aber nicht an die illusionstechnische Trennung von Publikum und Aufführung gebunden ist. Das ›öffentliche‹ und in Texten überlieferte Schauspiel sei »nach seinem Stoff und Geist eines der größten Zeugnisse für die betreffenden Völker und Zeiten« (SG, S. 288). Das Theatrale habe seine »Anlage tief im Menschen« und biete sich insofern als Quelle der histori- schen Anthropologie an (SG, S. 289). Wenn Burckhardt diese Sonderstellung theatraler Quellen proklamiert, so denkt er, wie sich aus seiner Griechischen Kulturgeschichte ableiten lässt, an die Athener Polis: Hier aber hing alles daran, daß es nicht zu Ergötzung und Zeitvertreib entstan- den war, wobei es klein und gering geblieben wäre, sondern als Teil eines hoch- wichtigen Kultus der Polis. […] Es galt als große Angelegenheit für die ganze festliche Bürgerschaft.32 »Das attische Drama«, so vermerkt er im Poesie-Kapitel der Weltgeschicht- lichen Betrachtungen, »wirft Ströme von Licht auf das ganze […] griechische Dasein« (SG, S. 289). Von hier aus interpretiert Burckhardt das Agonale als Wesenszug des Griechischen, der sich in der Idee von Olympia genauso fin- det wie im Tragiker-Wettkampf in Athen. Die anthropologische Argumenta- tion scheint bei Burckhardt regional ausgerichtet zu sein: So habe die ago- nale Vorstellung des Theatralen bei den Griechen die Kulturform des Dra- mas im antiken Griechenland erst ermöglicht. Hier sei sie essentielle Lebens- form, die nicht an die Institution des Theaters gebunden ist. _____________ hard Lämmert (Hg.): Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900. Frankfurt a. M. 1999. 32 Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte. [Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Basel 1956–57]. München 1977. Bd. 3. München 21982, S. 189. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert 335 Zwar sieht Burckhardt die Geburtsstunde des eigentlichen Dramas in Griechenland, doch richtet er, um seine anthropologische und kulturgeogra- phische Argumentation zu stützen, im Poesie-Kapitel der Vorlesung wie in der Griechischen Kulturgeschichte seinen Blick auch nach China und Indien. Zwar beurteilt er deren theatrale Praxis eher kritisch, wenn er betont, sie hätte nicht das mythosstiftende, die Realität des Augenblicks übersteigende Moment des griechischen Theaters erreicht. Doch zeigt seine Argumenta- tion, dass er Theatralität – wie die heutige kulturgeschichtliche Theaterwis- senschaft – jenseits des institutionellen Theaters denkt. Analog zur asiati- schen Theatralität sieht er die Kulturpraktiken der »Halbculturvölker«, wo er lediglich »possenhafte Nachahmung des Wirklichen, etwa Pantomime mit Geheul und Gymnastik sieht« (SG, S. 289). In ihren anthropologischen Ar- gumenten sind Freytag und Burckhardt hier durchaus vergleichbar; das na- tionale Interesse differiert freilich. Es bewirkt beim Deutschen die beschrie- bene Parallelimagination und beim Schweizer die Alleinstellung des Grie- chischen. Burckhardts Imagination der Entstehung des griechischen Theaters im Poesie-Kapitel der Weltgeschichtlichen Betrachtungen stiftet übrigens jene Formel, mit der Nietzsche wenig später die Neuorientierung des modernen Theaters fordert: Er sieht im antiken Griechenland die »mysteriöse Entste- hung der Tragödie ›aus dem Geiste der Musik‹« (SG, S. 289): Der Protagonist bleibt ein Weiterhall des Dionysos und der ganze Inhalt My- thos, mit Vermeidung der öfter sich herandrängenden Geschichte; fester Wille, das Menschliche nur in typischen, nicht in wirklichkeitsgemäßen Gestalten zur Darstellung zu bringen. (SG, S. 289) Burckhardts Erzählung der theatralen Urszene bleibt seiner Aristoteles-In- terpretation verpflichtet. Das ursprüngliche antike Drama verweigere sich der Geschichte und tradiere mit dem Mythos anthropologische Wahrheiten jenseits eines aktuellen Wirklichkeitsbezugs; nur so aber gelange es zu sei- ner überragenden Geltung in der attischen Polis. In der später erschienenen Griechischen Kulturgeschichte betont Burck- hardt – wie Freytag – die Plötzlichkeit jenes Umschlags vom Dionysoskult zum Theater. »Unerwartet, aus der Musik, aus dem Chorgesang geheimnis- voll mächtiger dionysischer Gottesdienste«, habe sich das »dem ganzen My- thos geweihte Drama« erhoben. Mit der dramatischen Form sei das »höchste künstlerische Leben« erschaffen worden (SG, S. 190). Der augenblickliche Umschlag vom theatralen Kultus zur Kultur des Theaters markiert nicht nur die Bedeutung dieser Urszene, sondern stellt auch ihre Einzigartigkeit aus. Sie erhält ein quasi religiöses Moment: Die Epiphanie des Dramas gleicht einer Beseelung der Kultur; das bloße gottesdienstähnliche Ritual wird zum geist- und gehaltvollen, mythosstiftenden Theater. Genau hier setzt auch In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
336 Dirk Niefanger Nietzsches Kunstreligion an, nur deutet er den Umschlag als Wende ins bloß noch Apollinische und eben nicht mehr emphatisch positiv wie Burckhardt. IV. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (1871) Bestens bekannt und gut erforscht sind Nietzsches Imaginationen der Ur- sprungsszene.33 Sie bilden ein wichtiges historisches Argument in seiner zen- tralen ästhetischen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Mu- sik,34 wo sie am Ende des zweiten Kapitels zu finden sind. Zuvor befasst sich Nietzsche mit Grundlegendem zu den ästhetischen Kategorien des Apolli- nischen und Dionysischen, vor allem mit ihrer anthropologischen Herkunft aus Traum und Rausch. Das Apollinische, dem Traum zugeordnet, steht für die bildliche, imaginative, das Dionysische, das Nietzsche auf den Rausch be- zieht, für die unbildliche, unmittelbar erlebbare Kunst; das eine versteht mit Schopenhauer die Welt als Vorstellung, das andere als Wille.35 Das hier zur Diskussion stehende zweite Kapitel rekapituliert »das Apol- linische und seinen Gegensatz, das Dionysische, als künstlerische Mächte […], die aus der Natur selbst […] hervorbrechen«.36 Die menschliche Kunst stehe hierzu in einem mimetischen Verhältnis; daraus folgt, dass die kultu- relle Realisierung dionysischen Rausches unterschiedliche Wege gehen kann. Nur in Griechenland, nicht jedoch bei den Barbaren, gelinge die ästhetische Freisetzung des Rauschhaften in der theatralen Kunst. Nietzsche entwickelt sie in der Ursprungsszene des antiken Theaters, der »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. Weder die Imagination der Ursprungsszene um 1870 erscheint besonders originell, noch die Formel von der »Geburt der Tragödie« selbst. Originell war freilich die ästhetische Stoßrichtung der Erzählung Nietzsches, die – hier strukturell der Idee Freytags gar nicht mal unähnlich – zu einer Renaissance, einer Wieder-Geburt der antiken Tragödie beitragen sollte. Anders als Frey- tag bezieht sich Nietzsche allerdings nicht auf die entwickelte attische Tra- _____________ 33 Als kompetenter Zugang eignet sich Barbara v. Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Kap. 1–12). Stuttgart, Wei- mar 1992. 34 Vgl. hierzu u. a. Dieter Jähnig: Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung. Köln 1975, S. 122–196. 35 Vgl. Arthur Schopenhauer: Zürcher Ausgabe. [Der Text folgt der historisch-kritischen Ausgabe von Arthur Hübscher, Wiesbaden 31972] Werke in zehn Bänden. Zürich 1977. Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Vier Bücher, nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält. Tlbd. 1. Wiesbaden 31972. 36 Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begr. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Fortgef. v. Volker Gerhardt, Norbert Miller, Wolfgang Müller-Lauter u. Karl Pestalozzi. Berlin, New York 1967ff. Abt. 3. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitge- mäße Betrachtungen I–III (1872–1874). Berlin, New York 1972, S. 26. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert 337 gödie, sondern auf deren dionysischen Urgrund oder das, was man in der Ausgestaltung der aristotelischen Hinweise dafür hielt. Nietzsche, so kann man den einschlägigen Kommentaren entnehmen, be- zieht sich bei seiner Imagination insgesamt auf relativ gängige Forschungs- meinungen des 19. Jahrhunderts.37 Eine gewisse Besonderheit – insbesonde- re für seine Vorstellung dionysischer Feste – stellt die Rezeption Bachofens dar, der in Basel Nietzsches Kollege war. Seit 1871 hielt er nachweisbaren Kontakt zu ihm.38 Eine andere Quelle waren die Studien des klassischen Phi- lologen Karl Otfried Müller, für den hier diskutierten Zusammenhang ins- besondere einige Passagen aus dessen umfangreicher Geschichte der griechi- schen Literatur bis auf das Zeitalter Alexanders (21857): Einen befriedigenden Aufschluß über die Entstehung des Drama’s muß die Ver- bindung geben, in welcher es mit dem Gottesdienste, und zwar des Bacchus, steht. Der Griechische Gottesdienst enthält überhaupt eine Menge dramatischer Ele- mente. […] Der Bacchusdienst hat eine Eigenschaft, durch die er mehr als ir- gend ein andrer geeignet war, die Wiege des Drama’s und insbesondere der Tra- gödie zu werden: die damit verbundene enthusiastische Begeisterung. […] So begreift man, nach unserer Meinung, wie sich ohne alle willkürliche Fiction aus der Begeisterung des Bacchus-Cultus das Drama als ein Stück der festlichen Ver- ehrung des Gottes hervorbilden konnte.39 Die Entstehung des Dramas aus einer Kulturtechnik, die mit einer religiö- sen Praxis verbunden war, erscheint bei Müller als nicht an die Nachahmung gebunden. Ausdrücklich hebt er den nicht-fiktionalen Charakter der kulti- schen Handlung hervor. Der »Bacchus-Cultus« spielt keine Geschichte, son- dern setzt sie als naturanalogen Mythos voraus; das Fest reagiert darauf im Modus des Nachvollzugs. Dabei macht der Chor das Erleben des Mythos greifbar, indem er »Empfindungen darüber« realisiert. Müllers Klassifikation nimmt Nietzsche später in seine Ausführungen mit auf: »Dieser Chorgesang gehörte in die Klasse des Dithyrambos«. Und er »drehte sich um die Leiden des Dionysos«.40 _____________ 37 Vgl. Barbara v. Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche (Anm. 33), S. 90–122. 38 Vgl. Johann Jakob Bachofen: Die Sage von Tanaquil. Eine Untersuchung über den Orien- talismus in Rom und Italien. Heidelberg 1870. Das Buch befand sich in Richard Wagners Bibliothek, die Nietzsche benutzte. Zu Nietzsches Quellen und zum Verhältnis Nietzsches zu Bachofen vgl. auch Max Lorenz Bauemer: Das moderne Phänomen des Dionysischen und seine ›Entdeckung‹ durch Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 6 (1977), S. 123–153 sowie Max Lorenz Bauemer: Nietzsche and the Tradition of the Dionysian. In: James C. O’Fla- herty, Timothy F. Sellner u. Robert M. Helm (Hg.): Studies in Nietzsche and the Classical Tradition. Chapel Hill 1976, S. 165–189. 39 Karl Otfried Müllers Geschichte der griechischen Literatur bis auf das Zeitalter Alexan- ders. Nach einer Handschrift des Verf. hg. v. Eduard Müller. 2 Bände. Breslau 1841. Bd. 2. Breslau 21857, S. 25–30 (im Zitat stark gekürzt). 40 Ebenda, S. 30. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
338 Dirk Niefanger Nietzsches Artisten-Metaphysik sieht die zu erstrebende Kunst wie die konstatierte archaische Tragödie der Griechen wesentlich moralfrei. Der dio- nysische Künstlergott schafft eine Welt jenseits christlicher Wertvorstellun- gen und apollinisch-distanzierter Ästhetik. Auch wenn in der Tragödien- schrift noch eine Vermittlung apollinischen und dionysischen Geistes als Ideal angesehen wird, zeigt sich in Nietzsches Erzählung vom ursprünglich dionysischen Theater der Antike der anti-klassizistische Impetus seiner Äs- thetik. Sie richtet sich gegen die wesentlich von Schiller, dann von Freytag und anderen auch auf der Bühne etablierte antikisierende Theaterästhetik des 19. Jahrhunderts. In wesentlichen Punkten kann sie sich aber auf zeit- genössische akademische Studien stützen, auch wenn sie selbst – die Aus- einandersetzung mit Wilamowitz-Moellendorff zeigt es41 – keineswegs den Normen zeitgenössischer Philologie folgt und in der Fachzunft höchst um- stritten ist. Schon der narrative Modus, in dem Nietzsche die Urszene der Tragödie hervorbringt, hebt ihn von Müller und den anderen Philologen ab: Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Äußerung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrü- cken; eine neue Welt der Symbole ist nötig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die vol- le, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die ande- ren symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie plötzlich ungestüm. Um diese Gesamtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muß der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäußerung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will.42 Als Dithyrambus bezeichnet Nietzsche hier nicht eine poetisch entwickelte Liedform, sondern Gesänge im Kontext des Dionysos-Kultes. Ein solcher archaischer Dithyrambus ist offenbar durch ein Fragment des Archilochus bezeugt.43 Bezugspunkt Nietzsches scheint, wie in diesem Fall üblich, aber die Poetik des Aristoteles zu sein, wo der Ursprung der Tragödie ausdrück- lich mit dem Dityhrambus zusammengebracht wird.44 Die hier beschriebene Wandlung referiert zwar auf die Geburt der Gat- tung Tragödie, wird aber als individuelles Erlebnis, als subjektive Epiphanie erzählt – dies übrigens obwohl das Dionysische gerade als kollektives Ereig- nis gedacht ist. Die Anlage der Imagination hat wie der Vorgang selbst eine _____________ 41 Vgl. Karlfried Gründer (Hg.): Der Streit um Nietzsches Geburt der Tragödie. Die Schrif- ten von E. Rohde, R. Wagner, U. v. Wilamowitz-Moellendorff. Hildesheim 1969. 42 Friedrich Nietzsche: Werke (Anm. 36). Abt. 3. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitge- mäße Betrachtungen I–III (1872–1874). Berlin, New York 1972, S. 29–30. 43 Vgl. Barbara v. Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche (Anm. 33), S. 120. 44 Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 4, S. 14. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert 339 symbolische Struktur. Ihre Überlieferung ist hier zudem an die Sprache ge- bunden, die natürlich selbst apollinischer Gesetzmäßigkeit folgen muss. Aus dem dionysischen Gemeinschaftserlebnis entsteht Nietzsche zufol- ge die Tragödie. Den Chor interpretiert er dabei nicht als idealen Zuschauer, sondern als Modus des körperlichen Miterlebens. Die Kommentare verwei- sen in diesem Zusammenhang auf Nietzsches Rezeption der Philosophie des Unbewußten (1869) von Eduard von Hartmann, wo Möglichkeiten der Af- fektsymbolisierung in der Gebärdensprache erwogen werden.45 Die in die- ser Passage aufgerufene Semiotik basiert tatsächlich nicht auf allegorischen Prinzipien, sondern auf symbolischen, die eine tatsächliche Teilhabe am Gan- zen und einen steten Verweis auf das Ganze implizieren. Entsprechend ist die Metaphorik der Textstelle gestaltet: Alle Fähigkeiten werden gereizt, alle Glieder dienen dem Ausdruck, der sich von selbst, quasi ohne leitendes Ge- hirn steuert. Das Dionysische setzt auf die Gesamtentfesselung des Men- schen ohne Rücksicht auf eine deutende Außenwelt. Deshalb, so Nietzsche, wird der dionysische Künstler nur »von seinesgleichen verstanden«.46 Wird das so interpretierte Dionysische als Ausdrucksmöglichkeit des neu- en Theaters erkannt oder gar reaktiviert, wie Nietzsche es sich bekanntlich in Hinblick auf Richard Wagner durchaus vorstellte, ebnet sich der Weg zu Darstellungsformen jenseits der bloßen Nachahmung und damit zu einem Theater, das sich vom Drama als Textvorlage löst. In Nietzsches Rekurs auf die vermeintlichen Ursprünge archaischer Spielformen könnte man insofern die Geburt des postdramatischen Theaters aus dem Geiste der Antike sehen. Resümee Die Befangenheit der rituellen Tänzer in der eigenen Kultwelt ist ein Aspekt bei Nietzsche, den auch Burckhardt und andere stark machen. Dort gibt sie meist Auskunft über die spezielle, als fremd ausgezeichnete Denk- und Le- bensweise der Antiken; diese Differenz von antikem Kult und moderner His- toriographie liegt Nietzsches Ästhetik eher fern. Sie verschiebt insofern die Perspektive von der Rekonstruktion historischer Ursprünge zu einer histo- risierenden Ausgestaltung seiner Ästhetik. Die radikale Körperlichkeit des Dionysoskultes bei Nietzsche erinnert an Freytags Beschreibung germani- scher Theatralität, die bei ihm auch einen Gegensatz zur – wenn man so will – apollinisch-antiken Welt der gesitteten Tragödie darstellt. Nietzsche denkt diesen ästhetischen Gegensatz aber nicht als Moment der Volkscha- _____________ 45 Vgl. Barbara v. Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche (Anm. 33), S. 122. 46 Friedrich Nietzsche: Werke (Anm. 36). Abt. 3. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitge- mäße Betrachtungen I–III (1872–1874). Berlin, New York 1972, S. 30. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
340 Dirk Niefanger raktere, sondern als eine sich historisch entwickelnde Antinomie. Im Grunde ist das Bekenntnis zum Dionysischen aber durchaus vergleichbar mit Frey- tags Eintreten für das Grausame auf der Bühne, das er als alten ›germani- schen‹ Zug interpretiert hatte. Dieser sei gegenüber dem zurückhaltenden antiken Theater heute jedoch als modernes Theaterelement zu akzeptieren. Burckhardt setzt hier einen anderen Schwerpunkt, wenn er die Autonomie der Theaterkunst betont; diese scheint gerade zu Verfeinerung und ästheti- scher Ausdifferenzierung zu führen. Bei Nietzsche geschieht dies durch die Überfrachtung mit ethischen Ansprüchen im Kontext des sokratischen Zeit- alters. Alle hier referierten Ursprungsimaginationen des 19. Jahrhunderts er- scheinen innerhalb der Theoriegeschichte des Dramas als zentrale Belege ei- ner Transformation der Antike im ästhetischen Historismus, weil dort – frei- lich auf jeweils unterschiedliche Art und Weise – das antike Theater als Aus- gangspunkt einer sich ausdrücklich modern verstehenden Dramentheorie genommen wird. Mit Freytag, Burckhardt und Nietzsche beginnt – das ist vermutlich literaturgeschichtlicher Konsens – so etwas wie die emphatische Moderne in der Geschichte der dramatischen Kunst. Dabei könnte Freytag als viel gelesener Protokollant des klassizistischen Status quo gelten, Burck- hardt als verkannter kulturgeschichtlicher Arrangeur des Neuen und Nietz- sche als wohlfeile Referenz des Regelbruchs. Die Nähe dieser drei Autoren sollte mehr betont werden als ihre Differenz. Anders als bei Schiller, so könnte man etwas pauschal formulieren, er- scheint nun nicht mehr das ursprüngliche antike Theater in seiner Differenz zur Moderne (›naiv‹ versus ›sentimentalisch‹), sondern als Orientierungsbe- leg für diese. Dies gelingt, indem das, was als antik angesehen wird, imagi- nativ erweitert wird: bei Nietzsche auf das Archaische, bei Freytag auf die ›germanische‹ Antike der Völkerwanderung und bei Burckhardt durch seine Seitenblicke auf die »Halbculturvölker«. Erst diese Erweiterung ermöglicht eine kontrastive Darstellung des antiken Theaters, das in der Bewertung kei- neswegs einheitlich sein muss, sondern auch bei den einzelnen Autoren selbst changieren kann. Bei Freytag ergänzt die ›germanische‹ Grausamkeit die an- tike Formenstrenge, in Nietzsches Tragödienschrift erscheinen im idealen Kunstwerk apollinische und dionysische Prinzipien vereinigt, und bei Burck- hardt wird auch den anderen Kulturen ein Bezug zum jeweils Ewigen zu- gestanden, der für das Verständnis unserer eigenen modernen Kultur aber nicht unbedingt notwendig ist. Der historische Bezug tendiert aufgrund seiner Indienstnahme durch die Moderne zum Überzeitlichen und korrespondiert dadurch mit dem ästheti- schen Historismus des späten 19. Jahrhunderts, der zu einer Integration des fremd gewordenen Antiken ins moderne Weltbild neigt. Gerade das archa- ische Theater der Griechen eignet sich offenbar als fremde Intarsie in einer In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert 341 auf die Moderne zielenden Dramentheorie. Dabei wirkt die phantasieanre- gende Erzählung der archaischen Gründungsszene der Tragödie in ihren Va- riationen zwar eigentümlich unhistorisch, aber äußerst evident. Nur deshalb wirkt sie für eine programmatische Interpretation im Sinne der eigenen Dra- menästhetik so attraktiv. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
Erstpublikation Dirk Niefanger: Die Geburt des antiken Theaters im 19. Jahrhundert. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341. In: Ernst Osterkamp, Thorsten Valk (Hrsg.): Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin / Boston 2011, S. 325-341.
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