Die Formalisierung der Intuition - Österreichischer Alpenverein
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ISSW 2020 Wenn sie nicht gerade beim Skifahren ist, arbeitet Lea Hartl, Phd, am Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung in Innsbruck als Glaziologin/Meterologin. Kein Wunder also, dass sie sich für Schnee und Lawinen interessiert. Forschung zu Schnee und Menschen im Schnee. Alle zwei Jahre werden beim International Snow Science Workshop (ISSW) Forschungsergebnisse aus allen Bereichen der Schnee- und Lawinenforschung präsentiert. Die für den Herbst 2020 in Kanada geplante Tagung konnte aus bekannten Gründen nicht vor Ort stattfinden. Um einen Totalausfall zu verhindern, wurde kurzfristig auf ein virtuelles, abgespecktes Format umgesattelt. Einige Eindrücke aus dem Vor- tragsprogramm des Virtual Snow Science Workshop (VSSW). Von Lea Hartl Lawinen interessieren uns primär dann, werden und was danach passiert, interes- wenn sie für Menschen gefährlich werden. siert uns nicht so sehr – Der Powderhang Manchmal kann man dieser Gefahr tech- sieht einfach so gut aus, ich will da jetzt nisch begegnen, etwa mit Verbauungen, unbedingt runterfahren! automatisierten Warn- oder Sprengsyste- men oder spezieller Messtechnik. Dafür y Der „Fehlschluss der versunkenen muss man verstehen, wie Schnee und Lawi- Kosten” (sunk cost fallacy) ist das Weiter- nen physikalisch funktionieren. Hier zeigen führen unrentabler (lawinentechnisch be- die Naturwissenschaften ihre Stärken: Das denklicher) Aktivitäten, nur weil man bereits Fließverhalten von Lawinen wird berechnet, viel investiert hat. – Ich habe den langen Satelliten bieten den Blick aufs große Gan- Zustieg gemacht, jetzt gehe ich auch auf ze, Radarsysteme werden an Verkehrsam- den Gipfel! peln gekoppelt. Mannbergs Fazit: Ideen aus der Verhal- Bekanntermaßen ist es aber häufig auch so, tensökonomie können uns helfen, Mus- dass sich der Mensch ganz freiwillig, zum ter zu erkennen und Entscheidungs- reinen Vergnügen in Gefahr begibt, weil der prozesse am Berg zu verbessern, aber Schnee so schön staubt, für das Naturerleb- zunächst brauchen wir ein schärferes nis oder die Instagram-Likes. Die Naturwis- Problemverständnis. Welche Fehlent- senschaften stoßen bei überlebenstech- scheidungen werden getroffen, von nisch derart unlogischem Verhalten schnell wem und warum? an ihre Grenzen. Die Sozialwissenschaften müssen übernehmen und spätestens ab hier lautet die Kernfrage: Warum tut der Mensch, was er tut? Darauf Bezug nehmend stellte Andrea Mannberg, Verhaltensökonomin an der Uni- versität Tromsø, in ihrem VSSW-Vortrag dar, dass sich einige Standardkonzepte aus ihrem Fachgebiet gut in den Skitourenkon- text übertragen lassen: y Present Bias beschreibt die menschliche Tendenz, die Gegenwart gegenüber der Zu- kunft höher zu bewerten. Aktuelle Wünsche und Bedürfnisse möchten sofort befriedigt unsicherheit Fotos: Archiv Hartl 43
Slides aus der VSSW-Präsentation von Andrea Mannberg, die verhaltensökonomische Konzepte auf den Lawinenkontext anwendet. Slides: Andrea Mannberg, Marius Lund (UiT The Arctic University of Norway) Jerry Johnson, Professor für Politikwissen- Diese bekommt man beispielsweise, indem und ob sie als Staub- oder Nassschneelawi- schaft in Montana, empfahl die Lektüre von man Wetterstationen aufstellt. Die entspre- nen im Tal ankommen. Das ist spannende, Ian McCammon’s Arbeit über heuristische chende sozialwissenschaftliche „Messtech- wichtige Forschung. Allerdings sind für Win- Fallen. McCammon’s Arbeit gilt als Stan- nik” ist ein weiteres wiederkehrendes The- tersportler*innen, die sich entscheiden dardwerk zu psychologischen Fallen (auch ma in den VSSW-Vorträgen: Wie gestaltet müssen, ob sie weitergehen oder umdre- unter dem Akronym FACETS bekannt), in die und verbreitet man Umfragen zu Lawinen- hen, die Feinheiten der Fluidmechanik wir in Lawinengelände immer wieder tappen themen so, dass die Zielgruppe sie beant- wenig relevant. Zumindest jenseits des (McCammon, 2002). Seine Ideen sind intui- wortet? Welche technischen Tools (GPS Grundprinzips „Schnee bewegt sich – hof- tiv verständlich und dadurch eindrucksvoll. Tracking, automatische Kameras) kann man fentlich nicht mit mir – den Berg hinunter” Aber, so betonte Johnson, sie erklären sich zu Nutze machen, um das Verhalten und von Gleichungen wie: „Neuschnee + weder alle Unfälle, noch genügen sie den von Wintersportler*innen im Gelände sys- Wind = Schneebrett”. Schneephysikalische Standards formaler Wissenschaft, etwa weil tematisch zu untersuchen? Modelle können uns erklären, wie die La- die Definitionen schwammig sind. Auch wine entsteht und sich bewegt, aber nicht, Laura Maguire vom Cognitive Systems Engi- Schnee, Mensch, Mensch im Schnee warum wir in den potenziellen Lawinenhang neering Lab an der Ohio State University überhaupt hineinfahren, mal angenommen, (USA) deutete in ihrem Vortrag an, dass be- Was den Menschen und seine Entscheidun- wir haben den Lawinenlagebericht gelesen stehende Verhaltensmodelle in der Lawi- gen im Schnee angeht, bleiben bei der und verstanden (auch kommunikationswis- nenkunde der Komplexität des menschli- VSSW viele Fragen offen, auch wenn das ge- senschaftliche Forschung zur möglichst ef- chen Tuns am Berg nicht gerecht werden. zielte Stellen von Fragen als wichtiger Schritt fektiven Gestaltung des Lageberichts wurde in Richtung Antworten zu sehen ist. Beim präsentiert). In Summe waren die beiden Der Wunsch nach einer wissenschaftlichen Schnee dagegen sind Prozessverständnis großen Themenfelder – nennen wir sie pla- Formalisierung bislang vor allem intuitiver und Modelle vergleichsweise hoch entwik- kativ „Schnee” und „Mensch” – in den Vor- Paradigmen zieht sich durch viele der sozial- kelt. Wir wissen bei weitem nicht alles, aber trägen des VSSW 2020 etwa gleich stark wissenschaftlichen VSSW-Vorträge. Es fehlt mittlerweile doch ziemlich viel. Um nur ein vertreten, mit einem leichten Überhang bei dafür in erster Linie die Datengrundlage. Beispiel zu nennen: Jan-Thomas Fischer vom „Mensch”. Wenn man den V bzw. ISSW als Die Lawinenkunde kann sich sozialwissen- Österreichischen Bundesforschungszentrum verdichtete Version aktueller Lawinenfor- schaftliche Modelle und Methoden aus un- für Wald (BFW) stellte in seinem VSSW-Vor- schung interpretiert, kann man wohl sagen: terschiedlichen Fachrichtungen ausleihen, trag ein analytisches Modell für den Ener- aber um diese auf das Thema „Mensch am gieaustausch in gravitativen Massenbewe- Der Mensch hat in der Lawinenkunde Berg” anzuwenden und speziell dafür wei- gungen vor (Fischer et al., 2018). Er berech- deutlich an Bedeutung und wissen- terzuentwickeln, braucht es mehr Informa- net, wie warm oder kalt Lawinen sind und schaftlicher Aufmerksamkeit gewonnen. tionen über, nun ja, Menschen am Berg. gewinnt dadurch Erkenntnisse zu ihrem Vielleicht auch, weil wir über den Men- In den Naturwissenschaften ist das prinzi- Fließverhalten, die sich in Zukunft vielleicht schen als Lawinenfaktor gegenüber piell genauso. Um Modelle zu kalibrieren nutzen lassen, um besser abzuschätzen, bis dem Schnee noch vergleichsweise und zu überprüfen, braucht man Daten. wohin Schadenslawinen vordringen können wenig wissen. ■ Literatur Fischer, J. T., Kaitna, R., Heil, K., & Reiweger, I. (2018). The heat of the flow: Thermal equilibrium in gravitational mass flows. Geophysical Research Letters, 45(20), 11-219. McCammon, I. (2002). Evidence of heuristic traps in recreational avalanche accidents. In: International snow science workshop, Penticton, BC, 30 Sept –4 Oct 44
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