Digitalisierung aus Patientensicht - D.U.T.-Report
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142 Digitalisierung aus Patientensicht Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2020 Digitalisierung aus Patientensicht Technologie und Fortschritt haben bei Er- Lisa Schütte – aus dem Leben Montagmorgen, 6 Uhr. Mein Smartphone krankungen wie Diabetes schon immer weckt mich mit meinem Lieblingslied. Nach- eine wichtige Rolle gespielt. Diabetes dem ich den Wecker mit noch müden Augen scheint prädestiniert dafür, aufzuzeigen, ausgeschaltet habe, wische ich mit dem Fin- ger nach rechts. Ich sehe meinen aktuellen wie die Digitalisierung das Leben von Gewebezucker: 95 mg/dl (5,3 mmol/l). Als ich chronisch Kranken im Alltag erleichtern das Smartphone quer halte, erscheint die Ge- kann – aber auch nicht immer. webezuckerkurve aus der Nacht. Sie verlief ru- hig, ich konnte durchschlafen. Zum Frühstück gibt es Kaffee und Obst. In meiner Pumpe ist ein Lisa Schütte, Kassel, Dr. Katrin Kraatz, Mainz, Bolus-Rechner integriert, der mir hilft, die rich- Dr. Jens Kröger, Hamburg tige Insulindosis anzupassen. In weniger als ei- ner Minute ist das Insulin auf dem Weg in mei- nen Körper. Gleichzeitig reduziere ich meine Ba- salrate, denn ich weiß, dass ich gleich zu Fuß zur Uni muss. Bevor ich die Wohnung verlasse, werfe ich noch einen Blick auf mein Handy. Ge- webezucker bei 110 mg/dl (6,1 mmol/l), Trend- pfeil steigend. Perfekt für einen strammen Spa- ziergang. Die abgesenkte Basalrate habe ich so getaktet, dass meine normale Rate läuft, wenn ich die Uni erreiche. Während der Vorlesung vi- briert es an meinem Handgelenk, auch auf mei-
Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2020 Digitalisierung aus Patientensicht 143 Mobil ner Smartwatch habe ich meine Gewebezucker- daten: 180 mg/dl (10,0 mmol/l). Das Frühstück Begriffsdefinitionen Follower: regelmäßiger Empfänger einer habe ich wohl etwas unterschätzt. Der Bo- Nachricht; verfolgt aktuelle Gewebezucker- lus-Expert hilft mir erneut, die Korrektur an das daten eines Anderen noch wirksame Insulin anzupassen. Niemand im rtCGM: real-time continuous glucose moni- Saal bekommt etwas davon mit, auch nicht mei- toring ne Sitznachbarin. Als mein Wert zunächst noch iscCGM: intermittent-scanning continuous etwas steigt, vibriert es erneut. Dieses Mal ist glucose monitoring es eine Nachricht von meinem Partner, der ei- HybridClosedLoop: Insulinpumpe mit nige Kilometer entfernt ist. Er fragt, ob ich ge- rtCGM-System; regelt Glukoseverläufe auto- sehen habe, dass mein Wert gerade steigt. Ich matisch über die Abgabe von Insulin oder das hatte ihn um diese Motivationshilfe gebeten Stoppen der Insulinzufuhr und teile meine Gewebezuckerdaten in Echt- DIYClosedLoop: Do-it-yourself-Closed-Loop; zeit mit ihm. „Korrektur ist raus, danke!“ von Patienten selbst gebautes System für die automatische Abgabe von Insulin Am Nachmittag möchte ich in die Sauna. Da es #WeAreNotWaiting: Online-Community/Be- für mich eine Premiere ist, frage ich vorher in wegung rund um DIY-Closed-Loop-Systeme der Online-Community nach Erfahrungen: „Wie Looper: Patienten, die sich ein Closed-Loop- macht ihr das, wenn ihr in die Sauna geht? Hal- System selbst gebaut haben ten die Sensoren? Wo lasst ihr eure Pumpen? OnlineCommunity: Diabetesblogs, Diabe- Braucht ihr zwischendurch Insulin? Habt ihr ei- tes-Facebook-Seiten und -Gruppen, Diabe- nen Pen dabei?“ Nur wenige Minuten später tes-Instagram-Accounts und Foren entsteht eine angeregte Diskussion mit mehre- ren Gleichgesinnten. Einige Tipps finde ich sehr hilfreich und entscheide mich, sie, auf meine
144 Digitalisierung aus Patientensicht Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2020 Bedürfnisse angepasst, auszuprobieren. Nach der Sauna teile ich meine Erfahrungen eben- falls mit der Community. Es macht Spaß, den anderen von meinem kleinen Alltagserfolg zu berichten. Mit ein paar Klicks erteile ich meinem Diabetes- Team ebenfalls die Erlaubnis, sich meine Gewe- bezuckerdaten anzusehen, denn morgen steht mein Quartalsbesuch in der Praxis an. So kann meine Diabetologin schon vorher einen Blick auf die vielen Daten werfen, und wir beide sind auf demselben Stand. Mittlerweile treffe ich mich auf Augenhöhe mit meiner Ärztin. Ge- meinsam analysieren wir meine Daten und gu- cken, ob und wo ich von einer Anpassung pro- fitieren könnte. Seitdem ich ein rtCGM-System trage, hat sich mein HbA1c kontinuierlich ver- bessert. Es macht mir Spaß, mich mit der Tech- nik und den kleinen Spielereien auseinanderzu- setzen. Dadurch macht sogar das Diabetesma- nagement wieder Spaß, was sich auch in meiner „Time in Range“ widerspiegelt. Nicht nur mei- ne Ärztin, sondern auch ich bin zufrieden. Bevor Installieren ich schlafen gehe, werfe ich noch schnell einen Blick auf meine Smartwatch. Alles gut. Ein paar Abende später sitze ich gebannt vor dem Computer. Mithilfe der Community und viel Literatur installiere ich gerade eine App auf meinem Smartphone, daneben liegen eine älte- re Insulinpumpe und ein kleiner, weißer Kasten. Ich bin gerade dabei, mir ein DIY-Closed-Loop- System zu bauen. Nur ein paar Tage später ha- be ich die Verbindung zwischen Insulinpumpe und Smartphone hergestellt. Zum Frühstück wird mein Bolus nun mithilfe der Smartwatch abgegeben, und die Basalrate für den Fuß- weg wird aktiviert. Wieder vibriert es an mei- ner Hand, während ich dem Dozenten an der Uni zuhöre. Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass mein Gewebezucker gerade fällt. Sie zeigt mir auch, dass das Closed-Loop-System die In-
Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2020 Digitalisierung aus Patientensicht 145 sulinabgabe bereits unterbrochen hat. Für mich Das klassische Blutzuckermessen scheint schon selbst besteht erst mal kein Handlungsbedarf. fast veraltet, im schnelllebigen Alltag heute Auch beim Sport werfe ich immer wieder einen kaum noch richtig umsetzbar. Zwar ersetzen kurzen Blick auf meine Smartwatch, um mei- die rtCGM-Daten die Blutzuckerwerte noch nen Gewebezucker im Blick zu behalten. Doch nicht vollkommen, aber sie ermöglichen den als ich nachmittags vom Sport nach Hause kom- Patienten auch in heikleren Situationen einen me, verhält sich mein Gewebezucker anders als schnellen Kontrollblick. Situationen wie das Au- gewohnt. Ich bin genervt und kann mir die ak- tofahren können damit entschärft werden. Und tuelle Situation nicht richtig erklären. auch für Angehörige ist die neue Technologie Wieder sitze ich vor dem PC und mache meinem eine Unterstützung. Durch Follower-Funkti- Ärger Luft. Das muss jetzt einfach raus. Danach onen können Eltern, Großeltern, Partner und geht es mir besser. Als ich wenig später lese, andere Angehörige die Gewebedaten selbst im dass es anderen manchmal genauso geht wie Blick behalten. So müssen Kinder zum Beispiel mir, bin ich beruhigt. Der Frust hat sich gelegt. nicht jede Nacht zum Blutzuckermessen ge- Anschließend habe ich wieder mehr Kraft, mich weckt werden, und auch Eltern können beru- mit meinem Diabetes auseinanderzusetzen. higter schlafen. Digitalisierung in der Diabetes Die Digitalisierung meiner therapie – der aktuelle Stand Diabetestherapie hat Die Digitalisierung meiner Diabetestherapie hat nicht nur begonnen, sie nicht nur begonnen, sie ist im vollen Gange. ist im vollen Gange. Schlauchpumpen, Patchpumpen, smarte Pens, rtCGM-Sensoren, iscCGM-Sensoren, Smartpho- Integrierte Bolusrechner und Apps erleichtern ne, Smartwatch, Online-Communitys und selbst das Leben mit Diabetes im Alltag zusätzlich. gebaute Closed-Loop-Systeme sind mittlerwei- Wer sich durch den App-Dschungel gekämpft le keine Ausnahmen mehr im Alltag von Men- und für die passende App entschieden hat, schen mit Diabetes. Es ist nicht nur bequem der kann Hilfe beim Berechnen der Insulindo- und unauffällig, seine Gewebezuckerdaten sis oder Kohlenhydrate bekommen. Mit Fotos vom Handgelenk ablesen zu können – all die- und Notizen werden Diabetes-Tagebücher in- se Daten ermöglichen heute eine ganz andere formativer als früher. Und durch die Synchro- Therapie. Unentdeckte Fehlerquellen werden nisation der rtCGM-Daten ist ein zusätzliches endlich entdeckt und können aufgeschlüsselt Protokollieren meist überflüssig. All diese Da- werden: Erscheinungen wie das Dawn-Phäno- ten sind permanent auf dem Smartphone ab- men, Hypoglykämien oder zu hohe postprandi- rufbar. ale Glukosewerte. Es ist einfacher, herauszufin- den, ob ein Spritz-Ess-Abstand benötigt wird Patienten ergreifen Initiative – der Weg und wie lang er sein sollte. Alarme erscheinen in die Zukunft ganz dezent auf dem Smartphone-Display und Eine weitere Dimension ist die #WeAreNot- die Smartwatch vibriert am Handgelenk. So Waiting-Bewegung [Lewis 2019]: Patien- können sich Betroffene unauffällig alarmieren ten, die sich mit bestehender Hardware selbst lassen und haben dennoch ihre Werte im Blick. Closed-Loop-Systeme zusammenbauen. Diese
146 Digitalisierung aus Patientensicht Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2020 Systeme sind nicht offiziell auf dem Markt er- motivierend? Sind sie frustrierend? Eigenes Er- hältlich, und jeder L ooper geht ein gewisses Ri- leben der Autorinnen und Berichte vieler aus siko ein [Biester 2018, The open project]. Doch der Diabetes-Community lassen weder die ei- die ersten Studien [Braune 2019] zeigen, dass ne noch die andere Antwort eindeutig zu – es sich der Aufwand lohnt: Betroffene berichten ist von allem etwas. Wer die Diabetologie von von einem nahezu normalen Leben, einem Le- vor 50 Jahren im Blick hat (wie eine der Auto- ben mit weniger Komplikationen und besseren rinnen), weiß, dass es damals außer der Urin Glukosewerten. Die DIY-Closed-Loop-Systeme zuckerkontrolle keine Möglichkeit gab, den schließen die Schleife und sorgen somit auto- Glukosestoffwechsel zu überwachen. Hypo matisch für eine gute Glukoseeinstellung. Die glykämien zeitnah zu entdecken, ging nur über Insulindosis wird permanent an den aktuellen ein vages Gefühl. Hyperglykämien zeigten sich Gewebezucker angepasst. Der Mensch mit Dia- nur über grüne bis fast schwarze Urin-Papier- betes wird, so gut es geht, immer auf seinen in- teststreifen. Der Frust war dadurch immer wie- dividuellen Zielwert gebracht. Auch wenn diese der recht groß, weil man erstens nicht wusste, Systeme längst nicht offiziell für alle Patienten wie lange die Werte über der Nierenschwelle zur Verfügung stehen, ist die MiniMed 670G als lagen, und zweitens, ob der Wert immer noch Hybrid-Closed-Loop-System der erste offiziel- hoch war oder eigentlich schon im Begriff zu le Schritt in die richtige Richtung [Bally 2017]. fallen. All das änderte sich mit der zunehmen- den Technologisierung und erst recht mit der Das klassische Digitalisierung. Endlich konnten wir sehen, in Blutzuckermessen welcher Höhe die aktuellen Glukosewerte la- scheint fast veraltet, gen – und heute mit den CGM-Systemen se- im schnelllebigen hen wir sogar, in welche Richtung sie sich be- Alltag heute kaum wegen. noch umsetzbar. „Alte Hasen“ und „Digital Natives“ Blickt man zurück, hat sich gerade in den letz- Und hier muss man wahrscheinlich die Empfin- ten Jahren das Leben von Menschen mit Diabe- dungen der Betroffenen differenziert betrach- tes sehr gewandelt. Und trotzdem kann noch ten, wobei hierzu keine Studiendaten vorliegen. viel mehr passieren. In den nächsten Jahren Wer als Langzeitdiabetiker, also als „alter Hase“, wird die Digitalisierung in der Diabetesthera- eben die Situation mit dem „Stochern im Glu- pie voranschreiten und das Leben mit Diabetes kosenebel“ kennt, wird froh sein, heute Klarheit ein wenig einfacher machen. Durch die Technik über seine jeweils aktuelle Situation zu haben. mag all das für Außenstehende aussehen wie Aus persönlicher Sicht bedeutet dieser Schritt die normale Bedienung von Smart-Devices, der Digitalisierung eine sehr große Motivati- doch für Menschen mit Diabetes ist es ihr Ge- onshilfe – weil man bis zu einem gewissen Grad sundheitsmanagement. agieren kann, und nicht nur reagieren. Auch das Gefühl der Sicherheit ist durch die Digitalisie- Motivation, Frustration? rung extrem gestiegen. Was bedeutet diese Entwicklung für uns Be- Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die in troffene? Sind Fortschritt und Digitalisierung diese Zeit der digitalen Diabeteswelt hineinge-
Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2020 Digitalisierung aus Patientensicht 147 Schnelllebiger Alltag boren sind, die „Digital Natives“. Für sie ist es talisierung der Insulinabgabesysteme bekom- normal, immer alle Glukosewerte verfügbar zu men kann. haben – und hohe Werte und starke Schwan- kungen werden unter Umständen nicht als Wer als Langzeitdia- Therapiemotivation wahrgenommen, sondern betiker „Stochern im als Bedrohung und vielleicht dadurch als The- Glukosenebel“ kennt, wird rapiefrust und -unlust. froh sein, heute Klarheit über seine jeweils aktuel- Digitalisierung erleichtert den Alltag le Situation zu haben. Auch der Schritt von auszukochenden Glas- spritzen mit Metallgehäuse über Einwegsprit- Nicht ohne Grund hört man nur sehr wenige Be- zen und Insulinpens zu Insulinpumpen war nur richte von Menschen, die mal eine Insulinpum- durch die Digitalisierung möglich. Das Pro- pentherapie durchgeführt haben und dann frei- grammieren einer Basalrate funktioniert eben willig wieder zu einer Therapie mit Insulinpen nur mit einer Software und alle anderen Funk- zurückgekehrt sind. Denn die Behandlungsqua- tionen, die wir heute in Insulinpumpen nut- lität, die Lebensqualität und die Flexibilität sind zen können, erfordern ebenfalls digitale Sys- für viele mit einer Insulinpumpentherapie viel teme. So konnte auch die Insulintherapie im- größer als ohne dieses digitale Hilfsmittel [Shah mer genauer und feiner dosiert werden, und 2016]. Hingegen bekommt man bei Neudiag- Bolusrechner erleichtern den Alltag mit Dia- nostizierten eher mal mit, wie sie über die Pro- betes [Shah 2016]. Und auch hier gilt: Wer die bleme mit Insulinpumpen diskutieren: Es hängt alten Zeiten noch kennt und selbst erlebt hat, immer etwas an einem dran! Der Schlauch stört! weiß, welchen Motivationsschub man durch Das Gerät ist viel zu groß! Wo soll ich in der die zunehmende Technologisierung und Digi- Nacht damit hin? Und so gibt es viele Punkte
148 Digitalisierung aus Patientensicht Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2020 mehr. Weil die Verfügbarkeit der Insulinpum- oder schwankenden Glukosewerte und auch pen heute eine Selbstverständlichkeit ist, wer- die Hypoglykämien, die einem heute deutlich den die Vorteile nicht immer sofort gesehen – vor Augen geführt werden – früher wusste man und der damit mögliche Motivationsschub. einfach nicht immer etwas davon. Erhöhte Sicherheit Auch wenn aus unserer Der jüngste Schritt in der fortschreitenden Di- Sicht die Digitalisierung gitalisierung ist die Kombination von Insulin- die Diabetestherapie pumpen mit CGM-Systemen als kommerzielle deutlich vorangebracht Hybrid-Closed-Loop-Systeme oder nicht kom- hat, bringt sie doch merziell verfügbare Closed-Loop-Systeme. Dies manchmal auch Frust. brachte noch einmal einen großen Motivations- schub. Denn die Sicherheit wird weiter erhöht, Zum anderen bedeutet Digitalisierung auch Ab- immer bessere Therapieergebnisse werden er- hängigkeit: Unser Leben vertrauen wir der Tech- möglicht, und dies erhöht weiter die Motivati- nik an – und müssen uns auf sie verlassen können. on zu einer guten Diabetestherapie. Aber jeder weiß: Technik funktioniert nicht immer zuverlässig, auch kann sie komplett ausfallen. Das Mit Apps leichter Tagebuch führen bedeutet, dass wir unseren Diabetes mehr im Blick Auch Apps können, unabhängig vom Diabetestyp, haben müssen, um solche Situationen zu erkennen einen positiven Einfluss auf die Diabetestherapie und bei Bedarf einschreiten zu können. Gute Schu- und das eigene Empfinden haben [Adu 2018]. Sie lung ist deshalb eine der Grundvoraussetzungen – können z. B. das Führen eines Diabetestagebuchs auch im digitalen Zeitalter. erleichtern, weil einfach alles schnell im Alltag im Smartphone erfasst wird. Ein Heft mit Stift, wie Bedarf, Erfahrungen auszutauschen wir es früher benötigten, oder große Tagebuch- Ein weiterer Bereich, der sich durch die Digi- blätter, die wir abends aus der Erinnerung ausfüll- talisierung verändert hat, ist der Bereich der ten, sind so nicht mehr nötig. Das hat zum einen Selbsthilfe – die für viele ebenfalls eine wich- den Vorteil, dass die Angaben in der App wahr- tige Rolle im Diabetesmanagement spielt. Die scheinlich zuverlässiger sind, weil sie aktuell ein- Möglichkeiten, die Diabetiker heute haben, um gegeben werden. Zum anderen bedeutet das ak- Erfahrungen und Wissen auszutauschen und so tuelle Beschäftigen mit den Daten, dass man sich Selbsthilfe zu leisten, sind mit den Möglichkei- immer wieder mit dem Glukoseverlauf und seinen ten vor 30 oder 40 Jahren nicht zu vergleichen: Therapiedaten auseinandersetzen muss, sodass Internet gab es nicht, an digitale Selbsthilfe war der Diabetes präsenter im Alltag bleibt. nicht zu denken. Aber der Bedarf, andere Dia- betiker kennenzulernen, sich mit ihnen über ih- Abhängig von der Technik re Erfahrungen zu unterhalten und voneinander Aber natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt: zu profitieren, bestand genau wie heute. Auch wenn aus unserer Sicht die Digitalisierung die Diabetestherapie deutlich vorangebracht Grenzen der digitalen Selbsthilfe hat, bringt sie doch manchmal auch Frust. Da Geht es um Ratschläge der Betroffenen unterei- sind zum einen die bereits erwähnten hohen nander, sind der Selbsthilfe eindeutige Grenzen
Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2020 Digitalisierung aus Patientensicht 149 gesetzt, was für digitale, aber auch „analoge“ so jeder Interessierte unmittelbar sein Wis- Selbsthilfegruppen gilt. Konkrete Therapieemp- sen auf den neuesten Stand bringen kann. Frü- fehlungen sind verboten – analog wie digital: z. B. her mussten solche Informationen, oft kosten- das Nennen einer konkreten Insulindosis für eine pflichtig, bei den Fachgesellschaften oder Ver- bestimmte Mahlzeit, das Empfehlen einer neu- lagen telefonisch oder per Brief angefordert en Basalrate in einer Insulinpumpe mit konkreter werden – wenn man denn überhaupt wuss- Dosisnennung oder auch konkrete Angaben über te, dass es diese Informationen gab. Um sie zu die Algorithmus-Programmierung für ein Closed- verteilen, konnte man entweder gleich meh- Loop-System. Denn sie können zu gravierenden rere Exemplare bestellen oder sie, wiederum Folgen führen, gerade wenn der Fragende noch meist kostenpflichtig, kopieren. Einen großen unerfahren ist und die Antworten und Empfeh- Anteil daran hatte die organisierte Selbsthilfe. lungen sachlich nicht einordnen kann. Die virtuel- Sie verfügte über die Informationen, die man le Selbsthilfe hat also durchaus Einschränkungen, als Diabetiker brauchte, sie versorgte einen mit auch wenn sie so leicht verfügbar ist. vielen Broschüren und Kontaktdaten, organi- sierte Selbsthilfegruppen vor Ort und unter- Fachinformationen schnell verfügbar stützte deren Gründer. Auf der anderen Seite können Betroffene viel schneller Fachinformationen untereinan- Reale Treffen trotz Unabhängigkeit im der austauschen wie Leitlinien oder Empfeh- Internet wichtig lungen und Statements der Fachgesellschaf- Auch heute noch stellt die organisierte Selbst- ten – indem sie einfach den Interessierten den hilfe vor Ort einen der Grundpfeiler der Diabe- Link zur entsprechenden Seite mitteilen und tesversorgung dar. Doch gerade jüngere und Unabhängigkeit
150 Digitalisierung aus Patientensicht Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2020 berufstätige Menschen scheinen die Unabhän- Was wollen Menschen mit gigkeit von Zeit und Ort, die sie im Internet Typ-2-Diabetes? finden, zu bevorzugen. Wir Autorinnen mer- Laut einem telefonischen Gesundheitssurvey ken selbst, wie viel schneller man sich vernet- des Robert Koch-Instituts 2006 waren etwa zen und Erfahrungen austauschen kann. Oft 7,5 % der erwachsenen Bevölkerung Deutsch- wird sogar von Bloggern über nächtliche Fo- lands schon einmal Teilnehmer einer Selbst- rendiskussionen berichtet – die in der klassi- hilfegruppe [Ellert 2006]. Würden sich 7,5 % schen Selbsthilfe nicht möglich wären. Und der aktuell ca. 6,7 Mio. Menschen mit Diabe- wie persönliche Berichte zeigen, können Inter- tes mellitus Typ 2 in Deutschland in Selbsthilfe- netplattformen und -foren manchen Betroffe- gruppen organisieren, hätten wir über 500 000 nen nach der Diagnose richtiggehend den Le- Menschen mit Diabetes, die ihre Stimme kon- bensmut zurückgeben, nachdem sie zuvor in zertiert erheben könnten. Das hätte politisches ein tiefes Loch gefallen waren [Bauer 2018]. Gewicht. Denn der Druck auf die Politik kann sich nur durch eine starke Patientenstimme er- Internetplattformen und höhen. Aktuell sind aber nur ca. 40 000 Men- -foren können Betrof- schen Mitglieder in der klassischen Selbsthilfe, fenen nach der Diagnose und die Zahlen fallen. den Lebensmut zurück- Menschen mit Typ-2-Diabetes in der geben. neuen digitalen Community Aber trotz der Vernetzung im digitalen Raum, Die positive digitale Transformation der Selbst- der über weite Entfernungen funktioniert, hilfe ins Social-Media-Zeitalter hat es bisher problemlos auch über Länder- und Kontinent- bei Menschen mit Typ-2-Diabetes nur verein- grenzen hinweg, gibt es auch heute noch den zelt gegeben. Damit haben sie weniger Mög- Wunsch, sich wieder, wie bei der klassischen lichkeiten, sich auszutauschen und ihre Wün- Selbsthilfe, real zu treffen – Veranstaltungen sche, Probleme und Bedürfnisse hinsichtlich ei- wie „Stammtische“ als kleineres Format oder ner besseren Versorgung zu artikulieren. Dies „Barcamps“, unter Umständen mit digitaler gilt auch im Hinblick auf zukünftige digitale Verlängerung zum Beispiel durch Livestream, Therapieoptionen. Sowohl im Bereich der Prä- als größeres Format, finden Zulauf und wer- vention als auch der Therapie gibt es vielfälti- den gern genutzt. Den Austausch von Mensch ge digitale Möglichkeiten, zum Beispiel Apps, zu Mensch empfinden viele eben auch heute welche im Hinblick auf die Prävention und Un- noch als sehr wertvoll und nicht durch den terstützung zur Lebensstilintervention genutzt Austausch in der virtuellen Welt vollständig werden können. Auch Menschen mit Typ-2-Dia zu ersetzen. Auch klassische Diabetikertage betes mit einer intensivierten Insulintherapie werden weiterhin gut besucht. Und so wird können vom kontinuierlichen Glukosemonito- es neben den vielen und nicht mehr zu zäh- ring (rtCGM, iscCGM) nach strukturierter Schu- lenden Internetangeboten zum Thema Diabe- lung profitieren. tes mit Vernetzung der Betroffenen unterei- Vorstellbar ist auch, dass das intermittieren- nander weiterhin auch Treffen im realen Le- de kontinuierliche Glukosemonitoring hilfreich ben geben. im Rahmen der Prävention oder beim manifes-
Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2020 Digitalisierung aus Patientensicht 151 ten Typ-2-Diabetes bei alleiniger Ernährungs- therapie, Bewegungstherapie und Therapie mit oralen Antidiabetika ist. In der Zukunft werden auf der Basis von CGM-Daten Computer hinzu- gezogen werden, die per App von Menschen mit Diabetes mit biometrischen Daten versorgt werden können wie Alter, Diabetesdauer, Grö- ße, Body-Mass-Index (BMI) usw. In der Com- puterbibliothek befinden sich Datenbanken zu Mahlzeiten, zu therapeutischen Leitlinien und zu verschiedenen Pharmaka. Der Mensch gibt über die App verschiedene Alltagsdaten ein wie Mahlzeiten, Insulindosis, körperliche Aktivität, Schlafverhalten, Stress usw. Aus der Kenntnis dieser Daten berechnet der Computer Maßnah- men zur bestmöglichen glykämischen Regula- tion und schlägt diese dem Menschen mit Dia- betes vor – ob er sie nutzen will, entscheidet er selbst. Wir müssen es schaffen, das Ohr ganz nah an Digitale der Basis zu haben, um zu wissen, was die Allianz Menschen mit Typ-2- Diabetes bewegt. Um Menschen mit Typ-2-Diabetes mehr Gehör zu verschaffen, hat diabetesDE – Deutsche Dia- betes-Hilfe zusammen mit wichtigen Playern im Gesundheitswesen begonnen, eine „Digitale Al- lianz Typ 2“ aufzubauen. www.diabetesstimme.de: Dein Diabetes, Deine Stimme, Dein Leben Hierfür wurde mit www.diabetes-stimme.de (Dein Diabetes, Deine Stimme, Dein Leben) ei- gens eine neutrale Website geschaffen. Zu The- men, die die Menschen mit Diabetes bewegen, werden hier zukünftig E-Mail-Aktionen initiiert, die von Befürwortern digital unterstützt wer-
152 Digitalisierung aus Patientensicht Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2020 den können. Wir müssen es daher schaffen, das Zeit hatten über 1 500 Teilnehmer an der Umfra- Ohr ganz nah an der Basis zu haben, um immer ge teilgenommen. zu wissen, was die Menschen mit Typ-2-Diabe- Die Ergebnisse zeigen, dass es eine Reihe von De- tes bewegt. Viele Betroffene fühlen sich z. B. in fiziten in der Diabetesversorgung gibt, welche der Gesellschaft ausgegrenzt, von der sie glau- durch eine digitale Community zum einen adres- ben, dass sie ihnen eine Schuld an der Krankheit siert werden können, zum anderen aber auch in zuweist, und schweigen deshalb. Wer sich stig- politische Forderungen übersetzt werden können: matisiert und isoliert fühlt, dem fällt es schwer, Forderungen zu formulieren. Ganz pragmatisch Menschen mit Typ-2-Diabetes beklagen Wis- fehlt vielen auch eine individualisierte Bera- sensdefizite über den Diabetes und fühlen sich tung und Schulung. Wenn Millionen Betrof- nicht angemessen vertreten: fene sich nicht äußern und protestieren, wird • 86 % fühlen sich nicht angemessen in der sich nichts ändern. Foodwatch oder Greenpea- Politik vertreten; ce machen es vor und bringen zu Themen wie • 89 % halten die Öffentlichkeit hinsichtlich „Schluss mit Glyphosat“ in kürzester Zeit über des Themas Diabetes mellitus für nicht gut 100 000 digitale Stimmen hinter sich, politisch informiert; ein schweres Gewicht. Mit dem großen Netz- • 84 % sind der Meinung, dass die Öffent- werk, das diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hil- lichkeit das Thema „Diabetes“ nicht ernst fe initiiert hat, kann eine digitale Bürgerbetei- nimmt; ligung für das Thema Typ-2-Diabetes gelingen. • 64 % wünschen sich mehr Aufklärung über Dazu müssen wir jedem Einzelnen klarmachen: die Diabeteserkrankung. Es ist „Dein Diabetes, Deine Stimme, Dein Le- ben“! Nutze sie! Eindrucksvoll sind die Ergebnisse, wenn es um Ernährung und Schulung geht: Millionen mobilisieren: zuhören – • 83 % der Befragten ist die Ernährung wichtig; planen – handeln • 48 % der Befragten wünschen sich eine in- Bei der AG Digitale Allianz Typ 2 sollen Menschen dividuelle Ernährungsberatung; für eine gemeinsame Sache mobilisiert werden. • 36 % haben bislang keine für sie passende Das kann nur gelingen, wenn wir genau wissen, Ernährungsberatung erhalten; „wo der Schuh drückt“. • 65 % der Befragten haben noch an gar kei- ner Schulung teilgenommen, weil ihnen Bei der AG Digitale diese bislang nicht angeboten wurde. Allianz Typ 2 sollen Men- schen für eine gemein- Menschen mit Typ-2-Diabetes haben klare For- same Sache mobilisiert derungen an die Politik: werden. • 78 % fordern eine verständliche Nährwert- kennzeichnung für Lebensmittel; Deshalb hat diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hil- • 86 % sind der Ansicht, dass die Industrie in fe eine speziell auf die Zielgruppe der Menschen die Pflicht genommen werden soll, damit mit Typ-2-Diabetes zugeschnittene Umfrage diese weniger Salz, Fett und Zucker in ihren gemacht [diabetesDE 2019]. Schon nach kurzer Produkten verarbeitet.
Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2020 Digitalisierung aus Patientensicht 153 • 69 % fordern gesündere Ernährungsange- 2. Bally L, Thabit H, Hovorka R: Closed-loop for ty- bote in Kitas, Schulen, Betrieben und Res- pe 1 diabetes – an introduction and appraisal for the generalist. BMC Med 2017; 15: 14. https:// taurants; www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5260117/ • 60 % befürworten eine verständliche Nähr- (Zugriff: 22.10.2019) wertkennzeichnung in Restaurants. 3. Bauer N: Aller Anfang ist schwer. https://www. blood-sugar-lounge.de/2018/11/aller-anfang-ist- Die Mehrheit der Befragten wünscht digitale schwer/ (Zugriff: 24.10.2019) Angebote: 4. Biester T: Künstliche Bauchspeicheldrüse: Selbst bauen oder warten? https://www.diabetes-online. • 55 % wünschen einen Austausch auf einer de/a/debatte-kuenstliche-bauchspeicheldruese- digitalen Plattform; selbst-bauen-oder-warten-1868910. 12.04.2018 • 55 % fordern mehr digitale Gesundheitsan- (Zugriff: 14.10.2019) gebote. 5. Braune K, O’Donnell S, Cleal B, Lewis D, Tappe A, Willaing I, Hauck B, Raile K: Real-world use of do- Erwartungen der Befragten hinsichtlich digita- it-yourself artificial pancreas systems in children and adolescents with type 1 diabetes: online sur- ler Angebote sind: vey and analysis of self-reported clinical out • 29 % der Befragten erwarten eine bessere comes. JMIR Mhealth Uhealth 2019; 7: e14087 Beratung und Behandlung; 6. diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe: Online-Pa- • 18 % erwarten eine bessere Glukosestoff- tientenumfrage Typ 2 Diabetes – vorläufige Aus- wechsellage; wertung. 2019. https://www.diabetesde.org/ • 29 % erwarten eine verbesserte Lebens- system/files/documents/praesentation_umfrage_ pm_webseite_0.pdf (Zugriff: 04.11.2019) qualität. 7. Ellert U, Wirz J, Ziese T: Telefonischer Gesund- heitssurvey des Robert Koch-Instituts (2. Welle). Es bestehen aber auch Sorgen hinsichtlich einer Robert Koch-Institut, Berlin, 2006. https://www. zunehmenden Digitalisierung bei Menschen mit rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/ Typ-2-Diabetes: Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/ • 55 % befürchten eine Beeinträchtigung der gstel04.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff: 04.11.2019) Arzt-Patient-Beziehung; 8. Lewis D: Automated insulin delivery: how ar- • 57 % haben Sorgen, dass die Arztkontakte tificial pancreas “closed loop” systems can aid zu stark reduziert werden; you in living with diabetes (introducing “the APS • 38 % haben Befürchtungen hinsichtlich des book” by @DanaMLewis). https://diyps.org/tag/ Datenschutzes. wearenotwaiting/ (Zugriff: 20.10.2019) 9. Shah RB, Patel M, Maahs DM, Shah VN: Insulin delivery methods: Past, present and future. Int J Pharm Investig 2016; 6: 1 – 9. doi: 10.4103/2230- 973X.176456 Quellen: 10. The open project. https://open-diabetes.eu (Zu- 1. Adu MD, Malabu UH, Malau-Aduli AEO, Malau- griff: 24.10.2019) Aduli BS: Users’ preferences and design recom- mendations to promote engagements with mo- bile apps for diabetes self-management: multi- national perspectives. PLoS One 2018; 13: e0208942. doi: 10.1371/journal.pone.0208942. eCollection 2018
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