DGAPanalyse kompakt - Polen auf Stabilitätskurs Prof. Dr. Eberhard Sandschneider (Hrsg.) Otto Wolff-Direktor des Forschungsinstituts der DGAP e. V.

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Prof. Dr. Eberhard Sandschneider (Hrsg.)                          Oktober 2011 N° 8
Otto Wolff-Direktor des Forschungsinstituts der DGAP e. V.        ISSN 2191-4869

                           Polen auf Stabilitätskurs
                                                  von Anna Quirin und Stephen Bastos
Oktober 2011 | DGAPanalyse kompakt | Nr. 8

Polen auf Stabilitätskurs
von Anna Quirin und Stephen Bastos
Polen hat gewählt. Ministerpräsident Donald Tusk und seine Regierungspartei »Bürgerplattform«
(PO) haben die Parlamentswahlen in Polen mit 39,2% klar für sich entschieden. Mit 29,9%
der Stimmen bleibt Jarosław Kaczyński von der oppositionellen Partei »Recht und Gerechtigkeit«
(PiS) nur die Rolle als führende Oppositionskraft. Damit ist zum ersten Mal in der Geschichte
des freien Polens seit 1989 eine Regierung wiedergewählt worden. Dies markiert einen historischen
Erfolg für die Regierung von Donald Tusk nach einem insgesamt ungewöhnlich ruhigen Wahl-
kampf. Die PO kann deshalb ihre Koalition mit der Bauernpartei (PSL) fortsetzen. Die Partei-
enlandschaft hat sich weiter stabilisiert.

Verlauf und Ergebnis der Wahlen sind Ausdruck           Bund der Demokratischen Parteien (SLD), der mit
eines verbreiteten Wunsches einer wachsenden            8,2% der Stimmen der große Verlierer der Wahlen
polnischen Mittelschicht nach einem unideologi-         ist. Mit 10,0% wird die antiklerikale populistische
schen, pragmatischen und kooperativen Politikstil.      Bewegung von Janusz Palikot als Überraschungssie-
Allerdings belegt der Wahlausgang eine nach wie         ger dieser Wahlen erstmals in den Sejm ziehen.
vor starke Polarisierung zwischen einem liberalkon-
servativen (PO) und einem nationalkonservativen         Zum ersten Mal in der Geschichte der neuen Repu-
(PiS) Lager, die sich auch wieder geographisch in       blik wurde damit eine Regierung für eine zweite
einer Teilung Polens in einen (Nord-)West (PO)          Amtszeit gewählt. Dies ist nicht nur vor dem Hin-
und (Süd-) Ostteil (PiS) äußert.                        tergrund der polnischen Erfahrungen der letzten
                                                        20 Jahre bemerkenswert, sondern auch mit Blick
Polen profiliert sich mit diesem Wahlergebnis           auf die aktuelle politische Landkarte in Europa, die
weiter als ein wirtschaftlich erfolgreicher und poli-   durch zahlreiche Regierungswechsel in Folge der
tisch verlässlicher Stabilitätsanker mit wachsendem     Finanz- und Wirtschaftskrise geprägt ist (Groß-
Gestaltungsanspruch in einem krisengeschüttelten        britannien, Irland, Portugal, Finnland). Das Wahl-
Europa. Der Wahlausgang beinhaltet dabei eine           ergebnis und der insgesamt ungewöhnlich ruhige
wichtige Botschaft an die europäischen Partner:         Wahlkampf dokumentieren die Stabilisierung der
Auch in der aktuellen Krise lassen sich mit einem       polnischen Demokratie im Allgemeinen und der
offensiven proeuropäischen Kurs Wahlen gewin-           politischen Parteienlandschaft im Besonderen. Die
nen. Die zweite Amtsperiode Tusks verspricht aber       Wahlen dokumentieren die erfolgreiche Herausbil-
unter Einfluss der sich zuspitzenden internationa-      dung einer bürgerlichen Mittelschicht in Polen, die
len Finanz- und Wirtschaftskrise, des steigenden        ideologische Experimente in der Politik ablehnt
innenpolitischen Reformdrucks und der wach-             und einen pragmatischen, lösungsorientierten Poli-
senden sozialen Spannungen im Land um einiges           tikstil bevorzugt. Zum wiederholten Male zeigt sich,
schwieriger zu werden als die Jahre 2007 bis 2011.      dass auch in Polen Wahlen in der politischen Mitte
                                                        gewonnen werden.
Die regierende Bürgerplattform (PO) unter Füh-
rung von Donald Tusk ist mit 39,2% der Stimmen
der klare Sieger der polnischen Parlamentswahlen.       Stabilität statt Experimente
Die größte Oppositionspartei Recht und Gerechtig-
keit (PiS) von Jarosław Kaczyński blieb mit 29,9%       Nachdem die Bürgerplattform in den Umfragen
der Stimmen zum sechsten Mal in Folge bei Wah-          lange Zeit vermeintlich sicher vorne lag, holte
len nur der zweite Platz.1 Der aktuelle und künftige    die PiS in den letzten Wochen vor den Wahlen
Koalitionspartner der PO, die Bauernpartei (PSL)        kräftig auf. Dabei war der Wahlkampf stärker als
bekam 8,4% und lag damit noch vor dem linken            bei vorherigen Wahlen ganz auf das Duell Tusk-

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Kaczyński zugeschnitten. Die Wahlkampagnen              die Chance ihrer Kreditwürdigkeit, was den Erwerb
beider Lager waren stark auf die Mobilisierung          einer eigenen Wohnung, die in Polen oft noch als
der eigenen Stammwählerschaft ausgerichtet, die         eine Grundvoraussetzung für die Familiengrün-
bei der in Polen traditionell niedrigen Wahlbetei-      dung betrachtet wird, deutlich erschwert.
ligung einen entscheidenden Erfolgsfaktor bildet.
Kaczyński versuchte sich darüber hinaus vergeblich,     Die tiefe politische Spaltung Polens in ein liberal-
mit einer zum Teil ungeschickt anmutenden Wahl-         konservatives (PO) und ein nationalkonservatives
kampagne als Fürsprecher der polnischen Jugend          (PIS) Lager hat sich durch die Wahlen weiter ver-
zu präsentieren.2                                       stetigt. Die Rivalität von PO und PIS, die beide aus
                                                        dem Erbe der Solidarność-Bewegung hervorgegan-
Die Wahlbeteiligung ist mit 48,9% höher als pro-        gen sind, prägt die politische Landschaft Polens seit
gnostiziert und liegt damit nur leicht unter der        2005, als der Doppelsieg der Kaczyński-Zwillinge
Rekordbeteiligung von 2007 (53,8%). Allerdings          bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen
bleibt die relativ niedrige Wahlbeteiligung ein erns-   die heruntergewirtschafteten Postkommunisten
tes strukturelles Defizit der polnischen Demokratie.    ablöste. Der Flugzeugabsturz von Smolensk in
                                                        2010 hatte die Polarisierung weiter vertieft und
Kaczyński kann traditionell auf die Stimmen vor         bedroht seitdem die politische Kultur des Landes.
allem älterer, bildungsferner, religiös gesinnter
Menschen rechnen, die überwiegend in ländlichen         Zwar hat Kaczyński seine sonst scharfe Wahl-
Gebieten leben und verstärkt von sozialen Proble-       kampfrhetorik, ähnlich wie während der Präsident-
men wie z. B. Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die      schaftswahl im letzten Jahr, zunächst aus taktischen
Stammwähler von Tusk hingegen leben überwie-            Kalkül heraus gemildert und die Smolensk-Tra-
gend in mittleren und größeren Städten, sind besser     gödie nicht wie befürchtet zum zentralen Thema
ausgebildet und mit ihrer allgemeinen Lebenssitua-      seiner Wahlkampagne gemacht. Seine antideutschen
tion eher zufrieden.3                                   Einlassungen in der letzten Woche vor der Wahl
                                                        machten allerdings deutlich, dass nach den Wahlen
Interessant ist dennoch, dass viele aus der Wäh-        mit einer Rückkehr zum traditionellen ideologi-
lergruppe der unter 30-jährigen, die Tusk 2007          schen Konfrontationskurs der PiS gerechnet wer-
noch am stärksten unterstützt hat, sich diesmal         den muss. Das Verhältnis der PiS zu anderen politi-
enttäuscht von ihm abgewendet haben. 2007 war           schen Parteien, insbesondere zur PO, ist weiter von
vor allem eine Antikaczyńskiwahl. Die PO stand          einem Gefühl moralischer Überlegenheit geprägt.5
aber auch für das Versprechen eines pragmatischen,      Die PiS versteht sich als einzig legitimer Bewahrer
ruhigen politischen Diskurses und vor allem eines       christlicher Werte und der polnischen Tradition
wirtschaftlichen und zivilisatorischen Sprungs nach     und Kultur. Der Wahlkampf ist somit nicht von
vorne. Das spiegelte sich in dem damals populären       einem Kampf um ein besseres politisches Pro-
Wahlslogan »Wir werden das zweite Irland sein«          gramm geprägt, sondern wird als eine historische
wieder.                                                 Mission verstanden, die auf die Verteidigung des
                                                        wahren Polentums abzielt. Die PO ist demnach
Bei diesen Wahlen war die Situation eine andere.        ein Erzfeind, der die Interessen Polens nicht aus-
Zum einen verblasste die Erinnerung an die affä-        reichend gegen fremde Mächte schützt und damit
rengeschüttelte Kaczyński-Zeit nicht nur unter          Polen schwächt.
den Erstwählern immer mehr. Zum anderen ist
die Lage der jungen Leute auf dem Arbeitsmarkt          Die Ergebnisse der Wahlen zeigen deutlich, dass
alarmierend. Die Arbeitslosigkeit unter Hoch-           das ideologisch aufgeheizte Politikverständnis im
schulabsolventen hat sich im Vergleich zum Jahr         klaren Kontrast zur vorherrschenden Stimmungs-
2007 verdoppelt.4 Viele junge Menschen arbeiten         lage in Polen und zum Lebensgefühl der Mehrheit
auch mit einem Hochschulabschluss auf Basis von         der Gesellschaft steht. Die pragmatische, ideolo-
sogenannten »Müllverträgen«, die keine dauerhafte       giefreie Politik von Tusk, eine Politik der kleinen
Beschäftigung garantieren. Damit sinkt automatisch      Schritte, wie er sie selbst nennt, ist den meisten

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Polen näher. Die Polen haben sich mit der Wahl für      der Stimmen erhalten, Anfang dieses Jahres lagen
eine wenig visionäre, aber stabilisierend wirkende      die Umfragewerte der Partei sogar bei 18%. Die
und vor allem eine vorhersehbare Politik entschie-      Tage von Grzegorz Napieralski, der zu Beginn sei-
den und haben auf neue ideologische Experimente         ner Zeit als Vorsitzender der Partei als neuer Stern
verzichtet.                                             der polnischen Linken bejubelt wurde, sind nach
                                                        dem enttäuschenden Wahlergebnis gezählt.

Gewinner und Verlierer                                  Als großer Überraschungssieger der Wahlen kann
                                                        sich Janusz Palikot mit seiner linkspopulistischen,
Premierminister Donald Tusk und sein Stellvertre-       radikal antiklerikalen Protestpartei »Bewegung Pali-
ter von der PSL-Partei, Waldemar Pawlak, haben          kot« fühlen. Palikot, dessen Karriere als erfolgrei-
sich bereits vor den Wahlen für eine Fortführung        cher Geschäftsmann begann, war ein langjähriger
der bestehenden Koalition ausgesprochen, sofern         Gefolgsmann Tusks, bis er sich 2010 im Streit von
das das Wahlergebnis zulässt. Trotz leichter Ver-       ihm trennte und seine eigene Partei gründete. Trotz
luste beider Koalitionspartner verfügen sie auch        seiner politischen Karriere ist es ihm gelungen, sich
im neuen Sejm über eine sichere Mehrheit der            mit unkonventionellen politischen PR-Auftritten als
Stimmen. Die Koalition wird daher voraussichtlich       Bewegung gegen das Establishment zu profilieren
weiter regieren. Tusk hatte aber bereits im Vorfeld     und damit vor allem junge Wähler, die sich weder
der Wahlen angekündigt, dass es zu einer größeren       von der PO noch von der SLD angesprochen
Regierungsumbildung kommen wird und nicht viel          fühlen, zu gewinnen. Zu seinen zentralen Themen
mehr als fünf der derzeitigen Minister auch dem         gehören die Legalisierung von Marihuana und
neuen Kabinett angehören werden.6 Sicher dürfte         Homoehe und eine strikte Trennung von Kirche
allerdings der Posten von Außenminister Radosław        und Staat. Im Unterschied zu linkspopulistischen
Sikorksi sein, der neben Sejmmarschall Grzegorz         Bewegungen in Westeuropa plädiert er für einen
Schetyna auch als möglicher Nachfolger Tusks als        völligen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft.
Ministerpräsident und PO-Vorsitzender gehandelt         Palikots Erfolg wirft ein interessantes Licht auf die
wird, falls sich Tusk im Laufe der Legislaturperiode    weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen in
zu einem freiwilligen Rückzug entschließen sollte.      der polnischen Gesellschaft im Zuge des umfassen-
                                                        den Modernisierungsprozesses der letzten 20 Jahre.
Die PiS musste sich zwar zum sechsten Mal in            Ob Palikot sich zu einer dauerhaften politischen
Folge der PO geschlagen geben, konnte aber mit          Kraft in Polen entwickeln kann, ist angesichts der
30% ihren Stimmenanteil auf hohem Niveau sta-           bislang dünnen programmatischen und personellen
bilisieren und somit ihre Rolle als führende Oppo-      Ausstattung der Partei allerdings fraglich.
sitionspartei bestätigen. Kaczyński hat die PiS, die
ganz auf seine Person zugeschnitten ist, mit diesem
Ergebnis weiter fest im Griff und wird sicher bei       Tusks zweite Chance
den nächsten Wahlen einen weiteren Anlauf zur
Rückeroberung der Macht in Polen antreten. Bis          Mit dem Wahlsieg hat Tusk nun ein klares Mandat
zur nächsten Wahlkampagne ist es wahrscheinlich,        für die nächsten vier Jahre. Seine Ausgangslage
dass sich die PiS unter Kaczyński von ihrem tak-        erscheint besser als 2007, da über seiner Regierung
tisch bestimmten gemäßigten Auftreten während           kein Damoklesschwert in Form eines Vetos aus
des Wahlkampfes verabschiedet und wieder zur            dem Präsidentenpalast schwebt. Sowohl Regierung
gewohnten radikalen nationalpopulistischen Rheto-       als auch das Präsidentenamt sind in den Händen
rik zurückkehrt, die letztlich auch von ihrem politi-   der PO. Allerdings fällt damit auch ein potenzielles
schen Programm gedeckt wird.                            Alibi für das Ausbleiben notwendiger unpopulärer
                                                        Reformentscheidungen weg.
Zu den größten Verlierern der Wahlen gehört die
Partei von Grzegorz Napieralski, die SLD. Die Par-      Die Bilanz der ersten Amtszeit von Tusk ist eher
tei hat bei den letzten Parlamentswahlen 2007 13%       durchwachsen. Tusk hat zwar einen neuen pragma-

                                                                                                                4
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tischen und flexiblen Politikstil eingeführt, die not-   saniert und das Budgetdefizit unter 3% des BIP
wendigen harten Reformen im Bereich der Staatsfi-        gesenkt werden, die ausufernde Bürokratie, die
nanzen oder im Gesundheits- oder Rentensektor ist        unter der Regierung Tusk trotz gegenteiliger Ver-
er bislang jedoch kaum angegangen.                       sprechen um 60 000 Arbeitplätze angewachsen ist,
                                                         muss reduziert werden, die Bedingungen für Fir-
Ein gutes Beispiel für seine pragmatische Vorge-         mengründungen und Unternehmensführung müs-
hensweise ist seine Haltung zur Euro-Einführung.         sen verbessert und nicht zuletzt die alarmierend
Noch 2008 versicherte Tusk, dass die Euroeinfüh-         wachsende Arbeitslosigkeit unter jungen Leuten
rung in Polen 2011 abgeschlossen sein wird.7 Heute       muss bekämpft werden. Auf der Warteliste stehen
treffen weder Tusk noch der Finanzminister Jacek         auch unpopuläre Reformen, wie die Verlängerung
Rostowski jegliche Aussagen darüber, wann Polen          des Rentenalters oder die Rentenreform im Bereich
der Eurozone beitritt. Angesichts der Probleme           der Beamten und Landwirte.
innerhalb der Eurozone will Polen die Entwick-
lungen abwarten, bevor es sich festlegt. Man kann        Die für die Bewältigung der Herausforderungen
dieser Position Verständnis entgegen bringen, in         notwendigen Reformschritte verlangen Mut und
dieser zögernden und wenig festen Haltung lag            die Bereitschaft, unpopuläre Entscheidungen zu
aber gleichzeitig auch das größte Manko der ersten       treffen. Ob Tusk, dessen Politikstil bislang auf
Regierung Tusk.                                          Vermeidung politischer Konflikte abzielt, die Pro-
                                                         bleme mit der nötigen Entschlossenheit angehen
Im neuen Programm für die nächsten vier Jahre            wird, ist nach den Erfahrungen der ersten Amtszeit
kündigt Tusk eine Fortsetzung der bisherigen Poli-       und seinen Aussagen während des Wahlkampfes zu
tik an. Einen großen Wert legt er dabei auf die          bezweifeln.
Stärkung des Humankapitals und der Zivilgesell-
schaft, beides Themen, bei denen es in Polen einen       Insgesamt verspricht die zweite Amtsperiode für
großen Nachholbedarf gibt.8 Tusks Programma-             Tusk um einiges schwieriger zu werden als die
tik ist, zumindest den Wahlkampfaussagen nach,           letzten vier Jahre. Dafür sprechen die bislang ver-
deutlich sozialer geworden. Das betrifft sowohl          schleppten notwendigen Strukturreformen, die sich
die Unterstützung für die ärmsten Schichten der          zuspitzende globale Finanzkrise und die europäi-
Gesellschaft als auch eine tiefere Rücksichtnahme        sche Schuldenkrise, in deren Folge der polnische
auf soziale Folgen wirtschaftlicher Reformen. Die        Złoty trotz zweimaliger Intervention der polnischen
strikten wirtschaftsliberalen Prinzipien wurden auf      Nationalbank in den letzten Wochen rund 10%
den Prüfstand gestellt.9 Die Regierung will angeb-       seines Wertes gegenüber dem Euro verloren hat,
lich nicht mehr die schnelle Privatisierung staatli-     die wachsenden sozialen Spannungen im Lande,
cher Unternehmen vorantreiben. Stattdessen setzt         auf die die PO bislang keine überzeugende Ant-
sie auf den Aufbau starker nationaler Champions          wort liefern konnte, und nicht zuletzt auch der mit
in einzelnen Schlüsselsektoren.                          zunehmender zeitlichen Distanz zu der Regierungs-
                                                         zeit der Kaczyński-Brüder schwächer werdende
In seinem Programm setzt Tusk zudem vermehrt             Antikaczyńskieffekt in der polnischen Gesellschaft.
auf EU-Gelder, die dem Land zu einem weiteren
infrastrukturellen und wirtschaftlichen Sprung ver-
helfen sollen. Ähnlich wie in der ersten Amtszeit        Polens außen- und europa­
Fußball- und Sportplätze massenweise in den Dör-         politische Position gestärkt
fern gebaut wurden, sollten nun Sozialräume mit
Computern und Internetzugang auf dem Lande               Außen- und europapolitische Fragen wurden im
besonders gefördert werden. Bürgerliches Engage-         Wahlkampf kaum thematisiert. Außenpolitische
ment soll dabei großgeschrieben werden.                  Debatten kamen, so weit sie überhaupt stattfanden,
                                                         nicht über allgemeine Plattitüden und Schlagworte
Die Probleme, die man in Polen dringend angehen          hinaus. Dass sich daraus nicht auf einen parteiüber-
muss, liegen zu Tage: Die Staatsfinanzen müssen          greifenden außen- und europapolitischen Grund-

                                                                                                                5
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konsens schließen lässt, machte die letzte Woche       einer offensiven proeuropäischen Politik und ent-
vor den Wahlen deutlich. Unter wachsenden Druck        sprechender Rhetorik auch in der aktuell turbulen-
der Umfrageergebnisse versuchte Kaczyński auf          ten europapolitischen Lage möglich ist, Mehrheiten
den letzten Metern wieder die »deutsche Karte« zu      zu gewinnen und Wahlen für sich zu entscheiden.
spielen. In seinem neuen Buch »Das Polen unse-         Damit profiliert sich Polen weiter als wirtschaftlich
rer Träume«10 widmet er gleich ein ganzes Kapitel      erfolgreicher und politisch verlässlicher Stabilität-
Angela Merkel und greift sie mit einer dunklen         sanker in einer krisengeschüttelten EU.
Unterstellung an: »Ich glaube nicht, dass die Kanz-
lerschaft Angela Merkels das Ergebnis eines reinen     Der Wahlsieg der regierenden Bürgerplattform
Zufalls war.« Er verzichtet bewusst auf jegliche       unter Ministerpräsident Tusk bedeutet eine klare
Präzisierungen und suggeriert stattdessen dunkle       Bestätigung des außen- und europapolitischen
Stasimachenschaften, die Merkel zur Kanzlerschaft      Kurswechsels von 2007. Getragen von einer weit-
verholfen haben. Weiter schreibt er, Merkel wolle      gehend proeuropäischen Öffentlichkeit ist es der
»die imperiale Macht Deutschlands« wiederher-          polnischen Regierung in den letzten vier Jahren
stellen, baue daher auf eine »strategische Achse       gelungen, die bilateralen Beziehungen zu den
nach Moskau« und erwarte von »Polen vor allem          wichtigsten Nachbarn, insbesondere zu Deutsch-
Unterordnung«. Er warnt vor deutschen Investitio-      land und Russland, auf eine neue kooperative
nen in Westpolen und greift sogenannte »gekaufte«      Grundlage zu stellen, die es erlaubt, gemeinsame
polnische Intellektuelle an, die sich seit Jahren      Interessen zu definieren und strittige Punkte offen
für die Verständigung mit Deutschland einsetzen.       und konstruktiv zu thematisieren. In Bezug auf
Kaczyński legte in den letzten Tagen vor der Wahl      Russland bedeutete dies einen historischen Neu-
mit antideutschen Äußerungen wiederholt in Inter-      anfang in den Beziehungen in Richtung hin zu
views und Pressekonferenzen nach.                      einer schrittweisen Vertrauensbildung, der parado-
                                                       xerweise durch die Flugzeugkatastrophe von Smo-
Bis dahin verhinderte ein taktisches Kalkül auf Sei-   lensk und dem Tod von Präsident Lech Kaczyński
ten der PiS die offene Konfrontation in der Außen-     und 95 weiteren Vertretern der polnischen Elite in
politik. Die Opposition sah offenbar keine Chance,     2010 zunächst forciert und emotional unterfüttert
auf diesem Feld mit Angriffen auf die Regierung        wurde. Dieser Prozess steckt nach wie vor in den
zu punkten. So war der Kurswechsel Kaczyńskis          Anfängen und ist nicht frei von Rückschlägen, wie
kurz vor der Wahl selbst in den eigenen Reihen         die wiederholten polnisch-russischen Auseinan-
höchst umstritten und trug letztlich zu seiner Nie-    dersetzungen um die Aufklärung des Unglücks
derlage bei. Wie schon bei den letzten Parlaments-     illustrieren. Umso wichtiger ist es, dass mit der
wahlen in 2007 erwies sich, dass mit antideutschen     Wiederwahl der Tusk-Regierung die Vorausset-
Ausfällen in Polen keine Mehrheiten mehr gewon-        zung dafür geschaffen worden sind, dass dieser
nen werden können. Soweit die gute Nachricht. Die      Prozess trotz aller Schwierigkeiten weiter geführt
schlechte Nachricht lautet: Auch nach den Wahlen       werden kann.
gibt es in Polen weder gegenüber den beiden gro-
ßen Nachbarn Deutschland und Russland noch in          Auch in Bezug auf Polens Rolle in der EU ist es
der Frage der Rolle Polens in der EU einen belast-     Tusk in den letzten vier Jahren gelungen, aus dem
baren außen- und europapolitischen Konsens. Ein        Schatten der Kaczyński-Jahre heraus zu treten und
Blick in das Wahlprogramm der PIS genügt, um zu        Polen als einen professionellen und konstruktiven
sehen, dass das Projekt der »IV. Republik« auch in     europapolitischen Partner zu präsentieren, der fähig
seinen außenpolitischen Dimensionen weiterhin gilt.    ist, Koalitionen zu schmieden, eigene Initiativen zu
Die nationalen Interessen Polens sollen demnach        entwickeln, sein europapolitisches Thementableau
mit Hilfe einer aktiven Geschichtspolitik energisch    zu diversifizieren und sich so auch in harten Fragen
vertreten werden.11                                    der Wirtschafts- und Finanzpolitik als kompetenter
                                                       Partner zu empfehlen. Dabei hat es Tusk erreicht,
Die zentrale Botschaft der polnischen Wahlen an        seine Regierung zu einem entschiedenen Fürspre-
die europäischen Partner besteht darin, dass es mit    cher für eine Vertiefung der Integration in Europa

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zu machen, ohne den Blick für die Durchsetzung         sicher durch die Finanz- und Wirtschaftskrise
nationaler Interessen zu verlieren. Die aktuelle       geführt und sich dabei mit seiner stabilitätsori-
Ratspräsidentschaft Polens wird diese Prozesse         entierten Finanzphilosophie als Teil des »nördli-
weiter verstetigen, die Europa-Fähigkeit des Lan-      chen« Lagers in der EU und als wichtiger Partner
des nach innen und außen demonstrieren und den         Deutschlands präsentiert.
wachsenden Gestaltungsanspruch Polens unterstrei-
chen. Die grundlegende Logik der Europa-Politik        Die Wiederwahl der Regierung Tusk eröffnet daher
der Regierung Tusk läuft darauf hinaus, durch eine     auch große Chancen für das deutsch-polnische Ver-
Stärkung der EU und ihrer Institutionen die Vor-       hältnis. In den nächsten Monaten muss es darum
aussetzung dafür zu schaffen, nationale Zielvorstel-   gehen, das im Juni 2011 von beiden Regierungen
lungen zu verwirklichen. Im Grunde geht es darum,      bei einer gemeinsamen Kabinettssitzung in War-
mit Hilfe der EU dem Land einen umfassenden            schau verabschiedete umfassende Programm zur
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aufhol-     Zusammenarbeit entschlossen umzusetzen und
prozess zu ermöglichen und Polen als »normales         die darin angekündigte »Formulierung gemeinsa-
Land« in der Mitte Europas zu etablieren.              mer Initiativen« zu realisieren.12 Nicht zuletzt die
                                                       exzellenten persönlichen Beziehungen zwischen
Die umfassende Europäisierung Polens und seiner        Tusk und Merkel, zwischen den Außenministern
Außenpolitik führte unter Tusk auch zu einer kon-      Sikorski und Guido Westerwelle und zwischen den
struktiven Versachlichung der polnischen Politik       Präsidenten Bronisław Komorowski und Christian
gegenüber den USA in Richtung einer pragmati-          Wulff bieten hierfür eine gute Basis.
schen Partnerschaft, die weitgehend frei ist von
romantischen Verklärungen. Dieser neue Ansatz          Es gilt jetzt eine gemeinsame europapolitische
wurde insbesondere beim Warschau-Besuch von            Agenda zu formulieren und gemeinsame Prioritäten
Präsident Barack Obama im Mai 2011 deutlich, bei       in Bezug auf die EU zu definieren. Um strittige
dem sich Polen selbstbewusst als regionale Füh-        Punkte frühzeitig zu identifizieren und Kompro-
rungsnation in Ostmitteleuropa und als wichtiger       missmöglichkeiten auszuloten, sind entsprechende
Akteur auf der europäischen Bühne präsentierte.        Strukturen und Verfahren zwischen den Regierun-
                                                       gen, Ministerien und Parlamenten zu installieren.
Deutschland ist für die polnische Regierung nicht      Letzteres wird insbesondere in Bezug auf die
nur ein wichtiger Nachbar und bilateraler Partner,     Themenfelder EU-Budget 2014–2020, Klima- und
sondern auch ein wesentlicher Erfolgsfaktor für        Energiepolitik und Erweiterung erforderlich sein.
Polens wachsende europapolitische Ambitionen.          Von polnischer Seite kommt es darüber hinaus
Nachdem es in den letzten Jahren gelungen ist,         entscheidend darauf an, bei der Ausformulierung
Konflikte über die Vergangenheit beider Länder         der neuen wirtschafts- und finanzpolitischen Archi-
einzuhegen und somit ein gutes Stück selbst der        tektur der EU möglichst umfassend einbezogen zu
Vergangenheit zu überantworten, konzentrieren          werden. In wie weit die deutsche Bundesregierung
sich nun die polnischen Anstrengungen darauf,          Polen hierbei eine substanzielle Mitsprache ermög-
Unterstützung aus Berlin für die eigene Europa-        licht, wird von Warschau als Lackmustest für seine
Politik zu bekommen, ohne die letztere nur schwer      mit Deutschland anvisierte europäische Gestal-
erfolgreich sein kann. Umgekehrt gilt auch für         tungspartnerschaft interpretiert werden.
Berlin nicht nur in Hinblick auf die augenblickliche
Schuldenkrise der EU, dass es im Schulterschluss       Anna Qurin, Programmmitarbeiterin Zentrum für
mit Warschau seine europapolitischen Zielvor-          Mittel- und Osteuropa der Robert Bosch Stiftung;
stellungen weitaus effektiver verfolgen kann. Die      Stephen Bastos, seit 2011 Associate Fellow des
Regierung Tusk hat Polen bislang einigermaßen          Forschungsinstituts der DGAP.

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Anmerkungen
1   Die Regionalwahlen in 2006 markierten den Auftakt einer                   view mit Ministerpräsident Tusk, in: Newsweek 40/2011,
    Serie von Wahlniederlagen der PIS, die mit den aktuellen                  S. 28.
    Wahlausgang ihre Fortsetzung fanden: Parlamentswahlen                 7   .
    nalwahlen 2010.
                                                                          8   Następny krok. Razem zrobimy więcej. Program Plat-
2   Ein Beispiel dafür war ein Wahlplakat, auf dem junge,                     formy Obywatelskiej (Der nächste Schritt. Zusammen
    attraktive weibliche Kandidatinnen aus dem Parteinach­                    schaffen wir mehr. Programm Bürgerplattform), War-
    wuchs die Bürger mit dem Wahlslogan »Kommt mit                            schau 2011, .
    uns, wir siegen« locken. Sehr schnell wurden die Frauen
                                                                          9   Do dwóch razy Tusk, in: Gazeta Wyborcza, 1./2.10.2011,
    etwas spöttisch als »Kaczyńskis Engelchen« getauft. Die                   S.21.
    Wochenzeitung »Wprost« präsentierte sogar ein Doppel-
    cover, bei dem man hinter den Engelchen die Gesichter                10 Jarosław Kaczyński, Polska naszych marzeń, Lublin 2011.
    der PiS-Oberen zu sehen bekam.                                       11 Nowoczesna, solidarna, bezpieczna Polska. Program
3   Vgl. ; .                                         restages der Unterzeichnung des Vertrages zwischen der
                                                                            Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen
4   Vgl. .
                                                                            menarbeit, zwischen den Regierungen der Bundesre-
5   Państwo PiS, in: Gazeta Wyborcza, 1./2.10.2011, S. 5.                   publik Deutschland und der Republik Polen vereinbart,
6   Mozemy rzadzic sami (Wir können alleine regieren), Inter-               21.6.2011, .

Die DGAP trägt mit wissenschaftlichen Untersuchungen und Veröffentlichungen zur Bewertung internationaler Entwicklungen
und zur Diskussion hierüber bei. Die in den Veröffentlichungen geäußerten Meinungen sind die der Autoren.

Herausgeber:
Prof. Dr. Eberhard Sandschneider, Otto Wolff-Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige
Politik e. V. | Rauchstraße 17/18 | 10787 Berlin | Tel.: +49 (0)30 25 42 31-0 | Fax: +49 (0)30 25 42 31-16 | info@dgap.org |
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© 2011 DGAP

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