Die Formalisierung der Intuition - Österreichischer Alpenverein

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Die Formalisierung der Intuition - Österreichischer Alpenverein
Die Formalisierung der Intuition
42 / bergundsteigen #114 / frühling 21
Die Formalisierung der Intuition - Österreichischer Alpenverein
ISSW 2020

                                                                                                                    Wenn sie nicht gerade beim Skifahren ist, arbeitet Lea Hartl, Phd, am Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung
                                                                                                                       in Innsbruck als Glaziologin/Meterologin. Kein Wunder also, dass sie sich für Schnee und Lawinen interessiert.
                      Forschung zu Schnee und Menschen im Schnee. Alle zwei Jahre werden beim
                      International Snow Science Workshop (ISSW) Forschungsergebnisse aus allen
                      Bereichen der Schnee- und Lawinenforschung präsentiert. Die für den Herbst
                      2020 in Kanada geplante Tagung konnte aus bekannten Gründen nicht vor Ort
                      stattfinden. Um einen Totalausfall zu verhindern, wurde kurzfristig auf ein
                      virtuelles, abgespecktes Format umgesattelt. Einige Eindrücke aus dem Vor-
                      tragsprogramm des Virtual Snow Science Workshop (VSSW).

                      Von Lea Hartl

                      Lawinen interessieren uns primär dann,        werden und was danach passiert, interes-
                      wenn sie für Menschen gefährlich werden.      siert uns nicht so sehr – Der Powderhang
                      Manchmal kann man dieser Gefahr tech-         sieht einfach so gut aus, ich will da jetzt
                      nisch begegnen, etwa mit Verbauungen,         unbedingt runterfahren!
                      automatisierten Warn- oder Sprengsyste-
                      men oder spezieller Messtechnik. Dafür        y Der „Fehlschluss der versunkenen
                      muss man verstehen, wie Schnee und Lawi-      Kosten” (sunk cost fallacy) ist das Weiter-
                      nen physikalisch funktionieren. Hier zeigen   führen unrentabler (lawinentechnisch be-
                      die Naturwissenschaften ihre Stärken: Das     denklicher) Aktivitäten, nur weil man bereits
                      Fließverhalten von Lawinen wird berechnet,    viel investiert hat. – Ich habe den langen
                      Satelliten bieten den Blick aufs große Gan-   Zustieg gemacht, jetzt gehe ich auch auf
                      ze, Radarsysteme werden an Verkehrsam-        den Gipfel!
                      peln gekoppelt.
                                                                    Mannbergs Fazit: Ideen aus der Verhal-
                      Bekanntermaßen ist es aber häufig auch so,    tensökonomie können uns helfen, Mus-
                      dass sich der Mensch ganz freiwillig, zum     ter zu erkennen und Entscheidungs-
                      reinen Vergnügen in Gefahr begibt, weil der   prozesse am Berg zu verbessern, aber
                      Schnee so schön staubt, für das Naturerleb-   zunächst brauchen wir ein schärferes
                      nis oder die Instagram-Likes. Die Naturwis-   Problemverständnis. Welche Fehlent-
                      senschaften stoßen bei überlebenstech-        scheidungen werden getroffen, von
                      nisch derart unlogischem Verhalten schnell    wem und warum?
                      an ihre Grenzen. Die Sozialwissenschaften
                      müssen übernehmen und spätestens ab
                      hier lautet die Kernfrage: Warum tut der
                      Mensch, was er tut?

                      Darauf Bezug nehmend stellte Andrea
                      Mannberg, Verhaltensökonomin an der Uni-
                      versität Tromsø, in ihrem VSSW-Vortrag dar,
                      dass sich einige Standardkonzepte aus
                      ihrem Fachgebiet gut in den Skitourenkon-
                      text übertragen lassen:

                      y Present Bias beschreibt die menschliche
                      Tendenz, die Gegenwart gegenüber der Zu-
                      kunft höher zu bewerten. Aktuelle Wünsche
                      und Bedürfnisse möchten sofort befriedigt
                                                                                                                                                    unsicherheit

Fotos: Archiv Hartl

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Slides aus der VSSW-Präsentation von Andrea Mannberg, die verhaltensökonomische Konzepte auf den Lawinenkontext anwendet.

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     Jerry Johnson, Professor für Politikwissen-         Diese bekommt man beispielsweise, indem              und ob sie als Staub- oder Nassschneelawi-
     schaft in Montana, empfahl die Lektüre von          man Wetterstationen aufstellt. Die entspre-          nen im Tal ankommen. Das ist spannende,
     Ian McCammon’s Arbeit über heuristische             chende sozialwissenschaftliche „Messtech-            wichtige Forschung. Allerdings sind für Win-
     Fallen. McCammon’s Arbeit gilt als Stan-            nik” ist ein weiteres wiederkehrendes The-           tersportler*innen, die sich entscheiden
     dardwerk zu psychologischen Fallen (auch            ma in den VSSW-Vorträgen: Wie gestaltet              müssen, ob sie weitergehen oder umdre-
     unter dem Akronym FACETS bekannt), in die           und verbreitet man Umfragen zu Lawinen-              hen, die Feinheiten der Fluidmechanik
     wir in Lawinengelände immer wieder tappen           themen so, dass die Zielgruppe sie beant-            wenig relevant. Zumindest jenseits des
     (McCammon, 2002). Seine Ideen sind intui-           wortet? Welche technischen Tools (GPS                Grundprinzips „Schnee bewegt sich – hof-
     tiv verständlich und dadurch eindrucksvoll.         Tracking, automatische Kameras) kann man             fentlich nicht mit mir – den Berg hinunter”
     Aber, so betonte Johnson, sie erklären              sich zu Nutze machen, um das Verhalten               und von Gleichungen wie: „Neuschnee +
     weder alle Unfälle, noch genügen sie den            von Wintersportler*innen im Gelände sys-             Wind = Schneebrett”. Schneephysikalische
     Standards formaler Wissenschaft, etwa weil          tematisch zu untersuchen?                            Modelle können uns erklären, wie die La-
     die Definitionen schwammig sind. Auch                                                                    wine entsteht und sich bewegt, aber nicht,
     Laura Maguire vom Cognitive Systems Engi-           Schnee, Mensch, Mensch im Schnee                     warum wir in den potenziellen Lawinenhang
     neering Lab an der Ohio State University                                                                 überhaupt hineinfahren, mal angenommen,
     (USA) deutete in ihrem Vortrag an, dass be-         Was den Menschen und seine Entscheidun-              wir haben den Lawinenlagebericht gelesen
     stehende Verhaltensmodelle in der Lawi-             gen im Schnee angeht, bleiben bei der                und verstanden (auch kommunikationswis-
     nenkunde der Komplexität des menschli-              VSSW viele Fragen offen, auch wenn das ge-           senschaftliche Forschung zur möglichst ef-
     chen Tuns am Berg nicht gerecht werden.             zielte Stellen von Fragen als wichtiger Schritt      fektiven Gestaltung des Lageberichts wurde
                                                         in Richtung Antworten zu sehen ist. Beim             präsentiert). In Summe waren die beiden
     Der Wunsch nach einer wissenschaftlichen            Schnee dagegen sind Prozessverständnis               großen Themenfelder – nennen wir sie pla-
     Formalisierung bislang vor allem intuitiver         und Modelle vergleichsweise hoch entwik-             kativ „Schnee” und „Mensch” – in den Vor-
     Paradigmen zieht sich durch viele der sozial-       kelt. Wir wissen bei weitem nicht alles, aber        trägen des VSSW 2020 etwa gleich stark
     wissenschaftlichen VSSW-Vorträge. Es fehlt          mittlerweile doch ziemlich viel. Um nur ein          vertreten, mit einem leichten Überhang bei
     dafür in erster Linie die Datengrundlage.           Beispiel zu nennen: Jan-Thomas Fischer vom           „Mensch”. Wenn man den V bzw. ISSW als
     Die Lawinenkunde kann sich sozialwissen-            Österreichischen Bundesforschungszentrum             verdichtete Version aktueller Lawinenfor-
     schaftliche Modelle und Methoden aus un-            für Wald (BFW) stellte in seinem VSSW-Vor-           schung interpretiert, kann man wohl sagen:
     terschiedlichen Fachrichtungen ausleihen,           trag ein analytisches Modell für den Ener-
     aber um diese auf das Thema „Mensch am              gieaustausch in gravitativen Massenbewe-             Der Mensch hat in der Lawinenkunde
     Berg” anzuwenden und speziell dafür wei-            gungen vor (Fischer et al., 2018). Er berech-        deutlich an Bedeutung und wissen-
     terzuentwickeln, braucht es mehr Informa-           net, wie warm oder kalt Lawinen sind und             schaftlicher Aufmerksamkeit gewonnen.
     tionen über, nun ja, Menschen am Berg.              gewinnt dadurch Erkenntnisse zu ihrem                Vielleicht auch, weil wir über den Men-
     In den Naturwissenschaften ist das prinzi-          Fließverhalten, die sich in Zukunft vielleicht       schen als Lawinenfaktor gegenüber
     piell genauso. Um Modelle zu kalibrieren            nutzen lassen, um besser abzuschätzen, bis           dem Schnee noch vergleichsweise
     und zu überprüfen, braucht man Daten.               wohin Schadenslawinen vordringen können              wenig wissen.                          ■

     Literatur
     Fischer, J. T., Kaitna, R., Heil, K., & Reiweger, I. (2018). The heat of the flow: Thermal equilibrium in gravitational mass flows.
     Geophysical Research Letters, 45(20), 11-219.
     McCammon, I. (2002). Evidence of heuristic traps in recreational avalanche accidents. In: International snow science workshop,
     Penticton, BC, 30 Sept –4 Oct

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