DIE ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DES BEGRIFFS (DEUTSCHE ) STABILITÄTS-KULTUR* - Aktionskreis Stabiles Geld
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Erschienen in: Sprachreport Jg. 34 (2018) Nr. 1, S. 28-35 Stefan Schäfer DIE ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DES BEGRIFFS (DEUTSCHE ) STABILITÄTS- KULTUR* Der Autor ist Professor Es ist nicht zuletzt die Stabilitätskultur der Währung wie Begriffsschöpfung durch die Bundesbank? für Makroökonomik an auch der Staatsfinanzen, die seit ihrer Gründung immer Dass der Ausdruck erst seit 1991 – und in diesem Jahr der Hochschule Rhein- zum Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland auch nur genau ein Mal – nachweisbar ist, beweist Main, Wiesbaden. gehört hat und gehört. (Bundesregierung 2010) nicht, dass er vorher keine Verwendung gefunden hat. Schließlich sinkt der Anteil der digitalisierten und so- Dieser Satz stammt aus der Regierungserklärung, die mit über Online-Archiv-Recherchen auffindbaren Tex- Angela Merkel am 19. Mai 2010 vor dem Deutschen te mit jedem Jahr, das weiter in der Vergangenheit Bundestag abgegeben hat, um die erste ‚Griechenland- liegt. Der sprunghafte Anstieg der Treffer ab 1992 deu- Rettung‘ zu begründen. Dass die Bundeskanzlerin die tet aber daraufhin, dass er erst ab dieser Zeit Eingang „Stabilitätskultur der Währung“ an zentraler Stelle he- in den Sprachgebrauch gefunden hat. Die früheste dem ranzieht, um ihre Position zu untermauern, ist kein Zu- Verfasser bekannte Verwendung stammt von Bundes- fall; handelt es sich dabei doch um ein Konzept, wel- bank-Präsident Helmut Schlesinger, der am 31.12.1991 ches nicht nur, wie die Kanzlerin selbst sagt, „immer in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt geschrieben zum Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutsch- hat, stabiles Geld brauche nicht nur eine stabilitätsori- land gehört hat“, sondern insbesondere auch im Vor- entierte Politik von Regierung und Notenbank und – feld der Euro-Einführung seit Beginn der 1990er Jahre im Falle der Europäischen Währungsunion – ein ent- im Mittelpunkt vieler Diskussionsbeiträge stand. sprechendes Statut der EZB sowie strenge Aufnahme- kriterien. Mindestens genauso nötig sei eine „‚Stabili- DER AUSDRUCK STABILITÄTSKULTUR tätskultur‘ in Öffentlichkeit und Politik.“ Denn: „Politik TAUCHT ERST SEIT 1991 IN PRESSE- und Gesellschaft müssen die Stabilitätsorientierung aktiv mittragen“ (Schlesinger 1991). Selbst eine noch so DATENBANKEN UND ONLINE-ARCHIVEN AUF unabhängige Zentralbank könne die Inflation langfris- Angesichts der unten noch zu erläuternden Bedeutung tig nämlich nur dann wirksam bekämpfen, wenn es des Konzepts Stabilitätskultur ist es verwunderlich, Konsens sei, dass die Preisniveaustabilität Vorrang ge- dass der Ausdruck Stabilitätskultur erst seit 1991 in ein- genüber anderen wirtschaftspolitischen Zielen habe. schlägigen Datenbanken und Suchmaschinen zu fin- Eine wirkliche Stabilitätskultur existiert also dann, den ist – vom FAZ- und Handelsblatt-Archiv über die wenn es diesen Konsens gibt und er seinen Nieder- Genios-Datenbank bis zu Google Scholar. Danach schlag in den täglichen Entscheidungen der ökonomi- machte der Begriff, oft auch als Deutsche Stabilitätskul- schen Akteure findet. tur, rasch Karriere und erlebte seit 2010 eine Renais- sance mit seiner Nennung in der zitierten Regierungs- IM JAHR 1992 ZEIGT SICH EIN SPRUNG- erklärung Angela Merkels. Die folgenden Ausführun- HAFTER ANSTIEG IN DER VERWENDUNG gen behandeln die Entstehung des Begriffs und be- DES AUSDRUCKS STABILITÄTSKULTUR trachten seine Weiterentwicklung bis heute. Demnach ist die Existenz einer Stabilitätskultur not- wendige Voraussetzung für stabiles Geld. Warum be- tont der Bundesbank-Präsident dies gerade 1991 zum 28 IDS SPRACHREPORT 1/2018
ersten Mal? Hier hilft ein Blick auf das wirtschaftshis- technischen Details, bringen das, was später als Stabili- torische Umfeld, in dem Helmut Schlesinger seine Be- tätskultur begrifflich gefasst werden wird, jedoch zu- merkung gemacht hat. Kurz zuvor, am 9. / 10. Dezem- mindest schon einmal ins Spiel. So schreibt beispiels- ber 1991, hatten die EG-Staats- und Regierungschefs in weise der damalige baden-württembergische LZB2-Prä- Maastricht den Weg für die Einführung einer gemein- sident Norbert Kloten: samen europäischen Währung spätestens zum Ende Nach wie vor sind es starke Divergenzen schon aufgrund des Jahrzehnts frei gemacht. Dieser Weg war gut drei historischer Gegebenheiten, die das jeweilige Urteil über Jahre zuvor, im Sommer 1988, auf dem EG-Gipfel von das bestimmen, was ein solches System (d. h. ein europäi- Hannover beschritten worden. Die dort eingesetzte Ar- sches Zentralbanksystem, Anm. d. Verf.), vor allem seinen beitsgruppe unter Vorsitz von Kommissionspräsident Status, ausmachen soll. (Kloten 1988) Jacques Delors hatte im Frühjahr 1989 einen konkreten Plan für die Etablierung einer europäischen Währungs- Und Peter Bofinger schließlich weist kurz auf „Länder union vorgelegt. Nicht erst diesen ‚Delors-Bericht’, mit einer zu geringen Stabilitätspräferenz“ hin, die sondern auch den Hannoveraner Beschluss zur Einset- durch Obergrenzen für Haushaltsdefizite an einer mit zung der Arbeitsgruppe und deren Arbeit nahmen Po- der geldpolitischen Grundlinie in Konflikt stehenden litiker, Notenbanker, Wissenschaftler und Journalisten Fiskalpolitik gehindert werden könnten (Bofinger 1989, sogleich zum Anlass, intensiv die Möglichkeiten und S. 437). Grenzen der europäischen Währungsintegration zu diskutieren (Issing 1988). Die meisten der Diskussions- Wann kommt die ‚Kultur’ ins Spiel? beiträge aus Deutschland betonten, dass eine europäi- Kein Beitrag aus der Zeit zwischen Hannoveraner Gip- sche Währungsunion im deutschen Sinne stabilitäts- fel und Maastricht-Konferenz nimmt kulturelle Ge- orientiert ausgestaltet sein müsse. Eine herausragende sichtspunkte einer Währungsunion jedoch vorrangig Rolle nahm dabei schon früh die Forderung nach einer ins Visier oder erwähnt den Begriff Kultur gar explizit. unabhängigen Zentralbank ein, die allein dem Ziel der Dabei ist Kultur im soziologischen Sinne folgender- Preisniveaustabilität verpflichtet sein dürfe (Pöhl maßen zu beschreiben: 1988). In ihrer ersten Stellungnahme forderte die Bun- [...] deep-seated ideas, beliefs, values, and behavioral ori- desbank zudem, die Währungsunion müsse mit einer entations that people have, or carry around in their heads politischen Union einhergehen, und lehnte damit ein- [...] (Wiarda 2014, S. 1) mal mehr den „monetaristischen“1 Ansatz ab, wonach die Währungsunion einer späteren politischen Union BUNDESBANK-PRÄSIDENT SCHLESINGER den Weg ebnen könne. FÜHRT DEN BEGRIFF ENDE 1991 IN DIE Am Rande vermerkt die Bundesbank hier schon, die DEBATTE EIN europäischen Länder wiesen Unterschiede „in den wirtschaftlichen Grundorientierungen sowie den Ver- Das ändert sich grundlegend erst Ende 1991, als Hel- haltensweisen der Tarifpartner“ auf, die zur Ursache mut Schlesinger den Begriff Stabilitätskultur in die De- für beträchtliche Divergenzen zwischen den potenziel- batte einführt. Von da an werden der Begriff und das len Teilnehmerländern werden könnten. Damit deutet dahinter stehende Konzept nicht nur in Politik und sie das Hauptargument der späteren Stabilitätskultur- Wissenschaft rezipiert, sondern von Repräsentanten diskussion bereits an, ohne vertieft darauf einzugehen der Bundesbank in die deutsche und europäische Öf- (Deutsche Bundesbank 1990, S. 42). Auch andere Auto- ren beschäftigen sich aufgrund der Arbeit der Delors- Arbeitsgruppe hauptsächlich mit institutionellen und IDS SPRACHREPORT 1/2018 29
fentlichkeit getragen. Von nun an betonen sie gebets- rektoriumsmitgliedern und Landeszentralbankpräsi- mühlenartig, dass sich in Europa eine Stabilitätskultur denten, in denen diese immer wieder betonen, dass die etablieren müsse, solle die Währungsunion von nach- Währungsunion ohne einen stabilitätspolitischen Grund- haltigem Erfolg gekrönt sein (Zeitler 1996). konsens in Europa nicht funktionieren kann. Zwar war darauf auch schon zuvor sehr vereinzelt und immer Mit Maastricht sind die zuvor diskutierten ‚großen‘ in- nur am Rande hingewiesen worden; wirklich massen- stitutionellen Fragen (Stellung der Zentralbank, Ziel tauglich machte erst die Bundesbank diesen Gedan- der Geldpolitik, Gewährleistung fiskalischer Solidität, ken, und dabei spielte der Begriff Stabilitätskultur eine Zeitplan für das weitere Vorgehen) nämlich zunächst entscheidende Rolle, auch wenn er zunächst noch mit beantwortet – und zwar im Großen und Ganzen zur Stabilitätswille, Stabilitätskonsens oder auch Stabilitätsge- Zufriedenheit der Bundesbank. Nur dass es eine Wäh- meinschaft konkurrieren musste. Stabilitätskultur aber rungsunion ohne gleichzeitige politische Union geben brachte am besten zum Ausdruck, dass die Stabilitäts- wird, kann die Frankfurter Währungshüter nicht zu- orientierung breit in der Bevölkerung verankert sein frieden stellen. Aber abgesehen davon hat sich die deut- muss, damit die entsprechende Geldpolitik zum Erfolg sche Notenbank zum Erstaunen so mancher Beobachter führen kann. In ihrem Geschäftsbericht für das Jahr auf der ganzen Linie durchgesetzt (o. V. 1991, S. 119). 1995 ging die Bundesbank sogar so weit zu sagen, das über zwanzigjährige Festhalten am Konzept der Geld- Der britische Journalist und Buchautor David Marsh mengensteuerung sei „zu einem Symbol der deutschen ging vor diesem Hintergrund in seinem 1992 erschie- ‚Stabilitätskultur‘“ geworden (Deutsche Bundesbank nen Buch „The Bundesbank. The Bank that Rules Europe“ 1995, S. 78). Und zwei Jahrzehnte später bezeichnen die sogar so weit zu insinuieren, die Bundesbank habe nun deutschen Zentralbanker ihre ‚Beton brut‘-Zentrale in Gründe suchen müssen, um weiter gegen die Wäh- Frankfurt schließlich als „steingewordene Stabilitätskul- rungsunion argumentieren zu können (Marsh 1992, tur“ (Deutsche Bundesbank 2016, S. 46f.). S. 251). Als Residual Options, die die Bundesbank jetzt noch habe, nennt er an erster Stelle die Stabilitäts- DIE BUNDESBANK WIRBT MASSIV FÜR EINE kultur-Argumentation und zitiert Helmut Schlesinger STABILITÄTSKULTUR IN EUROPA UND direkt. MACHT DEN AUSDRUCK DAMIT POPULÄR Nach Maastricht: Die Debatte geht weiter, von der Bundesbank befördert Nicht der konkrete Bezug auf die Geldmengensteue- Man muss nicht so weit wie Marsh gehen, um konsta- rung, wohl aber der von Helmut Schlesinger zuerst ex- tieren zu können, dass die Debatte mit Maastricht noch plizit formulierte Grundgedanke wurde in der Folge lange nicht beendet ist. Zum einen sind nun, da der vielfach aufgegriffen, wenn auch nicht immer unter große Schritt gemacht ist, eine Vielzahl eher techni- expliziter Nennung des Begriffs Stabilitätskultur. Ein scher Details zu klären. Zum anderen wird offenbar, Beispiel dafür ist das erste ‚Professorenmanifest‘ (ein dass die institutionelle Ausgestaltung der Währungs- zweites sollte 1998 folgen), das 1992 für Furore sorgte union für das Gelingen dieses Großprojekts nur not- und in dem es unter anderem heißt: wendige, aber nicht hinreichende Bedingung sein Einen Konsens, Preisstabilität als Priorität zu betrachten, kann. Die Bundesbank propagiert diese These als erste wie er traditionell in Deutschland vorliegt, gibt es in Ge- und mit großem Einsatz. Der Handelsblattbeitrag von samteuropa bisher noch nicht. Nur mit einem solchen Präsident Schlesinger ist der Startschuss für eine Viel- Konsens, den Notenbank, Regierung und Bevölkerung ge- zahl von Reden, Interviews und Gastartikeln von Di- meinsam tragen, kann jedoch eine konsequente Stabilitäts- politik verfolgt werden, da diese unter anderem der Un- terstützung der Lohnpolitik und der Finanzpolitik des Staates bedarf. (Ohr / Schäfer 1992) 30 IDS SPRACHREPORT 1/2018
Die Deutsche Bundesbank Breite Rezeption in Wissenschaft und Öffentlichkeit Qualifizierung für den Eurobeitritt, sondern auch da- Auch wenn sich der Ausdruck Stabilitätskultur von nun nach einen starken Anreiz zur Haushaltskonsolidie- an langsam, aber sicher durchsetzte und spätestens ab rung hatten. Stabilitätskultur bezog sich nun immer Mitte der 1990er Jahre die bereits genannten konkur- häufiger auf dieses fiskalpolitische Thema. Dem deut- rierenden Ausdrücke verdrängte, gab es in dieser Zeit schen Beharren auf soliden Finanzen wurde in dieser kaum eine explizite Beschäftigung mit dem Begriff an Zeit insbesondere der französische Wunsch gegen- sich. Eine rühmliche Ausnahme stellt hier Hans-E. Loef übergestellt, sich nicht durch zu strenge Regeln die dar, der auf Rudolf Richter (1994) verweist, demzufol- Möglichkeit einer auch fiskalpolitischen Steuerung der ge der Begriff auf Bundesbank-Präsident Tietmeyer Wirtschaft durch den Staat nehmen zu lassen. zurückgehe (was falsch ist, wie oben gezeigt wurde). Ansonsten gebe es keine bekannte Beschäftigung mit Die ab Ende der 1990er Jahre weniger geld- und stärker dem Begriff an sich (Loef 1998, S. 320; Richter 1994, fiskalpolitische Konnotation resultierte auch aus dem S. 86). Auch Bofinger et al. streifen die Begriffsgeschich- ökonomischen Umfeld um die Jahrtausendwende: Auf te kurz, indem sie Stabilitätskultur als „neue Kategorie“ der einen Seite war die Euro-Einführung 1999 / 2002 bezeichnen, wobei der Begriff nicht hinreichend abge- absolut reibungslos verlaufen und hatte die EZB die grenzt sei. Das wollen Bofinger et al. mit der folgenden Inflation unter Kontrolle; auf der anderen Seite verstie- Definition ändern: ßen ausgerechnet Deutschland und Frankreich als Stabilitätskultur ist in einem Land immer dann gegeben, Erste 2002 gegen die Defizitvorgabe des Stabilitäts- wenn die kulturellen oder institutionellen Faktoren (im und Wachstumspakts. Es ist somit nicht verwunder- Sinne von „formlosen Beschränkungen“) dahin wirken, lich, dass selbst der ehemalige Bundesbankpräsident dass in der Wirtschaftspolitik Reaktionsmuster vorherr- Hans Tietmeyer 2006 „Sorgen um die künftige fiskal- schen, die in der Regel eine Einhaltung des Zieles der politische Stabilitätskultur in der Europäischen Wäh- Geldwertstabilität gewährleisten. (Bofinger / Hefeker / Pfle- rungsunion“ äußerte: ger 1998, S. 18) Der Erosionsprozess beim Stabilitäts- und Wachstumspakt [kann] leicht einen Rückschlag für die in langen Jahren ZUNÄCHST IST STABILITÄTSKULTUR aufgebaute Stabilitätskultur bewirken [...] (Tietmeyer 2006, AUF DIE GELDPOLITIK AUSGERICHTET UND S. 132f.). POSITIV KONNOTIERT IM LAUFE DER ZEIT WIRD DER BEGRIFF IMMER HÄUFIGER MIT FISKALPOLITISCHEM Gemeinsam ist den allermeisten dieser Beiträge, dass sie Stabilitätskultur primär in einem geldpolitischen BEZUG VERWENDET Kontext verwenden, dass die spezifisch deutsche Stabi- litätskultur der Ausgangspunkt der Überlegungen ist Negative Konnotation und dass der Begriff positiv oder zumindest neutral Seit dieser Zeit widmete sich auch die politologische konnotiert ist. In allen drei Dimensionen sollte es ab und soziologische Literatur der Stabilitätskultur, die Mitte / Ende der 1990er Jahre zu einem Begriffswandel zudem immer häufiger Thema in der internationalen kommen. Presse wurde. Schon vor Ausbruch der Eurokrise, aber verstärkt natürlich auch seitdem, wird darin die Aus- Ab Mitte / Ende der 90er Jahre vermehrt fiskal- gestaltung der Währungsunion nach weitgehend deut- politische Verwendung schen Vorstellungen untersucht (Bourdieu 1996; o. V. Dieser Begriffswandel begann mit der Diskussion über 1996). Dabei geht es auch, aber nicht nur, um geld- und den von deutscher Seite geforderten Stabilitätspakt. Er sollte die Maastrichter Beschlüsse dahingehend ergän- zen, dass die Euro-Teilnehmerländer nicht nur bei der IDS SPRACHREPORT 1/2018 31
fiskalpolitische Aspekte; vielmehr wird der Begriff hier in einem weiteren, ordnungspolitischen Kontext und verstärkt mit negativer Konnotation eingesetzt. Stabili- tätskultur wird nun als diskurspolitisches Instrument zentral- und nordeuropäischer Eliten beschrieben, mit dessen Hilfe sie den übrigen Ländern Europas eine ‚neoliberale‘ Agenda diktieren wollten, deren Kern- punkte Inflationsbekämpfung, Haushaltskonsolidie- rung und marktwirtschaftliche Reformen sind. STABILITÄTSKULTUR WIRD ZUM SINNBILD FÜR DEUTSCHE DOMINANZ IN EUROPA Das folgende Zitat aus dem britischen Telegraph bringt nicht notwendigerweise nur eine deutsche Stabilitäts- diese Verwendung des Begriffs auf den Punkt: kultur, sondern viele nationale Stabilitätskulturen – On top of this, Merkiavelli has not merely issued orders to der Ausdruck taucht nun vermehrt im Plural auf. Stabi- the other member states, she has ensured that the German litätskultur bezeichnet dann die jeweils in einem Land culture of “stability” in economic affairs is the orthodoxy vorherrschende Einstellung zur Stellung der Zentral- of the age. True, there is not, as yet, a single example of bank, zur Bedeutung der Preisniveaustabilität, zur Rol- German-style austerity policies actually working in the le des Staates in der Wirtschaft und zur Finanzpolitik. southern countries on whom it has been inflicted, but that Der Begriff wird neutral verwendet, die spezifisch hardly seems to matter in the terms of power politics. deutsche Ausprägung ist nur noch eine von vielen (Moore 2013) denkbaren (Tognato 2012, S. 25ff). In diesem Kontext ist Stabilitätskultur tendenziell et- BEGRIFFSWANDEL: JEDES LAND KANN NUN was Negatives: „Angela Merkel’s pursuit of the stabili- SEINE EIGENE STABILITÄTSKULTUR HABEN ty culture espoused by ‚ordoliberalism‘ leaves deficit economies facing greater austerity.“ (Kundnani 2012). Beispielhaft hierfür ist der Sammelband „Stabilitäts- Die ursprüngliche geldpolitische Fokussierung des Be- kulturen – Kommunikationsstrategien ausgewählter griffs und insbesondere die Vorbildfunktion der spezi- europäischer Zentralbanken“ von Drexler / Hegmann fisch deutschen Stabilitätskultur sind nahezu vollstän- (2006). Die Autoren stellen hier insbesondere die Bun- dig verlorengegangen: „[...] the German ‚Culture of desbank, die Banque de France, die Bank of England Stability‘ spells a ‚Culture of Decline‘ for much of South- sowie die EZB im Hinblick auf ihre jeweilige Stabili- ern Europe“ (Schmidt 2012). Der Begriff wird denkbar tätskultur gegenüber. Eine wirklich intensive Beschäf- weit und nicht mehr ausschließlich positiv verwendet tigung mit unterschiedlichen Stabilitätskulturen auch (Sadeh 2009; Sadeh / Verdun 2009). im Detail ist dabei der Beitrag von Karen van den Berg mit dem Titel „Show me your money! Schaufenster des Stabilitätskulturen im Plural Geldes“. Sie untersucht, welches Verständnis von Sta- Mit dieser Inhaltsausdehnung geht eine weitere Eigen- bilitätskultur die Geldmuseen bzw. währungshistori- art der Begriffsverwendung speziell in der politologi- schen Ausstellungen der genannten Zentralbanken schen und soziologischen Literatur einher: Es gibt transportieren (van den Berg 2009). 32 IDS SPRACHREPORT 1/2018
Die zweite Karriere ab 2010 Viele Arbeiten versuchten herauszufinden, wie sich Einen neuen Schub erhält die Beschäftigung mit dem diese neue Europäisierung der Fiskalpolitik erklären Thema dann mit der eingangs zitierten Regierungser- lasse, auswirken könne und welche Rolle die Stabili- klärung Angela Merkels zum ersten Griechenland- tätskultur der einzelnen Länder dabei spiele (Heine- ‚Rettungspaket‘. Merkel geht den Weg der Begriffsdeh- mann / Osterloh / Kalb 2013). Der mit der Merkel-Rede nung nur teilweise mit. Ihre Stabilitätskultur hat zwar noch einmal deutlich verstärkte Fokus auf die fiskalpo- auch eine fiskalpolitische Komponente – geht also über litische Begriffsverwendung soll jedoch nicht darüber die ursprünglich rein geldpolitische Ausrichtung hin- hinwegtäuschen, dass es natürlich – allerdings eher aus –, gleichzeitig kehrt sie aber zur eindeutig positi- vereinzelt – auch in jüngerer Zeit noch eine primär ven Konnotation einer spezifisch deutschen Stabilitäts- geldpolitische Beschäftigung mit der deutschen Stabili- kultur mit entsprechender Vorbildfunktion zurück. tätskultur gibt, wenn auch in diesem Fall eine eher kri- Dass die Bundeskanzlerin auf die Stabilitätskultur zu- tische: rückgreift, um dem Bundestag und ihren Wählern die [...] “stability culture” is closely aligned with the key pecu- Angst vor möglichen negativen stabilitätspolitischen liarity about German-style monetary policy: [...] German Konsequenzen der Griechenland-‚Rettung‘ zu neh- central bankers have a special gift for detecting inflation men, unterstreicht die hohe Symbolkraft des Begriffs. risks even when nobody else can, but are never really Es zeigt auch, wie ernst die innenpolitische Lage in den scared of deflation. (Bibow 2013, S. 614f.) Augen der Kanzlerin im Frühjahr 2010 war. Um ihre Politik zu erklären, greift sie auf ein Konzept zurück, 2010: DIE REGIERUNGSERKLÄRUNG DER das „seit ihrer Gründung immer zum Selbstverständ- BUNDESKANZLERIN ZUR GRIECHENLAND- nis der Bundesrepublik Deutschland gehört hat und gehört“. ‚RETTUNG‘ GIBT DER VERWENDUNG DES AUSDRUCKS NEUEN SCHUB Die Rede der Bundeskanzlerin mit ihrem expliziten Be- zug auf Stabilitätskultur und die in den folgenden Jah- Gleichzeitig griffen Autoren aus dem politischen und ren schrittweise umgesetzte Politik einer Beschrän- politiknahen Bereich den von Angela Merkel wieder kung der Finanzautonomie der Mitgliedsstaaten (‚Six bekannt gemachten Begriff auf, um für ihre Vorstel- Pack‘, Fiskalpakt, Europäisches Semester etc.) in Rich- lung einer nachhaltigen Umgestaltung der Europäi- tung Haushaltskonsolidierung lösten eine neue Welle schen Währungsunion zu werben, weg von hektischen, der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Kon- interventionistischen Ad-hoc-Entscheidungen, hin zu zept Stabilitätskultur aus. Dabei steht die fiskalpo- Langfrist- und Regelorientierung. Stabilitätskultur be- litische Bedeutung des Begriffs im Vordergrund, auch deutet für sie in einem engeren Sinne, eine angebots- wenn in der folgenden Definition die geldpolitische orientierte Politik zu befürworten; in einem weiteren zumindest erwähnt wird: Sinne ist sie eine Geisteshaltung in der Nachfolge Wal- [...] we understand the term Stability Culture as a common ter Euckens und der Freiburger Schule. Verfechter der economic policy perspective shared by policymakers and Stabilitätskultur betonen demzufolge die Interdepen- the population at large whose primary concern is the denz der Ordnungen, die strikte Trennung zwischen maintaining of low deficits and low inflation. (LeMay- Prozess- und Ordnungspolitik und den Primat eben Boucher / Rommerskirchen 2015, S. 4) der Ordnungspolitik (Konrad Adenauer Stiftung 2013). IDS SPRACHREPORT 1/2018 33
Fazit Deutsche Bundesbank (1990): Stellungnahme der Deutschen Aus einem relativ eng abgegrenzten wirtschaftskultu- Bundesbank zur Errichtung einer Wirtschafts- und Wäh- rungsunion in Europa. In: Monatsberichte der Deutschen rellen Terminus ist im Laufe eines Vierteljahrhunderts Bundesbank 10 / 1990, S. 41-45. ein weiter wirtschaftspolitischer Begriff geworden. Deutsche Bundesbank (1995): Geschäftsbericht 1995. Frank- Nichts verdeutlicht dies besser als seine zwischenzeit- furt. liche Verwendung im Plural und der ständige Wechsel Deutsche Bundesbank (2016): Steingewordene Stabilitätskul- zwischen positiver und negativer Konnotation. Statt tur. In: Bundesbank-Magazin 1 / 2016, S. 46-47. für eine gemeinsame Fokussierung von Politik und Öf- Drexler, Barbara / Hegmann, Horst (2006) (Hg.): Stabilitäts- fentlichkeit auf das übergeordnete Ziel Preisniveausta- kulturen – Kommunikationsstrategien ausgewählter euro- bilität steht er nun – in der Wissenschaft sowie der in- päischer Zentralbanken. Marburg: Metropolis. ternationalen Presse zumindest – für eine auf Haus- Heinemann, Friedrich / Osterloh, Steffen / Kalb, Alexander haltskonsolidierung ausgerichtete Politik, während (2013): Sovereign risk premia: The link between Fiscal Stabilitätskultur in der deutschen politischen Debatte Rules and Stability Culture. ZEW Discussion Paper 16 / 2013, sowohl das Feindbild ‚Neoliberalismus‘ als auch geleb- Mannheim: Zentrum für Europäische Wirtschaftsfor- ten Ordoliberalismus im Sinne der Sozialen Marktwirt- schung. schaft widerspiegeln kann. I Issing, Otmar (1988): Europäische Notenbank – ein Phantom. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.3.1988, S. 13. Anmerkungen Kloten, Norbert (1988): Aspekte eines europäischen Zentral- * Der Verfasser dankt Jasten Hagen Pütsch und Kujtim banksystems. In: WISU – Das Wirtschaftsstudium 11 / 1988, Robelli für wertvolle Hilfe bei der Literaturrecherche. S. 578. 1 So der damalige Sprachgebrauch. Eine inhaltliche Verbin- Konrad Adenauer Stiftung (Hg.) (2013): Perspectives for a dung zum Monetarismus Friedman‘scher Prägung exis- Common Stability Culture in Europe.
Ohr, Renate / Schäfer, Wolf (1992): Die währungspolitischen Beschlüsse von Maastricht: Eine Gefahr für Europa, von 62 Professoren unterzeichnetes Manifest. In: Frankfurter All- gemeine Zeitung 11.6.1992, S. 15. Pöhl, Karl Otto (1988): Die Vision eines europäischen Währungs- raumes. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.5.1988, S. 15. Richter, Rudolf (1994): ‚Stabilitätskultur‘ als Problem der In- stitutionenökonomik. In: Hesse, Helmut / Issing, Otmar (Hg.): Geld und Moral. München: Vahlen, S. 73-90. Sadeh, Tal (2009): EMU’s diverging micro foundations: a study of governments‘ preferences and the sustainability of EMU. In: Journal of European Public Policy 16, 4, S. 545- 563. Sadeh, Tal / Verdun, Amy (2009): Explaining Europe’s Mone- tary Union: a survey of the literature. In: International Studies Review 11, S. 227-230. Schlesinger, Helmut (1991): Eine europäische Währung muß genauso stabil sein wie die D-Mark. In: Handelsblatt, 31.12.1991, S. 9. Schmidt, Vivien (2012): The Crisis of the Euro – a problem for European economy and democracy. Political Science News, Boston University 16.4.2012. (Stand: 27.4.2017). Tietmeyer, Hans (2006): Die europäische Währung – Sorgen um die Stabilitätskultur? In: Rauscher, Anton (Hg.): Das Europa der 25. Köln: Bachem, S. 119-134. Tognato, Carlo (2012): Stability cultures and central banking. In: Tognato, Carlo (Hg.): Central Bank independence – cul- tural codes and symbolic performance. New York: Pal- grave Macmillan. Van den Berg, Karen (2006): Show me your money! Schau- fenster des Geldes – Inszenierungstheoretische Überlegun- gen zur Europäischen Zentralbank und den Museen der Nationalbanken in Deutschland, England und Frankreich. In: Drexler, Barbara / Hegmann, Horst (Hg.): Stabilitätskul- turen – Kommunikationsstrategien ausgewählter europäi- scher Zentralbanken. Marburg: Metropolis, S. 217-246. Wiarda, Howard (2014): Political culture, political science, and identity politics. An uneasy alliance. Burlington: Ash- gate. Zeitler, Franz-Christoph (1996): Stabilitätskultur – ein Beitrag für Europa. In: Deutsche Bundesbank – Auszüge aus Pres- seartikeln 42, 7, S. 7-10. Bildnachweise Seite 31: Seite 32: shutterstock 137946029 Seite 35: shutterstock 59755252 I IDS SPRACHREPORT 1/2018 35
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