DIGITALISIERUNG DER HAUSÄRZTLICHEN VERSORGUNG - ERGEBNISSE DES FORSCHUNGSPROJEKTS "NÄPA" MICHAEL KNOP, BRITTA SAUERWALD, BJÖRN NIEHAVES - DIGITALE ...
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Ausgabe 6, 2021 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung Ergebnisse des Forschungsprojekts „NäPa“ Michael Knop, Britta Sauerwald, Björn Niehaves 1
Inhalt 4 Die Studie 6 Status quo der Gesundheitsversorgung 10 Gemeinsam innovative Lösungen entwickeln 12 Facetten einer digital gestützten Versorgung 22 Die Zukunft gestalten Summary Gerade ländliche Regionen sind immer stärker vom medizinischen Fachpersonalmangel und steigenden Ansprüchen an die Gesundheitsversorgung betroffen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, werden u. a. die Einsatzbereiche digitaler Technologien weiter- entwickelt, durch die medizinische Fachpersonen best- möglich bei einer umfangreichen Patient*innenver- sorgung unterstützt werden. Die vorliegende Studie, die durch den Landkreis Altenkirchen gefördert wird, beschäftigt sich mit der Rolle digitaler Technologien für einen erweiterten Einsatz von Nichtärztlichen Praxisassistent*innen (NäPas) für die ambulante medizinische Versorgung. Sie möchte aufzeigen, welche Tätigkeitsfelder mit Hilfe technologischer Innovationen für NäPas erschlossen werden können und welche Bedeu- tungen digitale Technologien für die Anwender*innen haben. Um dieses Ziel zu erreichen, bildete sich ein Konsortium aus dem Forschungskolleg der Universität Siegen (FoKoS), dem Landkreis Altenkirchen, der AOK Rheinland-Pfalz/Saarland und 11 hausärztlichen Praxen in der Region Altenkirchen. Durch gemeinsame Work- shops, Interviews und Umfragen wurde ersichtlich, dass digitale Technologien dazu dienen können, den Umfang der bisherigen Delegation medizinischer Leistungen zwischen Hausärzt*innen und NäPas zu erweitern. Dies betrifft nicht nur die Diagnostik und Ableitung notwendiger medizinischer Maßnahmen, sondern auch die Kommunikation und Dokumentation in der ambulanten Versorgung. Darüber hinaus stellte die vorliegende Studie fest, dass den NäPas eine beson- dere Rolle in der Vermittlung zwischen Hausärzt*innen und Patient*innen zufällt, die neben objektiven Daten und Prozessen auch die Subjektivität der Behandlung und den hohen Wert menschlicher Fürsorge betont. 2 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung 3
1 Die Studie Für die zukünftige Sicherstellung der gesundheitlichen amt für Soziales, Jugend & Versorgung RLP, 2020). Zur Erreichen dieses Ziels wird die Rolle von innovativen, möglichst umfassendes Bild der aktuellen Lage, möglicher Versorgung in Deutschland allgemein und in ländlichen Ausrichtung der Strategie gegen eine potentielle Unter- digitalen Technologien diskutiert. Digitale Technolo- Verbesserungen der Situation und der daraus resultie- Regionen im Besonderen wird die Bedeutung von digitalen versorgung wird dabei zunehmend die Rolle von Medi- gien können dabei helfen, das Handlungsfeld der NäPas renden Handlungsempfehlungen geschaffen werden. Technologien zur Unterstützung von Patient*innen zinischen Fachangestellten (MFA) in der ambulanten zu erweitern und ihnen gleichzeitig ein erhöhtes Maß und Ärzt*innen vielfach und intensiv diskutiert. Immer Versorgung diskutiert und die Patient*innenversorgung an behandlungsbezogener Sicherheit zu vermitteln, wie Durch Datenerhebungen mit im Landkreis Altenkirchen weiter sinkende Zahlen von Hausärzt*innen auf dem mehr als teambasierte Herausforderung betrachtet denn diese Studie aufzeigen wird. Technologien wie Video- niedergelassenen Ärzt*innen und NäPas konnte dieses Land stehen steigenden Zahlen ärztlicher Kontakte als personenzentrierte (Sheridan et al., 2018). Nichtärzt- konsultationen oder die automatisierte Übertragung umfassende Bild der aktuellen Situation und daraus resul- und einer Zunahme der Fallkomplexität gegenüber liche Praxisassistent*innen (kurz: NäPas) unterstützen von Vitaldaten können dabei eine herausragende Rolle tierenden Verbesserungsvorschläge geschaffen werden, (Adarkwah et al., 2018). Statistiken suggerieren, dass in Hausärzt*innen, indem sie die Patient*innen zu Hause spielen (Kvedar et al., 2014; Pantelopoulos & Bourbakis, das in mehreren Workshops weiter vertieft und konkreti- ländlichen Gebieten ein Drittel aller Hausärzt*innen in aufsuchen und delegierbare ärztliche Aufgaben über- 2010). Darüber hinaus greift diese Studie kritische siert wurde. Generell sprechen die Ergebnisse dieser Studie einem Zeitraum von 5-10 Jahren im Ruhestand sein wird nehmen (Kassenärztliche Bundesvereinigung [KBV], Aspekte der Technologienutzung aus der Perspektive für die Implementierung neuer Organisationsformen (Bundesärztekammer, 2019). Immer mehr Länder reagie- 2020a). Dazu gehören insbesondere die Feststellung der Anwender*innen (Ärzt*innnen und NäPas) auf und und Konzepte der hausärztlichen Versorgung sowie eine ren auf diese prognostizierte Fachpersonalknappheit, und Evaluation des Gesundheitszustands der Patient*in, diskutiert mögliche Ansatzpunkte für eine praktische stärkere Zusammenarbeit von Vertreter*innen unter- indem sie landeseigene Programme zum personellen die teilweise durch das Messen und die Auswertung Umsetzung, die diese Perspektive berücksichtigt schiedlicher Gesundheitsberufe. Digitale Technologien Ausbau als Gegenmaßnahme entwickeln. Das Land patient*innenbezogener Vitalparameter erfolgen. (Heger et al., 2018). Durch die finanzielle Förderung des sind dabei in der Lage, diese Änderungsprozesse zu unter- Rheinland-Pfalz hat hierfür bspw. die Initiative „Land Landkreises Altenkirchen und die daraus resultierende stützen und anzustoßen, während sie letztendlich in indivi- schafft Arzt” ins Leben gerufen, die die rechtlich festge- Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit Möglich- Zusammenarbeit von Politik (Landkreis Altenkirchen), duelle und hoch differenzierte soziale und organisationale legte Landarztquote durch Studienplatzreservierungen keiten, das Aufgabenfeld der NäPas zu erweitern, um Praxis (11 hausärztliche Praxen im Landkreis), Kosten- Strukturen eingebettet werden. Ihre Anschlussfähigkeit an und Stipendien für zukünftige Medizinstudierende der die Hausärzt*in noch mehr zu entlasten und somit die träger (AOK Rheinland-Pfalz/Saarland) und Wissen- solche Strukturen stellt sich als essentieller Faktor ihrer Fachrichtung Allgemeinmedizin beinhaltet (Landes- ländliche ärztliche Versorgung zu verbessern. Zum schaft (Forschungskolleg der Universität Siegen) soll ein Nützlichkeit aus der Perspektive der Anwender*innen dar. 4 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung 5
versorgung politische Initiativen, die den drohenden 100% medizinischen Problemen entgegengestellt wurden. 90% Unter Landrat Michael Lieber (Amtszeit: 2006-2019) 80% und Landrat Dr. Peter Enders (Amtszeit: seit 2019) 70% wurden verschiedene Maßnahmen unter Einbezug 60% der Kreisärzteschaft eingeleitet, darunter Famulatur- 50% Förderungen, die Gründung des Netzwerks „Ärztliche 40% Versorgung im Kreis Altenkirchen” oder der Ausbau von 30% Breitbandverbindungen, der für 98 % der Bürger*innen 20% Verbindungen von mindestens 30 Mbit/s gewährleistet. 10% Den prognostischen Engpässen in der medizinischen 0% 2010 2030 und insbesondere in der hausärztlichen Versorgung über 80 45 bis 64 0 bis 17 in der Region hat sich ebenfalls das Forschungskolleg 65 bis 79 18 bis 44 der Universität Siegen (FoKoS) angenommen. Mit dem Gesamtkonzept „Digitale Modellregion Gesundheit Abb. 1: Prognostische Entwicklung der Altersklasse für das Dreiländereck” (DMGD) erprobt und evaluiert das Jahr 2030 (Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz FoKoS Potentiale digitaler Technologien zur Entlastung [KV RLP], 2020b). der ländlichen Gesundheitsversorgung in Kooperation mit einer Vielzahl von Kommunen und niedergelasse- Während durch diese demographische Entwicklung nen Mediziner*innen. Die Forschungsergebnisse sollen bedingt der Bedarf an medizinischen Leistungen steigt, zeitnah in die Anwendung und schließlich in die Regel- sind ländliche Regionen besonders stark vom Rückgang versorgung der gesetzlichen Krankenkassen überführt hausärztlicher Praxen betroffen. Fehlender Nachwuchs werden, indem der Zugang zu digitalen Innovationen für ländliche Praxen und die Akkumulation von Hau- erleichtert und nötige Infrastrukturen und Anwen- särzt*innen in größeren Städten führen so langfristig dungskompetenzen entwickelt werden. Dabei nehmen zu problematischen Versorgungssituationen auf dem die hausärztlichen Praxen eine Schlüsselrolle ein. Im Land (Adarkwah et al., 2018). Dazu kommt die ebenfalls Projekt „NäPa” haben sich der Landkreis Altenkirchen, 2 Status quo der Gesundheitsversorgung im Wandel befindliche Altersstruktur der ärztlichen das FoKoS, die AOK Rheinland-Pfalz/Saarland und 11 Berufe, die diesen Effekt verstärkt (vgl. Abb. 2). hausärztliche Praxen der Region Altenkirchen zusam- 100% 90% Regionale Strukturen 80% 70+ 65 bis 69 70% Für das Jahr 2019 hat die Ärztestatistik knapp eine Milliarde medizinischen Versorgung, wie etwa die Zunahme 60% 60 bis 64 Kontakte zu niedergelassenen Ärzt*innen in Deutsch- der Fallkomplexität sowie der Rückgang personeller 50% 55 bis 59 land ermittelt (Bundesärztekammer, 2019). Während die Ressourcen, sind auch im Kreis Altenkirchen beobachtbar. 40% 50 bis 54 Zahl der praktizierenden Ärzt*innen in Teilzeit kontinu- 30% 45 bis 49 ierlich steigt, bleibt die Anzahl der Ärzt*innen insgesamt Als nördlichst gelegener Landkreis von Rheinland-Pfalz 20% 40 bis 44 gleich. Dadurch entsteht eine Reduzierung personeller grenzt Altenkirchen direkt an Nordrhein-Westfalen. 6 10% 30 bis 39 Ressourcen. Der demographische Wandel der Bevölke- Verbandsgemeinden bilden insgesamt 119 einzelne 0% Hausärzte Fachärzte Psychotherapeuten rung, der bereits zu einem gesteigerten Bedarf medizini- Gemeinden in dem Gebiet des Westerwalds. Knapp scher Leistungen führt, findet auch unter den Ärzt*innen zwei Drittel der insgesamt 128.705 Einwohner sind Abb. 2: Altersstruktur ärztlicher Berufe in Rheinland-Pfalz, Stand: 31.12.2019 (Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz [KV RLP], 2020a). selbst statt: 20 Prozent der berufstätigen Ärzt*innen sind älter als 35 Jahre alt (Stand 31.12.2018). Momentan älter als 60 Jahre und scheiden daher in absehbarer Zeit zählt der Landkreis etwa 83 hausärztliche Versorgungs- aus dem Erwerbsleben aus. In Rheinland-Pfalz zählt die aufträge. Durch die Verschiebung der Altersstruktur Im Vergleich zu urbanen Regionen müssen Menschen mengeschlossen, um diese Potentiale für die Erweiterung Landesärztekammer insgesamt 22.179 Ärzt*innen, was innerhalb der Bevölkerung in Folge des demographi- in ländlichen Regionen oftmals längere Wege auf sich des Delegationsmodells zwischen Hausärzt*innen einem Ärzt*in/Patient*in-Verhältnis von 1:218 ent- schen Wandels (vgl. Abb. 1) nehmen Patient*innen- nehmen, um zur Hausärzt*in zu gelangen. Noch grö- und Nichtärztlichen Praxisassistent*innen (NäPas) zu spricht. Von den 22.179 Ärzt*innen sind derweil 5.399 zahlen zwar prognostisch bis zum Jahr 2030 um 1,8 % ßere Distanzen werden in Kauf genommen, um zur untersuchen. Mit dem Einbezug der NäPas als Mediatoren niedergelassen. Ähnlich wie andere ländliche Regionen ab, jedoch steigen die Fallkomplexität und der damit Fachärzt*in oder in die nächste Klinik zu gelangen für medizinische Leistungen in der ambulanten Ver- beschäftigt sich der Landkreis Altenkirchen mit der verbundene zeitliche Behandlungsbedarf bis dahin um (Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz [KV sorgung und der Frage nach digitaler Assistenz weist Zukunft der hausärztlichen Versorgung. Die für länd- 4,2 % an (Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz RLP], 2014). Im Kreis Altenkirchen resultierten aus das Projekt ein Alleinstellungsmerkmal auf, sowohl in liche Regionen charakteristischen Veränderungen der [KV RLP], 2020b). den zahlreichen Hinweisen auf die zukünftige Unter- politischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht. 6 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung 7
Die Rolle Nichtärztlicher Praxisassistent*innen NäPas sind in der Regel MFAs (oder Vertreter*innen durchgeführten medizinischen Maßnahmen. Während anderer Gesundheitsberufe, wie etwa Pflegefachperso- des Delegationsprozesses steht die NäPa im Kontakt nen), die eine theoretische und praktische Zusatzquali- fikation erwerben, um bestimmte ärztliche Tätigkeiten in Vertretung der Ärzt*in im häuslichen Umfeld von zur Hausärzt*in und bespricht Ergebnisse ihrer Tätigkeit mit dieser. Technologisch wird die Tätigkeit der NäPa bereits heute durch verschiedene Messinst- NRW Patient*innen sowie in Alten- und Pflegeheimen zu rumente (z. B. für den Blutdruck, Blutzucker oder die erbringen (Kassenärztliche Bundesvereinigung [KBV], Blutgerinnung), Kommunikationsmedien (z. B. Handy, 2020b). Die Übertragung einer ärztlichen Tätigkeit Smartphone oder Tablets), sowie Technologien zur wird in diesem Kontext als Delegation beschrieben und medizinischen Dokumentation (z. B. Praxisinformati- hat zum Ziel, Hausarztpraxen durch eine effektive Ver- onssysteme und Elektronische Patientenakten) unter- teilung personeller Ressourcen zu entlasten. Delegierte stützt. Die vorliegende Studie möchte dabei insbesondere Tätigkeiten sind dabei insbesondere das Überwachen die Relevanz neuer, digitaler Technologien für das relevanter patientenseitiger Parameter und Vitaldaten Delegationsmodell explorieren und beschäftigt sich mit (Monitoring), eine durch medizinische Expertise Lösungen wie Videokonsultationen, Echtzeit-Messung gestützte Beurteilung des Gesundheitszustandes der Patient*in (Assessment) und die Dokumentation der und -Übertragung von Vitaldaten oder automatisierten Dokumentationssystemen. Landkreis Altenkirchen Wissenschaftlicher Hintergrund Wissenschaftlich betrachtet handelt es sich bei der nikation, Dokumentation und teambasierten Vorstel- Frage nach digitaler Unterstützung von Delegations- lungen über die Erbringung medizinischer Leistungen prozessen zwischen Ärzt*in, NäPa und Patient*in und einhergeht (Gray et al., 2016), ist das Thema digitaler deren Effektivität um einen eher neuen Forschungs- Unterstützung so aktuell und dringlich wie nie. Für bereich. Studien beschäftigen sich zwar bereits mit der Ausgestaltung neuer Aufgaben für medizinische Assistent*innen (Chapman & Blash, 2017) oder der die Erweiterung der Delegation mit Hilfe innovativer, digitaler Technologien stellt sich hierbei die Frage nach Möglichkeiten, diese in den beruflichen Alltag HE Diversität unterschiedlicher Zusatzqualifikationen von Ärzt*innen und NäPas erfolgreich zu integrieren. von MFAs zur Entlastung von Ärzt*innen (Guenther Dafür scheint eine Rekonstruktion dieses Alltags et al., 2019), Potentiale digitaler Technologien erforderlich und die Exploration anwenderseitiger geraten dabei aber eher in den Hintergrund. Derweil Einstellungen gegenüber neuen Technologien. Gleich ist der Einsatz solcher Technologien in eher ‘klassi- an drei verschiedenen Seiten stellt sich die Frage schen’ Interaktionen zwischen Ärzt*in und Ärzt*in nach Faktoren, die Technologie-Akzeptanz bedingen RLP oder Ärzt*in und Patient*in in der Literatur bereits (Ärzt*innen, NäPas und Patient*innen) und welche weitreichend aufgegriffen worden (Currie et al., 2015; Arten von Technologien möglicherweise Differenzen Funderskov et al., 2019; Mueller, Knop, Niehaves et in den Akzeptanzgraden verursachen. Im Zentrum al., 2020; Seuren et al., 2020). Dabei wird ersichtlich, des aktuellen Diskurses stehen als technologische dass die digitale gestützte medizinische Versorgung Lösungen Systeme für Videokonsultationen (Almathami die Interaktion zwischen Patient*innen und Behan- et al., 2020) oder die automatisierte Übertragung von delnden verändern und sogar negativ beeinflussen Vitaldaten (Aamodt et al., 2019; Vesnic-Alujevic et al., kann, falls jene nicht unter Berücksichtigung essen- 2018). Damit formieren sich Visionen von virtuellen tieller Faktoren implementiert wird (Mueller, Knop, ärztlichen Besuchen (Appireddy et al., 2019) und so- Ressing et al., 2020; Oschinsky et al., 2020). In vielen gar digital gestützten Untersuchungen über Distanz Kontexten fehlt jedoch der Bezug zu patient*in- (Seuren et al., 2020). Die vorliegende Studie greift nenseitigen Endpunkten und die damit verbundene diesen wissenschaftlichen Diskurs auf und richtet Effektivität (Harst et al., 2019). Für die Veränderung ihr Ziel auf eine praxisnahe Konzeption von digitaler in der hausärztlichen Versorgung jedoch, die mit Assistenz im Delegationsmodell, die insbesondere die anderen, differenzierten Anforderungen an Kommu- Perspektive der Anwender*innen aufgreift. 8 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung 9
3 Gemeinsam innovative Lösungen entwickeln Bedingt durch den explorativen Charakter der Studie subjektiven und unbewussten Ordnungsmechanismen gung auf den bereits vorliegenden Ergebnissen auf. MÄRZ 2019 Vorbereitender Workshop mit wurde vorwiegend auf qualitative Methoden der von unterschiedlichen Technologien durch Ärzt*innen Sie zielte insbesondere auf das berufliche Selbstver- allen Projektpartnern Forschung zurückgegriffen und diese durch zwei und NäPas. Um diese für die Akzeptanz relevante Frage ständnis, patientenseitige Akzeptanz innovativer JUNI 2019 Start der Studie Online-Umfragen ergänzt. Im ersten Ansatz zur weiter zu verfolgen, wurde in einem zweiten Schritt Technologien und die von NäPas formulierten Vor- thematischen Orientierung und zur Erarbeitung mög- eine Online-Umfrage erstellt, in der Teilnehmer*in- aussetzungen effektiver Implementierung innovativer AUGUST – Interviews mit Ärzt*innen und OKTOBER 2019 NäPas aus 11 Praxen lichst übergeordneter inhaltlicher Aspekte wurden nen darum gebeten wurden, verschiedene Technolo- Technologien ab. 8 Interviews wurden mit insgesamt insgesamt 19 Interviews, darunter 13 Einzel- und gien (bereits genutzte und noch nicht genutzte) nach 10 Teilnehmerinnen geführt und identisch zu der FEBRUAR 2020 Workshop und Vorstellung 6 Gruppeninterviews, mit Ärzt*innen und NäPas ihrer wahrgenommenen Relevanz zu sortieren. An der ersten qualitativen Erhebung analysiert. Ein zusätzlicher der Trends der Studie mit den teilnehmenden Arztpraxen geführt. Hierfür wurden die insgesamt 26 Teilneh- Umfrage nahmen insgesamt 14 Personen teil. Davon Online-Fragebogen, der an alle Praxen versendet wurde, mer*innen in ihren eigenen Praxen aufgesucht und gingen 11 vollständige Datensätze in die Analyse ein. brachte Erkenntnisse zu Details in der Beschaffenheit MÄRZ 2020 Erste Online-Umfrage Interviews geführt, die im Durchschnitt 68 Minuten ausgewählter digitaler Technologien. An diesem AUGUST 2020 Interviews mit 10 NäPas dauerten. Primäres Ziel der Interviews war es, den Hinsichtlich der Integration der Patient*innensicht nahmen insgesamt 5 Personen teil. Davon konnten 3 AUGUST – Zweite Online-Umfrage beruflichen Alltag der Beteiligten zu rekonstruieren wurde auf Grund des Aufkommens von Covid-19- vollständige Datensätze analysiert werden. SEPTEMBER 2020 und Ansätze für digitale Innovationen zu diskutieren. Infektionen im zweiten Quartal des Jahres 2020 auf NOVEMBER 2020 Gemeinsames Treffen zur Vor- teilnehmende Beobachtungen mit Patient*innen und Durch den partizipativen und interdisziplinären stellung der Ergebnisse aus den In mit den Ärzt*innen und NäPas durchgeführten NäPas verzichtet, um ein Risiko für die sehr vulnerable Forschungsansatz sollen zielgruppennahe Ergebnisse Erhebungen Aug. & Sep. 2020 Workshops wurden diese Oberkategorien aufgegriffen Patient*innengruppe, die durch die NäPas versorgt generiert werden, die als Grundlage für weitere NOVEMBER 2020 Abschluss der Studie und die Ergebnisse mit den Teilnehmer*innen des wird, auszuschließen. In Abstimmung mit den Pro- Forschung und Entwicklung dienen können. Abbil- Projekts diskutiert (Flick, 1990). Aus den initialen jektpartnern wurde sich auf eine vertiefte Befragung dung 3 zeigt einen Überblick der durchgeführten Abb. 3: Durchgeführte Projektschritte. 19 Interviews ergab sich außerdem die Frage nach von NäPas geeinigt. Thematisch baute diese Befra- Projektschritte. 10 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung 11
„[…] die Lunge abhören, wenn jemand da wirklich ein bisschen brodelt da auf der Lunge, oder hat schon längere Zeit Husten. Wäre schon sinnvoll, wenn wir das auch mal [im Delegationsmodell] machen könnten. Aber dann […] fahre ich lieber selber mal raus noch und höre den mal ab, dass ich dann schon auf der sicheren Seite bin.“ Die Auskultation von Patient*innen in der häuslichen Versorgung, bspw. zum Ausschluss einer Pneumonie bei akutem bronchialen Infekt, stellt damit eine inno- vative Veränderung dar und wurde von den Befragten in den geführten Interviews intensiv diskutiert. Sie dient besonders als Beispiel für die Ausweitung des Handlungsspielraums von Ärzt*innen und NäPas 4 Facetten einer digital durch digitale Technologien. gestützten Versorgung „Und ja, klar, wenn ich dann irgendwo akustisch, Aus insgesamt 19 Interviews (13 Einzel- und 6 Gruppen- direkten Patient*innenversorgung zur Verbesserung wenn das gut ist, dass man sich da drauf verlassen interviews) mit Ärzt*innen und NäPas über allgemeine medizinischer Diagnostik und Therapie diskutiert. „Aber ich habe ja gar keine Möglichkeiten. Ich kann kann, dass da nicht zu viel an Nebengeräusch ist, Faktoren digitaler Innovation im Delegationsmodell Darüber hinaus stellten Technologien zur Mediation kein EKG mal anschließen, um das wenigstens hier wenn man abhorcht, dass das Geräusch irgendwo und weiteren acht Interviews mit NäPas vorwiegend von Kommunikation und soziale Aspekte der Tech- irgendwie mit dem Arzt mal zu gucken […], ich sag gut übertragen wird, wäre spannend.“ zum Thema patientenseitiger Akzeptanz, die im An- nologienutzung zentrale Punkte der Interviews dar. mal, es müsste eine Möglichkeit geben, ein EKG schluss daran geführt wurden, ließen sich mehrere Um darüber hinaus die hypothetische Akzeptanz von anzuschließen, was ich hier übertragen kann, wo Ebenen der technologiegestützten Delegation ab- Patient*innen und das berufliche Selbstverständnis der Chef das aufmacht, um mir zu sagen, alles strahieren. Demnach entwickeln innovative, digitale der NäPa herauszustellen, wurden im weiteren Ver- in Ordnung oder nicht.“ Dabei formulierten viele Teilnehmer*innen im Technologien in unterschiedlichen Einsatzbereichen lauf des Projekts zusätzlich 8 Kurzinterviews (6 Gespräch bestimmte Ansprüche an Messtechnologien, unterschiedliche Mehrwehrte, deren gemeinsames Einzel- und 2 Gruppeninterviews) mit NäPas geführt. die auch bei der zunehmenden Digitalisierung dieser Ziel letztendlich eine möglichst umfängliche Pati- Die dargestellten Ergebnisse sind teilweise angelehnt Messungen berücksichtigt werden sollten. So scheint ent*innenversorgung darstellt. Am häufigsten wurden an die im Veröffentlichungsprozess befindliche Das Besondere an innovativen Technologien besteht in die Akkuratheit von innovativen, mobilen Techno- mit Ärzt*innen und NäPas die Anwendung neuer, englischsprachige Version dieser Studie (Knop, der Trennung zwischen Erfassung und Bewertung von logien, im Vergleich zu ihren stationären Pendants, delegationsunterstützender Technologien in der Mueller, & Niehaves, 2020). Patient*innendaten. Während NäPas also in ambulanter besonders wichtig zu sein, ebenso wie die Fähigkeit Umgebung durch digitale Technologien medizinische bestimmter Technologien, gemessene Werte sofort Parameter erheben und an die zuständige Praxis übermit- nach der Messung anzugeben. Durch die umgehende Innovativ: teln, sind Ärzt*innen in der Lage, die erhobenen Werte Verfügbarkeit relevanter Vitalparameter können u. U. umfänglich zu bewerten und können wiederum notwendige nachfolgende medizinische Maßnahmen schnell und Digitale Technologien für die direkte Patient*innenversorgung Interventionen direkt mit der NäPa vor Ort besprechen. unkompliziert durchgeführt sowie Kommunikations- Dieses Teilergebnis wurde ebenfalls durch die Online-Um- prozesse verschlankt werden. Nach wie vor stellen Vitalparameter von Patient*innen, die Möglichkeit, bisher fest installierte (stationäre) fragen deutlich, in denen darüber hinaus eine möglichst wie bspw. Blutdruck, Herzfrequenz oder Körpertem- Technologien für den mobilen Einsatz anwendbar zu leichte Bedienbarkeit als relevant betrachtet wurde. Auch Neben diesen Erkenntnissen über die Erwartungen an peratur, wichtige Indikatoren für die Beurteilung machen. Aus den geführten Interviews wurde deutlich, komplexere Formen der Vitaldatenmessungen können neue digitale Technologien stellten Ärzt*innen und des Gesundheitszustandes dar. Dabei unterliegt die dass sich neben mobiler Sonographie insbesondere durch digitale Technologien realisiert werden. Bisher ist es NäPas jedoch auch die hohe Relevanz persönlicher Methodik des Messens einem technologischen Wandel, das Elektrokardiogramm (EKG) zur Messung der NäPas bspw. nicht möglich, eine ambulante Auskultation Betreuung und die soziale Nähe zu Patient*innen der dazu geführt hat, dass viele Vitalparameter immer elektrischen Aktivität des Herzens und das Stethos- (das Abhören mit Hilfe eines Stethoskops) durchzuführen, heraus. Letztendlich erfordere die Interpretation objek- einfacher zu bestimmen sind. Die Tendenz von Tech- kop zur Auskultation von Herz, Lunge und anderen da die Interpretation der akustischen Signale komplex ist tiver medizinischer Daten auch eine möglichst genaue nologien, immer kompakter zu werden, stellt dabei eine Körperbereichen grundständig dafür eignen, durch und eher als nicht delegierbare ärztliche Tätigkeit ver- Kenntnis der Patient*in und deren Umfeld. Nur so besondere Relevanz für die medizinische Versorgung Digitalisierung den Handlungsspielraum delegierbarer standen wird. Dies geht wiederum manchmal mit einem erfolge eine bestmögliche Ableitung notwendiger im häuslichen Umfeld dar. Sie bedingt gewissermaßen Leistungen zu erweitern. höheren Zeitaufwand für das Versorgungsteam einher. Maßnahmen und eine individuelle Behandlung. 12 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung 13
Damit machten die interviewten Ärzt*innen und NäPas durch mangelnden Informationsaustausch beeinflusst „Wenn ich jetzt vor Ort bin und habe nur das EKG deutlich, dass auch digitale Innovationen den persön- „In dem Moment, wo mir jemand hier gegenübersitzt, wird. Ärzt*innen und NäPas berichteten davon, dass und sage, das EKG ist normal, schließt das aber lichen Kontakt zu Patient*innen und die Kenntnis der habe ich alle Diagnosen, alle Medikamente, alle Allergi- Entlassberichte von Krankenhäusern, die teilweise eigentlich einen Herzinfarkt nicht aus. Also da ist medizinischen Historie nicht vollständig ersetzen könnten en, habe ich alles da, vor meiner Nase. Und das braucht handschriftliche Passagen beinhalteten, eingescannt auch wieder entscheidend, was ist die Klinik, denn oder sollten. Andererseits betonten sie die hohe Relevanz man auch in so einer großen Praxis wie hier, ja.“ oder umständlich händisch in praxiseigene Informa- ich habe schon viele Herzinfarkte gesehen mit von gemessenen Vitaldaten zur Behandlung der tionssysteme übertragen werden müssen. Auch in der normalem EKG und wenn man sich jetzt zu stark Patient*innen, die von höherer Granularität (z. B. durch Zusammenarbeit mit Pflegediensten, die größtenteils auf diese Technik beruft und sagt, das EKG war aber kontinuierliches Monitoring) profitieren können. Dabei als positiv und konstruktiv bezeichnet wurde, kommt in Ordnung, kann man ganz böse reinfallen.“ wurde deutlich, dass ein weiterer essentieller Anwen- Auch, wenn der hohe Mehrwert funktionierender es nach Aussagen der Ärzt*innen und NäPas immer dungsbereich digitaler Technologien die optimierte Informationssysteme durch die Teilnehmer*innen wieder zu Brüchen im Austausch von relevanten Dokumentation von Behandlungsverläufen und die beschrieben wurde, beurteilten Ärzt*innen und NäPas Patient*innendaten. Kommunikation medizinischer Informationen darstellt. trotzdem die Risiken, die mit dieser Art der zentralen Informationsspeicherung und -verarbeitung einher- gehen. Fast alle Praxen konnten von Ausfällen ihrer Essentiell: elektronischen Systeme berichten, die zwar zu bewältigen „Weil ich sag mal, die vom Pflegedienst, die waren, jedoch eine hohe Menge an Unsicherheit und Dokumentation und Kommunikation der Behandlung Arbeitsaufwand produzierten. kommen ja teilweise jeden Tag zum Patienten hin und messen jeden Tag den Blutdruck, die messen jeden Tag den Blutzucker, teilweise sogar mehmals. Aus den Befragungen wurde deutlich, dass die Digitali- gung durch NäPas ist dies besonders relevant, da die Die machen regelmäßig die Verbände. Ich sage sierung der medizinischen Dokumentation in den teil- Ergebnisse Probleme und Hindernisse insbesondere in mal, das sind ja trotzdem auch unsere Patienten. nehmenden Praxen ein andauerndes Thema darstellt und der mobilen Dokumentation aufzeigen. „[…] wenn die Computer nicht funktionieren, funktio- Wenn man auf die Daten, wie auch der Prozess der Digitalisierung (oder Elektronifizierung) niert nichts. Dann hab’ ich keinen Medikamentenplan, immer, zugreifen könnte…“ von Patient*inneninformationen nicht als abgeschlos- Die hohe Verfügbarkeit von Patient*inneninformationen […] Weil wir haben ja keine Patientenkartei mehr. sen betrachtet werden kann. In den befragten Praxen wurde in den Interviews meist als herausragendes Keine Karten mehr. Wir scannen auch alle Befunde ein, konnten vielmehr ambivalente Meinungen zu dem Ein- Merkmal der digitalen Dokumentation betrachtet. Den und geben die Befunde den Patienten mit. […] wenn satz der Elektronischen Patientenakte (EPA) gesammelt Befragten zufolge sind solche Informationssysteme der Computer ausfällt, ist erst mal Stopp.“ Aus den Interviews wurde dabei ersichtlich, dass werden. Ursprünglich zur Vereinfachung der medizini- nicht nur in der Lage (im Gegensatz zu analogen sowohl Ärzt*innen als auch NäPas eine einfache, aber schen Dokumentation gedacht, indem patientenbezogene Systemen, wie bspw. Patientenkarteien), zeitgleich umfangreiche Dokumentation relevanter Patient*in- Informationen für medizinische Fachkräfte leichter mehrere Nutzer über eine Patient*in zu informieren, nendaten als Voraussetzung bzw. Katalysator für eine und schneller zugänglich gemacht werden, berichteten sondern sie liefern auch Struktur und Ordnung Prägnanter Ansatzpunkt für eine weiterführende erfolgreiche Anwendung des Delegationsmodells fast alle befragten Praxen von weiterhin existierender hinsichtlich vieler verschiedener Informationsarten Digitalisierung ist insbesondere die Absicht, doppelte begreifen. Die zeitlich und räumlich ungebundene paralleler Dokumentation in elektronischer und analoger (Vitaldaten, Behandlungsberichte, eigene Notizen, Dokumentation, meist in der Form der Übertragung Verfügbarkeit von Informationen unterstütze ein (handschriftlicher) Form. Für die medizinische Versor- Telefonnummer der Patient*in etc.). von handschriftlichen Informationen in eine EPA, (teil-)autonomes Handeln der NäPas während der zukünftig zu minimieren oder sogar zu vermeiden. ambulanten Versorgung und trage so zu einer Ärzt*innen und NäPas erleben die technologischen Entlastung von ärztlichem Personal bei. Möglichkeiten zur mobilen Dokumentation als eher begrenzt. Oftmals berichteten sie davon, wie um- Neben einem Bedarf an der Vereinfachung solcher ständlich das Einpflegen von Patient*innendaten in Informationsprozesse wurde in den Interviews auch die praxiseigene EPA sei. Gründe hierfür liegen vor der Einsatz von audiovisuellen Konsultationen (sog. allem in der fehlenden Praktikabilität von Endgeräten Videosprechstunden) diskutiert. Klassischerweise zur auf Grund derer Maße oder Gewichte (auch kleine Kontaktaufnahme zwischen Ärzt*in und Patient*in Laptops wurden mitunter als zu sperrig oder schwer oder zwischen Ärzt*in und Ärzt*in verwendet, gingen beschrieben) sowie auf Grund der Unübersichtlichkeit die Teilnehmer*innen der Interviews auf den Einsatz mobiler Applikationen der EPA (bspw. sehr lange solcher Videosprechstunden im Kontext der ambulan- Listen zum Scrollen statt intelligenter, intuitiver ten Versorgung ein. Ärzt*innen und NäPas konnten Bedienung). Auch eine mangelnde Mobilfunkqualität sich vorstellen, dass solche innovativen Lösungen in der wurde als Problem genannt. Neben fehlender In- Lage sind, durch Herstellung eines virtuellen Kontakts tegrierbarkeit von Informationen, die während der Aushandlungsprozesse hinsichtlich der Patient*innen- ambulanten Versorgung von Patient*innen durch versorgung effektiv zu unterstützen. Als Folge resultiere, NäPas erfasst werden, legen die qualitativen Ergebnisse dass der ärztliche Kontakt bestehen bliebe, jedoch nahe, dass auch die wechselseitige Kommunikation eine physische Präsenz der Ärzt*in nur erforderlich zwischen unterschiedlichen Leistungserbringern, wie sei, falls die medizinische Situation der Patient*in dies Hausarztpraxen, Krankenhäusern und Pflegediensten, erfordere. 14 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung 15
Die mit den Videokonsultationen einhergehende Mög- Erstens die Begrenzung ihrer eigenen Wahrnehmung „Ich meine das ist ja für den Arzt jetzt auch eine lichkeit zur Steigerung der ärztlichen Präsenz stelle bei einer digitalen Konsultation im Vergleich zu einer Arbeitserleichterung. Wenn wir dann sage ich mal, somit einen zentralen Mehrwehrt digitaler Technolo- leiblichen, persönlichen Konsultation und zweitens per Videokonferenz das schon so abklären könnten. gien dar. Das besondere Potential der audiovisuellen die Gestaltung einer persönlichen Beziehung zur Ist halt eine Zeitersparnis. Das wird schon dann Kommunikation trage folglich zu einem erhöhten Patient*in mit Hilfe leiblicher Präsenz. so sein. Dass er jetzt nicht wegen jeder Sicherheitsgefühl aller am ambulanten Versorgungs- Kleinigkeit […] rausfahren müsste.“ prozess direkt Beteiligten (Ärzt*in, NäPa, Patient*in) bei und verbessere so konkrete Arbeitsbedingungen und die Versorgungsqualität. „[…] der Kontakt, der Augenkontakt, der Blickkon- takt, wie riecht der, wie ist die Muskelspannung, Darüber hinaus bestünde ein weiterer Vorteil von audio- wie gibt der Ihnen die Hand, gibt er Ihnen die Hand visuellen Systemen darin, die Wahrnehmung der Ärzt*in nicht? […] wenn der oder die zur Tür reinkommt, und NäPa auf die Patient*in und die Möglichkeiten des „Ich denke mir, wenn ein Notfall ist, oder so eine da sehen Sie, was los ist. Wie setzt der sich hier damit verbundenen Informationsaustausches auszuwei- kritische Situation, dass ich dann mehr Sicherheit hin, […], will der was erzählen.“ ten. Erfolgt eine Rückmeldung auffälliger Vitaldaten und hätte. Weil ich bin ja vor Ort erst mal auf mich alleine Eindrücke während der ambulanten Versorgung durch die gestellt. In so einer kritischen Situation […]. Und das NäPa normalerweise über reine Telefonie, ermögliche die gibt mir dann doch ein bisschen, ja ich denke mir, Videokonsultation ein erweitertes Spektrum an Reizen, Sicherheit, wenn ich sagen kann, oh der Patient Deutlich wurde dabei, dass ersterer Faktor an die von der Ärzt*in aufgenommen werden könne. In die- gefällt mir gar nicht, ich schalte gerade mal bestimmte Vorannahmen über audiovisuelle Systeme „Dann gibt es auch die Placeboeffekte, von wegen, sem gemeinsamen Erlebens- oder Beobachtungsraum den Monitor an und übermittle das Bild.“ geknüpft ist. Ärzt*innen und NäPas bemerkten hier- um so invasiver die Maßnahmen sind, umso höher könne so umfänglicher und schneller eine Diagnose bei, dass beispielsweise der Geruch einer Patient*in ist der Effekt. Das heißt, eine Tablette oder Tropfen gestellt oder eine Intervention abgeleitet werden. oder ihr Muskeltonus wichtige Parameter bei der Ab- haben weniger Placeboeffekt wie eine Infusion oder leitung medizinischer Konsequenzen darstellen und eine Spritze oder ähnliches. So ist es dann vielleicht Parallel zu den Potentialen innovativer Technologien in diese durch digitale Technologien anscheinend (noch) auch mit den technischen Maßnahmen ...“ der direkten Patient*innenversorgung betonten Ärzt*in- nicht adressiert werden können. Außerdem betonten „Das würde dann einem die Sache auch so nen und NäPas die Relevanz der kontextualen Anwen- Ärzt*innen und NäPas, dass der leibliche Kontakt zu ein bisschen erleichtern, das zu delegieren, wenn dung dieser Technologien für Informationsgewinnung Patient*innen einen sozialen Wert an sich besäße und man sozusagen im Bedarfsfall da gerade mal mit und die inter- und intraprofessionelle Kommunikation. dieser trotz des Einsatzes neuer Technologien erhalten Für einige der befragten Ärzt*innen und NäPas scheinen draufgucken könnte und den Patienten auch Die Teilnehmer*innen begriffen den Einsatz von neuen, bleiben sollte. Technologien durch ihre Möglichkeiten der Objekti- wenigstens über das Video sieht.“ digitalen Technologien in eine soziale Struktur und vierung der Patient*in ein gutes Gefühl zu vermitteln. Interaktion eingebettet, deren Relevanz für ihr profes- Abhängig von der relativen Neuheit einer Technologie sionelles Selbstverständnis stark betont wurde. oder deren Nutzungsaufwand könnte so möglicherweise „Aber […], der persönliche Kontakt, wie gesagt, das die Stärke eines Placeboeffekts variieren. Gegenübersitzen, mal grad sich auch mal berühren. Erhaltenswert: […] Das freut die alle. Und auch mal anlächeln und alles. Das Persönliche, das kommt anders rüber, als Soziale und psychologische Dimensionen der Behandlung wenn man telefoniert und am PC sitzt. Das ist „Ja, es gibt denen Sicherheit. Also wir haben nicht ein anderer Kontakt mit den Leuten.“ nur gehört, wir haben auch noch gesehen, wie es Für den konkreten Einsatz digitaler Innovationen ist, […] es ist ja was gemacht worden, wir haben formulierten die Teilnehmer*innen der Interviews „Das ist so ein ganz fester Teil in ihrem Leben Blut abgenommen, wir haben ein Bild gemacht von Voraussetzungen und Grenzen, die stark an den so- und dann lachen die und freuen sich und ich merke irgendwas, wir haben sie zum Röntgen geschickt, zialen Kontext von Technologienutzung gebunden wie gut ihnen das tut, dieser regelmäßige Besuch, Die Teilnehmer*innen gaben so zu verstehen, dass davon bekommen wir Bilder oder irgendwas, das sind. Der subjektive, persönlich empfundene Nutzen möglichst immer zur gleichen Uhrzeit, […] sie Technologien als Hilfsmittel zum Erreichen einer gibt denen schon eine gewisse Sicherheit.“ einer neuen Technologie resultiert demnach nicht nur da verlassen die sich schon drauf […].“ bestmöglichen medizinischen Versorgung einsetzen, aus objektiven Eigenschaften oder Funktionsweisen, die soziale Beziehung zum Patienten jedoch auch über sondern vielmehr aus der Anschlussfähigkeit an das direkte, nicht durch Technologie mediierte Interaktion professionelle Verständnis der Versorgenden. Gerade gebildet und vertieft wird. Neben den wahrgenom- Ärzt*innen und NäPas stellten somit dar, dass der eigent- NäPas wiesen häufig auf den psychosozialen Aspekt Ärzt*innen und NäPas berichteten über ihre persönlich menen Grenzen digitaler Technologien sprachen die liche Nutzen innovativer Technologien auch von der Art ihres Handelns hin und die damit einhergehende wahrgenommenen Grenzen telemedizinischer Tech- Befragten auch über eine mögliche positive Wirkung und Weise ihres Gebrauchs und strukturellen wie pro- Sicherheit, die Patient*innen durch ihren Besuch nologien, wie der bereits erwähnten audiovisuellen der Technologienutzung, die nicht aus der Interpreta- zessualen Faktoren abhängig ist. Der soziale Kontakt zur vermittelt wurde. Konsultation in der ambulanten Versorgung. Für Teil- tion gemessener Parameter, sondern aus der Messung Patient*in und das damit verbundene Vertrauensverhält- nehmer*innen waren die Grenzen solcher Systeme selbst resultiert. nis scheinen dementsprechend wichtiger Bestandteil des meist mit zwei wesentlichen Faktoren verbunden: Selbstverständnisses und beruflichen Alltags zu sein. 16 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung 17
Entscheidend: Strukturelle und subjektive Faktoren der Technologienutzung 2 Die in der Studie durchgeführten Online-Umfragen gaben Einsichten in verschiedene Faktoren, die die Implementierung und Nutzung von neuen, digitalen Objektivität der Technologie: Technologien beeinflussen. Da subjektive Wahrneh- mungen zur Entscheidung über die Ablehnung oder Teilnehmer*innen hierarchisierten Technologien Akzeptanz von Technologien maßgeblich entscheiden, ebenfalls nach der Art ihres Ziels oder Anlasses. wurden mit Hilfe passender standardisierender Technologien, die eher objektive Werte der Verfahren (Knop, 2020) Dimensionen der subjektiven Patient*innen feststellten, wie bspw. Blutdruck, Bewertung relevanter Technologien für den beruf- Blutzucker oder Gerinnungswerte, wurden von lichen Alltag von Ärzt*innen und NäPas analysiert solchen unterschieden, die der Informations- (Knop, Mueller, & Niehaves, 2020). Aus den Ergeb- sammlung oder dem Austausch von Informationen nissen wurden drei Dimensionen abgeleitet, die zur dienen. Dabei bewerteten Ärzt*innen und NäPas subjektiven Bewertung einer Technologie durch die Relevanz von objektiven und weniger objekti- Ärzt*innen und NäPas beitragen. ven Technologien sehr unterschiedlich. Demnach lässt sich mutmaßen, dass unterschiedliche Tech- nologien erst in ihrer Kombination eindeutige Nutzen entfalten und die Bewertung dieses 1 Nutzens kontextuell und subjektiv ist. Verschie- Mutmaßliche oder tatsächliche dene Hausarztpraxen mögen so als Folge auch Intensität der Nutzung: unterschiedliche Affinitäten zu innovativen Tech- nologien ausbilden und diese hinsichtlich ihrer Für Ärzt*innen und NäPas relevant erschei- Nützlichkeit unterschiedlich bewerten. nende Technologien sind an die erwartete oder tatsächliche Frequenz der Nutzung im Alltag gebunden. Bereits stark inkorporierte Techno- logien, wie bspw. Blutdruckmessgeräte, werden häufig als zur Person zugehörig wahrgenommen 3 und ihr Gebrauch nicht mehr hinterfragt. Die praktische Nutzung neuer Technologien ist Patientenbezogenheit und Nutzen daher ein wichtiger Faktor der Akzeptanz für die Patient*in: und kann mit Hilfe von praktischen Tests und Möglichkeiten zur persönlichen Inkorporation Ein Faktor für die Bewertung von technologi- innovativer Technologien ermöglicht werden. scher Relevanz durch Ärzt*innen und NäPas Aus dieser Dimension folgt auch, dass eine scheint auch der hypothetische Nutzen aus mögliche Reserviertheit oder Ablehnung neuer Patient*innensicht zu sein. Demnach sortierten Technologien durch Ärzt*innen und NäPas die Teilnehmer*innen Technologien nach der Folge einer Verzerrung in der Wahrnehmung Folge ihres Einsatzes für die Aufrechterhaltung von Technologien sein kann. Relevanz von einer angemessenen Versorgung der Patient*in. Technologien scheint sich in diesem Kontext Auch wenn Ärzt*innen und NäPas bestimmte insbesondere durch die praktische Nutzung zu Technologien in dieser Dimension unterschiedlich ergeben. Neue Technologien können, falls sie ohne bewerteten, scheint das Patient*innenwohl ein größere Investitionen oder Umstellungen von essentieller Faktor für die subjektive Wahrneh- Arbeitsabläufen nicht praktisch erprobt werden mung relevanter Technologien zu sein. Daraus können, daher subjektiv als weniger nützlich ergibt sich für die Entwicklung und den Einsatz betrachtet werden. innovativer Technologien, den patient*innenseiti- gen Nutzen miteinzubeziehen und auch aus dieser Sicht relevante Bedingungen zu formulieren. 18 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung 19
Neben diesen subjektiven Facetten der Wahrneh- besitzt. Daran lässt sich nochmals die Varianz Nutzung und die grundlegende Bedingung für eine Empfang zu verzeichnen ist oder die Netzqualität deut- mung von (innovativen, digitalen) Technologien technologischer Wahrnehmung unterschiedlicher angemessene Aufklärung oder Information der lich vom Netzanbieter abhängt. Außerdem beschäftigte ergaben sich aus den Interviews und Online-Umfragen Organisationen verdeutlichen: Entscheidungen über Patient*in über den Gebrauch neuer Technologien. Ärzt*innen und NäPas die Frage nach der Vergütung interessante Ergebnisse bezüglich organisationaler Anschaffung und Nutzung innovativer Technologien von medizinischen Leistungen, die sich durch den Einsatz und struktureller Bedingungen als Faktor für eine verlaufen in hausärztlichen Praxen also nicht einheit- Letztendlich ergaben beide qualitativen Datenerhebun- neuer Technologien verändert. Die Teilnehmer*innen Digitalisierung der Delegation. Die Kurzinterviews lich, sondern unterliegen im Einzelfall subjektiven gen und unsere Online-Umfragen, dass strukturelle erwarteten, dass abrechnungsrelevante Routinen (wie mit NäPas indizieren, dass Hausarztpraxen in der Aspekten der Arbeitsorganisation. Daran sind auch Faktoren maßgeblich zur Anschaffung und Nutzung bspw. das quartalsweise Aufsuchen der Patient*in durch Region unterschiedliche Modelle zur Organisation und bestimmte organisationale Eigenlogiken geknüpft, die neuer Technologien beitragen. Die für viele digitale die Ärzt*in als Grundbedingung zur Abrechnung aller Entscheidungsfindung innerhalb der Praxen nutzen. nur durch individuelle Anpassung und Adaptionsfä- Technologien zu Grunde liegende automatisierte Über- anderen Leistungen im Quartal) mit dem Einsatz neuer Während die Entscheidung über die Anschaffung higkeit digitaler Innovation berücksichtigt werden tragung oder die Übertragung von Patient*innendaten Technologien verändert werden, um technologische neuer Technologien teilweise einer klaren hierarchi- können. Die Teilnehmer*innen der Kurzinterviews in Echtzeit benötigt nach Ansicht von Ärzt*innen und Fortschritte der Patient*innenversorgung ausreichend schen Struktur folgte, entschieden andere primär mit wiesen in diesem Kontext auf die Notwendigkeit und NäPas auch ein zuverlässiges Mobilfunknetz. Defizite zu befördern. Die ausgeführten Faktoren digitaler Inno- Hilfe von Teambesprechungen oder unterschieden je Relevanz ausführlicher Einweisung und Fortbildung im Ausbau des Mobilfunknetzes im Landkreis wurden vationen zeigen damit die Komplexität einer erweiterten nach Hauptnutzer*in der anzuschaffenden Technolo- für innovative Technologien hin. Ein sicherer Um- so sichtbar. Teilnehmer*innen berichteten oft, dass in Delegation und die Notwendigkeit, Handlungsempfeh- gie, wer genau die letztendliche Entscheidungsgewalt gang mit diesen sei integraler Bestandteil anhaltender einigen Regionen ihres Einzugsgebietes kein mobiler lungen differenziert zu beschreiben. 20 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung 21
Für das Delegationsmodell und die ambulante Patient*innenversorgung bietet die technologische Entwicklung somit eine herausragende Chance, medi- zinische Diagnostik und daraus abgeleitete Interventi- onen im häuslichen Umfeld zu erweitern. Ergebnisse der Interviews zeigten, dass NäPas dabei mehrere Funktionen übernehmen, die einen besonderen Einfluss auf den aktiven Nutzen dieser Technologien und die patientenseitige Akzeptanz haben. Das besondere Vertrauensverhältnis zwischen NäPa und Patient*in vereinfacht den Einsatz neuer Technologien und wirkt positiv auf die Akzeptanz der Patient*innen. Anders als der private Einsatz von digitalen Gesundheitstech- nologien, wie etwa im Bereich Smart Home, suggeriert die NäPa der Patient*in Sicherheit und Angemessenheit durch ihre Entscheidung, eine neue Technologie zur Diagnostik oder Behandlung einzusetzen. Viele wahrgenommene Risiken oder Hürden der Technologie- akzeptanz werden somit negiert (Mueller, 2020). Damit eignen sich NäPas auch insbesondere zur Anleitung und Schulung von Patient*innen zur selbst- ständigen Nutzung digitaler, telemedizinischer Tech- nologien. Im optimalen Fall resultiert daraus eine Kaskade medizinischer Kompetenz, die von Ärzt*in- nen zu NäPas und wiederum zu Patient*innen verläuft. Notwendige Voraussetzung für eine effiziente Gestaltung ist die medizinische und technologische Fachkompetenz von NäPas. Gleichzeitig agieren die 5 Die Zukunft gestalten NäPas im Versorgungsprozess als personelle Assistenz und kompensieren mögliche Defizite der technologi- schen Kompetenz (Randhawa et al., 2019). Gerade vor dem Hintergrund der in den Interviews beschriebenen Patient*innencharakteristika (hohes Alter, Immobilität Aus den vorgestellten Ergebnissen unterschiedlicher Patient*innenversorgung durch die Zusammenarbeit kontinuierlichere und feinere Messung medizinischer und reduzierte soziale Integration) stellt sich das Datenerhebungen lassen sich einerseits wichtige Impli- von Ärzt*innen und NäPas durch individuelle und teil- Parameter. Das granulare Monitoring von Patienten Delegationsmodell als besonders vielversprechend für kationen für den prospektiven Einsatz innovativer digi- weise sehr ausgeprägte soziale Interaktion bestimmt zielt dabei letztendlich auf eine Verbesserung der den effektiven Einsatz innovativer Technologie dar. taler Technologien in der hausärztlichen Versorgung ist. Daraus resultiert der Anspruch an unterstützende Lebensqualität und eine Verminderung von medizini- Konkrete technologische Innovationen für den direkten formulieren, andererseits weisen diese Ergebnisse auch Technologien, sich gut in bestehende soziale und schen Komplikationen ab, wie beispielsweise die Rate Patientenkontakt stellen dabei das mobile EKG und das auf mögliche prozessuale und strukturelle Entwick- habituelle Strukturen integrieren zu können und an Hospitalisierungen (Freund et al., 2013). Mit der digitale Stethoskop dar. Die Möglichkeit der Ärzt*in, lungen des durch Technologie gestützten Delegati- soziale Aspekte der medizinischen Versorgung so weit fortschreitenden Digitalisierung wird es möglich, für Diagnostik und Behandlung wichtige Patient*in- onsmodells hin. Darüber hinaus wird deutlich, dass die wie möglich zu erhalten oder sogar zu verstärken. immer mehr ferndiagnostische Methoden in der ambu- nendaten möglichst ohne zeitliche Verzögerung aus lanten Versorgung zu integrieren. Dazu zählen insbe- der Distanz auszuwerten und gleichzeitig durch die sondere der Einsatz von portablen, akkuraten EKGs, NäPa resultierende Maßnahmen umzusetzen, erschafft Digitale Technologien und ihr Potential die auch mit niedrigen Bandbreiten telemedizinische einen hohen Mehrwert. Ärzt*innen und NäPas griffen Applikationen ermöglichen (Pineda-López et al., solche Technologien daher in den Interviews häufig für die hausärztliche Versorgung 2018) und der Einsatz von digitalen Stethoskopen zur auf und beschrieben positive Effekte einer hypotheti- Auskultation verschiedener Körperregionen über schen Implementierung. Dabei wurde allerdings auch Generell zeigen unsere Ergebnisse interessante und Interventionen, stellvertretend für die Haus- Distanz (Silverman & Balk, 2019). Weitere teleme- deutlich, dass die Integration solcher neuen Tech- Ansätze für den Einsatz innovativer Technologien ärzt*in. Die Messung und Überwachung objektiver dizinische Anwendungen, die bereits auf den Markt nologien zur ambulanten Evaluation von Patient*in- für die Delegation ambulanter medizinischer Versor- medizinischer Daten stellt einen besonders wichtigen kommen, aber deren Effektivität bisher noch nicht nendaten in bestehende Informationssysteme ein gungsleistungen. Das Handeln von NäPas folgt unter Faktor dar und nimmt einen nicht unerheblichen Teil hinreichend belegt ist, sehen den Einsatz von mobiler wesentlicher Faktor für die Generierung von Mehr- anderem dem Ziel einer medizinischen Evaluation von der beruflichen Selbstbeschreibung von NäPas ein. Sonographie, Otoskopie oder die digitale Inspektion werten ist und auch unter Einbezug weiterer Patient*innen zur Ableitung notwendiger Diagnostik Digitale Technologien ermöglichen dabei eine immer des Mund- und Rachenraums vor. innovativer Technologien gedacht werden sollte. 22 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung 23
Telemedizin zur Unterstützung der Delegation Merkmal der Systemanwendung dar vor dem Hinter- Der Zugriff oder die Weitergabe von Vitaldaten könnte grund zeitintensiver manueller Übertragungsprozesse, so erleichtert werden und hochrelevante Informationen Die Begrifflichkeit der Telemedizin umfasst eine Vielzahl der Distanz. Das Wohlbefinden der Patient*in steht im von denen die Teilnehmer*innen der vorliegenden der Patient*in für alle am Versorgungsprozess Beteilig- von Methoden und Technologien. Das ausgewiesene Ziel Fokus der Leistungen (Harst et al., 2019). Klassische Studie berichteten. Die mangelnde Anschlussfähigkeit ten schnell zugänglich gemacht werden. Gerade vor dem der Telemedizin, die sich in erster Linie auf die Patient*in Szenarios sehen dabei hauptsächlich dialogische Anwen- fremder Informationssysteme, wie etwa die von anderen Hintergrund intersektoraler Kommunikation und der bezieht, ist die Erbringung medizinischer Leistungen aus dungen solcher Technologien vor (vgl. Abb. 4). (Fach-)Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen oder Kliniken, potentiellen Gefahr von Versorgungsbrüchen (Anaf et al., führt außerdem zu den Potentialen cloudbasierter 2014) können differenzierte und umfängliche Telemedi- Lösungen für die Speicherung von Patient*innendaten. zinsysteme die hausärztliche Versorgung revolutionieren. Telemedizinische Telemedizinische Hilfsmittel Services Implementierung und Anpassung digitaler Technologien Die Voraussetzungen zur Ausweitung bisher mögli- Versorgung darstellt. Wie aus anderen empirischen Arzt – Arzt E-Mail oder Video Dermatologische Konsile, cher Delegationen medizinischer Leistungen umfassen Untersuchungen bereits bekannt (Fatehi et al., 2015; radiologische Befunde, somit nicht nur den Einsatz innovativer Technologien Knop, Mueller, Freude et al., 2020), resultiert daraus Behandlungen per Bildschirm, an sich (wie bspw. die Möglichkeit, Patient*innen aus ein Anspruch an digitale, innovative Technologien, die Trauma-Notfälle der Ferne auszukultieren), sondern auch die Anpas- soziale Dimension der Versorgung zu erhalten oder sung an kommunikative Strukturen, die bereits fest sogar zu fördern. Im Kontext der vorliegenden Studie in der Praxis implementiert sind und auf denen reale mag dies die Erhöhung ärztlicher Präsenz durch Arzt – Patient Video, Telefone, E-Mail, Betreuung chronisch kranker Entscheidungsprozesse beruhen. Durch die Kombina- audiovisuelle Konsultationen oder die fortlaufende drahtlose Fernüberwachung, Menschen, Medikamenten- tion aus neuer, delegierbarer sowie direkter Patient*in- Involvierung der NäPa in ambulante Versorgungs- Internet Management, Wundmanage- nenbehandlung und die Technologie integrierende, leistungen bedeuten. Gerade vor dem Hintergrund der ment, Beratung, Nachsorge, kommunikative Unterstützung wird die Versorgung sozialen Dimension medizinischen Handelns sind der Psychische Gesundheit vereinfacht. Dies kann als ein individuell verlaufender Kontext bzw. der Anlass digitaler Versorgung entschei- Entwicklungsprozess in den Hausarztpraxen begriffen dend (Hammersley et al., 2019). Aus anderen Studien Patient – mobile Drahtlose Fernüberwachung, Gesundheitserziehung, Über- werden. Nicht zuletzt bedeutet technologische Adap- wird ersichtlich, dass sich bspw. Videokonsultationen Gesundheitstechnologie Wearables, Smartphones, wachung der körperlichen Aktivität, tionsfähigkeit in diesem Zusammenhang, Sensibilität scheinbar nicht für äußerst persönliche Gespräche mit Mobile Apps, Videos, E-Mail, Überwachung der Ernährung, für das professionelle Selbstverständnis der beteiligten der Ärzt*in eignen oder für die Diskussion neu aufgetre- Webportale, Spiele Medikamenteneinnahme, Akteure aufzubringen und die soziale Dimension der tener, schwerer Erkrankungen (Donaghy et al., 2019). Kognitive Fitness ärztlichen oder ärztlich-assistierenden Tätigkeit zu Dadurch wird ersichtlich, dass der persönliche Kontakt beachten. Ärzt*innen und NäPas gaben mehrheitlich zu zwischen Ärzt*in oder NäPa und Patient*in nicht allum- verstehen, dass der physische Kontakt zu Patient*in- fänglich ersetzbar ist, sondern der Einsatz innovativer nen und die Möglichkeit, die Beziehung zur Patient*in Technologien kontextabhängig diskutiert und auf seine dadurch zu formen, ein erhaltenswerter Bestandteil der Angemessenheit hin überprüft werden sollte. Integration mit der elektronischen Krankenakte, Datenanalyse Abb. 4: Klassische Einsatzszenarien telemedizinischer Systeme (Knop, Freude et al., 2020). Der Delegationsprozess als technologiegestützte Systeme integriert zu werden, um so einen größtmög- Interaktion zwischen Ärzt*in, NäPa und Patient*in ist lichen Mehrwert erzielen zu können. Neben der Über- im Vergleich hierzu komplexer und weist, wie bereits tragung von Patient*innendaten (möglichst in Echtzeit) erläutert, insbesondere viele Interdependenzen hin- ist die Darstellung und Speicherung in bereits sichtlich des wahrgenommenen Nutzens und der vorhandenen Praxisinformationssystemen bzw. EPAs Akzeptanz von Technologie auf. Die Ergebnisse unserer aus Sicht von Ärzt*innen und NäPas von Interesse, Datenerhebungen zeigen, dass die Nutzung mobiler um die Verfügbarkeit relevanter Informationen und die EKGs oder digitaler Stethoskope als Anwendung Flexibilität der Datennutzung zu erhöhen. Automatisierte davon profitiert, in umfangreiche telemedizinische Übertragungen stellen darüber hinaus ein wichtiges 24 Digitalisierung der hausärztlichen Versorgung 25
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