Dokumentationsstelle Antiziganismus - Amaro Foro eV
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Dokumentationsstelle Antiziganismus
5 JAHRE DOKUMENTATIONSSTELLE ANTIZIGANISMUS Ein Rückblick
W I R DANK E N AL L E N, D I E D U RC H MEL D U NGEN O D E R AUF AND E R E ART ZU R ENT ST EHU NG D I ESER D O K U M E N TAT I ON B EI GETRAG EN HA B EN.
INHALT Vorwort 6 Grußwort 8 Antiziganismus als spezifische Form von Rassismus 9 Historische Kontinuitäten und Konjunkturen des Antiziganismus (Markus End) 11 Rückblick auf fünf Jahre Dokumentation antiziganistischer Vorfälle in Berlin Entwicklung des Projekts 15 Entwicklung der Fallzahlen 19 Auswertung der Meldungen nach Lebensbereichen 24 Erläuterung der Erscheinungsformen 42 Interview »Die Migration innerhalb der EU wird nicht aufhören« Georgi Ivanov über die Beratungserfahrungen von Amaro Foro 48 Chronik sozialrechtlicher Veränderungen in der BRD 52 Interview »Die Lebensbedingungen haben sich verschlechtert« Philip Rusche über die aufenthaltsrechtliche Situation von Geflüchteten aus den Westbalkanstaaten und ihren Alltag in Berlin 54 Chronik asylrechtlicher Veränderungen in der BRD 58 Medienmonitoring Antiziganismus in der medialen Kommunikation 2014 – 2018 61 Social-Media-Monitoring 72 Politische Empfehlungen der Dokumentationsstelle 75 Nachweise 82
6 Einführung VORWORT Seit fünf Jahren setzt Amaro Foro ein Dokumenta- tionsprojekt zum Thema Antiziganismus um, das bundesweit einzigartig ist. Die Dokumentationsstelle Antiziganismus (DOSTA) erhebt, analysiert und ver- öffentlicht antiziganistische Vorfälle in Berlin in allen Lebensbereichen. Mit jährlichen Auswertungen macht DOSTA politische und soziale Akteure ebenso wie Ber- liner Medien auf Antiziganismus aufmerksam. Darü- ber hinaus unterstützen die Mitarbeiter*innen auf de- ren Wunsch Betroffene mittels Verweisberatung dabei, gegen die erfahrene Diskriminierung vorzugehen. In den fünf Jahren des Bestehens des Projekts wur- den insgesamt 699 Vorfälle mit antiziganistischem Be- zug dokumentiert, unzählige Projektvorstellungen vor möglichen Zeug*innen und Betroffenen umgesetzt und zahlreiche Betroffene beraten.1 Zwischen 2014 und 2018 steigerte sich die Zahl der dokumentierten Vorfälle um 50 Prozent. 2018 blieb die Zahl der di- 1 Amaro Foro und die Dokumentationsstelle Antiziganismus (DOSTA) danken allen, die durch Meldungen zur Entstehung dieser Broschüre beigetragen haben. Außerdem danken wir Luise Bublitz und Violetta Rehm von der Berliner Humboldt Law Clinic, Diana Botescu, Elisa Schmidt und Katharina Schoenes für inhaltliche und praktische Unterstützung.
Einführung 7 rekt gemeldeten Vorfälle auf dem hohen Niveau des beschriebenen Menschen haben zwar die deutsche Vorjahres (167): 161 antiziganistische Vorfälle wurden Staatsbürgerschaft, aber »so richtig deutsch« sind sie direkt gemeldet. offenbar doch nicht, sie werden als Fremde markiert. Angesichts dieser Zahlen gibt es nichts zu feiern. Dies deckt sich mit den Erfahrungen im Rahmen des Stattdessen wollen wir das fünfjährige Bestehen zum Dokumentationsprojektes und ist kein Vorfall, der Anlass nehmen, nicht nur die Auswertung der antizi- spezifisch für Berlin ist: In Sachsen versuchte ein AfD- ganistischen Vorfälle von 2018 vorzustellen, sondern Abgeordneter über eine Kleine Anfrage herauszufin- gleichzeitig einen Blick zurück zu werfen auf die Kon- den, wie viele Sinti*zze und Rom*nja im Bundesland tinuitäten und Veränderungen antiziganistischer Dis- leben und wie viele davon Sozialleistungen beziehen. kriminierung in Berlin seit 2014. Mit Artikeln zu den In Plauen wurde ein Haus in Brand gesteckt, in dem Besonderheiten von Antiziganismus als Form des Ras- Rom*nja aus Rumänien lebten. Während der Löschar- sismus, einem umfassenden Rückblick auf die Projekt- beiten riefen die umstehenden Anwohner*innen: laufzeit, Chroniken, Interviews und Grafiken werden »Lasst sie brennen!« die konkreten dokumentierten Vorfälle in einen ge- Das sind nur die offensichtlichsten Beispiele da- samtgesellschaftlichen Kontext von historischen Kon- für, dass Antiziganismus in weiten Teilen der Gesell- tinuitäten und gesetzlichen Verschärfungen gestellt. schaft noch sagbarer geworden ist, und zwar in allen Im Rückblick wird deutlich, welche Erscheinungsfor- Bundesländern. Die politischen und medialen Debat- men von Antiziganismus sich wie entwickelt haben ten der letzten Jahre sind hierfür zugleich Auslöser und welche Muster es gibt. und Verstärker. Die Aufgaben des Projektes werden Wie für jedes andere Dokumentationsprojekt zum also nicht weniger oder einfacher. Vor diesem Hin- Thema Rassismus gilt auch für DOSTA, dass von ei- tergrund nimmt jedoch auch die Bedeutung antiziga- ner viel höheren Dunkelziffer auszugehen ist. Antizi- nismus- und diskriminierungskritischer Arbeit ste- ganismus ist eine Form von Rassismus, die in auffal- tig zu. Die Projektauswertungen geben tiefe Einblicke lend hohem Maße gesellschaftlich akzeptiert ist. Auch in individuellen, strukturellen und institutionellen deshalb ist in Bezug auf die Rassismuserfahrungen von Rassismus und seine Funktionsweise. Sie liefern den Menschen mit selbst- oder fremdzugeschriebenem Ro- erdrückenden Beweis für die Existenz rassistischer ma-Hintergrund von einer besonders hohen Dunkel- Ausschlüsse und sind sowohl für die Prävention und ziffer auszugehen. Bekämpfung von Diskriminierungen als auch als Ma- Amaro Foro beobachtet ein steigendes Interesse terial in der Bildungs-, Sensibilisierungs- und Öffent- am Phänomen Antiziganismus, das sich auch im ge- lichkeitsarbeit unverzichtbar. stiegenen Bekanntheitsgrad von DOSTA und in der Amaro Foro e. V. versteht sich als parteiisch, als Inte- gestiegenen Häufigkeit von Anfragen an den Verein ressenvertretung und als Selbstorganisation für Men- niederschlägt. Dennoch berichten Betroffene nicht schen, die in Berlin allzu oft gar keine Lobby haben. von Verbesserungen und auch die Mitglieder des Vor diesem Hintergrund ist auch der Vereinsname zu Vereins erleben das Klima als zunehmend feindlich sehen, der übersetzt »Unsere Stadt« bedeutet: Diese gegenüber Menschen mit tatsächlichem oder zuge- Stadt gehört allen Menschen, die in ihr leben, unab- schriebenem Roma-Hintergrund, unabhängig von ih- hängig von Aufenthaltsstatus, Staatsbürgerschaft oder rer Herkunftsgeschichte. materieller Situation, und für ihre Rechte und ihre In- In der offiziellen »Polizeilichen Kriminalstatis- teressen werden wir auch weiterhin kämpfen. tik« des Landes Berlin von 2017, die 2018 veröffentlicht wurde, findet sich beispielsweise die folgende Passa- Merdjan Jakupov ge: »Zu dem Phänomen ›Trickdiebstahl in Wohnung‹ Vorstandsvorsitzender von Amaro Foro e. V. konnten insgesamt 86 Tatverdächtige ermittelt wer- den, davon 33 weibliche. (…) Bei den hierzu durch die Fachdienststelle ermittelten Tatverdächtigen handelt es sich überwiegend um Angehörige der Volksgrup- pe der Sinti und Roma. Diese Familienclans leben mittlerweile seit Jahren in Deutschland und besitzen größtenteils die deutsche Staatsangehörigkeit.« Ne- ben grober fachlicher Unkenntnis bezüglich der Min- derheit offenbart diese Textstelle vor allem eines: Die
8 Einführung tung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskrimi- nierung gefördert. GRUSSWORT Der Verein Amaro Foro e. V. leistet mit diesem Projekt eine bedeutsame Aufgabe: Antiziganistische Vorfälle werden berlinweit systematisch erfasst und veröffent- Sehr geehrte Damen und Herren, licht. Betroffene von antiziganistischer Diskriminie- Antiziganismus ist ein in unserer Gesellschaft rung erhalten hier eine unterstützende Erstberatung. weitverbreitetes und historisch tief verwurzeltes Pro- Sie werden darin bestärkt, ihre Rechte einzufordern blem. Bevölkerungsumfragen der Mitte-Studie (2018) und sich gegen Ungleichbehandlung zu wehren. zeigen eine deutlich ablehnende Haltung gegenüber Die Arbeit der Dokumentationsstelle zeigt: Anti- Sinti*zze und Rom*nja auf. Den Aussagen »Ich hätte ziganistische Diskriminierungen treten in so gut wie ein Problem damit, wenn sich Sinti und Roma in mei- allen Lebensbereichen auf. Rom*nja und Sinti*zze sind ner Gegend aufhalten« oder »Sinti und Roma neigen eine in sich sehr heterogene Gruppe. Dennoch berich- zur Kriminalität« stimmen rund 60 Prozent der Be- ten fast alle Menschen mit Roma-Hintergrund von Dis- fragten zu. Sinti*zze und Rom*nja sind in fast allen kriminierungserfahrungen. Diskriminierungen be- Lebensbereichen mit hartnäckigen Vorurteilen und treffen sie auf je unterschiedliche Weise. Hierbei geht es negativen Stereotypen konfrontiert. zum Beispiel um Diskriminierungen beim Zugang zum Für den Berliner Senat ist es eine wichtige Aufga- Wohnungs- oder Arbeitsmarkt und Benachteiligungen be, die Diskriminierungen von Sinti*zze und Rom*nja im Bereich der Bildung. Insbesondere neu zugewander- zu erfassen und sichtbar zu machen. Nur so können te Rom*nja erfahren Diskriminierung im Kontakt mit passende Maßnahmen zur Begegnung von Antiziga- Ordnungs- und Leistungsbehörden. Die vorliegende nismus entwickelt werden. Dokumentation zeigt dies sehr deutlich auf. Das Monitoring-Projekt »Dokumentation von Wir hoffen, durch die Aufklärung und Sensibili- antiziganistisch motivierten Vorfällen – Stärkung der sierung zu Antiziganismus mehr Menschen dazu zu Opfer von Diskriminierung« bildet einen wichtigen ermutigen, antiziganistische Vorfälle an die Doku- Baustein, um die Diskriminierung von Sinti*zze und mentationsstelle zu melden. Sie ist eine wichtige An- Rom*nja beziehungsweise von Menschen, denen ein laufstelle im Land Berlin. Roma-Hintergrund zugeschrieben wird, aufzuzeigen. Dieses Projekt besteht seit nunmehr 5 Jahren und wird Dr. Dirk Behrendt seitdem durch die Landesstelle für Gleichbehandlung Senator für Justiz, Verbraucherschutz – gegen Diskriminierung (LADS) der Senatsverwal- und Antidiskriminierung
Einführung 9 1. eine homogenisierende und essenzialisierende Wahrnehmung und Darstellung dieser Gruppen; ANTIZIGANISMUS 2. die Zuschreibung spezifischer Eigenschaften an ALS SPEZIFISCHE diese; 3. vor diesem Hintergrund entstehende diskri- FORM VON minierende soziale Strukturen und gewalttäti- ge Praxen, die herabsetzend und ausschließend RASSISMUS wirken und strukturelle Ungleichheit reprodu- zieren. 3 Antiziganismus ist eine spezifische Form von Ras- Diese Definition unterstreicht vor allem die diskurs- sismus gegen Menschen mit selbst- oder fremdzuge- theoretische Perspektive, betont also, dass es sich bei schriebenem Roma-Hintergrund. Dieser Rassismus Antiziganismus um ein Konstrukt der Mehrheitsge- hat nichts mit der Minderheit zu tun, sondern ist eine sellschaft handelt. Nach Stuart Hall hat Rassismus Projektion der Mehrheitsgesellschaft. In den europä- außerdem immer eine materielle Grundlage in dem ischen Mehrheitsgesellschaften ist Antiziganismus Sinne, dass er als Legitimation dient, um »bestimm- weitverbreitet und tief in sozialen und kulturellen te Gruppen vom Zugang zu materiellen und symbo- Normen und institutionellen Praktiken verankert. lischen Ressourcen aus(zu)schließen und dadurch der Dass Antiziganismus in der deutschen Mehrheits- ausschließenden Gruppe einen privilegierten Zugang gesellschaft weitverbreitet ist, bestätigt auch die Leip- (zu) sichern«.4 Dies ist die gesellschaftliche Funktion ziger Autoritarismusstudie: Der Aussage »Sinti und von Rassismus. Der Prozess funktioniert als eine Art Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden« Teufelskreis: Er legitimiert in vielen Fällen bereits be- stimmten 49,2 Prozent zu; bei der Aussage »Sinti und stehende soziale Ungleichheiten und naturalisiert sie Roma neigen zur Kriminalität« sind es sogar 60,4 Pro- dadurch, dass er sie als Konsequenzen des Verhaltens zent Zustimmung; 56 Prozent wollen Sinti*zze und einer Gruppe darstellt. Gleichzeitig werden soziale Rom*nja nicht in ihrer Nähe haben. Die Zustimmung Ungleichheiten dadurch fest- und fortgeschrieben. zu diesen Aussagen ist dabei seit Jahren konstant hoch Wie jede Form von Rassismus hat Antiziganismus und zum Teil noch gestiegen.2 auch für das Individuum eine Funktion: Indem eine Mehr noch als bei anderen Formen von Rassis- Gruppe durch Othering zu »Fremden« beziehungs- mus ist die gesellschaftliche Akzeptanz für Antiziga- weise »Anderen« gemacht wird, wird ihren Mitglie- nismus hoch und so kommt es meist auch zu keiner dern die gleichberechtigte Zugehörigkeit zur eigenen Verurteilung. Häufig wird vielmehr den Betroffe- Gesellschaft abgesprochen. Das Individuum kann ge- nen selbst die Schuld zugewiesen, wenn etwa gefor- sellschaftlich unerwünschte Eigenschaften oder Re- dert wird, Rom*nja müssten endlich integriert wer- gungen auf diese Gruppe projizieren und so ein ge- den. Gesellschaftliche Teilhabe und die Überwindung sellschaftlich akzeptiertes Ventil für Aggressionen von Ausgrenzung sind wichtig – dafür müssen aber finden. Dieser klassische Sündenbock-Mechanismus die Mehrheitsgesellschaft und die gesellschaftlichen hat außerdem für die Identitätsbildung eine wichti- Strukturen im Fokus stehen, nicht die Betroffenen. ge Funktion: Durch die Zuschreibung unerwünschter Amaro Foro orientiert sich an der Arbeitsdefinition Eigenschaften an eine Gruppe, die als nicht zugehörig der Allianz gegen Antiziganismus: markiert wird, wird ganz entscheidend die Findung einer eigenen Identität ermöglicht – in Abgrenzung Antiziganismus ist ein historisch hergestellter sta- von der als fremd markierten Gruppe. biler Komplex eines gesellschaftlich etablierten Ras- Heute wird Rassismus häufig nicht mehr biologis- sismus gegenüber sozialen Gruppen, die mit dem tisch unter Rückgriff auf »Rasse« begründet, sondern Stigma »Zigeuner« oder anderen verwandten Bezeich- kulturalisierend: Zunehmend gilt »Kultur« als Be- nungen identifiziert werden. Er umfasst: gründung für die behauptete Minderwertigkeit oder gesellschaftliche Benachteiligung. 2 Decker, Oliver/ Kiess, Johannes/ Schuler, Julia/ Handke, Barbara/ Brähler, Elmar 2018: 3 Allianz gegen Antiziganismus (Hg.) 2017: Antiziganismus – Grundlagenpapier. Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018: Methode, Ergebnisse und Langzeitverlauf. Online unter www.antigypsyism.eu, zuletzt abgerufen am 19.8.2019. In: Decker, Oliver/ Brähler, Elmar (Hg.): Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Gießen, S. 65-116, S. 103f. 4 Hall, Stuart 1989: Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Das Argument 178, S. 913.
10 Einführung Welche sind die klassischen noch weitverbreitet, beispielsweise in »Roma-Integra- antiziganistischen Stereotype? tionsprojekten«, die davon ausgehen, dass »man mit Rom*nja ganz anders arbeiten muss, weil sie so anders sind«. Auch hinter Paternalismus stecken häufig an- • Identitätslosigkeit: Rom*nja und dafür gehaltenen tiziganistische Vorurteile. Häufig ist keine »böse Ab- Menschen wird unterstellt, sie seien nicht in einem sicht« vorhanden, sondern den Akteur*innen ist nicht Heimatland oder einer Nation verwurzelt. Damit bewusst, dass es sich um Stereotype handeln, da der fehlt ihnen (angeblich) eines der wichtigsten Ele- Sensibilisierungsgrad in der Mehrheitsgesellschaft ge- mente, die eine bürgerliche Identität ausmachen: ring ist. die Verwurzelung in einer Heimat. Dazu passt es, Die Stereotype treten in der Realität häufig in dass sich das Stereotyp des Nomadentums hart- Verbindung miteinander auf und verstärken sich ge- näckig hält, obwohl über 90 Prozent der europä- genseitig. Insgesamt bilden sie einen Gegenentwurf ischen Rom*nja heute sesshaft sind. zu sämtlichen gesellschaftlich vorherrschenden Nor- • »Leben auf Kosten anderer«: Mit der Entstehung men und Werten. Für heutige Mediendebatten fun- der modernen Industriegesellschaften und der gieren antiziganistische Stereotype als eine Art Hin- protestantischen Arbeitsmoral wird Arbeit zu ei- tergrundfolie, die tief im kollektiven Gedächtnis der nem wichtigen gesellschaftlichen Wert. Individu- Mehrheitsgesellschaft verankert ist. Wenn in den letz- en müssen demzufolge etwas leisten, wenn sie da- ten Jahren von angeblichem »Asylmissbrauch« und zugehören wollen. Rom*nja oder dafür gehaltenen »Sozialtourismus« die Rede war, waren in der Regel Menschen wird unterstellt, keiner »produktiven Rom*nja gemeint. Vermutlich würde einer anderen Arbeit« nachzugehen beziehungsweise auf Kos- Gruppe nicht in der beobachteten Form reflexhaft un- ten anderer zu leben – sei es durch ein Leben als terstellt werden, dass sie ihre Heimat verlässt, nur weil Schausteller, Musiker und Wahrsager oder durch es woanders höhere Sozialleistungen gibt. Kriminalität, Bettelei und Sozialleistungsbezug. Eine erhebliche Verantwortung für das Er- starken rassistischer Ressentiments tragen dabei • Niedrigerer Zivilisationsgrad: Dieses Stereotyp Politiker*innen nicht nur der CSU, die in den letzten wurde vor allem im Zuge der europäischen Auf- Jahren Hetzkampagnen gegen eine angebliche »Ein- klärung wichtig. Während die Vernunft zum wanderung in die Sozialsysteme« betrieben. Auch in höchsten Ideal erhoben wurde, wurde Rom*nja der SPD ist Antiziganismus fest verankert: »Wir ha- und dafür gehaltenen Menschen unterstellt, auf ben derzeit rund 19.000 Menschen aus Rumänien und der Entwicklungsstufe der »Natur« (im Gegen- Bulgarien in Duisburg, Sinti*zze und Rom*nja. Ich satz zur »Zivilisation«) zu verharren. Während der muss mich hier mit Menschen beschäftigen, die ganze Romantik wurde dieser vermeintliche Wesenszug Straßenzüge vermüllen und das Rattenproblem ver- teilweise positiv bewertet – das ändert aber nichts schärfen«, erklärte Sören Link (SPD), der Oberbürger- an der Unterstellung einer fundamentalen An- meister von Duisburg, im August 2018. dersartigkeit. In heutigen Mediendebatten finden Solche medialen Debatten führen dann häufig zu sich immer noch häufig Bilder und Berichte, de- entsprechenden gesetzlichen Einschränkungen und ren zentrale Aussage darin besteht, dass Rom*nja Repressionen, die eine grundlegende Entrechtung und dafür gehaltene Menschen in moderne Gesell- von Rom*nja und dafür gehaltenen Menschen bewir- schaften wegen ihrer »Rückständigkeit« nicht »in- ken. Damit fungiert das antiziganistische Stereotyp tegrierbar« seien. gleichzeitig auch als Disziplinierung der Angehörigen • Fehlende Disziplin und Moral: Rom*nja und da- der Mehrheitsgesellschaft, denen vor Augen geführt für gehaltenen Menschen wird unterstellt, sie wür- wird, was ihnen droht, wenn sie (angeblich) den ge- den kindlich-impulsiv in den Tag hineinleben und sellschaftlichen Normen nicht gerecht werden. keinen Gedanken an die Zukunft verwenden, sie könnten nicht planen und würden gesellschaftli- che Normen nicht einhalten. Die genannten Stereotype können auch positiv be- wertet werden, was aber nichts daran ändert, dass es sich dabei um Rassismus handelt. Sie sind auch heute
Einführung 11 Polizeibehörden haben Sondereinheiten eingerichtet und Racial Profiling betrieben, Behörden haben Ab- HISTORISCHE läufe erschwert und zusätzliche Hürden aufgerichtet. KONTINUITÄTEN Schulen haben segregierte »Willkommensklassen« eingerichtet, »besorgte« Bürger*innen haben run- UND KONJUNK- de Tische einberufen und offene Briefe geschrieben, ihr gewaltbereiter Teil hat Migrant*innen angegrif- TUREN DES fen und in Mordabsicht ihre Wohnungen angezündet. Dennoch ist bis heute kein gesamtgesellschaftliches ANTIZIGANISMUS Bewusstsein dafür vorhanden, dass der Diskurs der »Armutszuwanderung« als die massivste Manifestati- on von Antiziganismus in der deutschen Gesellschaft Von Markus End der letzten Jahre verstanden werden muss. Auch der antiziganistische Begriff der »Armutszuwanderung« Seit fünf Jahren veröffentlicht Amaro Foro mittler- selbst, der bereits die kategoriale Unterscheidung ei- weile jährlich den vorliegenden Bericht, in dem an- ner »Arbeitsmigration« von einer Migration, die ver- tiziganistische Vorkommnisse eines Kalenderjahres meintlich nicht arbeiten will, in sich trägt, wird im- zusammengetragen sind und in gesellschaftliche und mer noch und immer wieder als vermeintlich neutrale politische Entwicklungen eingeordnet werden. Der Beschreibung verwendet. Bericht ist in dieser Form einmalig in Deutschland und seine Wichtigkeit kann nicht überschätzt wer- In den meisten Debatten werden die realen sozialen den, denn er hat in den vergangenen Jahren bestätigen Verhältnisse und Probleme der Migrant*innen eben- können, was aus theoretischer Perspektive und durch so ausgeblendet wie der wirtschaftliche Vorteil für die Einzelfallstudien seit Jahrzehnten beschrieben wird: deutsche Volkswirtschaft durch günstige Arbeitskräf- Antiziganismus ist als strukturelles gesellschaftliches te für das Baugewerbe oder die fleischverarbeitende Verhältnis zu verstehen, nicht als eine eigentlich ver- Industrie. Insbesondere die institutionellen Praktiken altete Unsitte einzelner noch nicht ganz aufgeklärter und Strukturen, die aus dem »Armutszuwanderungs«- Menschen. Das macht der Bericht in exemplarischer Diskurs resultieren, weisen dabei – neben allen auch Weise deutlich, indem er nicht nur einzelne Vorfälle grundlegenden Unterschieden – einige Gemeinsam- berichtet, sondern die strukturelle Dimension vielfäl- keiten mit jenen Praktiken und Strukturen auf, die tiger Diskriminierungsformen in ihrer Verschränkt- durch die rassistischen Diskurse gegenüber soge- heit aufzeigt und nachvollzieht. So wird immer wieder nannten »Gastarbeitern« in den 1960er und 70er Jah- deutlich: In dieser Gesellschaft gehört Antiziganis- ren, die antisemitischen Kampagnen gegenüber soge- mus zur nahezu unhinterfragten Norm, er entfaltet nannten »Ostjuden« im späten 19. Jahrhundert oder seine Wirkung auch jenseits der Einstellungen Ein- auch die frühe antiziganistische Politik insbesondere zelner durch seine institutionelle und systematische gegenüber sogenannten »ausländischen Zigeunern« Ausprägung. legitimiert und etabliert wurden. Die Begriffe haben sich geändert, die diskriminierende Absicht wird bes- Der antiziganistische Diskurs einer »Armutszuwan- ser verdeckt, Gesetze zielen formal nicht auf eine be- derung« beispielsweise wurde von weiten Teilen der stimmte Gruppe ab. Dennoch weisen insbesondere Gesellschaft und ihrer maßgeblichen Institutionen die lokalpolitischen Maßnahmen immer wieder Ähn- in unterschiedlicher Form und Radikalität getragen lichkeiten auf. Sie zielen darauf ab, eine dauerhafte und hat sich in vielfältiger Weise materialisiert: Medi- Ansiedlung zu verhindern. en haben stereotype und pauschale Bilder verbreitet, Lokalpolitik hat zunächst versucht, die »unerwünsch- Die historische Perspektive ist noch in anderer Hin- ten« Migrant*innen loszuwerden und sie in den letz- sicht äußerst relevant: Zumeist wird in gegenwärti- ten Jahren zum »defizitären« Objekt einer häufig gen westlichen Demokratien implizit davon ausge- paternalistischen und ethnisierenden Sozialpolitik gangen dass die Gesellschaft und »wir alle« eigentlich gemacht. Die Bundesregierung hat vor dem Hinter- »postracial« sind, wie der Rassismustheoretiker David grund und im Rahmen der Argumentation der Debat- Goldberg es formuliert hat. Gesellschaftlich besteht te die Migrations- und Sozialgesetzgebung verschärft, ein großes Bedürfnis, Bevölkerungseinstellungen in
12 Einführung Prozentzahlen abzubilden, jedes vermeintliche Auf Schlechterstellung entgegenzuwirken, in keinem Ver- und Ab rassistischer Einstellungen wird registriert. hältnis stehen. Materielle, soziale und psychologische Hier besteht implizit die Annahme, es ginge lediglich Schäden, die durch historische Ereignisse hervorgeru- darum, die letzten verbliebenen »Ewiggestrigen« auf- fen werden, werden aus dominanzkultureller Perspek- zuklären. Dabei wird sowohl die Normalität als auch tive generell vollkommen unzureichend anerkannt. die institutionelle und strukturelle Verankerung des Antiziganismus außen vor gelassen. Gleichzeitig wird Dem nationalsozialistischen Völkermord fielen etwa durch diesen liberalen (und zunächst erst mal wün- 500.000 Sinti*zze und Rom*nja zum Opfer. Unzähli- schenswerten) Diskurs die materielle und historische ge mehr wurden Opfer von Deportationen, Lagerhaft, Dimension von teils jahrhundertelanger Diskrimi- Zwangssterilisationen, medizinischen Experimenten nierung und Verfolgung systematisch ausgeblendet. oder Zwangsarbeit. Die Betroffenen erlebten die Kon- Das führt beispielsweise in den USA, für die Goldberg tinuitäten des Antiziganismus insbesondere in der seine These entwickelt hat, zu der eigentümlichen Si- Bundesrepublik Deutschland häufig als eine zweite tuation, dass sich Medien, Politik und Institutionen Verfolgung: Die gleichen Polizisten verbreiteten mit vordergründig postracial, ja sogar rassismuskritisch den gleichen Akten die gleiche Ideologie. Auch in der zeigen, während statistische Daten zur sozial-öko- Wissenschaft, in den lokalen Verwaltungen, in den nomischen Situation Schwarzer Communities in den medizinischen Einrichtungen, in den Schulen trafen USA eine fortschreitende Verschlechterung im Ver- Sinti*zze und Rom*nja wieder auf jene, die sie zuvor gleich zur weißen Bevölkerung belegen. ausgegrenzt, untersucht, vermessen, inhaftiert oder sterilisiert hatten. Bis heute muss die Verweigerung Die zugrunde liegenden historischen Prozesse sind einer auch nur annähernd akzeptablen Haftbarma- auch im Fall des Antiziganismus eigentlich nicht chung der Täter*innen, einer Beendigung der antizi- schwer zu verstehen und schnell umrissen. Ein Bei- ganistischen Gewaltverhältnisse, einer Anerkennung spiel in ganz groben Zügen: Bis Mitte des 19. Jahrhun- des Leidens sowie der resultierenden Traumata konsta- derts waren Rom*nja in den Gebieten des heutigen tiert werden. Eine substanzielle »Wiedergutmachung« Rumäniens versklavt. Sie konnten getötet, erniedrigt für geraubtes Hab und Gut, für Betriebe, Wohnungen und vergewaltigt werden, wie es ihren Besitzern (in und Häuser sowie für erlittenes Unrecht, für ermorde- den meisten Fällen Männern) beliebte. Das so pro- te Angehörige durch die deutsche Regierung und die duzierte Leid für Generationen von Rom*nja wird bis deutsche Gesellschaft hat nicht oder nur in Einzelfäl- heute politisch nicht einmal anerkannt, geschweige len stattgefunden, von einer Anerkennung der mate- denn dass versucht worden wäre, eine gesamtgesell- riellen Schäden, die die fortdauernde Ausgrenzung, schaftliche Auseinandersetzung zu diesem generatio- die kontinuierliche Diskriminierung im Bildungssys- nenübergreifenden Verbrechen zu suchen. tem, die systematischen Segregationspolitiken in der BRD hervorgerufen haben, ganz zu schweigen. Statt- Eine historische Perspektive, die materielle Verhält- dessen mussten noch in den 2010er Jahren in mehre- nisse zur Kenntnis nimmt, muss darüber hinaus auch ren Fällen die Witwen von KZ-Überlebenden um ihre feststellen, dass es Generationen versklavter Rom*nja bescheidenen Renten kämpfen, während die Versor- systematisch verunmöglicht war, wirtschaftliches gungsansprüche von Wehrmachtsangehörigen und und kulturelles Kapital zu bilden und dass stattdes- ihren Hinterbliebenen weiter sichergestellt sind. sen kollektive und individuelle, potenziell genera- tionenübergreifende Traumata produziert wurden. Ähnliches lässt sich, wenn auch in anderer Form, in Bereits diese historische Dimension würde eine sta- Bezug auf die Jugoslawienkriege und den Kosovo- tistisch schlechtere sozial-ökonomische Situation ru- krieg konstatieren. Die Anerkennung des Leidens mänischer Rom*nja im Vergleich mit rumänischen oder eine Entschädigung für zerstörte Häuser und Nicht-Rom*nja erklären. Nimmt man die (in Teilen) geraubtes Gut nach den durch die NATO geduldeten genozidale Verfolgungspolitik unter Antonescu, die Pogromen gegen Rom*nja im Kosovo beispielsweise gewaltvolle Zwangsassimilation unter Ceaușescu, die ist bis heute ausgeblieben. Auch die darauffolgende staatlich gelenkten Pogrome nach seinem Sturz An- Ungleichbehandlung durch Arbeitsverbote, Lagerun- fang der 1990er sowie die verbreitete gesellschaftli- terkünfte, eine permanente Abschiebedrohung und che Diskriminierung hinzu, wird klar, dass die ge- die Verweigerung von Aufenthaltsperspektiven muss genwärtigen Versuche, dieser historisch produzierten hier in den Blick genommen werden. Stattdessen wird
Einführung 13 vielfach von »Bürgerkriegsflüchtlingen« gesprochen, als ob kosovarische Rom*nja einfach vor den Kriegs- handlungen geflohen wären und keiner spezifischen Aggression ausgesetzt gewesen wären. Wie in vielen anderen rassistischen Konstellationen, insbesondere auch der europäischen kolonialen Aggression, wird durchgängig von der Gegenwart aus gedacht und das historische und gesellschaftliche Gewordensein sozi- aler Verhältnisse weitgehend ignoriert. Noch weniger politische Aufmerksamkeit besteht für die Auswirkungen von jahrhundertelanger – wenn auch nicht gleich bleibender und immerwährender, so doch immer wiederkehrender – Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung. Auch weit zurückrei- chende historische Ereignisse zeigen bis heute mate- rielle Folgen. Vielleicht lassen sich diese am besten durch einen Vergleich mit gesellschaftlichen Eliten verdeutlichen: Viele Adlige in Deutschland besitzen immer noch Land und Güter, die ihre Vorfahren ihren Untertanen abgepresst haben. Auch Unternehmensfa- milien, die weder oppositionell waren noch einen jü- dischen oder einen Roma-Hintergrund hatten, konn- ten ihre Firmen und Besitztümer häufig ohne größere Einbußen durch ein bis zwei Weltkriege hindurch retten und in vielen Fällen sogar erweitern. Im Ge- gensatz dazu wurde deutschen Sinti*zze und Rom*nja der Rückgriff auf eine Kapitalbildung vor dem Natio- nalsozialismus systematisch verunmöglicht. Die Ver- weigerung von Landbesitz oder Zunftmitgliedschaft hatte – zumindest im Durchschnitt – auch materielle Benachteiligungen zur Folge. Mit dieser materialistischen Perspektive möchte ich deutlich machen, dass eine Aufarbeitung der Aus- wirkungen des Antiziganismus bisher nur im Ansatz erfolgt ist. Gleichzeitig wird immer wieder subtil da- von ausgegangen, die heutige Dominanzgesellschaft, die immer noch von vergangenem Unrecht profitiert, habe die eigene Vergangenheit vollständig aufgearbei- tet. Stattdessen müsste sich gegenwärtige Politik fragen, welche grundlegenden Schritte unternommen werden können, um für die jahrhundertelange und häufig sys- tematische Benachteiligung zu entschädigen und ih- rer permanenten Fortschreibung entgegenzuwirken. Notwendig wäre eine Bereitschaft, Antiziganismus in seiner Gesamtheit, seiner Tiefenwirkung und seinen umfassenden Auswirkungen auf Betroffene als grund- legendes gesellschaftliches Problem anzuerkennen.
14 Rückblick 2014 – 2018 RÜCKBLICK AU F 5 J AH RE D O K UM ENTAT I O N A N TIZIGA N ISTISCHER VOR F ÄL L E I N B ERL I N
Rückblick 2014 – 2018 15 über diese Ressourcen nur in sehr geringem Ausmaß verfügen. Wo es möglich und gewünscht ist, werden ENTWICKLUNG Klient*innen von den Projektmitarbeiter*innen bera- DES PROJEKTS ten und begleitet. Die materielle Sicherung des eigenen Lebensun- terhalts steht für alle Menschen an erster Stelle. Bei Betroffenen von Diskriminierung und Gewalt setzt Amaro Foro e. V. erfasst seit 2014 kontinuierlich dis- die Entscheidung, sich mithilfe Dritter zur Wehr zu kriminierende und antiziganistisch motivierte Vorfäl- setzen, in der Regel einen Minimalstandard an sozi- le, die in Berlin stattfinden. Die Dokumentation wird aler Sicherheit (Unterkunft, materielle Existenzsiche- jährlich veröffentlicht, um die gesellschaftlichen und rung, Zugang zu medizinischen Basisleistungen) vo- institutionellen Ausschlussmechanismen sichtbar zu raus. Betroffene von Antiziganismus befinden sich machen, von denen Menschen mit tatsächlichem oder häufig aufgrund einer – strukturell und historisch zugeschriebenem Roma-Hintergrund betroffen sind bedingten – prekären Lebenssituation in einer beson- und so die Öffentlichkeit für antiziganistische Diskri- ders vulnerablen Lage.6 Rom*nja, die nach Berlin mig- minierungen zu sensibilisieren. Zu Projektbeginn ent- rieren, sind nicht nur in Deutschland mit antiziganis- wickelten die Mitarbeiterinnen der Dokumentations- tischer Diskriminierung konfrontiert, sondern waren stelle Aufnahmekriterien und Kategorien zur näheren bereits in den Herkunftsländern von massivem Ras- Einordnung der Vorfälle. sismus betroffen. Ausschlüsse, die bereits seit Gene- Seit 2015 sind auch Empfehlungen für politische rationen bestehen und verinnerlicht wurden, können Maßnahmen gegen Antiziganismus in Berlin Be- zu Resignation und zu Misstrauen gegenüber staatli- standteil der jährlichen Veröffentlichung. Darüber hi- chen Institutionen führen – dies ist eine zwingend zu naus werden seit 2014 die mediale Berichterstattung berücksichtigende besondere Ausgangsbedingung im in Berlin und seit 2017 antiziganistische Facebook- Vergleich zu Migrant*innen, die im Herkunftsland Beiträge der Berliner NPD- und AfD-Verbände do- der Mehrheitsgesellschaft angehörten. kumentiert und quantitativ und qualitativ analysiert. Somit hat das Dokumentationsprojekt neben indivi- Meldeverhalten duellem und institutionellem Rassismus auch den me- dialen Kontext in Berlin in weiten Teilen erschlossen. Zu den Grenzen der Auswertungsarbeit von DOSTA Für die Dokumentationsarbeit sind diese Informati- gehört, dass immer nur die Fälle einbezogen werden onen wertvoll, da, wie der Antiziganismus-Forscher können, die der Dokumentationsstelle oder koope- Markus End in seiner Medienstudie formuliert, me- rierenden Stellen gemeldet werden. Wenn aus einem diale Darstellungen »einen Hintergrund und eine Le- Bezirk mehr Meldungen eingehen, muss dies nicht gitimation für diskriminierende oder gar gewaltvolle an einem vergleichsweise höheren Vorkommen von soziale Handlungen« bilden. 5 Diskriminierung liegen, sondern kann durch Fak- toren wie den Grad der Vernetzung oder Sensibili- Möglichkeiten der Intervention sierung wichtiger Akteure im Bezirk bedingt sein. Die Fallzahlen sind somit auch davon abhängig, wie Viele Menschen, die von einzelnen Vorfällen im Rah- stark die Dokumentationsstelle lokal vernetzt ist, wel- men der Projektvorstellungen von DOSTA bei öffent- chen Sensibilisierungsgrad die Aktiven aufweisen, lichen Veranstaltungen und in Netzwerktreffen erfah- aber auch von der Dokumentationsstelle selbst: ihren ren, fragen danach, wie es einzelnen Betroffenen nach Mitarbeiter*innen, der Ansprechbarkeit und Präsenz dem Vorfall ergangen ist. Für einen Beratungsprozess in den jeweiligen Netzwerken. braucht es zeitliche und finanzielle Ressourcen und Aus den gemeldeten Fällen lassen sich Rück- Energie aufseiten der Betroffenen. schlüsse auf das Meldeverhalten von Betroffenen und Die Erfahrungen der Dokumentationsstelle zeigen, Zeug*innen ziehen. Menschen, die Vorfälle melden, dass Menschen mit tatsächlichem oder zugeschriebe- sind häufig Zeug*innen, die in ihrem beruflichen nem Roma-Hintergrund, die diskriminiert wurden, Alltag als Sozialarbeiter*innen und Mitarbeiter*innen anderer Beratungsstellen im Bereich Antidiskriminie- 5 End, Markus 2014: Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation. Studie für das Dokumentations- und 6 Amaro Foro e. V./ Anlaufstelle für europäische Roma – Konfliktintervention Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Heidelberg, S. 320. gegen Antiziganismus 2018: Der lange Weg zur Teilhabe. Berlin.
16 Rückblick 2014 – 2018 rung, aber auch Sozialrecht oder Wohnungslosenhilfe gen auf anonymer Basis zustimmt. Die genauen Orte durch Klient*innen von diskriminierenden Situationen der Diskriminierungen sind der Dokumentationsstelle erfahren haben oder selbst in diesen zugegen waren. bekannt, werden in der vorliegenden Publikation aber Für die Veränderung des Meldeverhaltens von nicht genannt, da diese Information in manchen Fäl- Zeug*innen und Betroffenen ist eine erhöhte gesell- len Rückschlüsse auf Betroffene von Diskriminierun- schaftliche Aufmerksamkeit für das Thema Anti- gen ermöglicht. ziganismus und Aufklärungsarbeit über Geschich- Anlässlich des Rückblicks wurden die eingegan- te und Formen von Antiziganismus zentral. Da die genen Meldungen der Jahre 2016, 2017 und 2018 neu Meldungen zudem sehr stark vom Bekanntheitsgrad ausgewertet, sodass erstmals vergleichende Zahlen zu des Projekts in lokalen Netzwerken abhängen, stellt den Erscheinungsformen vorliegen. Grundsätzlich ist sich für die Zukunft die Herausforderung, die Mög- aufgrund der weiten gesellschaftlichen Verbreitung lichkeit der Meldung und Beratung noch bekannter antiziganistischer Einstellungen von einer Dunkel- zu machen. Die Dokumentationsstelle will in Zu- ziffer auszugehen. Dies geht mit wenig Wissen und kunft auch in den Kanälen der sozialen Netzwerke vergleichsweise großer sozialer Akzeptanz von An- verstärkt zur Meldung von Diskriminierungsfällen tiziganismus einher. Gesetzesänderungen der letz- auffordern und hierfür über die Erscheinungsfor- ten Jahre im Bereich Sozialrecht haben zudem unter men von Antiziganismus informieren. Über die Jah- nur geringem Widerstand aus der Zivilgesellschaft die re mussten Mitarbeiter*innen des Projekts immer materiellen Ansprüche von EU-Migrant*innen stark wieder feststellen, dass Meldungen insbesondere bei beschnitten; in der Regel gingen diesen Änderungen Sozialarbeiter*innen, die in ihrer alltäglichen Arbeit antiziganistische Debatten voraus. Auch aufgrund von antiziganistischen Diskriminierungsfällen erfah- dieser Debatten ist der Grad der Sensibilisierung letzt- ren, an geringen personellen und zeitlichen Ressour- endlich gering. Im Kapitel zur Entwicklung der Fall- cen, aber auch an fehlender Sensibilisierung für ras- zahlen in der vorliegenden Broschüre wird zum bes- sistische Diskriminierung scheitern. Dies zeigt sich seren Verständnis der mediale und politische Kontext auch bei der Auswertung der Arbeit anderer Antidis- eines wachsenden Antiziganismus in Berlin und bun- kriminierungsstellen in anderen Bundesländern.7 desweit in Ausschnitten dargestellt. Die vorliegende Auswertung der zwischen 2014 Methodische Vorbemerkung und 2018 gemeldeten Fälle bietet nur einen kleinen Aus- schnitt der antiziganistischen Diskriminierungsfälle in Die kontinuierliche Erfassung und Auswertung von Berlin. Die Fallzahlen sind daher nicht als repräsentativ Diskriminierungsfällen hat zum Ziel, zunächst For- für die Anzahl von Diskriminierungserfahrungen von men und Ausmaß von Diskriminierung zu beschrei- Menschen mit tatsächlichem oder zugeschriebenem ben. Darüber hinaus bietet die quantitative und Roma-Hintergrund in Berlin anzusehen. qualitative Analyse der dokumentierten Fälle die Grundlage, um die bestehende Arbeit zu evaluieren und Lösungsansätze im Bereich der Antidiskriminie- rungsarbeit zu entwickeln. Grundlage der Dokumentation sind Diskriminie- rungsbeschwerden, die von Mitarbeiter*innen des Pro- jekts anonym erfasst werden und deren Einschätzung sich an der subjektiven Erfahrung der Betroffenen ori- entiert. Ein großer Teil der Vorfälle erreicht die Doku- mentationsstelle dank der Anlaufstelle von Amaro Foro in Berlin-Charlottenburg, deren Mitarbeiter*innen ne- ben der eigentlichen Beratungstätigkeit jedes Jahr eine hohe Anzahl an diskriminierenden Vorfällen in ano- nymisierter Form weiterleiten, sofern der*die betrof- fene Klient*in der Erfassung ihrer*seiner Erfahrun- 7 Vgl. Clayton, Dimitria 2002: Staatlich geförderte Antidiskriminierungspolitik. Das Beispiel der Antidiskriminierungsarbeit in Nordrhein-Westfalen. In: Treichler, Andreas (Hg.): Wohlfahrtstaat, Einwanderung und ethnische Minderheiten. Probleme, Entwicklungen, Perspektiven. Wiesbaden, S. 290.
Rückblick 2014 – 2018 17 Kategorien zur Analyse der Vorfälle ERSCHEINUNGSFORMEN Im Hinblick auf die Aufnahmekriterien wurde bereits 1. Beleidigung in der Dokumentation von 2014 darauf hingewiesen, 2. Sozialchauvinistische Äußerung dass die Vorfälle sich in zwei Kategorien einteilen 3. Unrechtmäßige Versagung von lassen. So finden sich in der Dokumentation sowohl Leistungen Vorfälle, die »einen unverhüllten antiziganistischen Hintergrund haben als auch Handlungen, die einen 4. Anforderung von irrelevanten unterschwelligen antiziganistischen Charakter« besit- Unterlagen zen. Wird die Mitarbeiterin einer Bildungseinrichtung 5. Verweigerung der Antragsannahme von ihrem Vorgesetzten als »Zigeunerin« bezeichnet, 6. Ablehnende Haltung von handelt es sich um expliziten Antiziganismus. Meiden Autoritätspersonen die Kolleg*innen sie infolge solcher Zuschreibungen, 7. Kulturalisierung lässt sich dies als latent antiziganistisch beschreiben. In den dokumentierten Vorfällen der folgenden Jahre 8. Ungerechtfertigte Maßnahme findet sich beides: expliziter, aber auch latenter Antizi- 9. Kriminalisierende Unterstellung ganismus. Eine häufig auftretende Form solcher latent 10. Rassistische Propaganda antiziganistisch motivierten Vorfälle ist bereits in der 11. Bedrohung ersten Auswertung von 2014 als »institutionelle Son- deranforderungen« gegenüber zugewanderten rumä- 12. Anzweiflung des Arbeitsverhältnisses nischen und bulgarischen Staatsbürger*innen bei der 13. Angriff Gewährung von sozialen Rechten näher bestimmt. 14. Verweigerung der Ausstellung oder Hinsichtlich der Kategorien zur näheren Einord- Aushändigung von Dokumenten nung der Vorfälle sind zwei Ebenen relevant. Zum ei- 15. Auskunftsverweigerung und nen ist festzuhalten, in welchem Lebensbereich sich der Desinformation Vorfall ereignete, zum anderen, welche Erscheinungs- formen von Antiziganismus in der Situation auftraten. 16. Anforderung von Unterlagen, die über Amtswege eingeholt werden sollten 17. Wohlfahrtschauvinistische Äußerung 18. Vermietungsverweigerung 19. Verweigerung der Kontoeröffnung 20. Aufforderung zur Ausreise LEBENSBEREICHE 21. Verweigerung der Unterbringung nach ASOG Kontakt zu Leistungsbehörden 22. Andere Dienstleistungsverweigerung 23. Ablehnung durch Schulen Kontakt zu Ordnungsbehörden und Justiz oder Kindertagesstätten Zugang zu Bildung 24. Rassistisch motivierte Ablehnung durch Krankenkassen Zugang zu medizinischer Versorgung 25. Verweigerung von medizinischer Behandlung Arbeitswelt 26. Zutrittsverweigerung 27. Eugenische Äußerung Zugang zu Gütern und Dienstleistungen 28. Segregation Zugang zu Wohnraum 29. Rassistisches Mobbing 30. Nicht-Anerkennung von Europäischer Alltag und öffentlicher Raum Krankenversicherungskarte
18 Rückblick 2014 – 2018 VORFÄLLE NACH BEZIRKEN Während ein Vorfall jeweils nur einem Lebensbe- reich zugeordnet wird, kann er jedoch mit mehreren 2017 Erscheinungsformen verbunden sein. Ein großer Teil der Erscheinungsformen kann in allen Lebensberei- chen verzeichnet werden, während andere stark mit einem bestimmten Lebensbereich verbunden sind. 9 9 Beispielsweise kann eine Beleidigung in allen Lebens- 6 bereichen auftreten, die Erscheinungsform Verweige- 26 21 9 4 rung der Unterbringung nach ASOG oder Ablehnung 35 durch Schule oder Kindertagesstätte hingegen nur im 25 Bereich Kontakt zu Leistungsbehörden beziehungs- 1 6 4 weise Zugang zu Bildung. Darüber hinaus konzent- rieren sich jedoch bestimmte Erscheinungsformen in Bezirk unbekannt: 1 spezifischen Lebensbereichen aufgrund der typischen Situationen, die mit diesen verbunden sind, wie bei- spielsweise die Antragstellung bei einer Behörde im 2018 Bereich Kontakt zu Leistungsbehörden, die Woh- nungsbesichtigung beim Zugang zu Wohnraum, die ärztliche Untersuchung beim Zugang zu medizini- 10 4 scher Versorgung oder der Abschluss eines Vertrages im Bereich Zugang zu Gütern und Dienstleistungen. 7 22 2014 waren die Lebensbereiche Zugang zu Wohn- 14 26 10 11 raum sowie Zugang zu Gütern und Dienstleistungen noch als ein Bereich zusammengefasst, sodass die Ent- 10 5 21 wicklung der Zahlen in den beiden Lebensbereichen 10 nur für die Jahre 2015 bis 2018 einzeln dargestellt wird. Für die vorliegende Broschüre wurden die Er- Berlinweit: 1 scheinungsformen überarbeitet und die Vorfälle der Jahre 2016, 2017 und 2018 neu kodiert. Erstmalig wird ein Vergleich im Zeitverlauf hinsichtlich der in diesen Bezirke Jahren dokumentierten Erscheinungsformen in quan- titativer und qualitativer Hinsicht vorgenommen. Wo es relevant ist, werden genderbezogene Aspekte der 13. 8. 7. geschilderten Diskriminierungssituationen und Er- scheinungsformen hervorgehoben. 9. 5. 2. 3. 4. 1. 6. 10. 11. 12. 1. Charlottenburg-Wilmersdorf 2. Friedrichshain-Kreuzberg 3. Lichtenberg 4. Marzahn-Hellersdorf 5. Mitte 6. Tempelhof-Schöneberg 7. Pankow 8. Reinickendorf 9. Spandau 10. Steglitz-Zehlendorf 11. Neukölln 12. Treptow-Köpenick 13. Außerhalb Berlins
Rückblick 2014 – 2018 19 Im »Zwischenbericht des Staatssekretärsausschus- ses zu Rechtsfragen und Herausforderungen bei der ENTWICKLUNG Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedsstaaten« und im DER FALLZAHLEN zugehörigen Abschlussbericht wurden Empfehlungen wie Wiedereinreisesperren im Falle von »Rechtsmiss- brauch«, die Befristung des Aufenthalts zur Arbeitsu- ANZ AHL DER GEMELDETEN che und eine verschärfte Prüfung der Kindergeldan- VORFÄLLE 2014 – 2018 sprüche vorgeschlagen. Ende 2014 wurde schließlich die Beschränkung des Rechtes auf Einreise und Aufent- halt von arbeitsuchenden EU-Bürger*innen auf sechs Monate beschlossen. Die Freizügigkeit gilt laut dem neuen Paragrafen 2 FreizügG/EU-Recht auf Einreise und Aufenthalt »darüber hinaus nur, solange sie nach- weisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden«.8 In Berlin war 2014 die antiziganistisch aufgelade- ne Debatte um obdachlose Familien im Görlitzer Park 2014 und auf der mittlerweile geräumten »Cuvry-Brache« 2014 wurden insgesamt 107 Vorfälle mit antiziganisti- in Kreuzberg prägend. Bereits seit etwa 2009 über- schem Hintergrund dokumentiert, die überwiegende nachteten immer wieder wohnungslose Familien im Mehrheit (38) davon im Lebensbereich Zugang zu den Görlitzer Park, was regelmäßig zu rassistischen Kam- Systemen der Wohlfahrt und sozialen Sicherheit, der pagnen in großen Berliner Medien und zu Räumun- dem jetzigen Lebensbereich Kontakt zu Leistungsbe- hörden entspricht. 8 Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU), Auf der Ebene der gesetzlichen und politischen § 2 Recht auf Einreise und Aufenthalt Entwicklungen markiert das Jahr 2014 den Beginn des uneingeschränkten Zugangs rumänischer und 2014 bulgarischer Staatsbürger*innen zum deutschen Ar- VORFÄLLE 2014 beitsmarkt: Am 1. Januar 2014 trat die volle Arbeit- NACH LEBENSBEREICHEN nehmerfreizügigkeit für rumänische und bulgarische Staatsbürger*innen in Kraft. Bis dahin war ihnen während einer sieben Jahre langen Übergangsfrist der Zugang zur sozialversicherungspflichtigen Beschäf- tigung auf dem deutschen Arbeitsmarkt weitgehend 4 38 verwehrt geblieben. 9 21 Bis 2014 war stark umstritten, ob die Verweige- rung von SGBII-Leistungen bei EU-Migrant*innen zulässig ist. 2014 änderte sich die Rechtssprechungs- 6 13 linie des EuGH, der bis dahin stets das Gleichbe- 6 handlungsgebot für EU-Bürger*innen betont hatte, mit dem Urteil im Fall Dano, das den Ausschluss von Migrant*innen, die weder erwerbstätig noch auf Ar- beitsuche waren, für rechtens erklärte. Die Rücknah- Zugang zu Systemen der Wohlfahrt & sozialer Sicherheit me sozialer Rechte für EU-Migrant*innen fand im Zugang zu Wohnraum Kontext antiziganistischer Debatten in Deutschland Zugang zu Gütern und Dienstleistungen statt: Die Jahre 2013 und 2014 prägte die Debatte um Alltag Arbeitswelt sogenannte »Armutszuwanderung«, darunter auch Kontakt zu Ordnungsbehörden und Justiz die CSU-Kampagne »Wer betrügt, fliegt«, die Arbeits- Bildung migration aus Bulgarien und Rumänien diskursiv mit Zugang zu medizinischer Versorgung »Sozialleistungsmissbrauch« verknüpfte.
20 Rückblick 2014 – 2018 gen durch das Ordnungsamt führte. So schrieb der Tagesspiegel bereits 2011: »Machen es sich Roma in der 2015 Opferrolle bequem?«9 Einigen dort lebenden Famili- VORFÄLLE 2015 en wurde durch Mitarbeiter*innen des Bezirks die In- NACH LEBENSBEREICHEN obhutnahme ihrer Kinder angedroht, wenn sie nicht eine Wohnung fänden – obwohl der Schutz der Fami- lie und von Kindern in Deutschland groß geschrieben wird und im Grundgesetz verankert ist. Eine ähnliche 33 35 mediale Aufmerksamkeit gab es für die »Cuvry-Bra- che« – unter den dort lebenden Obdachlosen waren 8 8 auch rumänische Rom*nja, die in Medienberichten stets als eigene Gruppe hervorgehoben wurden. Es 7 7 kam zu mindestens einem Brand bis zur endgülti- gen Räumung der Brache. Ein Ende der Vertreibung 10 10 von obdachlosen Menschen aus Berliner Grünanla- gen und die Bereitstellung menschenwürdiger Wohn- alternativen für die Betroffenen sind bis heute nicht absehbar. Kontakt zu Leistungsbehörden Kontakt zu Ordnungsbehörden und Justiz Zugang zu Bildung 2015 Zugang zu medizinischer Versorgung Arbeitswelt 2015 stieg die Zahl der dokumentierten Vorfälle leicht Zugang zu Gütern und Dienstleistungen an auf 118, wobei im Vergleich zum Vorjahr wesent- Zugang zu Wohnraum lich mehr Diskriminierungsvorfälle im Bereich Alltag Alltag und öffentlicher Raum und öffentlicher Raum verortet waren (16 zu 33). Da- mit liegt die Anzahl der dokumentierten Vorfälle in diesem Lebensbereich 2015 fast genauso hoch wie die sel wurden im zeitweise leerstehenden Hinterhaus Zahl der dokumentierten Vorfälle beim Kontakt zu die Wohnungen zu horrenden Preisen an Menschen Leistungsbehörden (35). aus Rumänien, davon viele Rom*nja, vermietet. Die 2015 wurde in der Dokumentation darauf auf- Altmieter*innen lasteten ebenso wie die Medien die merksam gemacht, dass angebotene Interventions- Verantwortung für die problematische Situation den möglichkeiten von Betroffenen kaum nachgefragt neuen Bewohner*innen an und es kam zur Gründung werden, da sich viele in höchst prekären Lebenslagen einer Bürgerinitiative. Durch das Verhalten des Ver- (Wohnungslosigkeit, Arbeitsuche, Schwangerschaft mieters und Überbelegung waren Probleme mit Lärm, ohne Zugang zu medizinischer Versorgung) befinden Hygiene und Müllentsorgung entstanden; als diese und Angst vor Viktimisierung, vor weiteren Diskri- öffentlich thematisiert wurden, wurden die rumäni- minierungserfahrungen und weiterer Prekarisierung schen Mieter*innen von angeblichen Hausmeistern vorherrscht.10 nach und nach des Hauses verwiesen. Die Unterbrin- In Berlin-Schöneberg war ein Haus in der Gru- gung der nun obdachlosen Bewohner*innen durch newaldstraße über Monate hinweg bundesweit in den Bezirk musste in vielen Fällen auf dem Rechtsweg den Schlagzeilen. Es handelte sich um ein Gebäude erstritten werden. in marodem Zustand, in dem einige Altmieter*innen Bereits 2014 schwenkte der Europäische Gerichts- sehr günstig wohnten, allerdings mit Ofenheizung hof (EuGH) von einer weitgehend pro-sozialen Recht- und Außentoilette. Nach einem Eigentümerwech- sprechungslinie um und legitimierte den deutschen Ausschluss nicht erwerbstätiger und nicht arbeit- 9 Knobloch, Peter 2011: Machen es sich Roma in der Opferrolle bequem?, Tagesspiegel vom suchender EU-Migrant*innen von Leistungen nach 12. 8. 2011. Online unter: www.tagesspiegel.de/meinung/kontrapunkt-machen-es-sich-roma- in-der-opferrollebequem/4494314.html, zuletzt abgerufen am 11. 7. 2019. SGB II im Urteil zur Rechtssache Dano. 2015 ent- Zur rassistischen Medienberichterstattung des Tagesspiegels über die Vertreibung von Menschen aus dem Görlitzer Park bereits 2009 vgl. auch End, Markus 2009: Die wesentlichen schied der EuGH im Urteil zu der Rechtssache Ali- Elemente antiziganistischer Ressentiments anhand einer Collage der Berichterstattung des Berliner Tagesspiegels. In: Phase 2 Nr. 33. Online unter: www.phase-zwei.org/hefte/artikel/ manovic, dass auch der Ausschluss von nicht erwerbs- gezuendelt-259/, zuletzt abgerufen am 31. 7. 2019. tätigen, aber arbeitsuchenden EU-Bürger*innen von 10 Amaro Foro e.V. 2016: Dokumentation von antiziganistischen Vorfällen in Berlin und Medienmonitoring zur Reproduktion antiziganistischer Stereotype 2015. Berlin, S. 7, 19. Leistungen nach dem SGB II rechtmäßig ist.
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