DISS-Journal Sonderausgabe Juli 2020 - ZEITSCHRIFT DES DUISBURGER INSTITUTS FÜR SPRACH- UND SOZIALFORSCHUNG
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DISS-Journal Sonderausgabe Juli 2020 ZEITSCHRIFT DES DUISBURGER INSTITUTS FÜR SPRACH- UND SOZIALFORSCHUNG
DISS-Journal Sonderausgabe Juli 2020 ZEITSCHRIFT DES DUISBURGER INSTITUTS FÜR SPRACH- UND SOZIALFORSCHUNG IMPRESSUM REDAKTION DISS-Journal Jobst Paul Duisburger Institut für Sprach- LAYOUT und Sozialforschung (DISS) Guido Arnold Siegstr. 15, 47051 Duisburg Tel.: 0203/20249 Fax: 0203/287881 info@diss-duisburg.de Schutzgebühr: 4 EUR www.diss-duisburg.de kostenfrei für Mitglieder Blog: www.disskursiv.de des DISS-Förderkreises INHALT 3 Bedingt abwehrbereit 29 Not fit for the fight 3 Abstracts 29 Abstract 4 Der status quo 30 The status quo 8 Begriffliche Reformation 33 Conceptual reformation 13 Rassismus vs. Antisemitismus 37 Racism vs. anti-Semitism 15 Zur Diskontinuitäts- oder Säkularisierungs-These 39 On the discontinuity or secularization thesis 15 a) Funktionen 39 a) Functions 16 b) Folgen 40 b) Consequences 16 ‚Wissenschaft‘ als Propaganda 40 “Science” as propaganda 18 ‚rassistischer‘ = ‚moderner‘ Antisemitismus? 41 ‘Racist’ = ‘modern’ anti-Semitism? 21 Das ‚vom Judentum befreite‘ Christentum 44 Christianity ‘freed from Judaism’ 25 Von der Nächstenliebe. Zur Geschichte eines Raubguts 47 About charity. The story of a trophy. 27 Fazit 49 Conclusion 50 References / Literatur
Bedingt abwehrbereit ANTISEMITISMUSFORSCHUNG ZWISCHEN FORMELKOMPROMISSEN UND DER VERSTRICKUNG IN DIE CHRISTLICHE SCHULDFRAGE. EIN PROTEST. Jobst Paul Abstracts In vielen Bereichen der Diskriminierung konnte in den More awareness has been raised in many areas of discrim- vergangenen Jahren mehr Bewusstsein geschaffen wer- ination in recent years, not least by dedicated research- den, u.a. durch engagierte Forscherinnen und Forscher. ers. The anti-Semitic radicalization of the past few years Die antisemitische Radikalisierung der vergangenen therefore raises the question of the role of (German) Jahre wirft daher umgekehrt die Frage nach dem Stel- anti-Semitism research. The article identifies methodo- lenwert der (deutschen) Antisemitismus-Forschung auf. logical and ideological deficits. For example, the fixation Der Artikel identifiziert methodische und ideologische of research on the ‘inside view’ of anti-Semitism leaves Defizite. Zum Beispiel lässt die Fixierung weiter Teile der those affected by anti-Semitism invisible. The history of Forschung auf die Innenschau des Antisemitismus die Be- the Christian discrediting of Judaism is often hinted at troffenen unsichtbar bleiben. Die Geschichte der christli- formally, but is then dropped in favour of questionable chen Diskreditierung des Judentums wird zwar oft formal racism theses. As this leaves the thrust of anti-Semitism angeführt, aber zugunsten fragwürdiger Rassismus-The- untouched, a decisive change in perspective is called for. sen ausgeblendet. Da auf diese Weise die Schubkräfte des Only when the social ethical teachings of Judaism, con- Antisemitismus unangetastet bleiben, wird ein entschie- cerning (a. o.) equality, justice, charity and education, are dener Perspektivwechsel eingefordert. Erst wenn die en- put into focus the nature of Christian injustice becomes gagierten Lehrinhalte des Judentums, u.a. zu Gleichheit, visible, namely to discredit these teachings for reasons of zu Gerechtigkeit, zur Nächstensorge und zur Bildung, in power, or - as has been the case in the case of ‘charity’ - den Mittelpunkt gerückt werden, wird das Ausmaß des even to occupy and then dilute it. The article considers christlichen Unrechts sichtbar, diese Inhalte aus Macht- itself to be a protest against a research that still shies away gründen zu diskreditieren, oder – wie bis heute im Fall from the steps described and thus ultimately is just sitting der ‚Nächstenliebe‘ – sogar noch für sich zu reklamieren, out anti-Semitism. um sie danach zu verwässern. Der Artikel versteht sich als Protest gegen eine Forschung, die die beschriebenen My critical remarks are focussing on aspects of the German Schritte noch immer scheut und so letztlich den Antise- situation, although some aspects may not only concern Ger- mitismus lediglich verwaltet. many. German quotes have been translated, English quotes are represented verbatim.
Der status quo 4 Der status quo Selten hat es in den Staaten des Westens eine ähnliche sind und eine „semantische Radikalisierung“ (ebd. 47) Welle an Beschlüssen und Willensbekundungen gegeben, „mit hoher Affektmobilisierung“ (ebd. 140) stattgefun- deren Ziel die Eindämmung, bzw. Ahndung antisemiti- den hat. In zehn Jahren vervierfachten sich antisemitische scher Kampagnen, Aussagen und Drohungen, kurz: der Online-Kommentare (ebd. 16). „Kampf gegen Antisemitismus“ ist. Freilich stehen viele Institutionen und Adressaten nur deshalb unter Zug- Nach Heike Radvan im Jahr 2010 (Radvan 2010a, 2010b; zwang, weil sie es seit Ende des Krieges und der Befreiung vgl. auch 2017) hat nun die Soziologin Julia Bernstein der Konzentrationslager erst so weit haben kommen las- Befunde aus einem anderen Bereich, dem der deutschen sen. Schulen zusammengetragen (Bernstein 20203). Auf über 600 Seiten erfahren wir, was sich jüdische SchülerInnen Die brutalen antisemitischen Gewalttaten und Terror- in Deutschland von ihren nicht-jüdischen MitschülerIn- akte in den USA, in Deutschland und anderswo entspre- nen und / oder LehrerInnen anhören oder gefallen lassen chen dem, was vielfältige Reports, Dokumentationen und müssen. Analysen weltweit aufzeigen: das Ausmaß, in dem anti- semitische Gewaltrhetorik vor allem in den sozialen Me- Bernstein weist erstmals den institutionellen Status des dien zugenommen hat und in vielfältigen Formen in die Antisemitismus an deutschen Schulen nach, d.h. das Aus- Alltagsdiskurse (vgl. Schwarz-Friesel 2020b) eindringt. maß, in dem jüdische SchülerInnen bedroht und zurück- gesetzt werden, ohne dass die nicht-jüdischen Beteiligten Nach Angaben der Anti-Defamation League dient seit Ja- einen Grund zur Kritik sehen. Meist sind es die jüdischen nuar 2020 die Corona-Pandemie als aktuellster Vorwand Betroffenen, nicht ihre Peiniger, die die Schulen wechseln für antisemitische Verschwörungsrhetorik, wonach Juden müssen. am Virus (durch Impfstoffe) verdienten, durch die Ver- breitung des Virus die Börsen manipulierten und Trumps Nimmt man hinzu, dass die Perspektiven jüdischer Men- Wiederwahl verhindern wollten. Einige Blogger jubeln schen bisher nicht einmal in der Forschung Beachtung darüber, dass der Virus auch Israel erreicht habe und for- fanden und selbst in der Holocaust-Gedenkkultur oft dern dazu auf, auf koschere Waren zu husten (Connelly übergangen werden, spricht dies für die gesellschaftliche 2020). Normalität antisemitischer Haltungen in Deutschland. Eine eingehende Analyse antisemitischer Internet-Kom- Vor diesem Hintergrund bleibt gar nichts anderes als die munikation hat Monika Schwarz-Friesel (Schwarz-Friesel Erkenntnis, dass die Aufklärung und Erziehung gegen 2020a) vorgelegt. Mit Hilfe eines ausgereiften methodi- Antisemitismus in den vergangenen Jahrzehnten - un- schen Werkzeugkastens und präzisen Aussagen-Klassi- beirrt von Misserfolg und Vergeblichkeit - ihren Gegen- fikationen (ebd. 26, 157-160)1 konnte ihre Studie rund 21 000 Textfragmente auswerten (ebd. 54), in denen sich zwischen 2007 und 2018 zumeist gebildete Online-Leser von WELT, Focus, Spiegel, FAZ, SZ, Tagesspiegel und taz mit antisemitischen Beschimpfungen, Bedrohungen und Verschwörungsthesen hervortaten.2 Aus diskursanalyti- scher Sicht besonders positiv hervorzuheben ist, dass die Korpus-Analyse „per Hand“ (ebd. 54) und durch „lingu- istisch geschulte Kodierer“ (ebd. 26) geschah. Die Studie kommt zum Schluss, dass derzeit alle wesent- lichen Kommunikationsbereiche des World Wide Web, z.B. Ratgeber- und Informationsportale (ebd. 93 ff), Re- cherche- und Suchportale (ebd. 97 ff) und die sogenann- ten Sozialen Medien (ebd. 98 ff) judeophobisch infiltriert 1 Die Autorin stützte sich auf ihre frühere Arbeit: Schwarz-Friesel; Reinharz 2017. 2 Anlässe waren u.a. die Öttinger-Filbinger-Affäre (2007), die Ga- za-Krise (2009), die Beschneidungsdebatte (2012) und der Israel-Be- such von Sigmar Gabriel (2017). 3 Vgl. auch Bernstein 2017, 2018.
5 Der status quo stand verfehlt haben und in offenbar völlig untaugliche Betroffenen, deren Geschichte und Kultur hinter der Re- Richtungen gegangen sind (Paul 2012). Und schaut man duktion verschwinden. (Ebd.: 2)7 auf das Gros der Gegenmaßnahmen, die nun vielerorts gefordert und beschlossen werden, so wird man auf die Angesichts dieser Perspektiven ist der Blick auf andere alten Rezepte und auf weitere disziplinäre Notbremsen Bereiche dehumanisierender Praktiken, etwa der Behin- treffen, nicht aber auf plausible kognitive Rezepte. dertenfeindlichkeit, des Anti-Feminismus, des Sexismus, des Anti-Ziganismus, des Rassismus8 und nun des Um- So versprachen die deutschen Innenminister im Oktober welt-Chauvinismus doch überraschend. Hier konnten 2019 mehr polizeiliche Schutzmaßnahmen, „neue Ein- engagierte Initiativen und Verbände, aber eben auch sozi- heiten“ beim Bundeskriminalamt (BKA) und beim Bun- alpolitisch orientierte ForscherInnen kritische Weichen- desverfassungsschutz und mehr Vereinsverbote.4 Auch stellungen im öffentlichen Bewusstsein erreichen. das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) fordert hauptsächlich mehr „Schutzmaßnahmen für die Im Gegensatz dazu kann die desolate Lage im Bereich der jüdische Gemeinschaft“ und für jüdische Einrichtungen.5 Aufklärung gegen Antisemitismus doch gar nicht anders gedeutet werden denn als ein sozialpädagogischer und so- Auch UNESCO und OSZE empfehlen in ihrem gemein- zialethischer Totalausfall – mit all den harten psychischen samen Leitfaden für politische Entscheidungsträger/-in- und oft physischen Folgen für eine unabsehbare Zahl von nen zur Bildungsarbeit gegen Antisemitismus (UNESCO (u.a.) von Antisemitismus betroffenen Menschen. Die / OSZE 2019) „reaktive“ Ansätze gegen entsprechende im April 2004 auf einer Berliner Tagung geäußerte Klage „Vorkommnisse“ (ebd. 75 ff). (Thoma, Schäuble 2004), für den Bereich Antisemitismus fehle es „im Unterschied zur pädagogischen Bearbeitung Was allerdings die eigentliche Bildungsarbeit angeht, so des Rassismus an Materialien, Methoden und Konzep- ist ausgerechnet die Weltorganisation für Bildung skep- ten“, scheint auch heute noch gültig zu sein. tisch, ob man damit viel erreichen kann (ebd. 31 ff): Sie will Lernende lediglich ‚ermutigten‘, sich „die notwendi- Strukturell zeichnete sich das Scheitern immer wieder auf gen Fähigkeiten“ eben selbst anzueignen. Pädagogik kön- ganz hoher Ebene ab: Die Forderungskataloge, die z.B. ne das Problem sogar verschärfen. Mehr als bei Lernen- anlässlich von Antisemitismus-Weltkonferenzen in For- den eine „gewisse Widerstandsfähigkeit“ zu entwickeln, melkompromissen verabschiedet wurden (Paul 2004b), erwarten die AutorInnen daher von Pädagogik nicht. schwiegen sich über konkrete Analysen weitgehend aus Eher sollen Lernende das „Bewusstsein für die Tatsache“ – und gaben diese Aufgabe wortreich an die Medien und entwickeln, „dass Menschen allgemein zu Vorurteilen die Pädagogik weiter. neigen.“6 Ein weiteres Beispiel scheint die vorherrschende Praxis der Holocaust-Pädagogik zu sein, fragwürdige päda- gogische Grundlagen – obwohl sie erfolglos und sogar kontraproduktiv sind – nicht auf den Prüfstand zu stel- len, sondern immer wieder neu zu reproduzieren. Nach Larissa Allwork (Allwork 2019) wird die Holocaust-Er- ziehung zumeist als „a simple, catch-all answer“ (ebd.: 1), sozusagen als Selbstläufer gegen Antisemitismus angese- hen, der Pädagogen keine weitere Reflexionsleistung auf- bürdet. Die ausschließliche Charakterisierung von Juden und Judentum als Opfer, die Konfrontation mit Grausam- keiten u.a.m. bilden keine kognitive Brücke, weder zum Verständnis von früherem, NS- noch gegenwärtigem Antisemitismus, vor allem aber nicht zu den auch heute 7 So fordern auch die Teilnehmer einer Wiener Antisemitis- mus-Konferenz von 2018 „a positive apprecia-tion of Judaism“ (Lange 2018: 41), die Entwicklung von „positive views on Judaism in Christi- 4 [https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-10/antisemitis- an thought based on the Jewish origins of Christianity” (Ebd.: 42), von mus-horst-seehofer-halle-rechtsextremismus-praevention]. “positive emotional experiences with the Jewish religion among non- 5 [https://www.katholische-sonntagszeitung.de/Nachrichten/ Jews” (Ebd.: 49), “positive memory spaces about Jews and Judaism in Kirchen-fuer-wirksamere-Massnahmen-gegen-Antisemitismus- the world’s cultural memories” (Ebd.: 52), “positive practical experien- Freitag-11.-Oktober-2019-09-55-00/(f_Rubriken)/536,64,1105,609, ces with Jewish culture and religion” (Ebd.: 54) und “positive teachings 1053,83,472,39337,474/(f_TagsEvents)/7,25,155,75,81,48,36] about the common origins of Judaism and Christianity”. (Ebd.: 89) 6 Bei der Broschüre handelt es sich weitgehend um eine Neuauflage 8 Der Hinweis wurde vor den Entwicklungen in den USA formuliert. bereits 2007 veröffentlichter Materialien (ebd. IV). Jetzt ist noch mehr zu hoffen, dass er sich als zutreffend herausstellt.
Der status quo 6 Das musste vor allem deshalb unangenehm auffallen, weil Vielzahl sozialer Ebenen in Deutschland auf. Doch davon bei diesen Konferenzen stets die in der Welt tonangeben- offenbar völlig unberührt und statt dem eine selbstkriti- de universitäre Antisemitismusforschung mit am Tisch sche Analyse der bisherigen Forschung und Lehre hinzu- saß, von der man die entscheidenden Orientierungen er- zufügen, wählen die AutorInnen den umgekehrten Weg: wartet hätte. Entsprechend des Mantras der Forschung ‚Wir stehen mit unserer Forschung noch ganz am Anfang!‘ findet sich auf Der pädagogischen Aufklärung gegen Antisemitismus sieben eng bedruckten DIN-A-4 Seiten (ebd. 290 ff) eine bleibt vor diesem Hintergrund wenig mehr, als sich wei- Fülle weiterer Forschungsideen, die die Frage nach ihrer terhin – mit wenig Aussicht auf Erfolg – u.a. auf den Anwendbarkeit und Relevanz noch einmal um weitere Kampf gegen ‚Vorurteile‘, auf die Bekanntschaft mit ‚jü- Jahre zum Schweigen bringen. dischem Leben‘ oder auf die Betonung der ‚kulturellen Leistung der Juden‘ zu stützen, als hingen Menschenrech- Dabei hatte der europäische Antisemitismusbeauftragte te von der Ablieferung von Nobelpreisen ab (Auer 2018). des American Jewish Committee (AJC), Stephan J. Kra- mer, schon 2015 kritisiert, dass noch nicht einmal die Freilich kann man einwenden, dass – was die Weltbühne Empfehlungen der ersten Expertenkommission aus dem betrifft – wirkliche Fortschritte in der Aufklärung gegen Jahr 2011 zu einer „ernsthaften politischen Auseinander- Antisemitismus durch die realpolitische Dominanz des setzung“ geführt hätten, sondern „in den Schubladen“ Nahost-Konflikts seit langem be- oder verhindert werden verstaubten. Es bleibe bei den „Mahnungen bei Gedenk- (Thoma/ Schäuble 2004). reden“ (ja 2018). Wenn dieser Generalpardon auf nationaler deutscher Dass sich am Bericht des Jahres 2017 dann (tatsächlich Ebene noch weniger als anderswo Geltung beanspru- erstmals) auch jüdische ForscherInnen beteiligen durften chen kann9, kommt man nicht umhin, den Gedanken (Bernstein 2017), kann zwar als positives Novum gedeu- auszusprechen, dass die seit vielen Jahren beobachtba- tet werden. Freilich darf nicht unerwähnt bleiben, dass re Zuspitzung antisemitischer Dynamiken und das tiefe die Bundesregierung zunächst versuchte, bei der Konsti- konzeptionelle Defizit der Forschung und der anti-anti- tuierung des Kreises im Jahr 2015 darum erneut herum semitischen Aufklärungsarbeit etwas miteinander zu tun zu kommen. Zunächst hatte in jenem Jahr eine Studie des haben. Doch selbstkritisches Einhalten, die Bereitschaft Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA) der TU zu einer rigorosen Debatte über vergangene Sackgassen Berlin 2015 „jüdische Perspektiven abgewertet und anti- und künftige Grundlagen einer kritisch engagierten Anti- semitische Tendenzen bagatellisiert“, d.h. die Betroffenen- semitismus-Forschung – all das hat es nicht gegeben. perspektive als befangen und überzogen dargestellt. (ja 2018; Klatt 2015). Danach beteuerte eine Sprecherin des Im Gegenteil: Der 2017 dem Bundestag vorgelegte Be- Bundesinnenministerium, es sei zwar angeregt worden, richt des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“ auch „(internationale) jüdische Verbände und Organisa- (Deutscher Bundestag 2017) listet auf über 290 eng be- tionen mit ihren wichtigen Expertisen“ einzuladen, aber druckten DIN-A-4-Seiten penibel den niederschmettern- nicht Religion, sondern fachliche Qualifikation sei aus- den status quo der antisemitischen Dynamik auf einer schlaggebend gewesen – man habe, mit anderen Worten, angeblich keine ‚geeigneten‘ jüdischen Wissenschaftler 9 Kjetil B. Simonsen (Jewish Museum Oslo) (Simonsen 2020: 16): gefunden. (Klatt 2015; Czollek 2018 [1.Abschnitt]) “Historically, modern antisemitism was to a large extent imported Was der Bericht des Jahres 2017 dann freilich als Stim- from Europe to the Arab World during the late 1800s [sic! 1900s] and mungsbild aus den jüdischen Gemeinden einbrachte, early 1900s [sic! 2000s] (…). The first Arabic translation of The Pro- nämlich Angst und Ratlosigkeit angesichts der antise- tocols of the Elders of Zion was even published by local Christians mitischen Renaissance, kann nur eine Quelle tiefer Be- in Palestine and Syria during the mid-1920s (…).” Simonsen verweist drückung sein. Hinzu kommt allerdings, dass der Bericht auf Webman 2011 und Krämer 2006. Joseph S. Spoeri (Spoeri 2020: 5, 6, 9) erinnert konkret an die “Proclamation to the Muslim World”, (ebd. 95) selbst die Gefahr thematisiert, dass Juden und die der Großmufti von Jerusalem unter Britischem Mandat, Hajj Amin Judentum erneut nur über ihren Opferstatus bestimmt al-Husseini, im Jahr 1937 veröffentlichte. Er war “by far the most re- werden: „So sehr für die historische Darstellung gefordert spected and powerful leader of the Palestinian Arabs from the 1920s wird, dass die Opferperspektive angemessen berücksich- through the 1940s”. Die “Proclamation” war “a way of rallying Mus- tigt werden soll, so sehr ist die Einengung [...] auf die Op- lim opposition to the Zionist project in Palestine generally, and to the fergeschichte fatal, dies kommt nicht zuletzt in dem unter British Peel Commission’s partition proposal specifically. Already in Jugendlichen bereits banalisierten Schimpfwort ›Du Op- the 1920s, Husseini had begun invoking the Protocols to foment vio- fer!‹ auf perverse Weise zum Ausdruck.“ (Geiger 2012: 8) lence against the Jews in Palestine, but his 1937 “Proclamation” draws Dass antisemitische Dynamiken durch die Victimisierung almost entirely on the Islamic tradition for its anti-Jewish polemics.” von Juden und Judentum sogar immer wieder neu an- – “From 1941 to 1945, Hajj Amin al-Husseini lived in Nazi Germany where he served the Nazi war effort in many ways, including the bro- geheizt werden, wird durch eine neue Studie besonders adcast of Nazi propaganda to the Arab world.” hervorgehoben (Antoniou et al. 2020).
7 Der status quo Dazu passt die deprimierende Einsicht, dass die deutsche im hegemonialen Diskurs kein wirklicher Aufbruch aus- Gedenk- und Erinnerungskultur – und mit ihr die Ho- zumachen, diese Regeln in einem historischen Akt end- locaust-Pädagogik – offenbar nicht in der Lage waren, lich zu durchbrechen. die Fremdheitsbarriere Juden und Judentum gegenüber zu überwinden. Offenbar hat die vor allem in Deutsch- Auf Forschungsseite stehen für die Grundstimmung des land narzisstisch interpretierte Trauer- und Gedenkhal- Verharrens und Retardierens insbesondere zwei, ineinan- tung eher verhindert, das, wofür das Judentum tatsäch- der greifende Barrieren mit offenbar autoritativen Effek- lich steht, außerhalb dieser Trauer- und Gedenkhaltung ten: wahrzunehmen. Auf begrifflich-methodischer Seite ist es die fehlende Freilich kommen angesichts dieses Gesamtbefundes Bereitschaft großer Teile der Forschung, eine überfälli- Zweifel am Willen zu dieser Wahrnehmung auf. Eher ge begriffliche Reformation und Präzisierung ihrer For- scheint die Lage die stillschweigende Tendenz zu spie- schungsgegenstände vorzunehmen, die es erlaubt, ‚Phan- geln, an den gesellschaftlich tief verankerten Regeln der tom‘-Fragen von wirklich substanziellen Gegenständen Sagbarkeit und Nichtsagbarkeit festzuhalten, über die zu unterscheiden. Eine zweite Barriere ergibt sich daraus, seit vielen Jahrhunderten die Machteffekte des Antisemi- dass an einem Kanon sozial- und religionsgeschichtlicher tismus institutionalisiert sind und die seine Sonderrolle Thesen festgehalten wird, deren Plausibilität – wenn man gegenüber den vielen anderen Formen von Herabsetzung ehrlich ist – teilweise im umgekehrten Verhältnis zu ih- ausmachen: Auch über 75 Jahre nach dem Holocaust ist rem Geltungsanspruch steht.
Begriffliche Reformation 8 Begriffliche Reformation Betrachtet man zunächst die Notwendigkeit einer be- Nichts charakterisiert die Lage wohl ungeschminkter als grifflichen Reformation10, so ist damit insbesondere die die desolate These eines deutschen Antisemitismus-Be- Anforderung an Forschungsvorhaben gemeint, die Ebene auftragten, auch beim Antisemitismus handele es sich ihrer Fragestellungen anzugeben, bzw. deutlich ins Ver- (wie bei Corona) um einen ‚Virus‘ (AFP 2020). hältnis zu anderen Ebenen zu setzen. Fragen, die sich z.B. auf die (‚psychologische‘) Motiva- tion, d.h. auf die machtpolitische oder/und ökonomische Interessenlage antisemitischer SprecherInnen beziehen (die erste Ebene), stützen sich auf und erfordern andere methodische Instrumente als Fragestellungen, die sich mit dem weiten Feld der Vorwände, (Verschwörungs-) Theorien, Legitimationen, ‚Lehren‘ und Rechtfertigun- gen für antisemitische Herabsetzungen beschäftigen (der zweiten Ebene). Antisemitismus erscheint hier als naturwüchsig oder als überlebensgroßes Phänomen, das sich allen Eine wiederum völlig andere Perspektive, andere Metho- Erklärungsversuchen entzieht und als conditio dem Men- den und Corpus sind dort erforderlich, wo das sprach- schen, oder der Moderne, oder der menschlichen Psyche, liche Instrument der Herabsetzung selbst (die dritte Ebe- oder eben dem Bürgertum eingebrannt ist: Aus dieser ne) untersucht werden soll. Sicht ist „Antisemitismus keine beliebige Ideologie“, son- dern gehört zur bürgerlichen Gesellschaft dazu, „gerade Einige Beispiele: weil diese Denkweise eine Antwort auf das grundmoder- ne Phänomen Gemeinschaft/Gesellschaft ist.“ (Schröder Das Nachzeichnen antisemitischer Legitimationen, Theo- 2017)12 riegebäude, Lehren und Argumentationen, das einen so breiten Raum in der Antisemitismusforschung einnimmt, Die besonders bedrohliche Konsequenz solcher Essenzia- muss zu einem ‚geistesgeschichtlichen‘ und damit legiti- lisierungen des Antisemitismus betrifft selbstverständlich mierenden Schein führen, wenn diese Argumentationen die jüdische Existenz selbst.13 Letztlich wird hier nicht nicht ins Verhältnis gesetzt werden zu den meist sehr ir- nur den Erfolg, sondern die Unvermeidlichkeit der anti- dischen Interessenlagen antisemitischer SprecherInnen. 12 Auch nach Karin Stögner (Stögner 2020:o.S.) steht Antisemitismus für „a deep unease and discontent in civilisation and an inability to Andererseits kann die Psychologisierung, ‚Psychoanaly- understand abstract power relations and their institutions“, für „a dis- tisierung‘ bzw. Pathologisierung des Antisemitismus auf torted perception of capitalist relations of production and their logic eine Entlastung der antisemitischen SprecherInnen oder of exploitation“ und für die „personalisation of what are in reality su- auf anthropologische Generalisierungen und – nach dem pra-individual, abstract, social processes“. Welchen Akteuren all dies Motto ‚Antisemitismus ist überall und immer‘ – auf Ent- zugeschrieben wird, bleibt ebenso unerwähnt wie die empirisch-so- historisierung, Anthropologisierung und auf Welterklä- ziologische Grundlage und Aussagen-Reichweite solcher Spekulatio- rungsmodelle hinauslaufen, die dann den ‚Kampf gegen nen. Hier hilft leider auch Stögners Begriffe der ‘ideology‘, bzw. der ‚ideologies‘ nicht weiter (sie fallen im betreffenden Aufsatz über 30 Antisemitismus‘ ohnehin überflüssig machen.11 Male), die auf einen unwägbaren geistesgeschichtlichen oder psycho- logischen Raum zu verweisen scheinen, ob empirisch oder nicht-em- pirisch, bleibt offen. 10 Vgl. Schwarz-Friesel 2020a: 39; Paul 2018: 18 ff. 13 Ein kontroverses Beispiel aus neuerer Zeit ist Bari Weiss‘ Buch 11 Es scheint, dass auch Samuel Salzborns jüngstes Argument (Salz- How to fight Anti-Semitism (Weiss 2019) in dem sie aus einer über- born 2020) auf eine solche These hinausläuft. Einerseits werden wältigenden Bedrohung durch den weltweiten Antisemitismus auf die überwältigende Anzeichen für die tiefe Verstrickung der deutschen Notwendigkeit schließt, zu autokratischen Mitteln zu greifen. Damit (nichtjüdischen) Nachkriegsgesellschaft in die Verleugnung und Ver- nähert sie sich Positionen der derzeitigen US-amerikanischen Admi- drängung der Vergangenheit aufgelistet. Gleichzeitig werden Kon- nistration. Benjamin Balthasar (Balthasar 2020) kommentiert: „Weiss’s zepte, die eine Verbindung zwischen angemessener Erinnerung und Judeo-American project, then, belongs to the long history, from post- einem universalistischen Fortschritt für möglich oder notwendig hal- colonial compradors to Latinos for Trump, of minorities adopting the ten, als utopistisch und etwas naiv oder verdächtig abgewertet (ebd.: values of their persecutors.” Äußerst kritische Kommentare kamen u.a. 106ff). Da - erstaunlicherweise - kein Ausweg angeboten wird, steht auch von Dave Schechter (Schechter 2019) und Shaul Magid (Magid hauptsächlich ein offenbar unauflöslicher ‚deutscher Zustand‘ der 2019) Weiss wird hauptsächlich vorgeworfen, die Essenzialisierung Selbstkränkung im Mittelpunkt. des Antisemitismus im Interesse ihrer Erfinder weiterzutreiben.
9 Begriffliche Reformation semitischen Logik bestätigt, Juden und Judentum voll- bis heute virulent, wenn Vorurteile und Stereotype gegen- ständig aus der ‚Welt‘ hinauszudenken: Als Betroffene des über Juden sich zu einem geschlossenen antisemitischen Antisemitismus können sie ja schwerlich zugleich seine Weltbild formen.“ (Wetzel 2014: 28-29) ‚Träger‘ sein, aber es gibt nur diese eine Welt, in der sie existieren könnten. Wenn unerfindlich bleibt, wie von hier eine Aufklärung gegen Antisemitismus gelingen soll, so erscheint die Ein- Die Missachtung der Eigenständigkeit der dritten, der sicht noch entscheidender, dass sich von der im Zitat aus- sprachlich-rhetorischen Ebene hat schließlich zur Be- gebreiteten, vermeintlichen Vielfalt der Antisemitismen stimmung einer stetig wachsenden Zahl von ‚Varianten‘ auf der sprachlich-rhetorischen Ebene so gut wie nichts des Antisemitismus geführt, die seit langem mit einer nachweisen lässt: eher fruchtlosen Debatte u.a. um ‚Abgrenzungen‘ und ‚Überschneidungen‘ einhergeht. Inzwischen würde eine – In ihrer bereits erwähnten Studie untersuchte Monika nur vorläufige – Zusammenstellung aus der Forschungs- Schwarz-Friesel 800 historische Textfragmente (vom publizistik umfassen: den vorchristlichen, religiösen, 16. Jahrhundert bis 1945), „die besonders typische ju- christlichen, sozialen, politischen, rassistischen, sekundä- denfeindliche Stereotypkodierungen und Argumente“ ren, Alltags-, nationalen, linken, rechtsextremen, musli- enthalten. Dabei stellt sich heraus, „dass die Sprachge- mischen, islamistischen Antisemitismus. brauchsmuster sich kaum verändert haben“ und wie sehr die antisemitischen „Ausdrucksformen des 21. Jahrhun- Vor diesem Hintergrund erweist sich – wie im folgenden derts immer noch angelehnt sind an die uralte Hassrheto- Zitat – das Dickicht rein akademischer Differenzierungen rik des Mittelalters.“ (Schwarz-Friesel 2020a: 28-29) oft nur noch als widersprüchliches, kaum mehr nachvoll- ziehbares Changieren und Jonglieren14: Dies gilt nach Schwarz-Friesel auch für den Post-Holo- caust-, d.h. Israel-bezogenen Antisemitismus (ebd.: 39) „Heute dominieren mit dem sekundären und dem israel- nach 1945, der „gemäß der allgemeinen Anpassungsten- bezogenen Antisemitismus (Antizionismus) im Wesent- denz von Judenhass – den alten Stereotypen und Schuld- lichen zwei Formen der Judenfeindschaft, die erst nach zuweisungen der klassischen Judenfeindschaft“ folgt: dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. Ähnlich wie der „Auch Holocaust-Leugnung und -Relativierung sowie Antijudaismus, also die religiös begründete Judenfeind- Täter-Opfer-Umkehr aus den Motiven Erinnerungsab- schaft, und der moderne beziehungsweise traditionelle wehr und Schuldentlastung führen die lange Tradition Antisemitismus basieren beide Varianten auf der Imagi- der Judenfeindschaft kontinuierlich weiter.“ (ebd.: 41)15 nation eines angeblichen jüdischen Kollektivs, das gemäß gängiger Verschwörungstheorien Jüdinnen und Juden So kommt Monika Schwarz-Friesel zum Schluss: zuschreibt, als eine Gruppe zu agieren, die die Macht in allen gesellschaftlich und politisch relevanten Bereichen „Die kontinuierliche Wiederholung der immer gleichen anstrebe beziehungsweise bereits übernommen habe. Die Argumente und Muster zeigt sich auch beim Vergleich christliche Judenfeindschaft bleibt heute meist auf sektie- von aktuellen Antisemitismen aus unterschiedlichen rerische religiöse Randgruppen beschränkt. Facetten des politischen oder ideologischen Richtungen: Antisemitis- modernen Antisemitismus, dessen rassistische Grundie- men, unabhängig, ob sie von rechten, linken, muslimi- rung heutzutage eher nicht mehr verfängt, sind allerdings schen oder mittigen, ob von gebildeten oder ungebildeten Menschen produziert, weisen eine Äquivalenz in Struktur und Argumentation auf. Die Inhalte und sprachlichen Formen sind oft nahezu austauschbar. Trotz stilistischer Differenzen ist der Sprachgebrauch der meisten Verfas- ser antisemitischer Texte sehr ähnlich und weist bis in die Detailstruktur der Texte hinein identische Muster auf.“ ebd.: 87)16 15 Die Autorin lehnt insbesondere den Begriff des ‚sekundären‘ Anti- semitismus ab, der suggeriert, es handle sich um „etwas Abgeleitetes, weniger Gefährliches“, und fordert, auf solche „semantisch inadäqua- ten Termini“ fortan zu verzichten (Schwarz-Friesel 2020a: 40). 16 Einen der denkwürdigsten Nachweise, dass es keine „(qualitati- vely) different syndromes of anti-Semitism“ oder „independent cons- 14 Die meisten der folgenden Stellungnahmen aus der Forschung tructs“ gibt, führte schon 2009 der Friedensforscher und Vertreter der sind absichtlich Publikationen entnommen, die für die breitere Öf- theoretischen (d.h. mathematisch-statistischen) Psychologie, Wilhelm fentlichkeit bestimmt sind und die daher von sich aus repräsentative Kempf (Kempf 2009). In einem von der Deutschen Forschungsge- Gültigkeit in Anspruch nehmen. meinschaft geförderten Projekt wies er anhand von vorhandenen
Begriffliche Reformation 10 Wenn sich unterschiedliche Antisemitismen nicht auf bzw. das Opfer als lernunfähig und als befangen in sei- sprachlich-rhetorischer Ebene abbilden lassen, so zei- ner ‚bestialischen‘ Natur zu zeichnen, um mit Hilfe die- gen langjährige eigene diskursanalytische Arbeiten sogar, ses Feindbilds die eigene ‚Wir‘-Gruppe zu willigen Inst- dass alle Formen der Herabsetzung, ob sie nun rassistisch, rumenten im Rahmen von Interessen auf Sprecherseite antisemitisch, sexistisch oder anders legitimiert werden, zu formen. Kurz: Das Narrativ der Herabsetzung ist be- mit einem einzigen und damit stets mit demselben rheto- reits von Haus aus eine biologistische Konstruktion und risch-narrativen Bausatz arbeiten.17 wird dazu nicht erst durch Vorwände wie u.a. Rasse, Ge- schlecht, Behinderung gemacht. Er operiert – grob zusammengefasst – mit zwei dramatis personae, wobei dem Vertreter der Wir-Gruppe superlati- Daher wird es auch nicht gelingen, auf der sprachlichen visch gute, und dem der herabgesetzten Sie-Gruppe total Ebene eine qualitativ ‚neue‘, allein antisemitische Motivik schlechte Eigenschaften zugeschrieben werden. Die su- zu entdecken, oder aber auf dieser Ebene ‚Abgrenzungen‘ perlativische Selbstzuschreibung, d.h. die zentrale, ‚gute‘ oder ‚Überschneidungen‘, etwa zwischen rassistischen Eigenschaft besteht regelmäßig in der selbstlosen Erarbei- und antisemitischen Aussagen. Feststellbar ist nur die tung von Gütern fürs Gemeinwohl (Selbstaufopferung, Kumulation unterschiedlicher Begründungen (auf der Güterakkumulation). Sie wird als die rationale, die zivili- Begründungsebene).18 Dies führt dazu, dass Juden und satorische, oder kurz: als die Kopf-Ebene portraitiert. Judentum zwar Ziel von rassistisch, sexistisch oder an- ders begründeter Herabsetzung sein können, dass dies Die zentralen, der Sie-Gruppe zugeschriebenen schlech- aber nichts am antisemitischen Charakter der Herabset- ten bzw. bösen Eigenschaften sind spiegelbildlich dazu. zung ändert: Noch immer sind Juden und Judentum als Sie spielen mit Körpermetaphorik und der Unterstellung solche das Ziel der Attacken. einer feindlichen, ‚nackten‘ Selbsterhaltungsstrategie: Der Sie-Gruppe wird die Unfähigkeit zur selbstlosen Güter- Ein Blick auf den Vorgang des Othering – und des Sprach- akkumulation (‚Dummheit‘) und die Strategie, bzw. die verhaltens des US-Präsidenten Donald Trump – mag das Gier etc. unterstellt, sich aufgrund des Fehlens rationa- illustrieren: ler Fähigkeiten – mit aller Gewalt – eben die Güter der Wir-Gruppe einverleiben zu wollen (totaler Egoismus). So ist durchaus geläufig, dass sich SprecherInnen mit Blick auf ihre Opfergruppen beim Vorgang des Othering zu- Wenn diese ‚Geschichte‘ für alle Formen der Herabset- nächst (gefälschte oder manipulierte) Details (fakes) der zung die gleiche ist, folgt daraus, dass erst die ausdrück- Realität herauspicken, um danach diesen Details den er- liche Nennung der herabgesetzten Zielgruppen und ggf. wähnten rhetorisch-narrativen Bausatz der Herabsetzung der mit ihnen assoziierten Themen offenkundig werden überzustülpen. Zumeist liegen diese Details, die für die lässt, ob eine rassistische, antisemitische, sexistische oder Herabsetzung ‚zubereitet‘ – oder erfunden – werden, im anders legitimierte Form der Herabsetzung vorliegt. Bereich der schnellen rhetorischen Verfügbarkeit und der vermeintlichen Sichtbarkeit: Details des Aussehens (der Daraus folgt dann allerdings auch, dass es eine spezifi- ethnischen Zugehörigkeit, der Gesundheit, der Behin- sche sprachliche Form der antisemitischen Herabsetzung derung), des Geschlechts oder des sozialen Status‘ u.v.m. nicht gibt: Alle Erzählmotive, die gegen Juden und Juden- sind für SprecherInnen zumeist ‚Realität‘ genug, um mit tum vorgebracht werden, finden sich in anders legitimier- ihnen die Herabsetzung zu begründen. Aber eigentlich ten Herabsetzungen auch. Das ist auch nicht verwunder- kann ‚alles‘ als Vorwand dienen. Philip Cohen bestätigt, lich, denn alle Motive, die sich auf die Charakterisierung dass sich z.B. rassistische Sprecher „bei ihrer Suche nach der Sie-Seite beziehen, seien es Motive der Dummheit, natürlichen Symbolen der Minderwertigkeit nicht ein- der Sex-, Fress-, der Fäkal- oder der Mastermind-Moti- fach auf körperliche Merkmale“ beschränken: vik, liegen im Narrativ der Herabsetzung bereit – und sie wurden seit Jahrhunderten auch genutzt. „Namen und Anredeformen, Geisteshaltungen und Le- bensbedingungen, Kleidung und Brauchtum - alle Ar- Zusammengenommen ist es stets das Ziel des hier be- ten von Sozialverhalten und kultureller Praxis sind zum schriebenen Narrativs der Herabsetzung, den ‚Gegner‘, Dienst gepresst worden, das „Wesen“ irgendeiner „Rasse“ zu bezeichnen. In der Sichtung dieses Materials verhalten empirischen Umfragedaten (aus Petzold 2004) nach, dass alle Legi- sich die rassistischen Kodierungen opportunistisch und timationen von Antisemitismus „are indicators of one and the same folgen einzig einer Ökonomie der Bedeutungen: sie wäh- anti-Semitic attitude“. Der Nachweis richtete sich vor allem gegen die These, dass ein ‚klassischer‘ Antisemitismus, ein auf die Leugnung der NS-Vergangenheit bezogener, also ‚sekundärer‘ Antisemitismus, und 18 Das Ergebnis sind (intersektionale) Mehrfachzuschreibungen, de- ein ‚latenter‘, nicht offen geäußerter Antisemitismus unterschiedlich ren Effekte für die konkret Betroffenen massiv sind, etwa wenn diese zu bewerten seien. z.B. das Ziel rassistischer, antisemitischer und sexistischer Angriffe zu- 17 Zum folgenden Paul 2018: 45-68. gleich sind.
11 Begriffliche Reformation danach versucht19, Schiff als Person und Politiker zu zer- stören, um seine Position im Amtsenthebungsverfahren gegen Trump zu treffen. Welche Assoziationen, bzw. welche Rückschlüsse auf Eigenschaften Schiff ’s die Öffentlichkeit ziehen sollte, überließ Trump nicht dem Zufall, indem er die Kampag- ne mit dem Epitheton „shifty Schiff “ („Schieber-Schiff “) ergänzte. (Silverstein 2019) Freilich ist die hier bemühte ‚Mastermind‘-Variante der Herabsetzung, d.h. der Warnung vor einem Gegner, der die Ziele seiner Gier ‚hochintelligent‘ anvisiert, auch wenn sie in antisemitischem Zusammenhang häufig ist, nicht auf diesen Kontext beschränkt – aus Machtkämpfen unterschiedlichster Beteiligter, z.B. Kriegsgegner, ist das Mastermind-Motiv seit langem als propagandistisches Kampfmittel bekannt. Dass antisemitische Herabsetzungen aber dennoch, d.h. auch dann einen ganz eigenen, sozialen und intellektuel- len, kurz: kulturellen Resonanzraum ‚bespielen‘, wenn sie u.a. mit bodyistischen, rassistischen oder sexistischen Zuschreibungen arbeiten, geht auch daraus hervor, dass – umgekehrt – eine antirassistische Pädagogik, d.h. eine Pä- dagogik, die Antisemitismus lediglich als Phänomen des len jene Zeichen aus, die für die ideologische Arbeit am Rassismus missversteht, erfolglos war und bleiben muss. geeignetsten sind.“ (Cohen 1986: 86) Entsprechend warnt Clemens Heni (Heni 2017: 1): “An- tisemitism is a much more complex phenomenon than Wo der Bezug zum ‚Sichtbaren‘ schwierig würde, wie hier most scholars in the field and non-experts might expect beim Bekenntnis oder der Zugehörigkeit zum Judentum, or think. Antisemitism is not just a subcategory of hatred, haben Sprecher – wie in der Gegenwart US-Präsident racism, or bigotry.” Donald Trump – kein Problem, nach Ersatz zu suchen und das Unsichtbare eben durch vermeintlich ‚Sichtbares‘ Ein Weg, die angesprochene Komplexität aufzubrechen, zu repräsentieren. wäre freilich eine diskursanalytische Beschreibung, die es erlaubt, daraus eine handhabbare Fragestellung zu entwi- Im Fall von Adam Schiff, dem jüdischen Vorsitzenden ckeln. Wenn nämlich antisemitische Attacken zwar u.a. des House Intelligence Committee, wählte Trump gar mit bodyistischen, rassistischen oder sexistischen Zu- dessen Hals (‚neck‘), um daraus für Schiff die Bezeich- schreibungen arbeiten können, ohne dass sich daraus das nung ‚pencil-neck‘ zu lancieren (Walker 2020). Mit der eigentliche antisemitische ‚Argument‘ erschließt, dann Produktion von Propagandamaterial mit dem Aufdruck indiziert dies ein Machtverhältnis, das über Regeln der ‚pencil-neck‘ auf T-Shirts und anderen Objekten wurde Nicht-Sagbarkeit organisiert ist. Die Aufgabe bestände dann darin, das Nicht-Sagbare zu ermitteln und auszu- sprechen. Auf dem Weg dahin bietet es sich allerdings an, zunächst ein Resümee zu ziehen. So muss die häufige Ausblendung der Unterschiede zwi- schen sozialpsychologischen, ideologischen und linguis- tischen Fragestellungen (und ihres Zusammenspiels) in Forschungsarbeiten zum Antisemitismus mit einer eher statischen Fixierung auf die Innenansichten des Antise- 19 [https://shop.donaldjtrump.com/products/pencil-neck-adam-schiff- tee].
Begriffliche Reformation 12 mitismus einhergehen. Dies erschwert die Wahrnehmung von Antisemitismus als Phänomen im Rahmen von Machtinteressen, ihren ideologischen Unterfütterungen und ihrer rhetorischen Durchsetzung – und damit die Konzeption von Gegenstrategien. Gewiss - die Dokumentation der Geschichte des Antise- mitismus, die Nachzeichnung von Strukturen und Dis- kursverläufen antisemitischer Themen und Aussagensys- teme, die Offenlegung der mit antisemitischen Strategien verknüpften Machtkalküle, die Identifikation ihrer his- torischen Träger und Proliferanten, die Analyse der von ihnen ausgehenden Gewalt und die Zuwendung zu den Opfern sind zentrale Notwendigkeiten, schon um eine Wiedererkennbarkeit in heutigen Diskursen, in heutigen Organisationsformen, in heutigen Machtkalkülen mög- lich zu machen und sich ihnen in den Weg zu stellen. Dann hat die Arbeit, auch als Erinnerungs- und Gedenk- arbeit, an psychologischen, soziologischen, diskursiven und anderen Blickwinkeln auf Antisemitismus, seien sie nun beschreibend, analysierend oder skandalisierend, ihren tiefen Sinn. Im Gegensatz dazu müssen hauptsächlich historisierende Forschungsinteressen fragwürdig erscheinen. Dazu ge- hört die Fixierung auf sogenannte ‚Varianten‘ des Anti- semitismus, die nicht zum Ziel hat, den Blick auf die Kernaussagen des Antisemitismus zu richten, die sich ganz offenbar als „der alte Judenhass“ hinter all diesen Varianten befinden.20 Und insbesondere angesichts der realen gesellschaftlichen Folgen von Antisemitismus für Schweigen (Paul 2010), womit man sie (bis heute) aus die auch heute von ihm Betroffenen muss der Versuch be- dem kulturellen Gedächtnis verbannte. fremdlich erscheinen, dem changierenden Spiel der anti- semitischen Adaptionen und Interessenlagen historische Allerdings ist es in der Antisemitismusforschung nicht bei Faszination abgewinnen zu wollen, bzw. in die Innenan- einer historisierenden Haltung geblieben, in der der As- sicht des Antisemitismus einzutauchen, als gäbe es jene pekt der Kontinuität verblasst. Oder anders: Ein histori- überhaupt nicht, über die er seit jeher diskreditierend, sierendes Forschungsinteresse allein kann nicht erklären, drohend und herabsetzend herzieht: „Ob ‚neu‘ oder ‚alt‘, warum sich in der Forschungsliteratur - über die Debatte ‚importiert‘ oder ‚hausgemacht‘: Alle Formen [von Anti- über Antisemitismus-Varianten hinaus – so häufig Er- semitismus] stellen eine Bedrohung für Juden und Jüdin- örterungen zu ‚Überschneidungen‘ und ‚Abgrenzungen‘ nen in Deutschland dar und werden von diesen auch so zwischen Rassismus und Antisemitismus finden. Dies empfunden.“ (Arnold 2019: 137). ist insbesondere vor dem Hintergrund erstaunlich, dass diese Unterscheidung auf der linguistischen Ebene des In der Tat perpetuiert eine historisierende Antisemitis- Ausgrenzungsnarrativs nachweislich keine Rolle spielt musforschung die Unsichtbarkeit von Juden und Juden- und sich auf der Ebene der Legitimationen auf einen ein- tum, die schon immer den notwendigen Rahmen für de- fachen Benennungsakt reduziert. Aus der Debatte um ren Diskriminierung, Ausschließung und Othering abgab. diese Frage seien nachfolgend einige Beispiele angeführt. Von daher verwundert es nicht, dass die hunderten, ja tausenden deutsch-jüdischen Autoren, die zwischen 1800 und 1939 Jahr um Jahr gegen antisemitische Attacken kirchlicher und politischer Würdenträger anschrieben und dabei nüchterne, bis heute gültige Analysen lieferten, bereits zu ihrer Zeit in den nicht-jüdischen Medien nicht zu Wort kamen – man überging sie mit Arroganz und 20 Sehr entschieden dazu: Schwarz-Friesel 2019: 412 [Anm.6].
13 Rassismus vs. Antisemitismus Rassismus vs. Antisemitismus So wird es in einer Stellungnahme als „Regel“ bezeich- Juden nähmen im antisemitischen Denken die Position net, dass in antisemitischen Konnotationen „Macht und ‚des Dritten‘ ein. (Holz 2005a) Vermögen“ von Juden im Visier sei, bei rassistischen Zuschreibungen dagegen, dass die Opfer als „randstän- Als überraschende Konsequenz der These hebt z.B. As- dig, als an unterster Stelle der Gesellschaft stehend, als trid Messerschmidt hervor, dass die Figur des ‚Juden‘ - als bildungsfern, als Angehörige des Prekariats“ gezeichnet eine „phantasmatische Figur“ – aus der Wir/Sie-Binari- werden. (Wetzel 2014: 24-25) Oder es wird in ganz ähn- tät hinausfalle, weil sie weder „den Ort des Wir noch den licher Weise postuliert, der Hass auf Juden richte sich des Anderen“ einnehme. Vielmehr gelte sie nun „als omi- gegen unsichtbare, „vorgeblich Mächtige, Überlegene, nöser, ungreifbarer Feind jeder Ordnung, als „Weltfeind“ Privilegierte“, also gegen „die da oben“. Rassistischer Hass und nicht als „‘normale‘ Nation, Rasse oder Religion“. richte sich dagegen gegen „sichtbare Markierungen einer (Messerschmidt 2017, mit Zitaten aus Holz/Kiefer 2010: sozial konstruierten colour-line“, d.h. sei also sozial „vor- 124) nehmlich nach ‚unten‘“ gerichtet. (Diner 2019: 485–486) Da dehumanisierende Aussagen allerdings grundsätz- Abgesehen davon, dass hier Rassismus mit Sozialdarwi- lich nur über Wir/Sie-Dichotomien möglich sind, müsste nismus bzw. Klassismus verwechselt wird, dürfte man man aufgrund der Thesen Holz‘ zum Schluss kommen, nach diesen ad hoc- Definitionen die dehumanisierenden dass es antisemitische, also herabsetzende Aussagen ge- Kampagnen gegen die zumeist verarmten Ostjuden im gen Juden und Judentum gar nicht geben kann. Soweit Deutschen Kaiserreich nicht als Antisemitismus bezeich- möchte aber wohl niemand gehen: Stillschweigend kas- nen. Auch nach der folgenden Variante der Unterschei- siert Messerschmidt daher die These vom ‚Dritten‘ wieder dung zwischen Rassismus und Antisemitismus müsste und bestimmt unmittelbar darauf Antisemitismus wei- man diese Kampagnen als „rassistisch“ bezeichnen: terhin als Weltbild, „das einfach in Gut und Böse einteilt sowie jegliche Komplexität ausschließt“. (Messerschmidt „Das Fremdmachen der als nichtzugehörig identifizierten 2017: 3-4) Anderen erfolgt im rassistischen Modus in Form der Ab- wertung, der Feststellung zivilisatorischer Defizite oder Andere begrüßen dagegen die „Konstruktion des Drit- mangelnder Modernität. Im Gegensatz dazu gelten die ten“ als „weitere spezifische Differenz zwischen Antise- Juden im antisemitischen Denken als Repräsentanten der mitismus und Rassismus“: „Während sich das Objekt des Moderne und somit als Zerstörer einer irgendwie besse- Rassismus noch innerhalb der binären Struktur befindet, ren und heileren Vergangenheit in einer überschaubaren hat im Antisemitismus das Objekt keinen Platz und alle Gemeinschaft.“ (Messerschmidt 2017: 3) Plätze inne.“ (Bundschuh 2007: 33) Dagegen wird in einem anderen Ansatz die Bezeichnung Obwohl für solche Spekulationen jede Nachweismöglich- Antisemitismus verteidigt, wenn in Argumentationen keit und Nachvollziehbarkeit auf der konkreten sprach- nunmehr Juden und Judentum gegenüber dem eigenen lichen Ebene fehlt, erweckt auch Juliane Wetzel in ihrer Volk als die ‚nichtzugehörig identifizierten Anderen‘ er- Darstellung den Eindruck, bei der These vom ‚Dritten‘ scheinen. (Weyand 2017: 42-44) Das hätte freilich die handle es sich um eine empirische Beschreibung von tat- Folge, dass wir Rassismus im Unterschied dazu offenbar sächlich „gängigen antisemitischen Stereotypenmustern“. für ein untergeordnetes, eher harmloses Geschehen allein Dabei nimmt die Autorin allerdings die Einschränkung auf der privaten Ebene zu verstehen hätten. auf Muster vor, die „rassistisch-kulturalistische Kompo- nenten“ aufweisen: Nach dem Motto „Juden passen ein- Teilweise bauen ForscherInnen in ihre Formulierungen fach nicht zu uns“ werde von Antisemiten „unterstellt, Ju- noch die zusätzliche Komplikation ein, die Klaus Holz zur den seien kulturell anders, gehören einer fremden Kultur Debatte um Identität und Differenz von Rassismus und an, seien also „Fremde“ oder symbolisieren gar die „Figur Antisemitismus beisteuerte, und zwar in Form der These, des Dritten“, stehen also völlig außerhalb der Dichotomie „Wir“ und „die Anderen“.“ (Wetzel 2014: 24-25)
Rassismus vs. Antisemitismus 14 Das würde nun erneut bedeuten, dass sich Antisemitis- mus, da er angeblich aus der Dichotomie von „Wir“ und den „Anderen“ herausfällt, nicht in dehumanisierenden Aussagen niederschlagen kann (da diese dichotomisch mit Wir/Sie-Stereotypen arbeiten). Es würde aber gleich- zeitig bedeuten, dass er dehumanisierende Aussagen ge- neriert – da sonst keine „rassistisch-kulturalistische Kom- ponente()“ in ihm ermittelt werden könnte. Klaus Holz selbst bezeichnet diese Untiefen seiner These allerdings positiv als „verblüffende Konsequenz“: „Da ‚der Jude‘ in die Position des Dritten gerückt wird, ist der moderne Antisemitismus genuin transnational, transrassisch beziehungsweise transreligiös und im glei- chen Atemzug und aus dem gleichen Grund heraus natio- nal, rassisch und religiös. Dies vermeintliche Paradox hat zu großen Verwirrungen und Ungereimtheiten in geläu- figen Antisemitismustheorien geführt, da häufig der eine Aspekt gegen den anderen ausgespielt wurde, anstatt ihre konstitutive Zusammengehörigkeit zu begreifen. Der An- tisemitismus ist national, rassisch beziehungsweise reli- giös, je nachdem, wie er die eigene Wir-Gruppe definiert. So wird geradezu davor gewarnt, Antisemitismus als Ver- Er ist transnational, transrassisch oder transreligiös, weil haltensweise „sui generis“ zu interpretieren, und „nicht er die Juden als Weltfeind imaginiert. Beides zusammen als Baustein im Gesamtphänomen Rassismus“. Das werde aber bedeutet, die Welt aus Sicht der eigenen Wir-Gruppe „keinen guten Ausgang nehmen“. (Zimmermann 2019: zu beschreiben, also von einer Mehrzahl an Völkern, Ras- 456) sen oder Religionen auszugehen, und diese Ordnung der Welt – und nicht nur die Existenz der eigenen Gruppe – Dennoch darf das Gewicht wohl nicht unterschätzt wer- durch die Juden bedroht zu sehen. Da die Welt national, den, das die These von der ‚Unterordnung‘ des Antise- rassisch beziehungsweise religiös zu ordnen sei, wird der mitismus unter den Rassismus in aktuellen Diskursen Dritte aus der Welt gerückt.“ (Holz 2005b: 19)21 hat und wie damit Perspektiven festgelegt, bzw. verhin- dert werden: So ist verbürgt, dass sich der britische La- Mit Sicherheit lässt sich im Anschluss nur sagen, dass da- bour-Führer Jeremy Corbyn gegen „alle Formen des mit wohl alle Zugänge, vor allem auch kognitive, zu einer Rassismus“ ausspricht und „folglich auch den Antise- nachvollziehbaren, kritischen Aufklärung gegen Antise- mitismus verurteilt. Er verurteilt ihn also als Antiras- mitismus erfolgreich verbaut wurden. Man kommt auch sist“ (Klug 2019, 362-363) - und scheint daher nicht in nicht umhin, diese Mystifizierung des Antisemitismus - der Lage zu sein, sich selbst eine besondere Empathie hin zu einem Phänomen, das sich allen Erklärungsversu- und ein besonderes Verstehen „Juden“ und „Judentum“ chen (und Gegenstrategien) entzieht, noch einmal mit- gegenüber zu erlauben. Noch weiter geht vermutlich die verantwortlich zu machen für das schreckliche Bild des Unterordnungsthese, wenn sie die „Verfolgungs- und ‚aus der Welt‘ gerückten Juden. Vernichtungsgeschichten in der deutschen Vergangen- heit“ als rassistisch bezeichnet, die lediglich antisemitisch Die Debatte um Rassismus und Antisemitismus ist damit begründet worden seien. (Attia 2014: 8) freilich noch nicht abgeschlossen. Andere Stimmen spre- chen sich für die ‚Unterordnung‘ des Antisemitismus un- Philip Cohen postuliert, dass die Diskurse des Antise- ter den Rassismus aus, ohne angeben zu können, wie eine mitismus und des Rassismus sich ‚nicht willkürlich‘, also solche Unterordnung auf der Begründungsebene konkret dann wohl nach bestimmten Regeln „überschneiden“. und logisch hergeleitet werden, oder wie sie auf der Aus- Die Regeln kann er aber nicht angeben, da Antisemitis- sagenebene konkreter Texte funktionieren könnte. mus und Rassismus wiederum nicht „der rein formalen Vergleichbarkeit“ unterliegen. Dennoch wird indikati- visch festgehalten, Antisemitismus und Rassismus“ seien 21 Stögner (Stögner 2020:o.S.) übernimmt die Holz’sche These, Juden gemeinsame, wenn auch „sehr verschiedene“ Ausformun- nähmen eine Position „beyond binary categorisation“ ein. Sie bietet gen von Rassismus – die freilich wiederum ihre „je eigene die ähnlich rätselhafte Formel an, dass man die Komplexität des Anti- semitismus verfehle, „if we see it only as a form of racism; but we will Geschichte“ und Bedeutungsstruktur besäßen. (Cohen not understand it if we do not also recognise it as a form of racism”. 1986: 87, 94)
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